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CHANCEN ERGREIFEN
Der Klimawandel und die Finanzbranche
Wer nur einen Planeten zur Verfügung hat, aber so agiert, als würden ihm drei zur Verfügung stehen, hat irgendwann ein Problem. Genau vor dieser Herausforderung stehen wir. Inzwischen steuern Unternehmensverantwortliche aber in vor wenigen Jahren noch nicht vorstellbarem Tempo um. Es ist ein Wettbewerb zu beobachten, welches Unternehmen als erstes klimaneutral unterwegs ist. Auch das Geldverdienen ist durch den Klimawandel gefährdet. Die institutionelle Finanz welt hat dies erkannt. Sie bewertet diese Risiken inzwischen sehr genau und schichtet ihre Portfolios massiv in Richtung nachhaltige Investitionen um. Das ist die positive Botschaft. Allerdings ist die Praxis schwieriger als eine kurze Theorieskizze.
Interviewpartnerin: Argyro (Rula) Ipsaryaris
Autor: Georg Lutz
Wer die Datenberge zu den ESGRegeln – «E» für Environmental (Umwelt), «S» für Social (Soziales) und «G» für Governance (verantwortungsvolle Unternehmensführung) – durcharbeitet, muss zu dem Ergebnis kommen, dass bereits in wenigen Jahren alles wieder im Lot sein könnte. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die Klimaziele werden trotz aller rhetorischen Ankündigungen fast überall gerissen. Vor dieser Ausgangslage begeben wir uns in das Thema.
Der ESG-Ansatz als zentrales Regelwerk für die Finanzwelt in Europa ist umfassend und komplex. Hinter den Anforderungen verliert man schnell den Überblick. In erster Linie geht es aber um die Dimensionen der Transformationsdynamik. Die Aussagen der Studien sind eindeutig: Um das 1.5-Grad-Ziel zu erreichen, müssen Staaten und Unternehmen ihre grünen Anstrengungen in den nächsten Jahren versiebenfachen. Der klimagerechte Umbau kostet im ersten Schritt Geld. Und gleichzeitig müssen die Unternehmen Geld verdienen. Das führt zu einem Spagat, der an Schmerzgrenzen geht. Das folgende Interview mit Argyro (Rula) Ipsaryaris, Head of Client Solutions Switzerland & Liechtenstein bei Aviva Investors, bietet Aufklärung.
PRESTIGE Business: Es geht beim Thema ESG nicht einfach nur um einen kleineren Fussabdruck an CO2 -Emissionen oder ein Umrechnungstool, sondern es sollte eine Vielzahl von Kriterien hinsichtlich Umwelt, Sozialstandards und Unternehmensführung, die in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen, auf der Agenda stehen. Schon hier beginnt die Herausforderung:
Man ist mit einem Wust an Papieren konfrontiert. Gleichzeitig versteht aber beispielsweise unter dem Begriff Nachhaltigkeit jede*r etwas anderes. Das ist nicht nur für mich eine ziemlich schwammige Situation.
Argyro Ipsaryaris: Da liegen Sie richtig. Die Wahrnehmung im Markt kann verwirrend sein. Wer gleichzeitig mit Stichworten wie ESG, Responsible Investing oder Nachhaltigkeit um sich wirft, kann ins Schleudern kommen. Nehmen wir zum Beispiel die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung mit ihren 169 Unterzielen. Sie bilden das Kernstück der Agenda 2030, die seit 2013 im Rahmen der UNO aufgegleist ist. Sie tragen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimension der nachhaltigen Entwicklung in ausgewogener Weise Rechnung und führen zum ersten Mal Armutsbekämpfung und nachhaltige Entwicklung in einer Agenda zusammen. Die Sustainable Development Goals (SDGs) sollen bis 2030 global und von allen UNO-Mitgliedstaaten erreicht werden. Die einzelnen Ziele dürfen zudem nicht isoliert voneinander angeschaut werden, da sie fast immer verknüpft sind.
Können Sie uns hier ein Beispiel verraten? Die Bekämpfung des Hungers ist ein Ziel. Nur wie wollen wir es erreichen? Welche Strategie ist optimal? Ist es der reine Einsatz von neuer Technologie? Früher war es im Rahmen der «Grünen Revolution» der Einsatz von Hochleistungssorten mit dementsprechenden Düngemitteln. Heute geht es eher um den Einsatz von genetisch verändertem Saatgut. Wollen wir das? Was sind die Implikationen?
Die technologische Argumentationsfigur kennen wir aus der Klimadebatte. Mit dem Einsatz von neuster Technik können wir die Klimaprobleme lösen, lautet das Mantra der etablierten Politik. Für viele ist das aber ein verkürzter Ansatz.
