Nr. 02 / 2016
Februar /März
MAGAZIN
Bergson und das Gedächtnis
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NUDGES: Manipuliert in ein besseres Leben?
4 192451 806907
Die Ankunft von einer Million Flüchtlinge zwingt Deutschland, sich neu zu erfinden. 27 Philosophen beantworten die drängendsten Fragen
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €
Was tun?
Bruno Latour: „Die Natur muss ins Parlament!“
www.klett-cotta.de
Denker in diesem Heft
Was tun in der Flüchtlingskrise? Diese Denker beantworten die wichtigsten Fragen
Gerhard Schweizer: Syrien verstehen Geschichte, Gesellschaft und Religion 510 Seiten, broschiert, € 9,95 (D) / € 10,30 (A) ISBN 978-3-608-94908-7
Wer Syrien verstehen will, muss jenes Syrien kennen lernen, als es noch nicht zerstört war: Seine Geschichte, seine Politik, seine Religion. Dann wird deutlich, wie sehr der gesamte Nahe Osten von der Lage in Syrien abhängt. »Die von Schweizer gegebenen Informationen verdichten sich zu einem umfassenden Bild des Staates, der damals wie heute eine Schlüsselrolle im vorderen Orient spielt.« Verena Daiber, Buch-Journal
Unsere Denker und Denkerinnen:
Paolo Flores d’Arcais / Aleida Assmann / Armen Avanessian / Tilman Borsche / Fritz Breithaupt / Heinz Bude / Marc Crépon / Souleymane Bachir Diagne / Rainer Forst / Gunter Gebauer / Volker Gerhardt / Hans Ulrich Gumbrecht / Michael Hampe / Lamya Kaddor / Hilge Landweer / Claus Leggewie / Reinhard Merkel / David Miller / Susan Neiman / Rupert Neudeck / Julian Nida-Rümelin / Robert Pfaller / Hartmut Rosa / Peter Singer / Barbara Vinken / Harald Welzer / Heinz Wismann Die nächste Ausgabe erscheint am 17. März 2016
Fotos: lapresse – Roberto Monaldo; Axel Griesch/Humboldt Foundation; Malte Jäger; privat (2); picture-alliance/dpa; Olivier Roller; Edouard Caupeil; Nina Flauaus; FU Berlin; Thomas Schwieger/www.purephotography.de; Reto Klar; Julian Salinas; srf; FU Berlin; picture-alliance/dpa-Report/Karlheinz Schindler; picture-alliance/Eventpress Stauffenberg; privat; Katja Hoffmann/laif; Rupert Neudeck/getty images; ullstein bild – Teutopress; privat; Eamonn McCabe; Joerg Glaescher; Dieter Mayr; Steffen Roth; Louis MONIER/GAMMA/getty images
»Wer Schweizer gelesen hat, sieht Syrien anders – wirklicher: ein Land, das wenig mit den abendländischen Klischees zu tun hat.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
Intro
Horizonte
Dossier
Ideen
S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe
S. 26 Analyse Nudges: Manipuliert in ein besseres Leben? Von Adrien Barton S. 34 Gespräch „Die Natur muss ins Parlament“ Bruno Latour entwirft eine neue Klimapolitik
Was tun?
S. 70 Das Gespräch Arjun Appadurai S. 76 Werkzeugkasten Lösungswege / Gedanken von anderswo / Die Kunst, recht zu behalten S. 78 Der Klassiker Henri Bergson und das Gedächtnis Von Frédéric Worms + Sammelbeilage: „Materie und Gedächtnis“ Mit Élie During
Zeitgeist
S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Donald Trump: Republikanischer Rabauke im Wahlkampf / Das Ende einer Illusion: Glückliche leben nicht länger / Kampf gegen den IS: Michael Walzer über den gerechten Krieg S. 20 Erzählende Zahlen Die neue Kolumne von Sven Ortoli S. 22 Weltbeziehungen Kann das weg? S. 34 Kolumne von Hartmut Rosa
Verantwortung – Identität – Chancen: Die Ankunft von einer Million Menschen zwingt Deutschland, sich neu zu erfinden. 27 Philosophen beantworten die wichtigsten Fragen zur Flüchtlingskrise S. 44 Unsere Verantwortung Im Angesicht des Leids Von der Schuld zur Pflicht? Unbedingte Solidarität? S. 52 Wer sind „wir“? Was wäre deutsch? Die Anderen und wir Unverzichtbare Werte? S. 60 Wie schaffen wir das? Grenzen der Toleranz Gefahren als Chancen Deutschland, Zukunftsland?
Bücher S. 84 Buch des Monats Der Blockwart in dir Jörg Baberowski: Räume der Gewalt S. 86 Thema Wipfel der Weisheit – Die Tagebücher Henry D. Thoreaus S. 88 Scobel.Mag S. 90 Die PhilosophieMagazin-Bestenliste
Illustrationen: Paul Blow; Fotos: LAZY MOM; Daniela Edburg from the series „Breakfast pieces“; AMKK
Finale
S. 69
S. 27
S. 92 Agenda S. 94 Comic S. 95 Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Das Dickhornschaf / Das Gare ist das Wahre S. 98 Sokrates fragt Martin Gore
S. 85
Philosophie Magazin Nr. 02 / 2016 / 5
Horizonte
Analyse
NUDGES Manipuliert in ein besseres Leben?
