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Interview Vito von Eichborn
„Selberlesen macht fett“
Vito von Eichborn (Jahrgang 1943) ist Verleger, Herausgeber, Autor, Journalist und Literaturagent. Er war unter anderem Verleger des Eichborn und Europa-Verlages und verlegte Hans Magnus Enzensberger („Die Andere Bibliothek“) und Walter Moers („Das kleine Arschloch“). Gebürtig in Magdeburg, lebt er heute am Dieksee in Timmdorf/Malente und leitet den ursprünglich auf Mallorca gegründeten Kleinverlag Vitolibro.
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EL AVISO:Sie haben einige Zeit auf Mallorca verbracht und leben heute am Dieksee. Wo sind die Vorteile vom Dieksee zum Mittelmeer? Vito von Eichborn: Es gibt keine, bzw. Vor- und Nachteile heben sich auf. Hier bin ich nur – zwar auch, aber – weniger Fremdling als dort.
EA:Ich erinnere mich an Ihre Lesungen des Don Quijote auf Mallorca. Sie hätten auch aus einigen Hundert selbst verlegten Büchern lesen können. Was fasziniert Sie an Don Quijote? VvE: Die Lesungen waren aus fünf deutschen Übersetzungen. Voss und Lange – die dazwischen können Sie eigentlich vergessen. Es ist halt ein Gewinn, die Worte zu vergleichen, quasi zu schmecken. Das Original, auch wenn ich nur begrenzt folgen kann, ist immer größer. Ihre Frage brachte mich drauf – auch im Englischen und Französischen trotz beschränkter Kenntnisse – las ich nach und verglich: Der Ur-Quijote ist halt der erste und bis heute großartigste Roman der westlichen Literatur. Das Absurde und Lächerliche, das Großartige und Vergebliche, das Liebevolle und Bewundernswerte an uns Menschen – voilà.
EA:Sie haben ein, wie von Ihnen gewohnt, etwas anderes Buch über Mallorca verfasst: “Mein Mallorca”. „Die Zeit“ schrieb zu Ihrem Buch: „Mallorca ist eine Schatztruhe voller Geheimnisse…“. Welche drei Geheimnisse sind die größten? VvE: Naja, Geheimnisse – eigentlich sind es keine. Nr. 1: Kulturelle Toleranz. Dies ist für uns, das westeuropäische Publikum, multikulti auf engem Raum wie nirgendwo sonst. Zudem gibt es alles von der Gröl-Dumpfbacke bis zum blasierten Wichtigtuer. Und all wir Normalos mittendrin. Nr. 2: Keiner kümmert sich um mich, ich bin allen anderen egal. Welch Freiheit! Nr. 3: Last but not least – mal eben um die Ecke, bezahlbar, bequem. Also, wie sagt Mr. Goethe: Zufrieden jauchzet groß und klein; Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!
EA:Wie würden Sie das Verhältnis von Deutschen und Spaniern bzw. Mallorquinern beschreiben? VvE: Erstaunlich reibungslos, wie die Mallorquiner uns aushalten. Ihnen wird gerne vorgeworfen, sie würden
EA: Es gab eine Reihe von Neuanfängen, in Frankfurt, in Hamburg, sogar in der Dominikanischen Republik und auf Mallorca. Was waren Ihre größten Erfolge und Misserfolge, geschäftlich und literarisch? VvE: Erfolge? Na klar: Literarisch mit Enzensberger „Die Andere Bibliothek“ zu retten. Siebenstellig bezahlt. Und das mit Walter Moers und seinem großartigen „Das kleine Arschloch“ zu fi nanzieren. Beides war vielen anderen Verlagen angeboten, aber von allen abgelehnt worden. Das war denen – wie zunächst auch dem Buchhandel – inhaltlich wie ökonomisch zu extrem. Misserfolge? Owei, zahllos. Richtig teuer war der Versuch, die in geschmacklicher Literaturkreis der Kulturfi nca Son Bauló Hinsicht pornografi sche „Schwarzwaldklinik“ durch den „Schwarzwaldpu “ satirisch auszubeuten. Das ZDF gewann die ja an uns verdienen. Na und? Vermutlich verdienen Prozesse. Schlimmer empfand ich die Verluste mit laselbst auf der Insel die Deutschen mehr als die Einhei- teinamerikanischer Literatur, die hier niemand wollte. mischen. Wer mal in der Karibik war, im Maghreb oder Und die Flops mit tollen Autoren, die ich nicht über die auf einer griechischen Insel, weiß die mallorquinische Schwelle der Wahrnehmung heben konnte. Gelassenheit zu schätzen.
