[Sonderausgabe] Wandern

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MAGAZIN

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WANDERN Die Wege der Gedanken SPAZIEREN MIT THOREAU

FLANIEREN MIT BENJAMIN

UMHERSCHWEIFEN MIT ROUSSEAU

Unterwegs mit Thea Dorn, Michel Serres, Frédéric Gros, Gerd Kempermann …


Die Wege der Gedanken

Wandern v

Denker im Heft   KURT BAYERTZ Der Philosoph lehrt Ethik, Anthropologie und Politische Philosophie an der West­ fälischen Wilhelms-Universität Münster. In seinem Buch „Der aufrechte Gang“, das 2013 mit dem Tractatus-Preis ausgezeichnet wurde, legte er eine „Geschichte des anthropologischen Denkens“ anhand der Besonderheit des menschlichen Ge­ hens auf zwei Beinen vor. Im Interview erläutert er, wie und warum der aufrechte Gang in der Philosophie immer auch mit dem Wesen des Menschen in Verbin­ dung gebracht wurde.

In seinem jüngsten Buch „Die Revolution im Kopf“ legt der renommierte Neuro­ wissenschaftler, Professor an der TU Dresden, bahnbrechende Erkenntnisse aus der Gehirnforschung vor: Auch das erwachsene Gehirn kann neue Nervenzellen bilden und damit das Altern des Gehirns aufhalten. Warum der Rhythmus des Ge­ hens für das Denken förderlich ist und die Gehirntätigkeit bis ins Alter unterstützt – und dass Gehirne in der Evolution überhaupt erst entstanden sind, um Bewegung zu ermöglichen –, erklärt er im Gespräch.

Seite 22   FRÉDÉRIC GROS

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DENKER IM HEFT

GERD KEMPERMANN

Was ist der Sinn des Wanderns? Soll ich alleine oder zu zweit wandern? Wel­ che Bedeutung hat es, wo wir wandern? Und was hat Wandern mit Wandlung zu tun? Über diese Fragen gibt der Foucault-Experte, Professor am Institut d’études politiques (Sciences Po) in Paris Auskunft. Mit den unterschiedlichsten Formen des Gehens beschäftigte sich Gros ausführlich auch in seinem 2010 ins Deutsche übersetzten Werk „Unterwegs: Eine kleine Philo­sophie des Gehens“.

Philosophie Magazin Sonderausgabe 10

Seite 30   MICHEL SERRES Für den großen französischen Denker der Kommunikationstheorie sind Ge­ hen und Denken eins. Im Interview spricht er über seine alltägliche Praxis des Gehens, die er als „die Hälfte seines Berufs“ bezeichnet, und über die Musik, die im Rhythmus des Gehens liegt. Der einstige Marineoffizier und obsessive Wanderer ist Professor an der Pariser Sorbonne und an der Stanford University, seit 1990 Mitglied der Académie française und seit 1985 Ordensträger der französischen Ehrenlegion.

Seite 62

Fotos: Marcus Simaitis; Valeria Schmidt; Patrice Normand/Opale/Leemage/laif; Olivier Roller; Maria Sturm; Witi De TERA/Opale/Leemage/laif; Carolin Saage; privat

Seite 12


Die Wege der Gedanken

Warum das „deutsche Wandern“ etwas Besonderes ist und tief aus einer bis in älteste Zeiten zurückreichenden deutschen Naturliebe schöpft, erklärt uns die Spezialistin für die deutsche Seele in diesem Heft. Die Philosophin, Literaturkriti­ kerin und vielfach ausgezeichnete Autorin ist selbst eine passionierte Wanderin. In ihrem eben erschienenen Essay „Deutsch, nicht dumpf“ plädiert sie für einen „aufgeklärten Patriotismus“.

Wandern v

THEA DORN

Seite 82

Seite 88   FLORIAN WERNER

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Der Essayist, Romancier und Vertreter der Nouvelle Philosophie ist Verfasser zahlreicher zeitdiagnostischer Werke, von der „neuen Liebesunordnung“ seit der sexuellen Revolution bis zum Problem des globalisierten Kapitalismus. Sein Essay in diesem Heft ist ein Plädoyer gegen die moderne Mobilität, die uns zwecks Geschwindigkeit in enge Gefährte einsperrt, und für das langsame Gehen, das uns in eine besondere Nähe zur Welt und den Menschen setzt.

DENKER IM HEFT

PASCAL BRUCKNER

Gehen kann weit mehr als praktische Ortsbewegung oder angenehmes Lustwan­ deln sein. Es gibt auch Wege, die sich der religiösen Einkehr, der individuellen Sinnsuche, dem politischen Protest oder dem puren ästhetischen Akt verschrei­ ben. In seinem Essay thematisiert der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Florian Werner die mannigfachen möglichen Ziele des Gehens. Sein Wander­ buch „Der Weg des geringsten Widerstands“ erscheint in diesem Sommer bei Nagel & Kimche.

ALEXIS LAVIS Im Gespräch legt der französische Philosoph und Experte für indische und chinesische Philosophie dar, wie asiatische Traditionen das Gehen nutzen, um meditative Zustände zu erreichen, die dem Erkenntnisgewinn förderlich sind. So legt die buddhistische Gehmeditation ein Augenmerk auf die Lücke, die auftritt, wenn sich der Schritt ins Leere begibt, kurz bevor er sich wieder fängt. Ist nicht diese Leere der einzige Zeit-Raum, wo ich nichts weiß, wo ich nirgends bin?

Seite 126

Philosophie Magazin Sonderausgabe 10

Seite 98


Inhalt

Impressum SONDERAUSGABE 10, JUNI 2018 Philomagazin Verlag GmbH Brunnenstraße 143, D-10115 Berlin Kontakt Redaktion: Tel.: +49 (0)30 / 54 90 89-10 E-Mail: redaktion@philomag.de Chefredakteurin Sonderausgabe: Dr. Catherine Newmark* (V.i.S.d.P.) Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau Berater: Sven Ortoli Art-Direktorin: Henrike Noetzold* Layoutentwickler: Jean-Patrice Wattinne / L’Éclaireur Bildchefin: Tina Ahrens* Schlussredakteur: Sebastian Guggolz* Lektorin: Christiane Braun* Praktikantin: Vera Vorneweg Kontakt Verlag: Tel.: +49 (0)30 / 54 90 89-10 E-Mail: info@philomag.de

Editorial Denker im Heft Literatur

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Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Verlagsleiter: Thomas Laschinski Verlagsassistentin: Maria Kapfer Vertrieb: DPV Vertriebsservice GmbH Am Sandtorkai 74, 20459 Hamburg www.dpv-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH, Berlin Druck: NEEF + STUMME premium printing GmbH & Co. KG, Wittingen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de Anzeigen: • Kultur (Buch/Film etc.), Bil­dung/Seminare/Coaching: PremiumContentMedia Thomas Laschinski Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com • Allgemeine Anzeigen, D/A/CH: MedienQuartier Hamburg Jörn Schmieding-Dieck Tel.: +49 (0)40 / 60 94 41 401 E-Mail: schmieding-dieck@mqhh.de www.medienquartierhamburg.de * = Freie Mitarbeit

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Abo-/Leser-Service: Tel.: +49 (0)40 / 38 66 66 309 Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11, D-22013 Hamburg Fax: +49 (0)40 / 38 66 66 299 E-Mail: philomag@pressup.de Online-Bestellungen: www.philomag.de Philosophie Magazin am Kiosk finden: www.mykiosk.com Das Philosophie Magazin ist erhältlich im Bahnhofs- und Flug­hafen­­­buchhandel in Deutschland

