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MIXOLOGIE
Mixologie, eine anregende Denk- und Arbeitsweise
Mixologie wird im vorliegenden Artikel erstmals skizziert. Die vermischten Gedanken beginnen im «World’s End», einer Bar in Edinburgh. Mixologie – eine von vielen möglichen Denk- und Arbeitsweisen, um sich den Mischungen unseres Lebens und dem Vermischten in uns selbst zu widmen.
Autor: Werner Aebischer
In Edinburgh verzauberte mich die Bar «World’s End», ein Lokal engagiert gegen das Ende der Welt. Ein menschenfreundlicher, wohltuender Ort. Die Menschen hinter der Theke arbeiten gerne hier, sie bedienen die Gäste aufmerksam und Geld ist hier auch kein Problem. Aus aller Welt hängen verknitterte Banknoten über der Theke. Ein märchenhaftes Sortiment, Flaschen glitzern. Geheimnisvolle Namen wie Bruichladdich, Bunnahabhain oder Tobermory ziehen mich magisch an. Ich rieche Vanille, reife Orangen mit einem Hauch von Kakao. Ich bin in einer schottischen Bar. Es geht mir gut. Ich bestelle «a wee dram», 14-jährigen Oban. Mir wird eingeschenkt. Ich habe Glück, denn ein Dram ist eine kleine Menge Whisky, welche von der Grosszügigkeit und Laune des Einschenkenden bestimmt wird.
Eine gute Bar erfahre ich als menschenfreundlichen Ort zum Geniessen und Entspannen. Die Erdanziehung scheint hier etwas schwächer, Belastungen nehmen spürbar ab. Die Zeit wird langsamer und dehnt sich.
Die Mischung Der Mischungen
Jetzt zur Mixologie. Wir haben ja Zeit, das Jahr hat gerade erst angefangen. Mixologie ist die Kunst des Mischens und mit Mischungen umzugehen. Dieses Kunsthandwerk wird besonders elegant in Bars praktiziert. Um das Jahr 2000 spricht man in Grossbritannien von «mixology». Menschen sind Mischer, sie vermischen, verrühren, kneten, verquirlen und mixen. Geschüttelt oder gerührt, Mister Bond? Eine Bar erweitert diese Arbeitsmethoden und unser Verständnis von Mischungen. Vermischt wird vielerlei: die Elixiere aus den Flaschen, die zu Cocktails werden, der Lichtmix aus Schummer, Glitzer, Mond- und Sternenlicht, der akustische Mix, das Lachen und die Stimmen der Gäste vermischt mit Jazz im Hintergrund. Eine Bar, eine bezaubernde Mischung der Mischungen: Interieur, Getränke, Licht, Sound und Menschen vermischen sich zu einem Cocktail, einem Ensemble, einem Mischungsgesamtkunstwerk.
Eine ganz und gar nüchterne Mixologin wird unser aufkommendes Schwärmen über unsere Lieblingsgetränke und Lieblingsbars kritisch-freundlich unterbrechen. Sie kennt sich aus. Ihr Wissen ist praxisgesättigt und wir wollen mixologisch dazulernen. Sie weist uns auf all das hin, was sie an der Theke, am Tresen so zu hören bekommt. Sie liest die Geschichten der Gäste in ihren Gesichtern. Gerade weil sich hier die Menschen entkrampfen, nimmt sie das Auf und Ab dieser Menschen wahr. Und der unbesiegbar machende Zaubertrank, nach dem die Gäste dann gerne fragen, weil sie als Kind nicht hineingefallen sind, dieser Trank des Obermischers Miraculix ist hier leider nicht zu haben.
MIX DICH GLÜCKLICH!
