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GEKRÄNKTE FREIHEIT

Liberale Weltbilder und libertärer Autoritarismus

Manchmal ist es spannend, zwei Bücher mit konträren Hintergründen gleichzeitig zu lesen. Im besten Fall erweitert es den Horizont seiner eigenen Denkfiguren. In Zeiten, in denen viele nur in oder mit ihrer eigenen Blase kommunizieren, ist das mehr als wichtig.

Autor: Georg Lutz

Das Buch «Freiheit beginnt beim Ich – Liebeserklärung an den Liberalismus» ist eine Selbstvergewisserung der Welt-Kolumnistin Anna Schneider. Es liest sich wie ein Brevier für glühende Liberale.

Die Ausgangslage für Anna Schneider ist klar: «Entweder man geht immer und grundsätzlich von der Freiheit des Individuums aus. Oder aber man betrachtet diese individuelle Freiheit als Bedrohung der Freiheit anderer. Ich bevorzuge Ersteres» (Seite 10). Dann wird es pathetisch: «Ohne Freiheit ist alles nichts, denn nur ein freier Geist kann bei sich selbst sein» (Seite 11). «Freiheit ist das Recht in Ruhe gelassen zu werden» (Seite 13). Gerechtigkeit ist in diesem Verständnis nur die Vorstufe zur Gleichmacherei. In der Folge holt sich Schneider Unterstützung von liberalen Vordenkern wie John Stuart Mill, Milton Friedman oder August Friedrich Hayek. Dann lässt Schneider die Politik der letzten Jahrzehnte vorbeiziehen. «And who is society? There is no such thing», zitiert sie Margaret Thatcher. Die aktuelle Politik entmündige die Bürger. Aus ihrer Sicht fristet die liberale Gedankenwelt heute ein Schattendasein. «In Deutschland liberal zu sein ist ein bisschen, wie am Prenzlauer Berg Fleisch zu essen» (Seite 78). Das klingt schon fast wie ein Hilferuf für eine Minderheit.

Ein Falsches Bild

Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist dies aber ein falsches Bild. Ab Ende der Siebzigerjahre ersetzte die liberale Form der Globalisierung den klassischen Wohlfahrtsstaat der Sechziger- und Siebzigerjahre, der in den USA und Westeuropa hegemonial war. Ausbruchsversuche wie in Frankreich 1981 oder in Deutschland 1998 wurden innerhalb von wenigen Monaten zurückgedrängt. Das liberale Weltbild setzte sich von individuellen Lebenswelten bis hin zu internationalen Abkommen durch. Das Ende der bipolaren Weltordnung 1990 war ein weiterer liberaler Turbo. Erst ab 2008, mit der Bankenkrise, kam es in Westeuropa zu ersten gesellschaftlichen Rissen in diesem Modell. Das liberale Weltbild müsste sich heute eigentlich in einer Art Selbstreflektion hinterfragen und dann erneuern.

Anna Schneider argumentiert aber tapfer weiter in ihrer Linie. Ayan Rand, Hohepriesterin des Individualismus, die in den USA das rechte politische Milieu seit Jahrzehnten unterfüttert hat, ist ein weiteres Vorbild. In der Vorstellungswelt von Rand ist der Staat eine zu bekämpfende Institution. An diesem Punkt sind wir jetzt bei den Fans von Donald Trump und Jair Bolsonaro angelangt.

Individualit T Am Kippen

Hier kommen die gesellschaftlichen Verschiebungen, die innerhalb der Pandemie unter dem Stichwort «Querdenker» noch an Bedeutung gewonnen haben, zum Vorschein. In dem Buch «Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus» analysieren die Soziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey einige Entwicklungsstränge der liberalen Welt, die in libertäre Vorstellungswelten gekippt sind. Dabei beziehen sie sich auf empirische Interviews, auf theoretische Schriften beispielsweise der Frankfurter Schule oder von klassischen und aktuellen Soziolog*innen sowie auf Studien wie die der Bertelsmann Stiftung zur Pandemie. Die Beteiligten tragen die eigene individuelle Freiheit, gerade in der Pandemie, wie eine Monstranz vor sich her. Gleichzeitig preisen sie aber autoritäre Strukturen an. Dies ist, wie die beiden Autor*innen analysieren, nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Für sie kippt hier der Liberalismus in autoritäre Strukturen, da die Querdenker*innen und auch Schneider sich schlicht weigern, das individuelle Verhalten zu reflektieren und sich damit auch auf Kompromisse einzu lassen. Man bleibt grollend in der Ecke stehen und wehrt sich gegen eine vermeintliche staatliche Bevormundung.

Der libertäre Autoritarismus, so Amlinger und Nachtwey, ist eine Folge des Freiheitsversprechens der Spätmoderne: Mündig soll er sein, der Einzelne, dazu noch authentisch und hochgradig eigenverantwortlich. Gleichzeitig erlebt er sich als zunehmend macht- und einflusslos gegenüber einer komplexer werdenden Welt. Das wird als Kränkung erfahren und äussert sich in Ressentiments und Demokratiefeindlichkeit. Die Versprechungen der Moderne, uns werde es immer besser gehen, fallen zusammen.