Auf Zigarettenschachteln, in Selbstbedienungsläden und Krankenhäusern – sogenannte „Nudges“ sind überall. Was sollen wir halten von diesen „Anstupsern“, die uns dazu bewegen wollen, Gutes zu tun? Clevere Entmündigung oder gesellschaftsrettender Kniff ? Fachmännisch seziert der Philosoph Adrien Barton sechs dieser Manipulationstechniken und wägt Vor- und Nachteile ab
26 / Philosophie Magazin Februar / März 2016
Adrien Barton Adrien Barton ist Postdoktorand der Sozialwissenschaften an der Universität Sherbrooke in Québec. Vor kurzem hat er ein Spezialheft der „Review of Philosophy and Psychology“ über Nudges herausgegeben. Darin versammelt sind interdisziplinäre Beiträge von Philosophen, Psychologen, Ökonomen, Juristen und Neurowissenschaftlern
hat. Thaler hat den britischen Premier David Cameron beraten, was zur Gründung des Behavioral Insights Team führte, einer Kommission, die sich dem Einsatz von Nudges im Vereinten Königreich widmet. Sunstein war der Kopf der Kommission von Barack Obama, des Office of Information and Regulatory Affairs (OIRA). Eine executive order, ein Dekret des amerikanischen Präsidenten vom 15. September 2015, fordert die Bundesbehörden auf, die Ergebnisse der Verhaltensforschung in ihren Programmen zu berücksichtigen. Und auch in Merkels Kanzleramt ist eine Taskforce für Nudges aktiv. Es gibt zudem jede Menge wissenschaftlicher Literatur aus den Bereichen Philosophie, Psychologie, Wirtschaft, Rechtswissenschaft und Medizin, die das Nudging von allen Seiten durchleuchtet und es auf Nutzen und Stichhaltigkeit prüft. Tatsächlich wirft das Nudging zahlreiche ethische und politische Fragen auf: Darf der Staat auf diese Weise Einfluss nehmen auf uns? Der Angst vor „Big Brother“ folgt die Vorstellung von „Little Brother“, der uns von Anstupser zu Anstupser sanft, aber bestimmt zu einer normierten Verhaltensweise drängt, wobei jede Anwandlung politischen Widerstands im Keim erstickt würde. Handelt es sich um eine unrechte Form der Manipulation und des psychologischen Totalitarismus? Ein kleiner Überblick in sechs Punkten.
Autorenfoto: privat
W
as haben am Boden eines Pissoirs aufgeklebte Fliegen, das Foto einer von Krebs zersetzten Lunge auf einer Schachtel Zigaretten und der Slogan der RATP, des Pariser Personennahverkehrs, „Bleiben wir höflich auf ganzer Linie“, gemeinsam? Antwort: Alle drei sind Nudges, oder wie man auch auf Deutsch sagen könnte, Anstupser (fett Gedrucktes wird im Glossar S. 32 näher erläutert): nicht verpflichtende, jedoch psychologisch effektive Eingriffe, die uns dazu bringen wollen, uns anständiger zu verhalten. Die Männer scheinen der Versuchung, auf die Fliege zu zielen, kaum widerstehen zu können, sodass weniger danebenlandet; wegen der unschönen Fotos ist der Zigarettenkonsum geringer; die Kampagne der Pariser Verkehrsbetriebe ermuntert uns, unsere Sitznachbarn zu respektieren. Steht hinter den Anstupsern eine öffentlich-rechtliche Institution (häufig der Staat), mit dem Ziel, das Individuum seinen Interessen gemäß zu lenken, spricht man von libertärem Paternalismus: „Paternalismus“, weil die Institution dem Individuum bei Entscheidungen Orientierungshilfen zu seinem Wohle gibt, wie ein Elternteil; „libertär“, weil das Individuum frei bleibt, anders zu handeln. Vorsichtig ausgedrückt kann man sagen, dass das Konzept der Anstupser, das der Verhaltensökonom Richard H. Thaler und der Jurist Cass R. Sunstein entwickelt haben, international großes Gehör gefunden
Illustrationen von Paul Blow
Da haben wir den Salat: Die Entscheidungsarchitektur
F
rühstückspause, Sie haben Hunger! Aber irgendetwas ist anders als sonst in der Kantine: Vor Ihnen steht eine Salatbar anstelle der gewohnten Auslage mit Pizza. Hmmm, ein Salat? Ist sonst eher nicht Ihr Geschmack, aber warum nicht? Ist mal was anderes und auch besser für die Linie. Als Sie sich der Kasse nähern, kommen Sie an dem verleg-
ten Pizzastand vorbei. Kurz durchzuckt Sie der Gedanke, Ihren Salat gegen eine Pizza einzutauschen, aber Sie überlegen es sich schnell: Sie geben doch jetzt nicht Ihren schönen Salat wieder her – was man hat, das hat man! Während Sie an der Kasse stehen, erblicken Sie noch einen Korb mit knackigen Äpfeln. Her damit! Sie schnappen sich einen, etwas Obst wird Ihnen auch nicht schaden.