EA: Sie haben einmal gesagt „Wer nicht laut ist, wird nicht gehört“. Gibt es weitere Regeln und funktioniert das Verlagsgeschäft international gleich? VvE: Das bezieht sich nicht auf die Inhalte, sondern aufs Marketing. Wenn ein Text aus innerer Kraft zum Weiterlesen zwingt, gehorchen wir alle doch mit Lust. Dummerweise scha t das kaum jeder hundertste. Ganz besondere Bücher sind so selten wie ganz besondere Menschen. Die brauchen kein Geschrei. EA:Beispielsweise Walter Kempowski war nach Ihrer Aussage schwierig. Sind Autoren „andere“ Menschen? VvE: Nö. Der war halt ein eingebildeter Peinsack. Seine Leistung bestand ja auch aus Sammeln, nicht im schöpferischen Schreiben. Literarisch ist er irrelevant. Aber – um nicht von Lebenden zu sprechen – von Konrad Hansen bis W. G. Sebald fand ich unter den Autoren die großartigsten Menschen. Nebenbei sind bis heute die literarisch wertvolleren selten die mit der großen Klappe.
waren anders, herausragend beim Eichborn-Verlag. Was war und ist Ihr (Erfolgs-)Rezept? VvE: Das stimmt so nicht – größtenteils habe ich mit demselben Wasser gekocht. Mein einziges „Rezept“ war, unverschämter die üblichen Regeln zu verletzen, nach dem Motto zu arbeiten: „Das tut man nicht.“ Das ist übrigens keine bequeme Rolle.
Funktionen – als Verleger, Autor und Literaturagent. VvE: Ach, das ist doch eins. Als alter Sponti nehme ich die Dinge, wie sie kommen.
EA:Mittlerweile gibt es Bücher über das Schreiben von Bestsellern. Kann man überhaupt vor Erscheinen sagen, ob Bücher erfolgreich werden? VvE: Ja, es gibt durchaus Rezepte für UnterhaltungsBestseller, aber nur selten Autoren, von King bis Schätzing, von Elsberg bis Fitzek und tutti quanti, die das umsetzen können. Alle Achtung! Ansonsten, wie bereits gesagt: Wenn mich ein Text zum Weiterlesen zwingt, geht das auch vielen anderen Lesern so. Wenn ein Text mir jedoch sagt: „Ich bin wichtig“, lege ich ihn meist schnell zur Seite.
EA: Es tummeln sich immer mehr Verlage, die für Geld der Autoren Bücher verö entlichen. Halten Sie das für seriös? VvE: Ich hab auch nix gegen Masturbation. Kann ja Spaß machen. Chacun à son goût.
EA:Gehen wir mal von einer begabten Person aus. Was sollte sie tun, um einen Verlag für ihr Buchmanuskript zu gewinnen? VvE: Erstens Sprache. Zweitens eigene Sprache. Drittens vielleicht sogar einen eigenen Inhalt entwickeln? Den es so noch nicht gab … Erneut: Jeder Satz, der so aus der Zeitung sein könnte, ist kein eigener Satz. Damit kann man Krimis schreiben. Die meisten sind ja auch so – auch durchaus gute. Aber ein „Autor“ hat einen Sound wie ein Maler oder Komponist einen eigenen Stil. Es gibt für Verlage die Kann-Bücher. Die „kann man machen“. Und es gibt die schon im Manuskriptstadium so seltenen Muss-Bücher. Inhaltlich zwingend oder sicherer Erfolg. Am liebsten beides. Nur ein Beispiel: Ransmayr „Die letzte Welt.“ Nach drei Seiten ist einem klar: beides. Kein ! Wort an der falschen Stelle. Er erklärte mir, dass er jede Seite neu abschrieb, und dies zehn- oder zwanzigmal, wenn er was veränderte…
EA:Und was tut man dann? Wie wird ein Buch bekannt? Spielen Rezensionen, Lesungen und Buchmessen in Zukunft die gleiche bedeutende Rolle? VvE: Naja, das ist das übliche Klavier, die Methoden und Spielregeln kennen alle – das ist eine Frage von Hemmungslosigkeit und Fleiß. Beides können halt die Konzerne besser. Die verkäufl icheren Inhalte streben in die verkaufsmäßig größeren Verlage. Deren durchschnittliche „Midlist“ hätte bei kleineren Häusern überhaupt keine Chance. Die müssen also origineller sein. Niemand kann was gut verkaufen, das unter Durchschnitt ist. Und es gibt ja eine grauenhafte Fülle selbstverlegter Romane, die pillepalle sind. Bitte: Form follows function. Ein herausragender Inhalt kann gnadenlos untergehen, wenn er nicht gefunden wird. Da bin ich oft gescheitert. Es ist eine Frage von teurer guter Manpower, die richtigen Werkzeuge für den Transport der Inhalte einsetzen zu können. Aber umgekehrt: Ein nie dagewesener Inhalt ist konkurrenzlos. Der gibt uns Transporteuren vor, wo, wie, was zu tun ist. Und dann entscheidet der undurchschaubare „Markt“.
