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Miteinander schon im Kleinen

In Tel Aviv-Jaffa ist nach der jüngsten Eskalation der Gewalt in Nahost der Alltag zurück. Doch die Gräben zwischen Juden und Arabern bleiben bestehen. Zwei Familien setzen sich trotz aller Widerstände für ein friedliches Zusam-

menleben ein. von win schumacher

Ora und Ihab Balha setzen sich mit verschiedenen Bildungs- und Sozialprojekten für das Zusammenleben von Juden und Arabern ein.

„Ich hatte keinerlei politische Agenda!“, sagt Ora Balha und lacht. „Es war schlicht Liebe.“ Alles begann vor 16 Jahren mit einem Urlaub auf der Sinai-Halbinsel. Sie verliebte sich auf Anhieb in Ihab. Eine Geschichte wie die von unzähligen Israelis – wäre Ora Balha nicht Jüdin und ihr Mann Ihab Muslim. „Ich war nicht etwa eine Friedensstifterin. Ich habe ihn einfach geheiratet und zog zu ihm.“ Die Balhas haben inzwischen drei Söhne und wohnen in Jaffa. In dem historischen Stadtteil im Süden von Tel Aviv leben Juden und Araber seit vielen Generationen zusammen. Familien sowohl mit jüdischen als auch muslimischen Wurzeln gibt es jedoch nur ein paar wenige. Für ihre Familien in Jaffa und Galiläa dauerte es lange, bis sie die Liebe der beiden akzeptieren konnten. „Bei meinem Vater ist das Eis erst nach zehn Jahren gebrochen“, erzählt die 45-Jährige. „Heute ist unser Verhältnis aber umso enger.“

Frieden in Gefahr Während der jüngsten Eskalation der Gewalt zwischen Israel und der Hamas kam die in Jaffa oft unsichtbare Kluft zwischen Menschen, die nicht selten Tür an Tür nebeneinander leben, besonders schmerzhaft zum Vorschein. Nicht nur hier, auch in anderen gemischtreligiösen Städten Israels wie Lod, Ramla und Akko kam es zu heftigen Ausschreitungen und teils bürgerkriegsähnlichen Szenen. „Was hier passiert ist – das ist nicht Jaffa, wie wir es kennen“, sagt Ora Balha. „Wir haben Respekt vor unseren Nachbarn. Die Demonstranten kamen von außerhalb, teils mit Bussen.“ Nur wenige Straßen von der Wohnung der Balhas im Ajami-Viertel stießen rechtsextreme jüdische Demonstranten und Araber aufeinander. „Wir konnten sie hier hören“, sagt Balha. Autos und Müllcontainer wurden in Brand gesetzt, Fenster eingeworfen und Geschäfte verwüstet. Etliche Menschen auf beiden Seiten wurden verletzt. „Solch einen Ausbruch der Gewalt habe ich hier nie erlebt“, sagt Balha.

Doch die Balhas gehören zu denen in Jaffa, deren Hoffnung größer ist als die Ohnmacht angesichts eines aussichtslos erscheinenden Konflikts. Mit ihrer Organisation „Orchard of Abraham’s Children“ setzen sie sich mit verschiedenen Begegnungs- und Bildungsprojekten für das Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen ein.

Ihren Ursprung hat die NGO in einem Dilemma. Die Balhas suchten für ihren ältesten Sohn Noor einen Kindergartenplatz. „Gemischte Kindergärten gab es damals nicht“, sagt Ora Balha. Traditionell ist das Erziehungssystem in Israel schon ab dem Kindergarten getrennt. Juden, Muslime und Christen haben ihre eigenen Einrichtungen. Also gründeten die Balhas einen neuen Kindergarten mit zwei Kindern, zwei Sprachen und zwei Religionen.

Heute betreibt die Organisation sechs gemischte Kindergärten in Jaffa und einen in Galiläa. Sie betreuen 200 Kinder. „Etwa 50 Prozent sind jüdisch, 40 Prozent muslimisch und 10 Prozent christlich“, sagt Balha. Nun hofft sie, in Zukunft auch eine gemischte Schule aufmachen zu können. „Bildung ist so entscheidend“, sagt Balha. „Die getrenn-

Die Organisation „Orchard of Abraham’s Children“ betreibt sechs gemischte Kindergärten in Jaffa und einen in Galiläa – in ihnen ist das Miteinander von jüdischen, christlichen und muslimischen Kindern Alltag. www.bismilla.org

Hunderte Demonstranten versammeln sich auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv: Aufstehen für den Frieden.

Gil Naveh alias Galina Port de Bras: Sprecher von Amnesty International, Dragqueen und Papa