Diejenigen, die in der Kantine die Menüs vorbereiten, haben in die Entscheidungsarchitektur eingegriffen, also in den Kontext, in dem Ihre Wahl getroffen wird. Wissenschaftler der amerikanischen Universität in Cornell haben gezeigt, dass durch solche Maßnahmen der Konsum von Gemüse um 25 Prozent steigt, der von Obst um 18 Prozent – ein beachtlicher Beitrag zur Ge- >>> Philosophie Magazin Nr. 02 / 2016 / 27
34 / Philosophie Magazin Februar / M채rz 2016
Horizonte
Gespräch
„Die Natur muss ins
Parlament“ Die UN-Klimakonferenz markiert eine epochale Wende im Umgang mit unserem Planeten. Doch Bruno Latour fordert noch mehr. Wir dürfen die Erde nicht länger nur als Objekt politischen Handelns begreifen. Vielmehr ist sie selbst ein lebender Organismus Das Gespräch führte Alexandre Lacroix
Foto: AMKK; Autorenfoto: Sciences Po Paris
I
m Dezember trafen sich die 195 Vertragsstaaten des UNFCCC (United Nations Framework Convention on Climate Change) in Paris und beschlossen eine weltweite Absenkung der CO2-Emissionen. Aber warum, fragt Bruno Latour, sitzen eigentlich bei Klimakonferenzen nur Repräsentanten der Länder am Tisch und nicht Vertreter der Wälder, der Gewässer, der Gletscher? Für den Philosophen ist die Natur kein Gegenstand, über den es zu verhandeln gälte, kein passives Etwas, das der Mensch sich zunutze macht. Vielmehr vertritt er – im Anschluss an den Biophysiker James Lovelock – die sogenannte Gaia-Hypothese: Die Erde ist ein Lebewesen, mächtig und gebärend wie die Große Mutter der griechischen Mythologie. Latour fordert mithin nicht weniger, als dass der Mensch sein Verständnis der Natur radikal überdenke: Für den französischen Philosophen ist sie weder klar von der Kultur zu trennen, noch ist sie an sich gut, wie Umweltschützer gern glauben. Wie aber wäre dann mit ihr umzugehen? Ein Gespräch über eine der größten Herausforderungen unserer Zeit.
Bruno Latour Bruno Latour ist Soziologe, Anthropologe und Wissenschaftsphilosoph. Er gehört zu den zehn meistzitierten Autoren in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Latours Werk steht für eine Erneuerung der Reflexion über Wissenschaft und Ökologie, wie er sie zum Beispiel in dem zum Klassiker gewordenen „Wir sind nie modern gewesen“ (Suhrkamp, 1998) oder in „Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie“ (Suhrkamp, 2001) darlegt. Jüngst ist von ihm auf Französisch erschienen: „Face à Gaïa. Huit conférences sur le Nouveau régime climatique“ (La Découverte, 2015)
In Ihrem neuesten Buch nehmen Sie sich der Gaia-Hypothese an, die 1970 von James Lovelock formuliert wurde. Nun ist Lovelock eine Ikone der Hippie-Generation. Woher kommt Ihre Begeisterung für Lovelock? Bruno Latour : Ich interessiere mich nicht für den zum Weisen stilisierten Lovelock, der zur Ikone einer New-Age-Religion gemacht wurde, die ein Wesen namens Gaia zelebriert. Was mich interessiert, ist, dass dieser Forscher eine Tatsache sehr präzise formuliert hat, die bereits andere vor ihm erahnten, aber die er als Erster umfassend dokumentiert hat: Die Erde ist nicht leblos. Das ist seine große Entdeckung. Die Umwelt ist keine passive Umgebung für Lebewesen, die versuchen, darin zu überleben. Im Gegenteil, unsere Umwelt besteht komplett aus Lebendigem. Können Sie Beispiele nennen? Das offensichtlichste Beispiel ist die Zusammensetzung der Atmosphäre: Der Sauerstoff, den wir einatmen, wurde von Pflanzen erzeugt, durch Photosynthese. Wir wissen, dass die Baumkronen des Regenwaldes in Ama- >>> Philosophie Magazin Nr. 02 / 2016 / 35
DOSSIER
Was
tun?
40 / Philosophie Magazin Februar / März 2016
Foto: Alex Majoli/Magnum Photos/Agentur Focus
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ie Herausforderungen sind enorm. Das Gleiche gilt für die Chancen. Eine Million aufgenommene Flüchtlinge stellen Deutschland vor große Fragen: der globalen Verantwortung, der nationalen Identität, der Zukunft unserer offenen Gesellschaft. Wir haben 27 Philosophen eingeladen, je eine zentrale Frage der Flüchtlingskrise zu beantworten. Entstanden ist dabei ein Dossier, das unsere Ängste und Sorgen ebenso ernst nimmt, wie es unsere Gestaltungskraft beflügelt. Natürlich schaffen wir das! Aber wie?
DOSSIER
Was tun?
Philosophen zur Fl체chtlingskrise
? Foto: plainpicture/Westend61
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44 / Philosophie Magazin Februar / M채rz 2016
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Unsere
VERANTWORTUNG Sie f liehen vor Tod, Gewalt, bitterer Ar-
mut. Sie sprechen eine fremde Sprache, besitzen oft nur noch das, was sie am Leib tragen. Es gibt wenige, die sich beim Anblick dieser Menschen nicht betroffen fühlen. Die nicht zu sich selbst oder offen sagen: Da muss man doch helfen! Kleider spenden. Deutschkurse anbieten. Die provisorisch eingerichteten Heime heimeliger gestalten. Sind nicht gerade wir Deutschen in der Pf licht nach all dem Leid, das wir über die Welt gebracht haben? Und, so meinen manche, immer noch über die Welt bringen durch Ausbeutungsverhältnisse, die mit schuld daran sind, dass diese Menschen ihre Heimat verlassen? In jedem Fall gilt das Grundrecht auf Asyl. Ohne Einschränkung. Gleichgültig, wie man die Notwendigkeit zu helfen moralisch begründet: Irgendwann drängt sich die Frage nach der Grenze auf. Kann unsere Pf licht, unsere Empathie, unsere Verantwortung wirklich das Leid der ganzen Welt umfassen? Wie lange, wie intensiv und über welche Distanzen hinweg können wir uns kümmern? Wie offen kann eine Gesellschaft sein in Zeiten des Terrors? Ist die Aufnahme der Flüchtlinge überhaupt die effektivste Weise, deren Leid zu mildern? Mit Impulsen von Hartmut Rosa, Volker Gerhardt, Hilge Landweer, Aleida Assmann, Marc Crépon, Armen Avanessian, Reinhard Merkel, David Miller und Peter Singer
Philosophie Magazin Nr. 02 / 2016 / 45
DOSSIER
Was tun?