EA:Sie haben von dem Buch als einzigem unabhängigem Medium gesprochen. Wie sieht die Zukunft des Buches aus, auch des E-Books? VvE: Ja, das Buch ist unabhängig wie kein anderes Medium. Keine Anzeigen, keine teuren Sender und Strukturen, keine Kohle vom Staat oder der Industrie. Niemand muss gefragt werden. Und: „Selberlesen macht fett.“ Ganz alleine. Wie das Schreiben. Daran wird sich nie was ändern. E-Books sind – reisend unterwegs – eine nette Nische, die mir egal ist. Wenn ich zuhause lesen kann – warum soll ich das Hören, es sei denn, bei anderen Nebentätigkeiten. Hören ist für Musik, nicht für Sprache “erfunden”. Wie, nebenbei, fürs Sehen Kunstbände nie eine Ausstellung ersetzen können.
EA: Gibt es für Sie so etwas wie einen eigenen BuchKanon – Bücher, die man gelesen haben sollte, und welche sind das? VvE: Nein, die bildungsbürgerlichen Zeiten sind – auch ein bisschen schade – längst vorbei. Ich selbst habe gewaltige Lücken, weil ich die Germanistik als Lustverhinderung empfand. Und perspektivisch habe ich alter Sack natürlich keine Ahnung, wohin die Lesereise gehen mag. Ich kenne zahllose schätzenswerte Leute, die keine Bücher lesen. (Ganz entre nous und ohne Arroganz: Sie tun mir immer ein bisschen leid. Nicht weitersagen: Ihnen fehlt was.) Aber eine Welt ohne Bücher – Buchstaben auf Papier zum Umblättern – ist wie Erotik am Bildschirm.
EA:War für Sie Marcel Reich-Ranicki und das Literarische Quartett bei der persönlichen Buchauswahl hilfreich? Wie ist das heute? VvE: Ich kannte ihn ein wenig – der großkotzige Arsch war eine Art Trump der Literatur. Und ebenso narzisstisch, rücksichtslos, auch vernichtend. Es heißt ja oft, er fehle. Mir nicht, nur dem Boulevard für die Show, wie Madame Klum für Mode. Es ist ein Jammer, dass Elke Heidenreich im ZDF abgesägt wurde – die nicht für ihr Ego, sondern für die Inhalte gekämpft hat. Der sollte man sofort wieder eine Sendung geben!
EA:Zur aktuellen Situation: Was halten Sie von Querdenkern und wie beeinfl usst Corona das Bücherlesen? VvE: Ganz einfach: Beide sind in ein paar Jahren hoffentlich irrelevant – und mir für meine Lektüre vollkommen schnurz.