te Erziehung hat so viel Hass erzeugt, und so viele Menschen wurden verletzt.“

Leben in der Blase Mag die Wa enruhe zwischen Israel und der Hamas auch für einige Monate oder Jahre anhalten, Israelis und Palästinensern ist bewusst, dass die Konfl iktlinien im Nahen Osten längst nicht nur um die umkämpften Grenzen zwischen Israel, dem Westjordanland und Gaza verlaufen. Die Ausschreitungen haben deutlich gemacht, dass die Gräben mitten durch die Gesellschaft gehen. Gerade in Tel Aviv wird dies besonders deutlich. Israels Wirtschaftsmetropole, Kulturzentrum und Lebestadt wird von Einheimischen wie von Israelis aus anderen Landesteilen gleichermaßen als „HaBua“, die Blase, bezeichnet – die Stadt, die vom ewig schwelenden Konfl ikt oft wie durch eine unsichtbare Trennwand abgeschieden scheint. Die jüngsten Ereignisse haben dieses Bild ins Wanken gebracht. Nicht nur hatten mehr Raketen der Hamas als je zuvor die Metropole zum Ziel und trafen in der Vorstadt Ramat Gan auch einen Zivilisten tödlich. Die Ausschreitungen in Ja a erschütterten eine von Tel Avivs liberalen und welto enen Bewohnern gern gepfl egte Illusion. Ihre Stadt war plötzlich keine abgeschirmte Insel mehr in einem tosenden Ozean unzähmbarer innen- und außenpolitischer Wogen.

Die verwundete Stadt Im Zentrum von Tel Aviv, nur ein paar Kilometer weiter nördlich, scheint der Konfl ikt so fern wie die Grenze zu Gaza. Die beängstigende Leere, die während der strikten Lockdown-Phasen und zuletzt während des Raketenalarms auf der breiten Ibn-GavirolStraße herrschte, ist längst der üblichen Hektik gewichen. Die Straßencafés sind voll. Über einer riesigen Baustelle hinter der Arlozorov-Straße hängt eine dichte Staubwolke. In dem kleinen Histadrut-Park gleich daneben versucht Gil Naveh eine Reihe an Telefonanrufen zu deichseln, ohne seine beiden Töchter aus den Augen zu verlieren. Der 37-Jährige ist Sprecher von Amnesty International Israel. „Wir wohnen da drüben“, sagt Naveh. „Seit dem Raketenalarm will die Kleine nicht über die Straße kommen. Sie ist vier Jahre alt und betreibt schon Risikomanagement.“ In der Tel Aviver LGBT-Szene ist Naveh bekannt als verruchte Diva Galina Port de Bras. Mal tritt er im rosa Glitzerfummel, bisweilen auch mit lässig sitzender Soldatenjacke auf die Bühne. Die Politik wird auch in seinen Shows nie ausgespart. „Ich bin in Jerusalem aufgewachsen“, erzählt Naveh, „aber die Stadt wurde mit der Zeit immer bizarrer. Das ständige Sperrfeuer aus Hass wurde unerträglich.“ 2010 zog er nach Tel Aviv, „eine Stadt, wo ich willkommen bin und es keine Rolle spielt, wer du bist“.

Dragqueen mit Familienanschluss In der Pandemie waren die schillernden Auftritte in vollgestopften Bars bis vor Kurzem unmöglich. Nach dem enormen Impferfolg in Israel trat Galina endlich im April wieder auf, bis die Raketen der Hamas sie erneut stoppten. Die letzte Zeit war für Gil Naveh und seine kleine Patchwork-Familie mit seinem Partner und der Mutter seiner Töchter zermürbend. „Diese Dreifachbelastung aus Corona, Elternsein und einem fordernden Job ist nicht einfach zu meistern“, sagt er. Nun kam noch der Krieg hinzu. „Die Hälfte unseres Amnesty-Teams lebt in Ja a“, sagt Naveh. „Ich bin traurig und außer mir, was geschehen ist, aber ich bin kein bisschen überrascht. Wir sagen auf Hebräisch: ,Wer Wind sät, wird Sturm ernten.‘“ Er hält inne. Doch in seine Sicht der Zukunft mischt sich auch Ho nung. „Die Leute stehen auf. Weil ich eine Familie habe, war ich nicht auf einer der großen Proteste in letzter Zeit, aber mein Mann hat einige von ihnen organisiert. So sind wir irgendwie auch als Familie engagiert.“ Navehs Töchter tollen noch immer im Histadrut-Park herum. Ihre Mutter ist gekommen, um sie abzuholen. Sie spricht Portugiesisch mit ihnen. „Meine Eltern sind aus Brasilien nach Israel ausgewandert“, erzählt sie, „Sie wachsen mit zwei Sprachen auf.“ Im Moment hat auch sie viel um die Ohren. Aber sie lässt es sich nicht nehmen, hin und wieder mit ihrer Partnerin zu kommen, um Galina Port de Bras bei ihren nächtlichen Shows anzufeuern. Sehen sie ihre Töchter in einer verwundeten Stadt aufwachsen? „Von Wunden zu sprechen, ist ein Understatement“, sagt Gil Naveh. „Etwas hier ist zerbrochen. Selbst wenn die Regierung wechselt, weiß ich nicht, ob eine andere die richtigen Schritte geht, um diese Wunden heilen zu können.“ Auf dem zentralen Rabin Square haben sich am Abend Hunderte Demonstranten versammelt. Darunter sind auch Familien mit kleinen Kindern und Babys in Buggys. Sie halten violette Schilder hoch mit der Aufschrift „Friede. Israel. Palästina“ in Hebräisch und Arabisch. Die Graswurzelbewegung „Omdim B’Yachad“ (Wir stehen zusammen) hat Juden und Araber aufgerufen, für eine gemeinsame Zukunft zusammenzukommen. Am Ende des Abends sind es nach Angaben der Veranstalter Tausende, die vom Rabin Square zum Habima-Theater ziehen. Juden und Araber. Sie alle wollen eine gemeinsame Zukunft.

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