ERSTE SCHRITTE

8 WO WIR GEHEN

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Zitate 10

Zitate 28

Symbol für die Freiheit des Menschen Gespräch mit Kurt Bayertz 12

In der Landschaft aufgehen Gespräch mit Frédéric Gros 30

Spaziergänger und Flaneure

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Arbeitszimmer: draußen Henry David Thoreau 35

Reisende und Entdecker

18

Pilger und Politiker

20

Überwältigend wild Alexis de Tocqueville

Gehirne sind zum Gehen da Gespräch mit Gerd Kempermann

22

Naturträume Jean-Jacques Rousseau 40

38

Allgemeines Wandern Joseph von Eichendorff 42 Durch nasse Wiesen Georg Wilhelm Friedrich Hegel 43 Fanatische Wanderungen Simone de Beauvoir 44 Fürst der Straße Charles Baudelaire 46


103

Heimlicher Müßiggang Franz Hessel 50

Nicht wuseln! Honoré de Balzac

75

Im Wald der Widerstand Ernst Jünger

111

Psychogeografie Die Kunst des Umherschweifens Alexandre Lacroix 52

So gehen die Damen … Catherine Newmark

76

Verschollen bleiben Hans Jürgen von der Wense 113

Heiteres Lustwandeln Karl Gottlob Schelle

78

Die Vormittagsseele Friedrich Nietzsche

114

Volkskunde des Reisens George Sand

80

Durchbruch ins Freie Otto Friedrich Bollnow

116

Das deutsche Wandern Gespräch mit Thea Dorn

82

Die Vagabondage Isabelle Eberhardt

118

Der Wegweiser Wilhelm Müller

86

Kein Sport! Peter Handke

87

Der Blick fürs Kleine Joseph Roth 54 No Car? Günther Anders 56

Die Abenteuer der Langsamkeit Pascal Bruckner  88

WIE WIR GEHEN 58 Zitate

Lob des Spazierens Robert Walser

92

60

Promenadologie Die Spaziergangswissenschaft Jule Hoffmann 120

Gott mit Stoppelbart Max Frisch

122

Die Zeit ertrinkt Thomas Mann

124

Kurzer Prozess Franz Kafka 125 Der Gang zur Erleuchtung Gespräch mit Alexis Lavis 126

Ich gehe, also denke ich Gespräch mit Michel Serres  62

Flüchtiges festhalten Søren Kierkegaard

66

Keine überflüssigen Bewegungen Walter Benjamin  67 Ein totaler Vorgang Thomas Bernhard

WARUM WIR GEHEN

94

68

Zitate 96

Nie ohne Stock Adolph Freiherr von Knigge  72

Gute Gründe zu gehen Florian Werner 98

Philosophie Magazin Sonderausgabe 10

Fotos: Come with Me 9, 2011, Image by Ellie Davies, www.elliedavies.co.uk; Bruno Augsburger (2); Hu Guoqing

Ungetröstet und trostlos Theodor W. Adorno 57

Die Wege der Gedanken

Märsche zur Macht Vera Vorneweg

Wandern v

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INHALT

Wer geht, sieht mehr Johann Gottfried Seume

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Der Flaneur Walter Benjamin


Philosophie Magazin Sonderausgabe 10

GESPRÄCH MIT KURT BAYERTZ

von Catherine Newmark

Symbol für die Freiheit des Menschen

12 ERSTE SCHRITTE Die Wege der Gedanken

Wandern


Foto: Jason Charles Hill

Der aufrechte Gang spiegelt also die Ordnung des Universums …

Im Mittelalter ist das Denken nicht mehr der ent­ scheidende Punkt beim Menschen, sondern die Gott­ eben­bildlichkeit. Und deswegen hat man im Mittelalter versucht, den aufrechten Gang irgendwie mit dieser Gottebenbildlichkeit zu verbinden und mit der speziel­ len Beziehung, die der Mensch zu Gott hat – im Unter­ schied zu den Tieren.

Es scheint aber bei den bisher erläuterten Motiven weniger das Aufrechtgehen als das Aufrechtsein im Vordergrund zu stehen?   Das Gehen selbst wird tatsächlich erst in der Neuzeit in signifikanter Weise zum Thema. Zum einen wird der aufrechte Gang nun als eine unsichere Fortbewegungsart angesehen. Wenn im 18. Jahrhundert darüber nachge­ dacht wird, wie unsicher der aufrechte Gang motorisch gesehen ist, dann ist das natürlich auch Ausdruck der Tatsache, dass sich in der Neuzeit die Stellung des Men­ schen in der Welt verändert hat, ambivalent und unsicher geworden ist. Zum anderen wird in der Neuzeit der auf­ rechte Gang ganz stark mit handfesten materiellen Vor­ teilen in Zusammenhang gebracht. Der aufrechte Gang ist nützlich, weil dann die Hände frei werden, weil man die Technik entwickeln, auch weil man damit Krieg füh­ ren kann … Interessant ist allerdings, dass es in der Neu­ zeit parallel dazu eine gegenläufige Betrachtung des aufrechten Gangs gibt: Er wird nämlich auch als Symbol für die Würde des Menschen und als ein Zeichen für sein Freiheitsstreben angesehen.

ERSTE SCHRITTE

In der Antike ist es vor allem das Denken, das als menschliches Alleinstel­ lungsmerkmal aufgefasst und mit dem der aufrechte Gang in Verbindung gebracht wird. Sie finden sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles die Vor­ stellung, dass der Mensch genau darum aufrecht ist, weil er zum Denken bestimmt ist. Für die antiken Autoren waren die Sterne und Planeten göttliche Wesen, die sich ebenfalls durch Denken auszeichnen. Deswegen ist der Mensch mit den Himmelskörpern verwandt und darum muss er aufgerichtet sein, weil das Wichtigste und Edelste seiner Organe eben der Kopf ist, und der muss zu den Himmelskörpern hin ausgerich­ tet sein. Das entspricht seiner kosmologischen Stellung: Der Mensch ist ein Mikrokosmos, er hat genau wie der große Kosmos eine senkrechte Struktur. Nach Aristoteles ist der Kosmos ja so aufgebaut, dass im Mittelpunkt die Erde als ein materielles Ding, als ein großer Erdklumpen steht und darüber schichten sich die himmlischen Sphä­ ren, die nicht materiell sind und sich ganz grundsätzlich von der Erde unterscheiden. Unten ist dieser Auffassung nach das weniger Gute und oben das Gute. Und beim Men­ schen ist das genauso: Mit den Füßen steht er auf dem Boden und mit dem Kopf ist er zum Himmel aufgerichtet.

Ist in der christlichen Philosophie noch immer das Denken das zentrale menschliche Wesensmerkmal, das mit dem aufrechten Gang in Verbindung gebracht wird?

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Nämlich?

stoischen Philosophie kommt die Vorstellung hinzu, dass der Mensch geschaffen ist, um das Weltall zu betrachten, und dazu muss er aufgerichtet sein. Auch in der christli­ chen Theologie des Mittelalters wird behauptet, dass der Mensch aufrecht geschaffen wurde, damit er zu Gott auf­ schauen kann. Das ist eindeutig dem Einfluss der griechi­ schen und römischen Philosophie in der Spätantike geschuldet, in den ursprünglichen jüdischen und christli­ chen Quellen, in der Bibel also, findet man das noch nicht.