Das Gespräch führte Frank Heinrich Fotos: Son Bauló, Vito von Eichborn
Kulturfi nca Son Bauló
Bücher, die Regeln verletzen
Erhältlich im Vitolibro-Verlag www.vitolibro.de
Bestseller über Marokko und die brutale Gewalt, Kochen in Kriegstagen, bis zum Urvolk der Bayern
Gedanken zum Mu ertag
Wie aus einem feministischen Ursprung ein kommerzieller Freudentag für Blumenhändler wurde ein kommerzieller Freudentag für Blumenhändler wurde
Es gibt Festtage, die die Menschheit spaltet. Der Muttertag ist so ein Tag. Die einen meinen, Muttertag ist 365 Tage im Jahr und lehnen den Kommerz ab. Die anderen fi nden es gut, dass man an diesem Tag Müttern etwas schenkt oder ihr eine nette Überraschung präsentiert. Freuen tun sich vor allem Blumenhändler und Konditoren, denn sie machen guten Umsatz. Den machen spanische Händler übrigens schon am ersten Sonntag im Mai (2. Mai), während die deutschen Mütter erst am zweiten Sonntag (9. Mai) ihr Geschenk bekommen.
Ein wenig Historie Doch woher kommt eigentlich diese Sitte? Seinen Ursprung hat der Tag in der US-amerikanischen Frauenbewegung. Ann Jarvis Reece war eine politisch aktive Frau, die schon 1858 die Vereinigung „Mother's Work Days“ gegründet hatte, u.a. um gegen Kindersterblichkeit und für bessere Gesundheits- sowie Sanitärsysteme zu kämpfen. Während des amerikanischen Bürgerkriegs mobilisierte sie andere Frauen und kümmerte sich um Verwundete beider Seiten – auch als Zeichen der Verständigung. Als sie starb, wollte ihre Tochter Anna Marie Jarvis nicht nur der eigenen, sondern generell den großartigen engagierten Müttern eine Art Denkmal setzen, rief zu einer Kundgebung auf und postulierte am 12. Mai 1907 den Memorial Mothers Day, auch um die soziale und politische Rolle der Frau in der damaligen
Gesellschaft zu stärken. 1914 war der zweite Mai-
Sonntag erstmals ein nationaler Feiertag, allerdings geriet der politisch-soziale Aspekt immer mehr in den
Hintergrund.
Deutschland zieht mit Und da man den Amerikanern auch schon damals gerne alles nachmachte, verbreitete sich der Gedanke weltweit. In Deutschland war es 1923 bezeichnenderweise keine Fraueninitiative, sondern der Blumenhändlerverband, der diesen Tag propagierte. Der konservativen Grundstimmung jener Zeit kam dieser Ehrentag gerade Recht. Die Frauen waren weiten Kreisen viel zu selbständig geworden. Kein Wunder, mussten sie doch im Ersten Weltkrieg mangels Männern ihren Mann stehen, was sie selbstbewusst gemacht hatten. Die Nationalsozialisten griffen den Muttertag freudig auf und setzten ihn als Feiertag ein. Mutterkult, das Mutterkreuz für besonders gebärfreudige Frauen, die dem Führer zukünftige Soldaten schenkten und ähnliches folgten. Auch diese Tatsache lässt bei vielen bis heute ein leichtes Unwohlsein aufkommen.
Was heute bleibt Für den Blumenhandel ist dieser Tag in Deutschland nach wie vor Platz 1, wenn es um den Verkauf geht. Platz 2 kann der Valentinstag auf sich verbuchen. In Spanien sind es eher die Parfümerien, die davon profi tieren. Wer sich nicht in Klischees reindrängen lässt und o en mit der Mutterschaft umgeht, kann sowohl Geschenke empfangen als auch Geschenke geben als Kind. Toleranz sollte auch hier das Zauberwort sein. Solange es nicht zu kommerziell wird und die Geschenke eher gebastelt und gebacken als gekauft werden oder gar ideell sind wie Zeit oder Aufräumversprechungen. Ob Kind oder Mutter – genießen Sie den Muttertag und denken Sie stets daran: eine Mutter ist sie 365 Tage im Jahr und nicht nur am 2. oder 9. Mai...
Und die Männer? Auch die haben “ihren” Tag: Vatertag war in Spanien schon am 19. März, währenddessen er in Deutschland an Christi Himmelfahrt begangen wird, somit am 13. Mai. Die heutige Form des „Vatertagfeierns“, bei dem oft von einer Gruppe von Männern/ Vätern ein gemeinsames Trinkgelage zelebriert wird, kam übrigens Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin und Umgebung auf, vermutlich ins Leben gerufen von Brauereiunternehmern...