Philosophen zur Flüchtlingskrise
Von der Schuld ZUR PFLICHT?
Welche Ursachen hat das Elend der Flüchtlinge? Stehen die Deutschen besonders in der Verantwortung? Oder gilt die Hilfspflicht einfach überall und absolut?
?!? Hat Deutschland im Rahmen der Flüchtlingskrise eine besondere historisch bedingte Verantwortung?
Aleida Assmann Aleida Assmann ist Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Gemeinsam mit Jan Assmann begründete sie das Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“. Buch zum Thema: „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“ (C. H. Beck, 2013)
48 / Philosophie Magazin Februar / März 2016
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ährend viele Deutsche nach 1945 einen Schlussstrich forderten, der ihnen nach der Nazizeit einen Neubeginn ermöglichen sollte, ist seit den neunziger Jahren in Deutschland eine Erinnerungskultur aufgebaut worden, die die Funktion eines Trennungsstrichs hat. Wir stellen uns der Last dieser Vergangenheit, erkennen die Leiden der Opfer an und übernehmen Verantwortung für die Verbrechen, die im Namen unseres Landes begangen worden sind. Erinnert wird dabei an die Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Juden und anderer ausgegrenzter Minderheiten. Dieser mörderische Plan konnte nur umgesetzt werden, weil die deutsche Mehrheitsgesellschaft damals weggeschaut hat, als die jüdischen Nachbarn gedemütigt, verfolgt, aus ihren Häusern geholt, deportiert wurden und für immer verschwunden sind. Weil den Deutschen über Jahrhunderte hinweg eingeprägt worden war, dass Juden radikal anders sind und eine Bedrohung darstellen, kam es zu diesem unfasslichen kollektiven Aussetzen von Mitgefühl. Der Inhalt unserer Erinnerungskultur wird oft auf die Formel gebracht: „Auschwitz darf sich nicht wiederholen!“ Dass sich Auschwitz noch einmal wiederholt, ist extrem unwahrscheinlich. Die Lehre aus der Geschichte kann aber auch heißen: „Nie wieder ein solcher Mangel an Mitgefühl gegenüber Menschen, die am Nullpunkt ihrer Existenz angekommen sind und auf unsere Unterstützung hoffen!“ Weil wir genau wissen, wozu es führen kann, Menschen als „fremd“ zu etikettieren und ihnen unsere Empathie zu entziehen, geht die Reaktion vieler Deutscher heute in der
Flüchtlingskrise in die entgegengesetzte Richtung. Wir achten weniger auf das, was uns trennt, als auf das, was wir mit den Flüchtlingen gemeinsam haben. Viele deutsche Familien mussten nach dem Krieg ebenfalls aus dem Osten in den Westen f liehen. Sie haben damals nicht gerade eine Willkommenskultur erlebt, aber es wurde ihnen eine „neue Heimat“ (wie die große Baugesellschaft damals hieß) angeboten. Solche Erinnerungen werden jetzt wieder wach und helfen, Ähnlichkeiten zu entdecken und Unterschiede zurückzustellen.
Wir wissen, wohin es führen kann, Menschen als „fremd“ zu etikettieren Die Erinnerung an die NS-Zeit weist also nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. Die Frage, die sich für die Deutschen heute stellt, lautet: Zu was für einer Nation möchte man gehören: zu einer, die verzweifelte Menschen abweist und sich vor ihrer Not verschließt, oder einer, die mit ihnen die gemeinsame Aufgabe einer neuen Zukunft angeht? Darüber zu entscheiden, sind zurzeit alle Deutschen aufgerufen.
Hat die moralische Verpflichtung, Geflüchtete aufzunehmen, Grenzen oder handelt es sich um eine absolute Pflicht?