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KURT BAYERTZ     Eine Gemeinsam­ keit, die sich durch die ganze Ideenge­ schichte zieht, besteht darin, dass der aufrechte Gang niemals nur als ein bloß zufälliges Faktum angesehen, sondern immer mit dem Wesen des Menschen in Verbindung gebracht wurde. Aber was das Wesen des Menschen ist: Darüber gab es höchst unterschiedliche Auffas­ sungen.

Die Wege der Gedanken

Das aufrechte Gehen ist offensichtlich   Diese Übereinstimmung ist nicht nur ein Faktum, etwas, worüber Philosophen seit jeher sondern auch eine Aufgabe. Darin liegt ein normatives nachdenken. In welcher Weise und mit Element: Der Mensch soll sich eben auch an seinem Ver­ stand, an seinem edelsten Vermögen, orientieren. In der welchem Ergebnis?

Wandern

Der Mensch geht nicht nur, er geht auch aufrecht, auf zwei Beinen, nicht wie die überwiegende Anzahl der anderen Tiere auf vier. Der Philosoph Kurt Bayertz hat diesem „aufrechten Gang“ ein ganzes Buch gewidmet. Im Gespräch erklärt er, welche Bedeutung das aufrechte Gehen in der Philosophiegeschichte hat


Die Wege der Gedanken

Wandern

Spaziergänger und Flaneure Schon immer ließen sich Philosophen von ihren Spaziergängen inspirieren. Ob in der Stadt, auf dem Land oder in den Bergen: Das Flanieren und Umherwandern ist für sie nicht nur ein wohltuender Zeitvertreib, sondern erscheint ihnen unerlässlich für das eigene Nachdenken von

IMMANUEL KANT

FRIEDRICH NIETZSCHE

1724–1804

1844–1900

Wo er täglich spazieren ging: Königsberg, Preußen (heute Kaliningrad, Russland)

Wo er am liebsten spazieren ging: auf Bergpfaden in den Schweizer Alpen (insbesondere im Engadin) und im Südosten Frankreichs (im kleinen Ort Èze, ganz in der Nähe von Nizza)

Es war ein Ritual, an dem nicht gerüttelt wurde: Jeden Abend um 19 Uhr ging Kant aus dem Haus, um frische Luft zu schnappen und sich die Beine zu vertreten. Der Weg war stets derselbe und führte ihn durch die Gärten seiner Heimatstadt und anschließend die Lindenallee auf und ab – die man später ihm zu Ehren „Philosophenallee“ oder „Philosophengang“ nannte. Es heißt, der Philosoph habe nur ein einziges Mal seinen täglichen Gang verschoben, als es darum ging, sich über die Ereignisse im revolutionären Frankreich auf dem Laufenden zu halten. Ebenso ist die Anekdote überliefert, dass die Lektüre von Rousseaus „Émile“ Kant derart gefesselt haben soll, dass er darüber ganz vergaß, vor Verlassen seines Hauses die Stiefel anzuziehen. Doch das waren absolute Ausnahmen, denn an allen anderen Tagen hielt der Mann mit eiserner Disziplin an seiner Gewohnheit fest.

Aufgrund seines fragilen Gesundheitszustands wurde Nietzsche zum Gipfelstürmer. Die Bergluft tat ihm gut. Nietzsche schrieb dem Wandern eine transformative Kraft zu: Wer zu Fuß unterwegs ist, bringt Spannung in Körper und Geist. Nur so kann der Mensch sich zum großen Ja zum eigenen Selbst und zur Welt durchringen. In „Ecce homo“ berichtet Nietzsche, dass ihm die Idee der Ewigen Wiederkehr auf einem Spaziergang am Ufer des Silvaplanersees kam. „Unsere Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen und dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklicher werden.“ („Die fröhliche Wissenschaft“)

Fotos: akg-images / Science Source; akg-images; akg-images / Imagnes; Public domain/ Wikimedia; akg / Science Photo Library; akg-images / Imagno

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ERSTE SCHRITTE

MARTIN DURU


NISHIDA KITARO

1892–1940

1870–1945

Wo er am liebsten spazieren ging: In Europas Groß­ städten, von Neapel über Paris bis nach Moskau

Wo er täglich spazieren ging: Auf dem Philosophenweg im japanischen Kyoto

In den Fußstapfen von Baudelaire wandelnd, erklärte dieser Chronist des modernen Lebens den Flaneur zu einer Persönlichkeit philosophischen Ranges. Benjamin fand Gefallen daran, sich im urbanen Getümmel zu verlieren. Besonders angetan hatten es ihm die Pariser Passagen: überdachte Einkaufsgalerien voller Boutiquen und Geschäfte, die den Geist des Kapitalismus versinn­ bildlichen. Dem Flaneur erschienen die Waren als Traumobjekte oder „Phantasmagorien“, wie Benjamin sie nennt. Der Flaneur sucht die Anonymität, meidet die Arbeit, entzieht sich der Geschäftigkeit und beobachtet den Konsumkult distanziert – gerade das macht ihn so ­subversiv. Mit seinem Schlendern protestiert er gegen die Arbeitsteilung.

Der Philosophenweg in Kyoto ist eine beliebte Touristenattraktion. Dieser Fußgängerweg ist zwei Kilometer lang und führt den Besucher zu einigen der berühmtesten Tempel der Stadt. Dort fand sich der Philosoph und Gründer der sogenannten Kyoto-Schule Nishida Kitarō zu seinem täglichen Spaziergang ein. Zahlreiche Brücken kreuzen diesen Weg. Auch Nishida verstand sich als Brückenbauer zwischen Buddhismus und westlichen Denkrichtungen wie der Phänomenologie. Er entwickelte das Konzept des „Selbst-Erwachens“, das mit einer Überwindung des individuellen Bewusstseins einhergeht. Für Nishida stellte sich die Wirklichkeit als „gerade Linie und Kreis“ zugleich dar, die letztlich auf einem Zustand der Leere beziehungsweise auf dem „absoluten Nichts“ beruht. Man kann nur spekulieren, ob diese Überlegungen Form annahmen, als Nishida gemessenen Schrittes im Schatten der blühenden Kirschbäume spazierte.

Die Wege der Gedanken

Wandern

WALTER BENJAMIN

ERSTE SCHRITTE

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ALBERT EINSTEIN UND KURT GÖDEL

Ihr ritueller Spaziergang: Der morgendliche Weg zur Arbeit im Princeton Institute for Advanced Study – und nachmittags wieder zurück   Nachdem er 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen war, erhielt Einstein eine Stelle in Princeton. Die Strecke von seinem Haus in der Mercer Street bis zu seinem Büro im Institute for Advanced Study beträgt anderthalb Kilometer, und Einstein pflegte diesen Weg stets allein und zu Fuß zurückzulegen. Doch seit 1943 beglei-

tet ihn eine schräge Persönlichkeit auf diesen beruflichen Spaziergängen: der geniale österreichische Mathematiker Kurt Gödel. Der paranoide und dauerpessimistische Gödel, der sich aus einer Mischung aus Babynahrung und Abführmitteln ernährte, und Einstein, der Genussmensch, der Mozart und Beethoven liebte, verstanden sich blendend. Er gehe nur noch ins Büro, meinte Einstein, weil er es kaum erwarten könne, auf dem Rückweg wieder mit Gödel zu plaudern.