Ja, die Technik kann auf den ersten Blick fast alle Probleme lösen, wenn man dies politisch will und viel Geld investiert. Aber es gibt Zielkonflikte, die zu beachten sind. Beispielsweise leidet im Rahmen der industrialisierten Landwirtschaft die Biodiversität. Und das ist ja eine Entwicklung, die in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen hat.
Vor diesem komplexen Hintergrund sollte nun jedes Individuum und auch jedes Unternehmen seine Philosophie entwickeln und Entscheidungen treffen. Das ist nicht einfach und bedarf viel Wissen, Zeit und Ressourcen. Insbesondere auch Investoren stehen hier in der Verantwortung. Wir bei Aviva Investors haben einen ganz klaren, auf die Klimaherausforderungen ausgerichteten Fokus –und der geht top down durch alle Unternehmenshierarchien.
Das klingt gut, aber im Alltag habe ich den Eindruck, es geht um Marketing und nicht um reale Veränderungen. So sind wir im Alltag mit gut gemachten grünen Werbefilmchen konfrontiert. Ich sehe glückliche Kaffeebäuer*innen im tropischen
Regenwald. Die sollen unterstützt werden und dann würden wir die Welt retten – so die Botschaft. In der Realität müssen diese Menschen aber ihre bisherigen Anbaugebiete wegen des Klimawandels verlassen.
In Ihrer Branche gibt es inzwischen viele grüne Angebote. Da solche Begriffe aber nicht rechtlich geschützt sind, finde ich in den Portfolios auch einen Mineralölkonzern. Da sprechen Sie eine grosse Herausforderung an. Es gibt bislang noch keine glasklaren regulatorischen Leitplanken und die Richtlinien bieten Raum für Interpretationen. Man kann dies an einer anderen Branche besser verdeutlichen: Wenn ich Lebensmittel im Discounter einkaufe, erkenne ich auch nicht sofort, ob das Produkt gesundheitlich bedenklich ist.
Es gibt die Informationen, sie sind aber kleingedruckt, kaum zu lesen. Eine Lebensmittelampel, bei der auf den ersten Blick klare Informationen erkennbar sind, wird aber von der agrarindustriellen Lobby verhindert oder verzögert.
Aber alleine die Diskussion darüber führt bei den Verbraucher*innen zu einer höheren Sensibilisierung. Das ist auch bei der Debatte zum Klimawandel erkennbar. Heute überlegt sich fast jedes Unternehmen, wie es neben der digitalen Transformation den ökologischen Fussabdruck verringern kann. Das war vor wenigen Jahren noch nicht so. Ökothemen waren Nischenthemen.
Ja, der Club of Rome hat 1973 das Thema zum ersten Mal aufgegriffen und 1992 gab es den grossen Gipfel in Rio. Das entfaltete auch Wirkungsmacht, aber sicher nicht so wie heute. Da liegen sie richtig.
Jetzt kann man sich fragen: Was hat diesen Hype ausgelöst? Ist es ein Marketinghype oder vollzieht sich eine fundamentale Veränderung, zunächst in den Köpfen und dann auch im Handeln?
Ohne Frage, die Veränderungsdynamik ist da. Und dann kann man heute auch mit Ökoprodukten eine bessere Gewinnmarge als mit herkömmlichen Produkten erreichen.
Bei Aviva Investors heisst das zentrale Stichwort dazu «Performance with a Purpose». Wir sind Asset-Manager und da ist die Performance einer der beiden zentralen Bausteine.
Vor 20 Jahren haben nachhaltige Produkte mehr gekostet. Man musste sich als Anleger einer nachhaltigen Strategie verpflichtet fühlen und manchmal eine niedrigere Performance in Kauf nehmen. Diese Zeiten sind heute definitiv vorbei. Umgekehrt gilt: Wer Nachhaltigkeit nicht in seine Anlagestrategien als Risikofaktor integriert, läuft Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Er landet dann bei den abgehängten Geschäftsmodellen der Nokias und Kodaks.
Kommen wir nochmals zu den von Ihnen auf den ersten Blick zu Recht kritisierten Mineralölfirmen. Auf den zweiten Blick kann dies anders aussehen.
Da bin ich gespannt.
Eine Mineralölfirma hat einen grossen Impact im Markt, dieser kann positiv gewendet werden, wenn eine Transformationsphase nachvollziehbar eingeleitet wird. Und hier kommen wir zu unseren Kriterien für die Transformation. Wie können wir als Asset Manager dazu beitragen, dass sich etwas ändert.