Marc Crépon Marc Crépon ist Direktor des Centre national de la recherche scientifique in Paris. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen der Zusammenhang von Terror und Poesie sowie die Auswirkungen des Krieges auf das Denken, Erinnern und Handeln. Zuletzt erschien: „La gauche, c’est quand?“ (Éditions des Équateurs, 2015)
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ie moralische Verpf lichtung, Gef lüchtete aufzunehmen, kennt keine Grenzen, vor allem aus zwei Gründen. Wenn man heute über die Frage des Asylrechts und über die Aufnahme von Ausländern diskutiert, in einer Welt voller Gefahren, in der die extreme Gewalt in immer mehr Staaten zunimmt (in Syrien, in Libyen, im Irak), so muss man sich zuallererst bewusst machen, dass die Zustimmung oder Ablehnung, sie aufzunehmen, in vielerlei Hinsicht der Macht über Leben und Tod gleichkommt. Ein solches Vorrecht beanspruchen souveräne Staaten für sich, wenn sie im Alleingang über die Öffnung oder Schließung ihrer Grenzen entscheiden wollen. Ob man will oder nicht, kommt der politische Wille, Gef lüchtete zurückzuweisen und sie so der sicheren Gewalt auszuliefern, einer Billigung von Mord gleich. Man verschließt Augen und Ohren gegenüber dem Schicksal derer, die man an der Flucht aus ihrem Land hindert. Der zweite Grund hat mit den Forderungen der Gef lüchteten zu tun. Was wollen sie denn? Hannah Arendt erinnert daran in ihrer Interpretation von Kafkas „Schloss“, kurz nach ihrer eigenen Flucht in die USA. Was der Fremde fordert – als Recht und nicht als Gnade (wie der Landvermesser K im Roman) –, ist, dass ihm ganz einfache, bescheidene Dinge zugestanden werden, die zugleich lebenswichtig sind: ein minima-
ler Schutz für sich und seine Angehörigen, die Möglichkeit, sich arbeitend ein Leben aufzubauen, das heißt „ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft“ zu werden: nicht mehr und nicht weniger also als „das Minimum menschlicher Existenz“, so Arendt. Dies abzulehnen, ist unmoralisch und verstößt gegen die Menschenwürde. Aus moralischer Sicht ist es durch nichts zu rechtfertigen, zumal sich menschliche Beziehungen prinzipiell auf die Pf licht zu Fürsorge, Hilfe und Rücksicht überall und für alle begründen, welche aus der Verletzbarkeit und Sterblichkeit anderer Menschen resultiert. Natürlich kann es in Anbetracht der Umstände Einschränkungen geben, etwa wenn Bedingungen für die Aufnahme gestellt werden. Aber wer so etwas anordnet, muss wissen, dass er prinzipiell und in jedem Falle ungerecht ist und gegen das verstößt, was die Moral gebietet.
Foto: Axel Griesch/Humboldt Foundation; Olivier Roller; Malte Jäger
Ist die Flüchtlingskrise eine direkte Folge des globalen Kapitalismus?
A
uf die Frage kann die Antwort nur klipp und klar Ja lauten. Denn „globaler Kapitalismus“ impliziert stets ein wirtschaftliches Zentrum, das auf Kosten einer rohstoff liefernden Peripherie und einer auf deren Verarbeitung fokussierten Semiperipherie operiert. Und die gewaltsame Aufrechterhaltung dieser Grenzen der Ungleichheit ist die Conditio sine qua non für das Aufrechterhalten des kapitalistischen Systems, wie etwa Immanuel Wallerstein gezeigt hat. Die zutiefst ideologische Unterscheidung von (legitimen) Kriegsflüchtlingen und (illegitimen) Wirtschaftsflüchtlingen kann aus der Perspektive der ökonomischen Besitzverhält-
nisse nicht aufrechterhalten werden. Kriegsf lüchtlinge sind Opfer einer bellizistischen Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsf lüchtlinge Opfer einer Durchsetzung geopolitischer Interessen mit anderen, „nur“ ökonomischen, Mitteln. Noch evidenter wird das, zieht man eine dritte Kategorie zur Hand, die in Zukunft dramatisch an Bedeutung gewinnen wird. Ohne hier darauf eingehen zu können, in welchem Ausmaß der Auslöser für den syrischen Bürgerkrieg eine anhaltende Dürreperiode war: An der zunehmenden Zahl von Klimaf lüchtlingen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden wir ein weiteres Mal die Diskrepanz zwischen Tätern und Opfern einer ökonomisch wie ökologisch desaströsen neoliberalen Wirtschaftspolitik beobachten können.
Armen Avanessian Armen Avanessian ist Literaturwissenschaftler, Philosoph und lehrt als Gastprofessor an verschiedenen Kunstakademien. Thematische Schwerpunkte seiner Publikationen bilden die digitale Wissenskultur, Gesellschaftstheorie und Poetik. So zum Beispiel „#Akzeleration“ (Merve, 2013) und „Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz“ (Merve, 2015) >>>
Philosophie Magazin Nr. 02 / 2016 / 49
DOSSIER
Was tun?
Philosophen zur Fl체chtlingskrise
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Foto: David Stewart
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52 / Philosophie Magazin Februar / M채rz 2016
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Wer sind „WIR“? Als Angela Merkel
den Satz „Wir schaffen das!“ aussprach, tat sie dies, um die Deutschen zu einer anpackenden Willkommenskultur zu motivieren. Aber mit der Ankunft von einer Million Menschen aus einem anderen Kulturkreis stellt sich auch eine für Deutschland besonders heikle Frage: Wer sind wir eigentlich? Und vor allem: Wer wollen wir sein? Hört man genau hin, zeigt sich das kleine Wörtchen „wir“ als eine Art Monade, in der sich zentrale Motive zukünftigen Handelns spiegeln. Wir, die geistigen Kinder Kants, Goethes und Humboldts. Wir, die historisch tragisch verspätete Nation. Wir, das Tätervolk des Nationalsozialismus. Wir, die Wiedervereinigten einer friedlichen Revolution. Wir, die europäische Nation? Wo liegt der Kern künftiger Selbstbeschreibung und damit auch der Kern eines Integrationsideals? Taugt der Fundus deutscher Geschichte für eine robuste, reibungsfähige Leitkultur? Oder legt er nicht viel eher einen multikulturellen Ansatz nahe? Offene Fragen, die wir alle gemeinsam zu beantworten haben. Nur das eigentliche Ziel der Anstrengung lässt sich bereits klar benennen. Worin anders könnte es liegen, als dass mit diesem „wir“ dereinst auch ganz selbstverständlich „die anderen“ mitgemeint wären, und dieses kleine Wort also selbst im Munde führen wollten. Mit Impulsen von Gunter Gebauer, Tilman Borsche, Heinz Wismann, Barbara Vinken, Hans Ulrich Gumbrecht, Heinz Bude, Michael Hampe, Julian Nida-Rümelin, Paolo Flores d’Arcais
Philosophie Magazin Nr. 02 / 2016 / 53
DOSSIER
Was tun?