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1879–1955 und 1906–1978


Die Wege der Gedanken

Wandern v WO WIR GEHEN

„Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege. Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.“

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Martin Heidegger, „Holzwege“, S. 3

„Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln. Diese Kunst habe ich spät erlernt; sie hat den Traum erfüllt, von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte waren.“

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Walter Benjamin, „Tiergarten“, in: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, S. 23

„Geht selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls. Ihr habt keine Zeit? Dahinter steckt ein falscher Ehrgeiz, ihr Fleißigen. Gebt der Stadt ein bißchen ab von eurer Liebe zur Landschaft!“ Franz Hessel, „Spazieren in Berlin“, S. 219


Die Wege der Gedanken

Wandern v

„Das Enge der Gebirge scheint überhaupt auf das Gefühl zu wirken, und man findet darin viele Gefühlsphilosophen, Menschenfreunde, Freunde der Künste, besonders der Musik. Das Weite des platten Landes hingegen wirkt mehr auf den Verstand, und hier findet man die Denker und Vielwisser.“

Jean-Jacques Rousseau, „Träumereien eines einsam Schweifenden“, S. 171–172

„Die kleine Straße ruhte still, als wartete sie auf die Dämmerung. Sollte ich noch einmal durch sie hindurch? So sehr ich auch zögerte, ich bezweifelte keinen Augenblick, daß ich sie wieder betreten müsse, daß ich überhaupt nur zu dem Zweck herumgeirrt war, um zu ihr zurückzufinden.“

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„Die Botanik ist das richtige Studium für einen müßigen und faulen Einzelgänger: eine Pinzette und eine Lupe, das ist die ganze Apparatur, die er für seine Beobachtungen braucht. Er spaziert, irrt ungebunden von einem Gegenstand zum andern, widmet sich dem Anblick jeder einzelnen Blume voll Anteilnahme und Neubegier, und sobald er die Gesetze ihrer Struktur langsam zu ahnen beginnt, bereitet ihm die mühelose Beobach­ tung so lebhafte Freude, wie wenn sie mit viel Aufwand verbunden gewesen wäre.“

WO WIR GEHEN

Heinrich von Kleist, „An Wilhelmine von Zenge“, Dresden, 3. (und 4.) September 1800

„Den zwanzigsten ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht – und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopfe gehn konnte.“ Georg Büchner, „Lenz“, S. 137

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Siegfried Kracauer, „Straßen in Berlin und anderswo“, S. 10


JOSEPH VON EICHENDORFF (1788–1857)

Der spätromantische Dichter war ein leidenschaftlicher Wanderer und Naturliebhaber und ist Verfasser einiger der schönsten und bekanntesten Wandergedichte deutscher Sprache. „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt“, wie es in seiner Erzählung „Aus dem Leben eines Taugenichts“ (1826) heißt

Allgemeines Wandern Vom Grund bis zu den Gipfeln, So weit man sehen kann, Jetzt blüht’s in allen Wipfeln, Nun geht das Wandern an:

Und von den Bergen nieder Erschallt sein Lied in’s Thal, Und die zerstreuten Brüder Faßt Heimweh allzumal.

Die Quellen von den Klüften, Die Ström auf grünem Plan, Die Lerchen hoch in Lüften, Der Dichter frisch voran.

Da wird die Welt so munter Und nimmt die Reiseschuh, Sein Liebchen mitten drunter Die nickt ihm heimlich zu.

Und die im Thal verderben In trüber Sorgen Haft, Er möcht’ sie Alle werben Zu dieser Wanderschaft.

Und über Felsenwände Und auf dem grünen Plan Das wirrt und jauchzt ohn’ Ende – Nun geht das Wandern an!

Joseph von Eichendorff: „Gedichte“, 1837, S. 4


Die Wege der Gedanken

Wandern

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL (1770–1831)

Nach seinem Studium in Tübingen und lange bevor er einflussreicher Professor in Jena und später in Berlin wurde, arbeitete der Autor der „Phänomenologie des Geistes“ (1807) von 1793 bis 1796 als Hauslehrer im s­ chweizerischen Bern. Über eine Wanderung daselbst hat der junge Hegel einen Bericht verfasst, dessen Manuskript verloren ist, der aber dank der frühen Biografie von Karl Rosenkranz überliefert ist

Fotos: Christopher Simpson/Gallery Stock; akg-images/North Wind Picture Archives

Auf einmal bot sich jetzt uns, da wir einigen Häusern näher kamen, von der Seite der obere Theil des Falles dar und vergnügt gingen wir durch nasse Wiesen ihm entgegen. Auf der grünen Anhöhe, die ihm gegenüber ist, durchnetzte uns der Wasserstaub vollends, den der vom Fall verursachte Wind uns entgegen jagte. Um mehr von dem Fall zu übersehen, muß man über schlüpfriges Gras tiefer hinabsteigen bis an den Rand des Abgrundes, in den er sich versenkt. Von hier genießt man den Anblick des Falles, so weit man ihn übersehen mag, und das majestätische Schauspiel hielt uns für die Mühe des unangenehmen Tages allerdings schadlos. Durch eine enge Felsenkluft drängt oben das Wasser schmal hervor, fällt dann in breiteren Wellen senkrecht herab; in Wellen, die den Blick des Zuschauers beständig mit sich niederziehen und die er doch nie fixiren, nie verfolgen kann, denn ihr Bild, ihre Gestalt, lös’t sich alle Augenblicke auf, wird in jedem Moment von einem neuen verdrängt, und in diesem Falle sieht er ewig das gleiche Bild, und sieht zugleich, daß es nie dasselbe ist. (…) Mein linker Fuß hatte mir auf dem gemachten Wege schon sehr weh gethan. Dieser Umstand mit dem schlechten Wetter erzeugte den Entschluß in mir, von hier nach Bern mit einem von der Gesellschaft zurückzukehren.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Reisetagebuch Hegel’s durch die Berner Oberalpen 1796“, in: „Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben beschrieben durch Karl Rosenkranz“, S. 475–479

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erjenige, der nicht gewohnt ist, die Höhe dieser Berge und die Entfernungen derselben zu schätzen, betrügt sich unaufhörlich, und erst durch Erfahrung findet er, daß er zu Ersteigung einer Höhe, auf der er in einer Viertelstunde sein zu können glaubte, oft mehrere Stunden gebraucht. Mühsamer als das Hinaufsteigen war noch das Hinuntersteigen nach Grindelwald. Wir wurden dafür zum Theil durch die Ansicht in den Kessel belohnt, in welchem Grindelwald liegt. (…) Wir sahen heute diese Gletscher [die „zwei berühmten Grindelwaldgletscher“] nur in der Entfernung von einer halben Stunde und ihr Anblick bietet weiter nichts Interessantes dar. Man kann es nur eine neue Art von Sehen nennen, die aber dem Geist schlechterdings keine weitere Beschäftigung gibt, als daß ihm etwa auffällt, sich in der stärksten Hitze des Sommers so nahe bei Eismassen zu befinden (…). Außer der Befriedigung, jetzt einem solchen Gletscher so nahe zu sein, daß ich ihn berührte und sein Eis anblicken konnte, habe ich weiter keine gefunden. Nachdem wir unter beständigem Regen dies Thal verlassen hatten (…), stiegen wir im Nebel durch einen steinigten Weg, an der Seite des tobenden Reichenbachs, immer bergab. Da wir wußten, daß auf diesem Wege sein berühmter Fall zu sehen ist, so war uns bange, wenn der Reichenbach sich weiter entfernte, der Nebel möchte uns seine Ansicht entzogen haben und wir möchten schon vorbei sein. (…)

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Auch der große idealistische Philosoph hat gelegentlich Wanderschuhe angezogen. Aus dem Bericht über eine Berner Wanderung darf man allerdings schließen, dass er das nicht sonderlich genossen hat. Regen, wenig erhebende Natureindrücke, wunde Füße – der Reichenbachfall immerhin vermag Hegel zu beeindrucken

