RP 2-2011 Leseprobe

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G 3777 FACHZEITSCHRIFT DES BDP ZEITSCHRIFT DES BERUFSVERBANDES DEUTSCHER P S YC H O LO G I N N E N U N D P S YC H O LO G E N E .V. 36. JAHRGANG FEBRUAR 2011

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reportpsychologie W W W . B D P - V E R B A N D . D E

Von Facebook, Twitter und einer Vรถlkerwanderung ins Netz

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Forschungsthemen und Anwendungen der Positiven Psychologie Sozialrechtlicher Zwang zur Psychotherapie?



Von Facebook, Twitter und einer Völkerwanderung ins Netz BUKO 2010 in Hameln baute Vorurteile ab, entzündete Begeisterung und ermutigte zur Nutzung der Neuen Medien und ihrer Communitys

Die Macht des Webs kann Beziehungen verändern und verwirren Stefan Drewes, Vorsitzender der Sektion Schulpsychologie, der den Kongress eröffnet hatte, sprach darüber, wie neue Medien die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern, aber auch zwischen Eltern und Kindern verändert haben. Erwachsene hätten heute oft keine Vorstellung davon, was in den Freiräumen ihrer Kinder geschieht. Während sie sich noch durch die Bedienungsanleitung für ihr neues Handy quälten, bewegten sich Kinder und Jugendliche virtuos durch die Welt der Neuen Medien. Das führe zu Verunsicherung, manchmal Misstrauen. Lehrer und Eltern bräuchten in dieser Situation unbedingt Beratung. Wer beraten wolle, müsse aber selbst kundig sein. Er danke dem BDP für die Unterstützung, die die Sektion seit Jahren erfahre und die letztlich solche Kongresse möglich mache. Er verband dies mit einem Appell, sich diesem einzigen Verband praktisch tätiger Psychologen anzuschließen und sich 56

mit dieser starken Kraft im Rücken für die Belange der Schulpsychologie und der Profession zu engagieren. Dank ging auch an alle Kolleginnen und Kollegen, die bei der Vorbereitung aktiv waren, und an alle, die einen Fotowettbewerb und eine Ausstellung organisiert hatten, in der Schulpsychologen ihren Arbeitsalltag aus verschiedenen Blickwinkeln und mit Humor abgebildet sahen. Impulse für die eigene Arbeit und neue – teils überraschende – Erkenntnisse Was brachten die Vorträge von Peter Kruse, Uwe Hasebrink, Jens Hoffmann und vielen anderen sowie die zahlreichen Workshops, zwischen denen sich zu entscheiden oft schwerfiel, den Teilnehmern? Hier nur einige wenige Stimmen, die für ein insgesamt sehr positives Feedback stehen: Neue Impulse für die eigene Arbeit gewann nicht nur Sandra Rausch aus Mannheim. »Ich bin sehr zufrieden mit vielen neuen Ideen nach Hause gefahren«, schreibt sie. Besonders imponiert habe ihr die Sichtweise von Kruse, wonach das Internet sehr stark zu demokratischen Prozessen einlädt und diese auch in neuen Formen ermöglicht. Im Workshop von Moritz Becker sei ihr dann sehr deutlich geworden, dass das Internet zudem für Jugendliche Freiräume und Gelegenheiten zu Abenteuern bietet, die in Zeiten der Rundumbetreuung seltener geworden sind. Petra Schuster aus Hessen ist überzeugt, dass die Eindrücke und Erkenntnisse vom Kongress ihren Arbeitsalltag beeinflussen werden. »Meine Einstellung gegenüber den Neuen Medien, die ich bisher zwar schon als Chance für einen schnellen Informationsaustausch gesehen habe, die ich im Hinblick auf Jugendliche aber auch als risikobehaftet eingeschätzt habe, hat sich ein ganzes Stück zum Positiven verschoben. Die Möglichkeit des sozialen Austauschs birgt die Chance der Meinungsbildung und kann somit sicher ein Stück gelebte Demokratie sein, was ich bisher so nicht wahrgenommen habe.« Durch Vorträge und Gesprächsrunden habe sie auch besser verstanden, wie wenig Jugendliche zum Teil zwischen realer und virtueller Welt trennen. Es erscheint ihr wichtig, dies bei der Beratung mit zu bedenken. Weiter schreibt sie: »Die Gefahren, die von Foren für Menschen mit Suizidgedanken bzw -absichten oder Essstörungen ausgehen können, waren mir so nicht präsent. Die Verherrlichung des Suizids, das Erheben von Essstörungen zum Lifestyle hat mich erschreckt, und ich werde dieses Wissen sicher auch in explorativen Gesprächen berücksichtigen.« Auch Karin Ahrens gibt dem Kongress gute Noten. Im Nachhinein würde sie einen anderen Titel wählen, z.B.