Neben «Exclusion» und «Invest in Solutions» ist die «Transition» mit klar definierten Meilensteinen im Rahmen der Transformationsphase eine wichtige Voraussetzung, um Firmen zu begleiten. So müssen wir auch Mineralölfirmen motivieren, zur Lösung beizutragen und sich auf den Weg zu begeben, denn sie können ihr Geschäftsmodell nicht von heute auf morgen umstellen. Die Verantwortlichen wissen aber, dass sich in absehbarer Zeit ihr
Geschäftsmodell drastisch verändern wird. Dazu braucht es aber «Science based Targets» mit Zwischenzielen, die messbar sind. Wenn das funktioniert, hat man einen wirkungsmächtigen Hebel für die Transformation zur Verfügung. Das bedeutet, wir helfen, wir begleiten, wir geben die Möglichkeit. Sollten aber unsere Ziele, so wie vereinbart, nicht erreicht werden, brechen wir den Prozess ab – wir deinvestieren.
Was haben diese Prozesse und Kriterien mit Ihrem Haus zu tun? Treten wir für die Beantwortung dieser Frage einen Schritt zurück. Man muss sich zunächst selbst Ziele setzen und Aviva Investors hat sich ja diese Ziele gesetzt. Unsere Mutter Aviva war die weltweit erste globale Versicherungsgesellschaft, die sich für eine NettoNull-Strategie bei Emissionen bis 2040 verpflichtet hat.
Jetzt kann jeder eine schöne Power-Point-Präsentation mit beeindruckenden Zielen präsentieren. Wichtig ist, dass der Investor wirklich prüft, ob diese Firma es auch ernst meint. Dieser Prüfungsprozess heisst bei uns «Walk the Talks».
Es gibt bereits Investoren, die uns, bevor sie überhaupt unsere Produkte anschauen, einen «Due Diligence Questionnaire» über Aviva Investors als Firma senden, das heisst, wie wir uns als Firma in dem Bereich positionieren, wo wir Schwergewichte legen und wie die Umsetzung aussieht.
Aviva Investors fokussiert sich auf drei Themen: «Klima» und die damit zusammenhängende Netto-Null-Strategie, «People» und die Human Rights Principles wie Access to Education sowie «Earth» in Bezug auf Biodiversität.
Lassen Sie mich das zusammenfassen: Zunächst geht es ganz einfach um Exklusionskriterien. Rüstungsunternehmen können nach den UNO Development Goals nicht nachhaltig sein. Dann geht es etwas komplizierter um eine Best-ofClass-Strategie. Das ist der Begleitungsprozess, den Sie skizziert haben. Dazu kann auch ein Mineralkonzern gehören, wenn er in seiner Zukunftsstrategie Transformationsbedingungen einhält. Springen wir an diesem Punkt in die Praxis. Es geht dann um massive Investitionen in E-Mobilität. Die Verantwortlichen investieren in Solarzellen, in Ladestationen und in Batterien.
Das hört sich gut an. Allerdings stellt sich die Frage, ob es nur eine Nische für ein Schaufenster ist oder sich das Geschäftsmodell tatsächlich verändert. Die Frage ist nicht neu. Schon vor 20 Jahren setzten einige Mineralölkonzerne auf Solarenergie und haben dies auch massiv kommuniziert. Nach wenigen Jahren ist das weitgehend in einer Nische gelandet. Der Löwe hat gebrüllt und ist zum Bettvorleger geworden. Mit dem klassischen Geschäftsmodell der billigen fossilen Energie hat man gut Geld verdient. Man muss aller - dings ergänzend dazu berücksichtigen, dass eine massive chinesische Subventionspolitik europäische Solarhersteller vom Markt gefegt hat, auch da die Politik China nichts entgegengesetzt hat. Sie merken, ich kämpfe immer noch mit dem Beispiel Mineralölkonzern. Daher investieren wir nicht nur in Unternehmen, sondern befinden uns in einem permanenten Kommunikationsprozess, mit dem wir die definierten Ziele überwachen. Das ist aufwendig. Da geht es nicht nur um das Setzen von einigen Benchmarks, die bei einem guten Essen besprochen werden. Sie müssen sich als Investor um die Frage kümmern: Ist wirklich der Inhalt in der Box, der auf dem Etikett steht?
Bei einem Hype hat man es mit schwarzen Schafen zu tun. Es gab in den letzten Monaten einige Skandale. Der bekannteste ist das der Deutsche-Bank-Tochter IBS, die extra eine Frau zum Thema Nachhaltigkeit eingestellt hatte. Da waren wir sehr überrascht, mit welchen Methoden gearbeitet wurde, um beispielsweise Kennzahlen willkürlich einzugeben. Wie verhindert oder minimiert man solche Skandale – auch in Ihrem Haus?