WO WIR GEHEN

Durch nasse Wiesen


Die Wege der Gedanken

Wandern

CHARLES BAUDELAIRE (1821–1867)

Fürst der Straße Der Ort der Moderne ist die Stadt, und der Wanderer in der Stadt ist der Flaneur. Er mischt sich unter die Menschen, aber er nimmt nicht Teil an ihrem Alltag, vielmehr bleibt er als Beobachter immer auf Distanz: Die Menge ist das Material, dem er seine einsame und eigenwillige Unterhaltung verdankt …

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ie Menge ist sein Bereich, wie die Luft der des Vogels, das Wasser der des Fisches ist. Seine Leidenschaft und sein Beruf ist es, sich mit der Menge zu vermählen. Für den vollendeten Flaneur, den leidenschaftlichen Beobachter ist es ein ungeheurer Genuss, Aufenthalt zu nehmen in der Vielzahl, in dem Wogenden, in der Bewegung, in dem Flüchtigen und Unendlichen. Draußen zu sein, und sich doch überall zu Hause zu fühlen; die Welt zu sehen, mitten in der Welt zu sein, und doch vor der Welt verborgen zu bleiben, solcherart sind einige der geringsten Vergnügungen dieser unabhängigen, leidenschaftlichen, unparteiischen Geister, die näher zu bezeichnen der rechte Ausdruck fehlt. Der Beobachter ist ein Fürst, der überall sein Inkognito genießt. Der Liebhaber des Lebens macht sich die Welt zur Familie, wie der Liebhaber des schönen Geschlechts sich seine Familie aus allen gefundenen, erreichbaren und unerreichbaren Schönheiten bildet; wie der Liebhaber von Bildern in einer Zauberwelt der Träume lebt, die auf Leinwand gemalt sind. So vereinigt der Liebhaber des All-Lebens sich mit der Menge, als

träte er mit einem ungeheuren Vorrat an Elektrizität in Verbindung. Auch mit einem Spiegel lässt er sich vergleichen, ebenso unabsehbar wie diese Menge selbst; oder mit einem Kaleidoskop, das mit Bewusstsein ausgestattet wäre und das uns jedes Mal, wenn man es schüttelt, das Leben in seiner Vielfalt und die bewegliche Anmut aller Lebenselemente erblicken lässt. Er ist ein Ich, das unersättlich nach dem Nicht-Ich verlangt, und dieses in jedem Augenblick wiedergibt, es in Bildern darstellt, die lebendiger sind als das immer unbeständige und flüchtige Leben selbst. „Jeder Mensch“, sagte M.G. eines Tages bei einem jener Gespräche, die er durch seinen scharfen Blick und eine beschwörende Geste erhellt, „jeder Mensch, den nicht ein so schwerer Kummer drückt, dass er alle Fähigkeiten in ihm auslöscht, und der sich inmitten der Menge langweilt, ist ein Dummkopf! ein Dummkopf! und ich verachte ihn!“

Charles Baudelaire: „Der Maler des modernen Lebens“, S. 222–223

Fotos: Apic/Getty Images; akg-images

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WO WIR GEHEN

Der Exzentriker und Dandy Charles Baudelaire schuf mit dem Gedichtzyklus „Die Blumen des Bösen“ (1857) einen zu Lebzeiten erbittert umstrittenen Schlüsseltext der modernen Literatur. Nachdem er sein Erbe durch ausschweifende Lebensweise verschwendet hatte, musste er mit journalistischen Arbeiten seinen Lebensunterhalt verdienen; 1867 starb er an den Spätfolgen einer Syphilis in Paris


„Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird um­spült von der Eile der andern “ Franz Hessel, „Spazieren in Berlin“, S. 19


Die Wege der Gedanken

Wandern v WIE WIR GEHEN

58 Philosophie Magazin Sonderausgabe 10

Wie unterschiedlich die Gangarten des Menschen sind, ist Gegenstand nicht nur der charmantesten Alltagsbeobachtungen, sondern auch der politischen wie der poetischen Reflexion. Wie wir gehen, ist weder trivial noch zufällig – in Eile oder mit Muße, als Männer oder als Frauen, als Deutsche oder als Franzosen, als Dichter oder als Denker


Philosophie Magazin Sonderausgabe 10

W IR G EH E N 59

WIE WIR GEHEN

Wie Die Wege der Gedanken

Wandern v

Foto: Bruno Augsburger


Philosophie Magazin Sonderausgabe 10

GESPRÄCH MIT MICHEL SERRES

von Sven Ortoli

Ich gehe, also

denke ich

62 WIE WIR GEHEN Die Wege der Gedanken

Wandern v


Um welches Meistmögliche handelt es sich? Um eine Idee?

Foto: Lottie Davies, from the project ‘Quinn’

Eine Idee kommt nicht zwangsläufig beim Gehen,

sie kommt, wann sie will. Doch sie kommt aus einer anderen Welt, mit der man durch das Gehen in Kontakt treten kann. In Aischylos’ Tragödie „Die Perser“ stellt sich der Chor vor das Grab des großen Dareios und beginnt eine Art sehr rhythmisierten Singsangs, um den Geist erscheinen zu lassen: „Aidoneus, Entsender, lass ihn herauf, Aidoneus! Allein den Gebieter Dareios!“ Etwas von diesem Chor findet sich auch im Gehen. Eine identische Beschwörung, ein Singsang der Schritte, ein Rhythmus, der es – wenn man Glück hat – dem Geist erlaubt, aus dem Grab emporzusteigen. Ich gehe niemals ohne Papier und Stift los, weil

Das Gehen führt in eine andere Welt?   Es heißt, Beethoven habe seine Pastoralen von seinen Spaziergängen heimgebracht. Das Gehen lässt in die Welt der Inspiration, des Denkens, der Musik eintreten, eine Welt, die die gleiche Realität hat wie mathematische Idealitäten und Konzepte. Das wahre Leben aber ist das Überleben; das ist etwas anderes. Mein Metier besteht alles in allem darin, mich auf die Suche nach einer anderen Welt zu begeben. Und manchmal finde ich sie im Gehen, jenem Moment, in dem man den Körper in Beziehung setzt mit einem Anderswo, das man nur durch den Kurzschluss zwischen einer körperlichen Aktivität und jenem nichtkörperlichen Ort erreichen kann. Der Körper desjenigen, der vor seinem Computer sitzen bleibt, beginnt verloren zu gehen, er wird abwesend. Doch sobald man sich erhebt und losläuft, aktiviert sich der eigene Körper. Gehen ist die Hälfte meines Metiers.

Die Wege der Gedanken

WIE WIR GEHEN

MICHEL SERRES

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Ich bin immer ge­wan­dert. Ich kann nicht darauf verzichten, selbst jetzt, da ich ein hinkender Linksfuß geworden bin. Ich gehe jeden Tag mindestens anderthalb Stunden zu Fuß. Allein. Das Gehen, so wie ich es im Allgemeinen praktiziere, ist ein entdeckendes Gehen. Je nackter man ist, das heißt ohne nutzlose Objekte, desto besser öffnet man sich jeder Eventualität. Nicht das, was man beim Gehen mit sich führt, ist von Bedeutung, weil das Mitgebrachte, sogar der Abfall, bei einem bleibt. Man muss so wenig wie möglich mitnehmen, um bereit zu sein, das Meistmögliche zu empfangen.

manchmal mehrere Geister nacheinander erscheinen können, und ich will nicht, dass der letzte die vorherigen in meinem Gedächtnis auslöscht.