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»handy&computer@schule.de« – so hatte die Sektion Schulpsychologie ihren jüngsten Bundeskongress überschrieben und sich dabei das Ziel gesetzt, die Lebenswelten von Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen ein Stück näher aneinanderzurücken. Damit das gelingen konnte, wurden aus Wissenschaft und Praxis eine ganze Reihe von Referenten gewonnen, die sich nicht nur mit dem Thema intensiv beschäftigen, also sachkundig darüber reden können, sondern die auch selbst mit Begeisterung im Internet unterwegs sind, die die Möglichkeiten der Neuen Medien täglich nutzen und geradezu ansteckend darüber berichteten. Ihre Faszination übertrug sich auf große Teile der Zuhörer. Das Feuerwerk, mit dem Prof. Dr. Peter Kruse den BUKO eröffnete und in dem er in einem der Entwicklung des Internets und der Communitys in diesem Netz angepassten Tempo Fakten über Fakten ausschüttete, dabei Politik, Wirtschaft und Bildung gleichermaßen berücksichtigte, erzeugte ganz unterschiedliche Reaktionen. Viele Zuhörer verließen nach seinem Vortrag positiv erregt den Raum, andere waren geradezu erschlagen, und der eine oder andere musste sich insgeheim eingestehen, von etlichen der beschriebenen Entwicklungen und Möglichkeiten keine Ahnung gehabt zu haben. Und das galt nicht nur für die beiläufige Erwähnung der Tatsache, dass Facebook inzwischen die drittgrößte »Nation« der Welt ist und eine – durch Zahlen klar belegte – regelrechte Völkerwanderung ins Netz stattfindet. In den folgenden Tagen untermauerten und ergänzten weitere Vorträge und Workshops diese außergewöhnliche Einführung.


r e p o r t fokus Der niedersächsische Kultusminister, Dr. Bernd Althusmann, richtete ein Grußwort an die Kongressteilnehmer.

»Vernetzte Junged – neue Bildungschancen, Lehr- und Lernqualität, Motivation und Gefahren«. Die Vorträge und Workshops seien inhaltlich anspruchsvoller gewesen, als sie beim Lesen des Themas erwartet hatte. »Besonders den psychologischen Komponenten wurde Rechnung getragen, das Für und Wider des Interneteinsatzes angemessen erörtert.«