Teile der Mittelschicht sind mit ökonomischen Verlusterfahrungen konfrontiert. Die Kluft zwischen Versprechen und Realität ist spürbar.

Begrifflichkeiten Und Theorien

Diese Kluft zu analysieren, die zwischen der formal garantierten Freiheit des modernen Individuums und seinem realen Potenzial zur Selbstbestimmung liegt, war seit ihren Anfängen in der Weimarer Republik Grundanliegen der Kritischen Theorie innerhalb der Frankfurter Schule. Darauf berufen sich auch Amlinger und Nachtwey. «Die Gefahren von Autoritarismus und Unfreiheit lauern nicht jenseits der modernen Gesellschaft, sondern entfalten sich in ihr, aus ihrer inneren Beschaffenheit heraus» (Seite 36).

Es gibt aber auch Unterschiede. Adorno und Co. haben ihre Theorie zu den Widersprüchen der autoritären Persönlichkeit in der Moderne noch entwickelt, als das Schlagen im Rahmen der Kindererziehung noch völlig normal war und Betriebe vollständig den fordistischen und tayloristischen Silohierarchien unterworfen waren. Zudem wollten und wollen klassische Rechte einen starken Staat errichten und sehnen eine Volksgemeinschaft herbei. Hier, bei den Libertären, geht es um einen möglichst abwesenden Staat.

Amlinger und Nachtwey arbeiten aus diesem Grund auch mit anderen Begrifflichkeiten und soziologischen Theorien: «Unser Begriff der regressiven Modernisierung bezeichnet die Art und Weise der jüngsten Phase des sozialen Wandels, in der eine Dialektik von Modernisierung und Gegenmodernisierung am Werk ist, wie Ulrich Beck schon 1996 festhielt» (Seite 96). Und weiter: «Ökonomische, politische und kulturelle Räume wurden geöffnet. Gleichzeitig wurden im Namen der wettbewerbsorientierten Austeritätspolitik sozialstaatliche Sicherungen abgebaut und soziale Rechte eingeschränkt» (Seite 96). Das wirkt sich auf die Handlungsoptionen aus: «Es entsteht keine Solidarität aus Angst. Stattdessen ist eine angstvolle Über- forderung der Einzelnen zu beobachten, die mit einer Kränkung ihrer Wissenssouveränität verbunden ist» (Seite 109). «Die Ausrichtung des individuellen Lebens an Selbstbestimmung und Selbsterfahrung verbindet sich nicht länger mit Forderungen nach einer anderen sozialen Ordnung, sondern läuft auf eine Anpassung an die Normen der individualistischen Wettbewerbsgesellschaft hinaus» (Seite 173).

In der Folge kommen Amlinger und Nachtwey zu ihrem zentralen Topos: «Die libertär-autoritären Proteste rebellieren also gegen die spätmoderne Gesellschaft, aber im Namen ihrer zentralen Normen: Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Aus dieser widersprüchlichen Einheit aus Identifikation und Subversion speist sich der libertäre Autoritarismus» (Seite 174). Zygmunt Bauman sah hier schon vor Jahren die Gefahr, dass die Freiheit zu einer entpolitisierten Forderung eines privatisierten Individuums wird.

So kommen Amlinger und Nachtwey zu Anna Schneider. Diese attestiert dem Genderstern in der Welt grosse soziale Sprengkraft. Dazu betonen Amlinger und Nachtwey: «Wir stossen immer wieder auf das gleiche Narrativ, das sich gegenüber äusseren Anlässen verselbstständigt zu haben scheint: Eine inklusive Neuregelung der Sprache oder der Umgangsformen bedroht entweder die individuelle Selbstbestimmung, die gesellschaftliche Kohäsion oder die Kultur ganz allgemein» (Seite 220).

Hier verbindet sich «linke Libertinage mit Ressentiment gegen kulturelle Diversität, Staatskritik trifft auf Verschwörungsdenken – und das sorgt bisweilen für politische Orientierungslosigkeit. In dieser unübersichtlichen Lage bilden sich intellektuelle Querfronten, die neue Assoziationsketten knüpfen und die Unterscheidung zwischen links und rechts unterwandern» (Seite 226).

Jetzt verstehen wir die nur auf den ersten Blick chaotischen Handlungsstränge und Argumentationsfiguren der Querdenker*innen. «Die Freiheitskonflikte der Gegenwart bergen also Protestformen in sich, in denen sich regressive und emanzipatorische Elemente kreuzen» (Seite 245).

Individuelle Freiheit braucht Erkenntnisse über Prozesse, in deren Rahmen sie agiert. Weder romantische Verklärungen der Vergangenheit noch der pure Fortschrittsoptimismus sind hinreichende Grundlagen für Handlungsmuster, die eine Gesellschaft weiterbringen.

FREIHEIT BEGINNT BEIM ICH

Liebeserklärung an den Liberalismus

Anna Schneider dtv

111 Seiten, 2022

ISBN 978-3-423-29046-3

Gekr Nkte Freiheit

Aspekte des libertären Autoritarismus

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey Suhrkamp

480 Seiten, 2022

ISBN 978-3-518-43071-2

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