Die andere Hälfte ist das Schreiben. Ist die Verbindung zwischen beiden offensichtlich?   Es gibt ein Wort, um diese Verbindung zu beschreiben: boustrophedon. Dieses alte, seltsam klingende Wort bezeichnete das primitive Schreiben unserer griechischen Vorfahren, das von links nach rechts und dann, in der folgenden Zeile, in entgegengesetzter Richtung lief – wie die beiden Ochsen, die der Bauer mit der Stimme anspornte, wenn sie zu dritt auf dem Feld arbeiteten und den Pflug zogen und führten, über den Lehmboden stampften und sich langsam, schwerfällig, in Zickzacklinien ihren Weg bahnten, erst vom linken zum rechten Feldrain und dann, in der folgenden Furche, umgekehrt von rechts nach links. Auf einer Seite (page) zu schreiben,

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Sie sind Seemann, Alpinist, doch mehr als alles andere sind Sie Wanderer, oder?

Wandern v

Fern der Städte, in denen er den Eindruck hat, „am Grunde eines Canyons“ zu sein, durchmisst Michel Serres das freie Land oder die Berge, wo ihm der Himmel aufgeht. Für ihn ist Schreiben und Gehen eins. Poesie entsteht, sobald ein Dichter einen Fuß vor den anderen setzt; bereits die griechische Poesie schmiegte sich an den Rhythmus der Jamben (ein kurzer Schritt, ein langer). Als inspirierter Wanderer lädt Michel Serres dazu ein, diesen grundlegenden Rhythmus als einen inneren Gesang zu vernehmen, der auch das Präludium zur Entfaltung des Denkens ist


Wandern v Die Wege der Gedanken

Nie ohne Stock Knigge ist ein genauer Beobachter und formuliert leidenschaftlich gern praktische Empfehlungen für jede Lebenslage, so auch für das Reisen und insbesondere das Zu-Fuß-Reisen

Fußwege anzeigen, die näher als die gewöhnlichen sein sollen. So wie überhaupt diese Menschen voll Vorurteile und voll Anhänglichkeit an alte Gewohnheiten sind, so gehen sie auch immer die Wege, die vom Vater auf den Sohn herab als die nächsten sind anerkannt worden, ohne daß sie Augenmaß und Überlegung gebrauchen, um die Irrtümer ihrer Voreltern zu berichtigen. Hat man große Tagereisen zu Fuße zu machen, so genieße man früh morgens nichts als ein Glas Wasser. Hat man dann einige Stunden zurückgelegt und fühlt sich ermüdet, so ist Kaffee und Brot zur Erquickung heilsam. Selten ein Glas Wein kann auch nicht schaden; Branntwein macht müde und schlaff. Will man sich ausruhn, so hüte man sich, zu nahe an der Straße sich unter einen Baum zu legen. Das sind gewöhnlich Plätze, wo Bettelleute sich lagern und Ungeziefer zurücklassen. Macht man den Weg durch einen unbekannten Wald und denkt binnen einen oder zwei Tagen wieder zurückzukehren, so streue man hie und da abgerissene Zweige auf seinen Pfad, um darnach den Weg wiederzufinden. Man gehe nie ohne Gewehr, wenigstens nie ohne Stock. Adolph Freiherr von Knigge: „Über den Umgang mit Menschen“, S. 274–275

ADOLPH FREIHERR VON KNIGGE (1752–1796)

Der deutsche Aufklärer veröffentlichte 1788 das Werk, für das sein Name noch heute als Synonym steht, die Schrift „Über den Umgang mit Menschen“. Anders als das heute übliche verkürzte Verständnis eines „Knigge“ als eines Benimmratgebers, ist Knigge als Sozialpsychologe in einem weit umfassenderen moralischen Sinn mit den Sitten der Menschen befasst

Foto: akg-images; Denise Grünstein/Link Image

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WIE WIR GEHEN

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as Fußgehn ist gewiß die angenehmste Art zu reisen. Man genießt die Schönheiten der Natur; man kann sich unerkannt unter allerlei Leute mischen, beobachten, was man außerdem nicht erfahren würde; man ist ungebunden; kann das freundlichste Wetter und den schönsten Weg wählen; sich aufhalten, einkehren, wenn und wo man will; man stärkt den Körper; wird weniger erhitzt und gerüttelt; hat Appetit, hat Schlaf, und ist, wenn Müdigkeit und Hunger der Bewirtung das Wort reden, leicht mit jeder Kost und jedem Lager zufrieden. Ich bin auf diese Weise einige Kreise von Deutschland verschiedenemal durchwandert und habe unter andern auf solche Art die erste genauere Bekanntschaft mit dem Paradiese von Deutschland, mit der schönen Pfalz gemacht. Hier wurde der Entschluß in mir reif, eine Zeitlang mich da niederzulassen, wo ich nachher vier Jahre hindurch so manche glückliche Stunde in der herrlichsten Gegend, an der Seite edler Menschen und unvergeßlich lieber Freunde verlebt habe, denen ich hier dies kleine Opfer treuer, dankbarer Hochachtung bringe; aber ich habe doch auch gefunden, daß diese Art zu reisen in Deutschland mit einiger Schwierigkeit verknüpft ist. Zuerst hat man die Ungemächlichkeit, nur wenig Kleidungsstücke, Bücher, Schriften und dergleichen mit sich führen zu können. Diesem kann man indessen dadurch einigermaßen abhelfen, daß man, was etwa ein Bote nicht tragen kann, mit der Post in die Hauptörter schickt, durch welche man reisen will. Allein eine zweite Unbequemlichkeit besteht darin, daß diese in Deutschland für einen Mann von Stande ungewöhnliche Art zu reisen zu viel Aufmerksamkeit erregt, und daß die Gasthalter nicht eigentlich wissen, wie sie uns behandeln sollen. Ist man nämlich besser gekleidet als gewöhnliche Fußgänger, so hält man uns entweder für verdächtige Menschen, für Abenteurer oder für Geizhälse; man wird beobachtet, ausgefragt, und mit einem Worte, man paßt nicht in den Tarif, nach welchem die Wirte ihre Fremden zu taxieren pflegen. Ist man aber schlecht gekleidet, so wird man wie ein reisender Handwerksbursche in Dachstübchen und schmutzige Betten einquartiert, oder man muß jedesmal weitläufig erzählen: wer man ist und warum man nicht mit Kutschen und Pferden erscheint. Bei Fußreisen ist die Gesellschaft eines verständigen und muntern Freundes vorzüglich angenehm. Man verlasse sich nicht auf die Bauern, wenn sie uns


„Spatzierengehn ins Freye unterhält die Bekanntschaft mit der Natur. Der Städter ist leicht in Gefahr, den Sinn für die Natur zu verlieren.“ Karl Gottlob Schelle, „Die Spatziergänge oder die Kunst spatzieren zu gehen“, S. 66–67


Die Wege der Gedanken

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GESPRÄCH MIT THEA DORN

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von Catherine Newmark

deutsche Wandern Das

Von der deutschen Liebe zum Wandern zeugen nicht nur zahllose Wandervereine, sondern auch eine ausgeprägte lyrische und literarische Tradition. Aus welchen Tiefen der Geschichte sich die deutsche Wanderlust nährt und welche Verbindungen sie möglicherweise zu weniger unschuldigen Formen des Nationalismus unterhält – Fragen an die Spezialistin für die deutsche Seele Thea Dorn


Sie sind eine passionierte Wanderin – ist das etwas, was Sie zu einer typischen Deutschen macht?