Philosophen zur Fl체chtlingskrise
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Foto: Gallerystock
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60 / Philosophie Magazin Februar / M채rz 2016
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Wie schaffen WIR DAS? Eine Million Flüchtlinge warten
derzeit in erzwungener Passivität auf ihre Verfahren, auf ein Weiter, auf eine Zukunft. Die Tristheit und Unübersichtlichkeit dieser Situation lässt uns in defensiver Manier von einer „Flüchtlingskrise“ sprechen. Der Begriff der Krise, aus dem Griechischen stammend, bezeichnet den Höhepunkt einer gefährlichen Lage mit offenem Ausgang – und so steckt in ihm auch die Möglichkeit zur positiven Wendung. Sind die größtenteils jungen Menschen, die hier ein neues Leben beginnen, nicht in der Tat auch ein Glücksfall für unsere hilf los überalterte Gesellschaft? Anstatt weiter angstvoll zu fragen, ob wir es schaffen, könnte es in einer zukunftszugewandten Debatte vielmehr darum gehen, wie wir es schaffen. Was ist der Schlüssel für gelungene Integration: die Sprache, die Arbeit, ein neues Zuhause? Wie können wir die Menschen, die zu uns gekommen sind, einbinden in die Gestaltung unseres Zusammenlebens? In welcher Weise werden wir uns gegenseitig ändern, formen, inspirieren? Was müssen wir, was die Aufgenommenen leisten? Wie lässt sich Neid auf jene verhindern, die unsere Hilfe derzeit noch brauchen? Und wo liegen die Grenzen der Toleranz? Mit Impulsen von Rupert Neudeck, Rainer Forst, Souleymane Bachir Diagne, Susan Neiman, Robert Pfaller, Lamya Kaddor, Harald Welzer, Claus Leggewie und Fritz Breithaupt
Philosophie Magazin Nr. 02 / 2016 / 61
DOSSIER
Was tun?
Philosophen zur Flüchtlingskrise
Gefahren
ALS CHANCEN Wo Fremdes aufeinandertrifft, bleiben Spannungen und Ängste nicht aus. Aber öffnen sich damit nicht auch neue, bislang verborgene Möglichkeiten?
?!? Wie ist der Sorge der jüdischen Gemeinden zu begegnen, die Ankunft der meist muslimischen Flüchtlinge werde den Antisemitismus hierzulande verschärfen?
64 / Philosophie Magazin Februar / März 2016
Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“ (Levitikus 19, 34) Und wenn wir in eine weit jüngere Vergangenheit zurückblicken, sollten jene, deren Eltern und Großeltern von den Nazis, wenn sie Glück hatten, nur ins Exil gezwungen wurden, doch eine besondere Sensibilität für das Leid von Menschen haben, die vor Krieg und Fanatismus aus ihrer Heimat f liehen müssen. Strategisch betrachtet wäre eine Willkommenskultur vonseiten der jüdischen Gemeinden Europas ein gutes Gegenbild zu den antisemitischen Klischees, die viele Flüchtlinge – wie viele andere Menschen auch – verinnerlicht haben. Auf diese Weise könnte der Kreislauf von Furcht und Hass zwischen der jüdischen und der muslimischen Welt durchbrochen werden. Damit diese Strategie Früchte tragen kann, müsste die Bundesregierung dafür sorgen, dass die Geflüchteten Deutschlands besondere Verantwortung im Kampf gegen den Antisemitismus erkennen – und Fälle von Hasskriminalität müssten konsequent bestraft werden. Hilfreich, aber vielleicht noch utopischer wäre es, wenn die Bundesregierung sich überdies eindeutig für eine Zweistaatenlösung in Israel/Palästina einsetzen würde und dabei auch bereit wäre, Druck auf Netanjahu auszuüben. Zugleich sollte sie ihre Unterstützung für das Regime in Saudi-Arabien zurückfahren, das weltweit als Hauptfinanzier der salafistischen und antisemitischen Propaganda agiert. Wie könnte Deutschland seine Entschlossenheit im Kampf gegen den Antisemitismus besser zeigen, als konkrete Schritte zur Lösung des scheinbar endlosen Nahostkonflikts zu unternehmen?