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Viele Gemeinsamkeiten trotz föderaler Struktur Dr. Ute-Birgit Klaeger aus Sachsen-Anhalt erinnert sich besonders an Prof. Hasebrinks Vortrag und die von ihm vorgestellten Daten aus den wissenschaftlichen Untersuchungen zur Nutzung sozialer Netzwerke im Internet durch Jugendliche, außerdem an die Vorstellung einzelner sozialer Netzwerke und Internetplattformen sowie die Wiedergabe von Aussagen jugendlicher Nutzer. »Die gewonnenen Einsichten und Kenntnisse fließen unmittelbar in meine berufliche Praxis ein und machen mich in meiner beratenden Arbeit sicherer.« Das gelte auch für den Workshop von Susanne Fitzner und Dr. Walter Kowalczyk zu Feedbackprozessen in der Schule. »Ich konnte viele Anregungen für die praktische Gestaltung solcher Prozesse mitnehmen, die insbesondere in der Fortbildung und in der Beratung von Lehrkräften ihren Niederschlag finden werden.« Für Hedi Plän zählte neben den bereits genannten Aspekten auch die Tatsache, dass die Teilnehmer trotz vieler Unterschiede aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik viel Gemeinsames entdeckten, was Anknüpfungspunkte für die weitere Zusammenarbeit auch zwischen den Kongressen bietet. Ähnlich wie Franziska von Gleichenstein aus Hachenburg und Meike Borgert aus Düsseldorf lobt sie mitreißende Referenten, spannende Workshops (»keine ollen Kamellen aus dem Bauchladen der Schulpsychologie«), große, helle Tagungsräume, eine gute Organisation, gutes Essen und den anregenden Austausch unter Kolleginnen und Kollegen, was alles zusammen in einer sehr angenehmen Atmosphäre mündete. Beim »Jungen BUKO« wurde neues Wissen praktisch erprobt Viel Zuspruch fand erneut der »Junge BUKO«, mit dem die Organisatoren sich an neue Kolleginnen und Kollegen im Berufsfeld Schulpsychologie wendeten. Eine von ihnen ist Katrin Dünnebier aus Hagen, für die es der erste »Junge BUKO« war. »Die Referenten haben durch Gelassenheit, Echtheit, Witz und Professionalität eine sehr angenehme Atmosphäre geschaffen, in der man sich ausprobieren und offen seine Gedanken äußern konnte. Neben neuem Fachwissen habe ich viele Denkanstöße bekommen und mehr Sicherheit in meiner Rolle sowie im Umgang mit unklaren Aufträgen.« Das Thema »Auftragsklärung« fand auch Anja Mommer aus Aachen wichtig, die bereits zwei Jahre zuvor in Stuttgart dabei war. Angetan vom Planspiel zeigte sich Anna Coeller aus Eschweiler, weil so gerade erworbenes neues Wissen zeitnah praktisch erprobt werden konnte. Natalie Völker aus Aachen fand es gewinnbringend, wie das Seminar 1 von Hans-Jürgen Kunigkeit (Leiter regionale Schulberatung des Rhein-Erft-Kreises) und Jürgen

Mietz (Schulberatungsstelle Hamburg) konzipiert war, nämlich als Mischung aus Theorieteilen, Rollenspielen, Einzelarbeit und Gruppenübungen. Ebenso schätzte sie nach dem interessanten theoretischen Input die persönlichen Erfahrungen aus der Praxis und den Austausch über Bundeslandgrenzen hinweg. Ihr Fazit: »Trotz der intensiven Arbeit habe ich die Atmosphäre als locker und anregend empfunden und habe viele Anregungen für meinen Berufsalltag mitgenommen. Es war zudem bereichernd, auf so viele Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Bundesländern zu treffen, die in ihren ersten Berufsjahren ähnliche Erfahrungen machen.« KMK-Präsident Althusmann will Zahl der Schulpsychologen erhöhen Der niedersächsische Kultusminister, Dr. Bernd Althusmann, inzwischen Präsident der Kultusministerkonferenz, hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich zum Kongress zu erscheinen. Niedersachsen ist Schlusslicht in Deutschland, was die Ausstattung mit Schulpsychologen betrifft. Althusmann will das ändern, ein eigenes Dezernat für Schulpsychologie und Gesundheit schaffen. Er steht noch unter dem Eindruck eines schweren Busunglücks mit Schülern, bei dem auch Schulpsychologen sofort helfend zur Stelle waren. Andererseits gehe es nicht an, Schulpsychologie auf den Einsatz bei schweren Unglücken und Amokläufen zu verkürzen. Schulpsychologen leisteten eine sehr wertvolle Arbeit, auch zur Unterstützung der Lehrkräfte im schulischen Alltag, so Althusmann.