Foto: Berthold Steinhilber/laif

THEA DORN    Ich fürchte, ja. Wenn Sie mich zwingen würden, das Deutsche anhand von zehn Merkmalen zu skizzieren, würde für mich die Wanderlust sicher dazugehören …

Inwiefern ist Wandern spezifisch deutsch? Wird nicht auch anderswo gewandert?   Klar. Aber andere Länder haben das Wandern nicht in der gleichen Weise zum Teil ihres kulturellen Selbstverständnisses erhoben, wie dies in Deutschland der Fall war und ist. Um dieses eigentümliche Phänomen zu erklären, muss ich auf den Unterschied eingehen, den es im Deutschen zwischen Kultur und Zivilisation gibt.

Das Wandern als Selbstzweck wurde im späten 18. Jahrhundert entdeckt. Ein Schriftsteller wie Johann Gottfried Seume hätte seine legendäre Reise nach Syrakus nicht im Wesentlichen zu Fuß zurücklegen müssen. Zwar hätte er es in der Kutsche nicht unbedingt bequemer gehabt, aber er wäre deutlich schneller nach Sizilien gekommen. Im Zeitalter der Aufklärung und mehr noch in der Romantik wurde das Wandern für die Deutschen zu einer Art säkularisiertem Pilgern. Ersatzgottesdienst an der frischen Luft. Ein „In die weite Welt hinaus“, das gleichzeitig Einkehr in die Natur ist. Und, ganz wichtig: das Bedürfnis nach Entschleunigung. Dieses Bedürfnis gab es in Deutschland bereits, als es aus unserer heutigen Sicht noch im Schneckentempo zuging. Es gibt einen herrlichen Text von Joseph von Eichendorff, in dem er eine seiner ersten Fahrten mit der Eisenbahn beschreibt. Nach wenigen Stationen steigt er aus und geht zu Fuß weiter, weil er es nicht erträgt, die Landschaft rechts und links vorbeifliegen zu sehen. Die hartnäckige Sorge, den Kontakt zur Natur zu verlieren, scheint mir einer der markantesten Züge der Deutschen zu sein.

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Aber wie und warum wird das Wandern zu einer so wichtigen Kulturform in Deutschland?

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In der angelsächsischen Welt spricht man üblicherweise vom Gegensatz nature versus culture. Aus deutscher Perspektive ergibt das wenig Sinn. In keiner anderen Sprache hat sich das Gespür dafür, dass Kultur von cultura abstammt, also vom Ackerbau, von der Landpflege, so massiv aufbewahrt wie im Deutschen. Im Prozess der Kultivierung schwingt stets die Frage mit: „Wird Natur hier tatsächlich noch kultiviert? Oder wird sie schon vergewaltigt?“ Der angelsächsische oder französische Begriff der Zivilisation hingegen hat mit Natur nicht das Geringste zu tun, im Gegenteil: Es geht darum, Natur durch technische Mittel und soziale Vereinbarungen zu überwinden. Dementsprechend merkwürdig wäre es, Wandern als Ausdruck von Zivilisation zu betrachten. Selbstverständlich gab und gibt es auch wanderfreudige Franzosen, Briten oder Amerikaner. Nehmen Sie die englischen Romantiker, die den Lake District erkundeten und verklärten. Aber anders als in Deutschland gelang es diesen Wandervögeln nie, eine breite gesellschaftliche Bewegung zu stiften. Die Franzosen haben das urbane, elegante Flanieren erfunden, die Amerikaner den Road Trip, während die Deutschen unbeirrt am Wandern festhielten.


Foto: Hu Guoqing

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94 WARUM WIR GEHEN Die Wege der Gedanken

Wandern


Die Wege der Gedanken

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Warum

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Nicht immer lustwandeln wir ziel- und zwecklos und hängen dabei verträumt unseren Gedanken nach. Manche Wege haben durchaus ein Ziel. Ob Pilgerreisen, politische Protestmärsche oder schlicht die Suche nach einem Ort innerer Freiheit – das Gehen kann beträchtliche Wirkmacht entfalten

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Fotos: Mondadori Portfolio/www.bridgemanimages.com; www.bridgemanimages.com

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LANGER MARSCH (1934)

Der lange Marsch unter der Führung Mao Zedongs gilt als Gründungsmythos des kommunistischen Chinas: Um im Bürgerkrieg den nationalen Regierungstruppen von Chiang Kai-shek zu entkommen, zieht die Rote Armee im Oktober 1934 Tausende Kilometer von Südchina in den Norden des Landes. 100 000 Kommunisten, teilweise nur notdürftig ausgestattet, schließen sich diesem Marsch an. Die meisten fallen Hunger, Krankheiten oder den Angriffen der Nationalisten zum Opfer. Knapp ein Jahr später erreicht Mao mit gerade noch 6000 Menschen die Provinz Shaanxi, wo er das neue Hauptquartier der k­ ommunistischen Partei aufbaut.


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MARSCH AUF WASHINGTON FÜR ARBEIT UND FREIHEIT (1963)

„I Have a Dream“: Über 200 000 Menschen versammeln sich am 28. August 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington, D.C., um das Ende der Rassendiskriminierung zu fordern. 80 Prozent der Demonstrierenden sind afroamerikanischer Herkunft, und der Bürgerrechtsaktivist Martin Luther King hält seine berühmte Rede, in der er Gleichberechtigung für alle Menschen unabhängig von Rasse fordert. Die Demonstration geht als bis dahin größte politische Demonstration in die Geschichte der USA ein und führt zur Durchsetzung des Civil Rights Act im Jahre 1964, der gesetzlichen Aufhebung der Rassentrennung.


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FRIEDRICH NIETZSCHE (1844–1900)

Die Vormittagsseele Das Wandern ist für Nietzsche eine Metapher für das Umherziehen des Geistes, ein Sinnbild für den permanenten Wandel, dem der Mensch unterlegen ist. Nur wer gelernt hat, das sich stetig Verändernde zu kultivieren, kann sein Leben gemäß eigener Werte ausrichten. Der freie Geist schöpft seine Nahrung aus dem Umherziehen in Bergen und Wäldern

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er Wanderer. — Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wan­ derer, — wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; desshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Thor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Thor reicht, dass die Raubthiere bald ferner bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm seine Zug­ thiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die schreckli­ che Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Mor­ gensonne auf, glühend wie eine Gottheit des Zornes, öff­ net sich die Stadt, so sieht er in den Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz, Trug,

Unsicherheit, als vor den Thoren — und der Tag ist fast schlimmer, als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vor­ mittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wip­ feln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie dar­ über nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölf­ ten Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, ver­ klärt-heiteres Gesicht haben könne: — sie suchen die Philosophie des Vormittages.