Susan Neiman Die Philosophin ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr: „Warum erwachsen werden“ (Hanser Berlin, 2014). Buch zum Thema: „Slow Fire. Jewish Notes From Berlin“ (Schocken Books, 1992)
Fotos: Katja Hoffmann/laif, srf, privat
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eine Antwort wird utopisch klingen, aber manchmal helfen nur utopische Antworten. Ich glaube, man sollte die Sorgen (von Teilen) der jüdischen Gemeinschaft sehr ernst nehmen – ernst genug, um daraus eine Gelegenheit zur Aussöhnung in mehrerlei Hinsicht zu machen. Es liegt auf der Hand, dass arabische Diktaturen seit vielen Jahren auf eine alte Strategie zum Machterhalt setzen: Sie einigen ihre Untertanen, indem sie einen äußeren Feind heraufbeschwören. Bösartige Propaganda gegen den Staat Israel und gegen Juden im Allgemeinen zählt in weiten Teilen der muslimischen Welt zur Medien- und Schulbuchnormalität. Ebenso liegt auf der Hand, dass sich der Staat Israel in den letzten 15 Jahren so weit nach rechts und in Richtung Rassismus bewegt hat, dass oppositionelle Israelis mittlerweile das Wort „Faschist“ als angemessene Bezeichnung für manche Mitglieder der Regierung betrachten. Dem Rest von uns – Juden außerhalb Israels und Nichtjuden, die für Israels Recht auf ein Leben in Frieden eintreten, aber ohne eine ersprießliche Lösung für die Palästinenser keine Möglichkeit zum Frieden sehen – kommt der Konflikt zunehmend ausweglos vor. Kann nun die Flüchtlingskrise ein Anlass zu neuer Hoffnung sein? Viele Juden setzen sich dafür ein, dass jüdische Gemeinden Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan mit offenen Armen empfangen. Das religiöse Gebot dazu findet sich im dritten Buch der Thora: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in
Wie lässt sich Neid auf Flüchtlinge vermeiden?
Robert Pfaller Der Professor für Philosophie lehrt an der Kunstuniversität Linz. Ein Schwerpunkt in seinen materialistisch-psychoanalytisch inspirierten Schriften ist das Lusterleben des Menschen in neoliberalen Gesellschaften und auch das Phänomen des Neides. Zum Beispiel in: „Wofür es sich zu leben lohnt“ (Fischer, 2011)
A
us dem hohen Lebensstandard der Menschen mit guten Jobs sind immer mehr Leute ausgeschlossen. Darum fühlen sich viele, die zum Beispiel von Hartz IV, EinEuro-Jobs oder unter prekären Beschäftigungsverhältnissen leben müssen, zu Recht vernachlässigt. Noch mehr als die wirklichen Benachteiligungen aber kommen die eingebildeten zum Tragen. Die Flüchtlinge haben etwas, das großen Teilen der ortsansässigen Bevölkerung abhandengekommen ist: die Hoffnung, dass es ihnen in Zukunft besser gehen wird und dass ihre Kinder es einmal besser haben werden als sie selbst. Hoffnungsvolle mischen sich unter die Hoffnungslosen; und die Letzteren haben dann das Gefühl, ihr Verlust an Hoffnung wäre die Schuld der anderen. Wenn man dieser Einheit aus starken, begründeten und eingebildeten Motiven des Sozialneids auf Flüchtlinge begegnen will, muss man es darum auf zwei Ebenen tun. Einerseits wäre es klug anzuerkennen, dass die Hauptlast der Integration auf die am wenigsten wohlhabenden Teile der Bevölkerung entfällt. Darauf könnte man mit einer spürbaren Erhöhung von Minimaleinkommen antworten. (Dies ist freilich wohl nicht möglich ohne die längst überfälli-
gen Maßnahmen zur Herstellung einer EU-weiten einheitlichen Steuer- und Sozialpolitik.) Und andererseits muss man der Gesamtbevölkerung mehr bieten als humanitäre Appelle. Man muss einen Plan vorlegen, zum Beispiel für eine Reindustrialisierung Deutschlands oder sogar Europas, in dem Flüchtlinge ebenso wie Arbeitslose und prekär Beschäftigte vorgesehen sind. Nur eine solche „große Erzählung“ erzeugt eine Perspektive, in der das vermeintliche Glück des anderen zugleich als eigener Vorteil und mithin als etwas solidarisch Teilbares erfahren werden kann.
Nur eine „große Erzählung“ kann Solidarität erzeugen
Wie bekämpft man religiösen Fanatismus innerhalb der eigenen Landesgrenzen?
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eder von uns weiß, dass es in der „islamischen Welt“ Prediger gibt, die frauenverachtendes, homophobes und intolerantes Gedankengut tagtäglich predigen, aber irgendwie haben wir deutschen Muslime immer geglaubt, das hätte nichts mit uns hier zu tun. Vielleicht auch, weil wir uns selbst nicht vorstellen können, jemals in solchen Ländern leben zu wollen. Nun ist der religiöse Fanatismus in Deutschland nicht nur angekommen. Vielmehr haben wir alle die Rahmenbedingungen dafür so gesetzt, dass er hier nicht nur produziert oder exportiert wird (z. B. nach Syrien oder in den Irak). Inzwischen reimportieren wir ihn wieder. Wir alle – Muslime wie Nichtmuslime – haben dazu beigetragen, dass der Nährboden für Extremismus gesät wird. Zu lange haben wir Ausgrenzungsdebatten gegen „den Islam“ oder „die Muslime“ geführt. Seit zu langer Zeit sehen sich Muslime nicht als „Deutsche“ und grenzen sich von der Mehrheitsgesellschaft ab. Solange wir hier auf der Stelle treten, kommen wir keinen Schritt weiter, um Islamhass
auf der einen Seite und religiösen Extremismus auf der anderen Seite zu bekämpfen. Gegen religiösen Fanatismus hilft zum einen stärkeres gesellschaftliches sowie theologisches Engagement von Muslimen, die ein zeitgemäßes Islamverständnis etablieren wollen, welches den Herausforderungen und den Errungenschaften unserer modernen Welt standhalten kann. Zum anderen muss unsere deutsche Gesellschaft dieses auch annehmen, ohne ständig von Muslimen zu erwarten, sich von „Extremisten aus den eigenen Reihen“ weltweit distanzieren zu müssen. Tatsächlich ist vielen „besorgten Bürgern“ in diesem Land ihre Demokratiefähigkeit abhandengekommen. Man darf von einer aufgeklärten Gesellschaft erwarten, dass sie in der Lage ist, zu differenzieren und alle Menschen als gleich anzusehen, die sich an unser Grundgesetz halten – gleich welcher Religion, Herkunft oder sexueller Orientierung. Wenn diese Schritte im Wesentlichen vollzogen sind, wird es nicht mehr so einfach möglich sein, mit dem Hass auf den eigenen Glauben weitere Fanatiker heranzuzüchten. Der Islam ist längst nicht mehr fremd in diesem Land, nein, er ist deutsch geworden. Und genau das müssen wir Muslime auch endlich annehmen.