Die Einsicht «alles ist vermischt» ist so gesund wie der Mix guter Früchte. Wir können ja nicht dauerhaft in der Bar abhängen. Zwischendurch gehen wir auch mal raus. Hier draussen gilt: Wir sind ständig auf der Suche nach dem Besseren, dem Guten, dem Idealen und Perfekten. Wir haben hohe Erwartungen an uns selbst und an andere. Oft werden wir unseren hohen Erwartungen erst bewusst, wenn wir enttäuscht sind, wie sich unsere Kinder oder Partner verhalten. Oft enttäuschen wir uns selbst. Wenn wir eingesehen haben, dass vollkommene Menschen, Firmen, Teams, Prozesse, Projekte, Softwares, Filme und Bücher nicht existieren, weil sie immer vermischt sind, dann sehen wir vielleicht weiter. Es ist nicht damit getan, dass wir sagen: Niemand ist perfekt oder alle kochen ihre Spaghetti auch nur mit Wasser. Das wussten wir bereits. Aber es geht in diese Richtung. Ich selbst muss tiefer gehen, tief in mir selbst verstehen und einsehen, dass alles, was existiert, vermischt ist. Ich lerne, die guten Zeiten, die schlechten Zeiten, die speziellen Zeiten und vor allem die normalen Zeiten mixologisch zusammen zu sehen. Dabei stellen sich die schwierigen Zeiten später oft als die fruchtbaren heraus. Natürlich nicht immer und nicht immer macht alles Sinn. Die ganze Mischung zu sehen, heisst immer wieder auch: das Gute, das, was klappt, sehen zu wollen. Viele haben zu viel Negatives intus, sind berauscht von all dem, was schief geht oder schief gehen könnte. Obschon Mixologie aus der Bar kommt, ist gerade diese Art und Weise des Wahrnehmens, Denkens und Bewertens nüchtern. Gelassene Nüchternheit dem Vermischten gegenüber. Nicht, indem ich diese und jene Sache nicht sehen will, sondern indem ich sie vielleicht als traurige Tatsache meines Lebens annehme und achte. Es ist mein Leben. Ich habe kein anderes.
Menschen und Unternehmen tun immer wieder erstaunliche Dinge, damit ihre Schattenseiten unsichtbar bleiben. Wir wollen uns weder vor anderen noch vor uns selbst schämen und unser Image beschädigen. Dagegen steht die grimmige Aufforderung von Oliver Cromwell an seinen Portraitmaler: «Paint my picture, warts and all!» (Sonst zahle ich keinen Penny dafür.)
Was wir im «World’s End» sehen, gilt eben schon: Wir brauchen einen guten Ort, um uns zu entkrampfen und die Mischungen, die unser Leben sind, konkret zu sehen und anzunehmen. Cromwellsche Grimmigkeit und britischer Humor hilft, die zusammengesetzten Wirklichkeiten des Vermischten wahrzunehmen und auszuhalten.
MIXOLOGIE – DIE LOGIK DES VERMISCHTEN
Mixologie, die Logik des Vermischten, eine Denk- und Arbeitsweise, die danach Ausschau hält, wie absurd, mysteriös, paradox, komisch, überraschend das Leben immer wieder dazwischenkommt. Und manchmal kommt und geht auch alles nach Drehbuch, wie geplant, versprochen, also ordentlich, pünktlich, erfolgreich. Es gibt nicht die eine Formel, die eine Theorie, den einen Plan für alles. Das Problem der Fundamentalisten ist ja nicht, dass sie an einer ganz bestimmten Deutung und Bewertung festhalten. Das Problem ist, dass sie alle anderen verteufeln, die eine andere Sicht als sie selbst haben. Denn sie sind die Erleuchteten. Wer es anders sieht, ist zu bekehren. Ihr Motto: «Bei mir dürfen alle machen, was ich will!» Mixologie erwartet die Wirklichkeiten, in denen wir leben und die wir selbst sind, in vermischter Weise. Wie in einer Bar geht es um Distanz, um Abstand, um Entkrampfung und Entspannung. Ein Beamter der deutschen Bahn macht das im Zug von Kiel nach Basel so: «Alle Glücklichen, die jetzt in die Schweiz oder nach Italien fahren, dürfen im Badischen Bahnhof ihre Maske runternehmen. Der Virus kennt die Grenze und macht hier Halt! Gute Weiterreise!» Eine mixologische Durchsage in der Deutschen Bahn. Es geht nicht darum, gesetzliche Massnahmen lächerlich zu machen – es geht darum, dass sie nicht das einzig Gültige sind auf der Welt. Mixologie ist Gewaltenteilung im Wahrnehmen und Urteilen. Eine Vielzahl von Sichtweisen, Deutungen, Geschichten, Metaphern,
Modellen und Denkweisen. Mixologisch zwinkern wir uns in der Bar zu, wir kennen und schätzen diese Vielfalt. Odo Marquard definiert Philosophie in «Apologie des Zufälligen» (Seite 113) als zweieinhalbtausendjährige Tradition der Nichteinigung über Grundsatzpositionen. Das passt.