Friedrich Nietzsche: „638: Der Wanderer“, in: „Menschliches, Allzumenschliches“, S. 362–363

Fotos: akg-images; Jody MacDonald

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WARUM WIR GEHEN

Nietzsche war nicht nur einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein passionierter Spaziergänger. Die Streifzüge in Wäldern und um Seen, vor allem im Oberengadin und in Sils Maria, dienten ihm als Quelle geistiger Inspiration. So „überfiel“ Nietzsche auf einer Wanderung 1881 der Gedanke der ewigen Wiederkehr, der sein Denken zeitlebens prägen würde


„Zu Fuß reist man wirklich erst dann, wenn der Mensch nur noch ein beseeltes Gepäckstück ist “ Saint-Pol-Roux, „Geschwindigkeiten“, S. 28


Promenadologie Die Spaziergangswissenschaft Irgendwo zwischen Stadtplanung, Soziologie und Aktionskunst steht die von Begründer Lucius Burckhardt mit ironischer Geste zur eigenen Wissenschaftsdisziplin erhobene „Promenadologie“. In ihrem Zentrum: die Forderung nach einer durch das Tempo des Selbstgehens entschleunigten ­­ Wahrnehmung des Raumes. Kein Wunder ist die Promen­adologie eine eminent praktische Wissenschaft, die sich nur zu Fuß studieren lässt von JULE HOFFMANN

Bis heute verkörpert niemand die Spaziergangswissenschaft so gut wie ihr Erfinder selbst: In einer Videoaufnahme von 1985 sieht man, wie Lucius Burckhardt hochgewachsen und hager aus seiner Haustür tritt und wiegenden Schrittes den Bürgersteig entlanggeht. Nur wenige Jahre später verkündet er: „Wir führen eine neue Wissenschaft ein: die Promenadologie oder Spaziergangswissenschaft. Sie gründet sich auf die These, dass die Umwelt nicht wahrnehmbar sei, und wenn doch, dann auf Grund von Bildvorstellungen, die sich im Kopf des Beobachters bilden und schon gebildet haben.“ Die Wahrnehmung und Gestaltung der Umwelt wurde zum Forschungsgegenstand, der Spaziergang zur Methode. Dass Burckhardt eine sorglose Tätigkeit wie das Spazieren zur Wissenschaft erklärte, lässt seinen antiautoritären Gestus erkennen: Ein Querdenker mit Prinz-Eisenherz-Frisur und markanter Nase, der verschiedene Disziplinen wie Architektur, Stadtplanung, Soziologie und Design zusammendachte. Schon in den 1950er-Jahren kämpfte er Seite an Seite mit Max Frisch und Markus Kutter gegen den autogerechten Umbau seiner Heimatstadt Basel. Diese Erfahrung sowie der Bauboom der Nachkriegsjahre und die daraus resultierende Urbanismusdebatte prägten seine kritische Haltung. Ihr entsprechend formulierte er auch seinen promenadologischen Ansatz: „Die Spaziergangswissenschaft will die menschenfeindliche Planung, das Brutale der gegenwärtigen Lebensform aufzeigen … Spazierengehende Menschen sind schon durch den Gebrauch ihrer Füße langsamer – und da sie gehen, weil sie Lust dazu haben, und nicht, um anzukommen, sind sie zeitlich unberechenbar.“

Foto: Chris Anderson/Magnum Photos/Agentur Focus

LUCIUS BURCKHARDT – ERFINDER DER SPAZIERGANGSWISSENSCHAFT


„FAHRT NACH TAHITI“ UND ANDERE WAHRNEHMUNGSEXPERIMENTE Um spaziergangswissenschaftliche Inhalte zu vermitteln, unternahm Lucius Burckhardt mit seinen Studierenden zahlreiche Wahrnehmungsexperimente, die in Form von Interventionen im öffentlichen Raum nicht selten Aufsehen erregten. So verlegte er eines Tages sein Seminar samt Tischen und Stühlen auf einen Parkplatz, für den er vorschriftsmäßig Parkgebühren zahlte. In der Aktion „Das Zebra streifen“ überquerten seine Studierenden mit einem mobilen Zebrastreifenteppich eine sechsspurige Straße. Beim sogenannten „Autofahrerspaziergang“ wiederum spazierten Burckhardt und andere mit selbstgebastelten Windschutzscheiben durch die Straßen von Kassel, um die Umgebung aus der Perspektive von Autofahrern zu betrachten. Ob in Form einer Kunstperformance oder eher einer Demonstration – aus den Aktionen spricht vor allem die Lust am Bruch mit den Konventionen. Was heute schrullig bis albern erscheinen mag, ist womöglich nur dem Versuch der Beschreibung ge­schuldet. „Die Spaziergangswissenschaft sucht den Ort und das Lebendige auf“, betonte Burckhardt – sie ist keine „Schreibtischwissenschaft“. Wer also nicht dabei war, kann auch nichts wissen.

Die Wege der Gedanken

Wandern v WARUM WIR GEHEN

Das erklärte Ziel der Spaziergangswissenschaft, die Alltagswahrnehmung aus ihren Schranken zu befreien, betrachtete Burckhardt als unabdingbar für eine sinnvolle Gestaltung der Umwelt. Gerade der urbane Raum bietet, weil spaziergangsmäßig stark vernachlässigt, dem Spaziergangswissenschaftler viele Anhaltspunkte: „In diesen von den meisten Menschen bewohnten und besuchten Zonen unserer Lebenswelt ist der promenadologische Kontext, der zum Verständnis des Gesehenen führt, zusammengebrochen.“ Vor allem die Nutzung schneller Verkehrsmittel führt zu einer Entfremdung von der unmittelbaren Umgebung. Mit Blick auf die großen Metropolen beklagt Burckhardt den „Nicht-Anmarsch“ mit der Métro, der zu einer „Nicht-Wahrnehmung“ des Raums führt. Auf der anderen Seite bietet Zufußgehen allein auch keine Garantie für eine tiefer greifende Wahrnehmung. Burckhardt entwickelte deshalb eigens für seine Spaziergangswissenschaft gewisse Kunstgriffe wie performative Spaziergänge, um einen ästhetischen Blickwechsel auf die Stadt zu motivieren. Wichtig dabei: Der promenadologische Blick zielt nicht nur auf die äußeren Erscheinungsformen, sondern auch auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Funktionen der Stadtarchitektur: „denn der Kiosk lebt davon, dass mein Bus noch nicht kommt und ich eine Zeitung kaufe, und der Bus hält hier, weil mehrere Wege zusammenlaufen“. Design ist unsichtbar, lautet entsprechend ein bekannter spaziergangswissenschaftlicher Slogan.

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STADT ALS (SOZIALE) LANDSCHAFT

Die Spaziergangswissenschaft, „diese unakademische Methode der Umwelterkundung und Wahrnehmungsinterpretation“, wie der Verleger und einstige Student Burckhardts Martin Schmitz schreibt, hat keinen Eingang ins universitäre Establishment gefunden. Als soziologische Methode ist sie jedoch vielfach aufgegriffen worden, in der Architektur, in der Stadt- und Landschaftsplanung und im Design. Die Weiterführungen und Anknüpfungen hat Bertram Weisshaar, ebenfalls einst Student bei Burckhardt, 2013 in dem Band „Spaziergangswissenschaft in Praxis“ versammelt. Als eine Art radikalisierte Form des spaziergangswissenschaftlichen Ansatzes lässt sich heute Urban Exploration betrachten. In „Explore Everything. Place-Hacking The City“ beschreibt der Geograf und Aktivist Bradley L. Garrett, wie Urban Explorer die Städte erkunden und Machtstrukturen aufdecken: Sie klettern auf Hochhausdächer, steigen in Tunnel und U-Bahn-Schächte. Die „menschenfeindliche Planung“, die Lucius Burckhardt anprangerte, fordert heute Urban Explorer zu Grenzüberschreitungen im Stadtraum heraus, den sie sich auf diese Art zurückerobern. Ein spaziergangswissenschaftlicher Kerngedanke.

Zitate aus: Lucius Burckhardt: „Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft“, 2008

Philosophie Magazin Sonderausgabe 10

URBAN EXPLORATION – BURCKHARDTS ERBE?


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