Lamya Kaddor Lamya Kaddor ist muslimische Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin sowie Vorsitzende des LiberalIslamischen Bundes. Bücher zum Thema: „Muslimisch, weiblich, deutsch“ (C. H. Beck, 2010) sowie „Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen“ (Piper, 2015)
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Philosophie Magazin Nr. 02 / 2016 / 65
Ideen
Das Gespräch
Arjun Appadurai
Für Arjun Appadurai ist die Globalisierung ein zirkulierender Strom von Formen. Der indische Kultursoziologe legt verborgene Verbindungen frei, in denen die Dinge nicht nur Waren, sondern Akteure sind. Ein Gespräch über die virale Kraft der Ideen, spielende Banker und internationalen Terrorismus Das Gespräch führte Alexandre Lacroix / Fotos von Jean-Christian Bourcart
Arjun
Appadurai
»Kapitalismus ist heute vor allem Zauberei!
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in Buch über die Globalisierung lesen? Seien wir ehrlich, auf den ersten Blick scheint das Thema langweilig. Der Großteil der Werke zum Thema ähnelt verklausulierten Monumentalschriften, die von der Intensivierung des Austauschs von Gütern und Dienstleistungen seit 30 Jahren erzählen und anmerken, welche Ungleichgewichte daraus entstehen. Und doch gibt es in dieser Literatur, die von Wirtschaftsmathematik und Politikwissenschaft geprägt ist, eine Ausnahme: die Texte von Arjun Appadurai. 1949 in Indien geboren, wurde er nach einer außergewöhnlichen akademischen Laufbahn in den USA Professor für Soziologie an der New York University. Er widmet sich dem Thema Globalisierung mit einem einzigartigen konzeptuellen Einfallsreichtum und wissenschaftlichen Anspruch, in Kombination mit einer ausgeprägten Freude an der Beobachtung und am Detail. Die Globalisierung ist für ihn nicht nur eine Frage von Statistiken. Denn wir leben in einer Welt, in der soziale und kulturelle Formen mit großer Geschwindigkeit wandern und Einfluss auf unser Leben nehmen. Unser weltweiter Kapitalismus ist weder durch-
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mechanisiert noch durchrationalisiert; eher im Gegenteil, die Einbildungskraft formt ihn und insgeheim lässt er sich von magischem Denken leiten. Wir geben uns nicht damit zufrieden, Ware auszutauschen – hinter der Ware stehen menschliche Beziehungen und Glaubensvorstellungen.
Herr Appadurai, Sie sind 1949 in Bombay, heute Mumbai, in eine Familie tamilischer Brahmanen hineingeboren. Welche Bildung haben Sie genossen? Arjun Appadurai: Ich bin in den Jahren aufgewachsen, die auf die Unabhängigkeit von Indien 1947 folgten. Das Land war damals voller Optimismus. Wir gehörten der oberen Mittelschicht an. Ich bin an Jesuitenschulen auf Englisch unterrichtet worden. In der Familie sprachen wir Tamilisch. In den Straßen von Bombay sprach man Hindi. Von Zeit zu Zeit redete ich auch Marathi oder Gujarati. In puncto Religion war die Stimmung in meinem Umfeld recht ökumenisch. Meine Mutter lebte nach den Riten des tamilischen Hinduismus. Mein Vater besaß Jesus-Bilder und einen Koran. Dass meine Lehrer Jesuiten waren, bot nie Anlass zur Diskussion.
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78 / Philosophie Magazin Februar / März 2016
Illustration: SĂŠverine Scaglia, Bildvorlage: picture-alliance/akg/Leemage
Ideen
Der Klassiker
Henri
Bergson und das
GEDÄCHTNIS Das Gedächtnis ist der Ort, an dem Erinne-
rungen gespeichert werden, sagt man. Also muss es sich doch in irgendeinem Winkel unseres Gehirns befinden – so das verbreitete Vorurteil im Zeitalter bildgebender Verfahren. Mit Bergson hingegen lässt sich verstehen, dass das Gedächtnis mehr ist als ein Erinnerungsspeicher: Es ist mit der ganzen Persönlichkeit verbunden. Frédéric Worms führt uns durch die verschiedenen Schichten des Bergson’schen Gedächtnisses und zeigt, dass jede unserer Erinnerungen für unsere gesamte individuelle Geschichte relevant ist. Doch warum erinnern wir uns dann nicht an alles? Im Beiheft erklärt Élie During dieses Paradox mit der Rolle des Hirnmechanismus: Das Hirn lässt Erinnerungen in der Versenkung verschwinden, die gerade den Reichtum unseres Geisteslebens ausmachen. Doch dieser Schatz ist nicht verloren. Bergson zufolge können wir die versunkenen Erinnerungen in der Tiefe unseres Gedächtnisses wiederfinden.
Philosophie Magazin Nr. 02 / 2016 / 79
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