Wohlwollen Erneuern
Krise kann man steigern. Ende Jahr 2022 wurde die Polykrise ausgerufen. Und es werde künftig noch schwieriger. Finanzkrise, Migrationskrise, Pandemie, UkraineKrieg, Inflation und Klimakrise, Energiemangellagen – und es drohen weitere und sie alle seien womöglich nur Vorboten einer Polymegagigakrise. Das muss dann wohl die «gute alte Apokalypse» sein, Weltende, Enden ohne Ende! Gut, dass es am Ende der Welt Orte wie das «World’s End» gibt. Passend zum Thema kommt hier gerade Atlas vorbei, ein muskulöses Schwergewicht, vielleicht einer der Titanen, der helfen kann. Seit griechischen Zeiten trägt er schliesslich die Last der Erde auf seinen Schultern durch die Welt. Seufzend gibt er seine Erdkugel an der Garderobe ab. Das Zeitalter der Helden, die die Welt im allerletzten Moment doch noch retten, lebt nur noch im Film und in unseren Fantasien weiter.
Die Last der Welt kann kein Menschen tragen. Was jetzt? In welche Lagen sind wir gekommen? Und wir fragen uns, wer hier denn eigentlich den Laden im Griff hat. Es sieht gerade nicht so gut aus. Das «World’s End» schafft Distanz. Ausgerechnet in der Bar mit diesen vielen berauschenden Getränken werden wir nüchtern. Die Krisen, diese Monokulturen des Negativen, berauschen, verdrehen den Kopf und die Gefühle, verzerren die Wahrnehmung. Menschen werden Negaholiker, berauscht vom Negativen. Hier in der Bar wird hochgehalten, was weiterhin bis zum letzten Tropfen (the last drop, der Name einer weiteren Bar in der Gegend) gilt: Vergnügen, Gelächter, freies Denken, Reisen, Toleranz, Musik, gute Getränke, warme, herzliche Beziehungen, auf all das können wir nicht verzichten. Solche Wohltaten beleben uns. Sie erneuern unsere Zuversicht, in einer vermischten Welt nach dem Ausschau zu halten, was unser Leben belebt und all das zuversichtlich und wohlwollend auszuhalten, was sich ändern muss. Im konkreten Alltag bin ich darauf angewiesen, dass ich Orte und Menschen besuchen kann, die meine Hoffnung entfachen, mir helfen, mit erneuertem Wohlwollen auf all das zu schauen, was oft schwierig ist.
In einer guten Bar werden sie deinen Lieblingsdrink extra für dich mixen. Aber frage nie nach dem besten Whisky. In Schottland bringt die Frage Streit, denn jeder Whisky ist auf seine Weise der Beste. Logisch! Mixo-logisch!
Werner Aebischer war Berufsschullehrer für Chemieberufe. Heute ist er im Ruhestand, Autor von meinephilo.ch und Mitverfasser des Grenzwanderbuches in der Region Basel «Von Stein zu Stein», erschienen im Reinhardt Verlag Basel.