Es gibt ein schönes Sprichwort: «Der Fisch fängt immer vom Kopf an zu stinken.» Eine Unternehmenskultur wird gelebt, und zwar durch alle Hierarchiestufen. Ebenso gilt es, den Begriff «Engagement» mit Inhalt zu füllen. Erst dann gibt es eine verlässliche Grundlage, auf der das Kapital in die richtige Richtung fliessen kann. Gleichzeitig muss eine transparente Exitstrategie vorhanden sein, wenn der Prozess in Richtung Nachhaltigkeit nicht funktioniert.
Nebst dem Kapital, das sicherlich seinen Beitrag leisten kann, muss das ganze Ecosystem des Finanzmarkts wie Regulatory, Policy Makers, die Wissenschaft und andere Stakeholder gleichziehen.
Ich habe auch den Eindruck, dass jeder Player seine eigene Performance für sich gestaltet. Über den Tellerrand zu schauen, scheint nicht angesagt zu sein. Würde es nicht Sinn machen, wenn die Akteure strategisch intensiver zusammenarbeiten?
Ganz klar: Ja! Ich nenne Ihnen auch da Beispiele aus unserem Haus. Wir haben gerade eine Kooperation im UK im Rahmen unserer Natural-Kooperation. Wir pflegen da eine Zusammenarbeit mit dem WWF. Dann haben wir vor zwei Jahren die «International Platform for Climate Finance» ins Leben gerufen, und zuletzt haben wir eine «Bretton-Woods-Konferenz» im Jahr 2024 gefordert. Es geht um die Schaffung eines globalen Übergangsplans für das Finanzwesen, um die globale Finanzarchitektur zu reformieren und privates Kapital zu mobilisieren, um eine Klimakatastrophe abzuwenden.
Lassen Sie uns den Diskursrahmen nochmals weiter spannen. Wir leben seit 150 Jahren im Kapitalismus. Kapitalismus ohne Wachstum ist nicht vorstellbar. Er hat verschiedene Krisen durchlebt, aber immer wieder innovativ neue Akkumulationsregime ausgebildet. Jetzt muss er in Teilen schrumpfen. Kreislaufwirtschaft wird an Bedeutung gewinnen. Es gibt Branchen wie die Solarbranche, die wach- sen müssen. Andere wie die Flugbranche müssen aus Gründen des Klimaschutzes reduziert werden. Die Vorstellung eines reinen, grünen Wachstums ist eine rosa Wunschvorstellung. Wie soll das funktionieren? Und dann habe ich noch einen Ist-Zustand, den ich kenne, und einen zukünftigen Soll-Zustand, der auch einigermassen vorstellbar ist und in vielen Büchern beschrieben wird. Es fehlen aber die Brücken zwischen den beiden Welten. Hierüber können wir sehr lange philosophieren. Ich antworte, damit wir im Rahmen eines Interviews bleiben, mit einem einfachen Alltagsbeispiel. Als die Zahnpasta Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde respektive der Bedarf nach Zahnpasta entstanden ist, weil man die Zähne gesünder halten wollte, hatte man ein Problem: Die Zahnpasta schmeckte schrecklich. Die Menschen lehnten das neue und wichtige Produkt ab. Worin lag die Lösung? In der Zugabe von Pfefferminzgeschmack. Ein umgehender positiver Impact, frischer Atem, um die langfristige Lösung zu erreichen: gesunde Zähne auch im Alter.
«Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz.» Kommt es auf die positive Botschaft an, bei der man sich wohlfühlt?
Ja, es gilt, die Übergänge attraktiv zu gestalten. Ich führe mit dem Sohn meiner besten Freundin intensive Diskussionen.
Er will keine neuen Hosen und Hemden kaufen und ist vegan. Verzicht ist für ihn ein positiv besetzter Begriff. Das kann eine individuelle, sehr positive Strategie sein, gesellschaftlich bringt es uns aber nicht weiter. Wir müssen doch das nutzen, was wir haben, und das ist das Kapital. Allerdings hat sich der Kapitalismus in seiner Geschichte, das haben Sie ja angedeutet, unglaublich gewandelt. Warum kann er dies nicht auch in den nächsten Jahren tun? Wir wollen dies als Chance aufgreifen und nutzen. Bei Aviva Investors arbeiten junge Nachwuchskräfte, die von Human Rights Watch und Greenpeace kommen. Hier kommen innovative Welten zusammen, die die Zukunft gestalten wollen. Also nutzen wir doch das Kapital – und steuern es dorthin, wo diese Veränderung stattfindet!
Darf ich noch einen Buchtipp abgeben?
Ich bitte darum.
Lesen Sie das Buch «21 Lektionen für das 21. Jahrhundert» von Yuval Noah Harari. Dort wird sehr innovativ aufgezeigt, welche Herausforderungen auf uns zukommen.