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Willibald Ruch René T. Proyer Universität Zürich, Schweiz

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Positive Psychologie: Grundlagen, Forschungsthemen und Anwendungen


r e p o r t fachwissenschaftlicherteil Die Erforschung von positiven Emotionen ist ein zentrales Thema in der Positiven Psychologie, da diese einen wesentlichen Beitrag zum Wohlbefinden leisten können. Ein möglicher Erklärungsansatz für die Wirkung positiver Interventionen könnte in der Wirkung positiver Emotionen liegen. Manche der Übungen zielen auch dezidiert auf das Erleben bzw. Sich-wieder-in-Erinnerung-Rufen positiver Emotionen ab. Abschließende Bemerkungen Im vorliegenden Beitrag konnte nicht das gesamte Feld der Positiven Psychologie in all seinen Facetten vollständig beschrieben werden. Es sollte aber ein Ausschnitt vorgestellt werden, der die Relevanz der Forschung in diesem Bereich unterstreicht. Die Positive Psychologie sieht sich nicht als Gegenmodell zur »business as usual psychology,« sondern als eine Forschungsrichtung, welche die Psychologie komplettieren möchte und den positiven Aspekten des menschlichen Erlebens und Verhaltens stärkere Aufmerksamkeit in

Z U S A M M E N F A S S U N G

Die Positive Psychologie versteht sich als jene Forschungsrichtung innerhalb der Psychologie, die sich zum Ziel gesetzt hat, zu erforschen, was das Leben am meisten lebenswert macht. Eigenschaften und Bedingungen, die zu einem guten Leben beitragen, sollen beschrieben und gemessen werden. Forschung und Praxis orientieren sich nicht an klinischen Fragestellungen, sondern an Personen, die im Mittelbereich eines Kontinuums des Wohlbefindens angesiedelt sind und ihre Zufriedenheit verbessern wollen. Eine wichtige AufÊ Ê Ê Ê gabe ist die Entwicklung von positiven Interventionen, die darauf Êabzielen, das Wohlbefinden der Teilnehmer Ê zu steigern. Die Broaden-and-build-Theorie positiver Ê Ê ÊÊ Ê Ê Ê Emotionen Ê wird als ein Beispiel für eine Theorie aus der Positiven Psychologie vorgestellt. Darüber hinaus wird Ê Ê auf die Bedeutung der Forschung zu Chavor allem auch Ê Ê und Tugenden eingegangen. Hier wird rakterstärken die Values-in-Action-Klassifikation genauer beschrieÊ Ê Ê ben und als eine Art »Anti-DSM« (ein Katalog an posiÊ Ê Ê tiven Eigenschaften von Menschen anstelle von Symptomen) dargestellt.

unserer Disziplin zukommen lassen möchte — und das fernab von Ideen aus der Psychologie als Happyologie oder simplifizierten Patentrezepten zum guten Leben, wie sie in der – vor allem nicht psychologischen – Ratgeberliteratur weitverbreitet sind. Unter dem gemeinsamen Dach der Positiven Psychologie findet die Forschung zu Themen, die bislang nicht im Mainstream der Aufmerksamkeit der Psychologie als Disziplin standen, verstärkte Aufmerksamkeit. Unter anderem kann man hier Forschung zu Humor, dessen Messung sowie humorbasierten Interventionen nennen (vgl. Proyer, Ruch, & Müller, 2010; Ruch, 2008; Ruch, Proyer & Weber, 2010; Sommer & Ruch, 2009, oder ähnliche Beiträge zum Sinn für das Schöne oder zur Dankbarkeit). An verschiedenen Orten wurde argumentiert, dass das endgültige Ziel der Positiven Psychologie ist, sich selbst wieder überflüssig zu machen. Das wäre dann erreicht, wenn es in der Psychologie selbstverständlich wird, dass Forschung zu positiven und negativen Bereichen des Lebens gleich wichtig nebeneinanderstehen.

A B S T R A C T

Within psychology, positive psychology is a movement that aims to study what makes life most worth living. Characteristics and conditions that enable the »good life« are described and assessed. Theory and practice do not target clinical populations but address persons that are somewhere in the middle range of a continuum of well-being and that want to improve their satisfaction with life. One important task of positive psychology is the development of positive interventions. These are aimed at enhancing the well-being of participants. The broaden-and-build theory of positive emotions is introduced as one example of a theory developed from positive psychology. Additionally, the role of character strengths and virtues is discussed. The Values-in-Action classification is described in detail and presented as a sort of »Anti«-DSM; i.e., a catalogue of positive characteristics of human beings instead of a list of symptoms.

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KO M M E N TA R

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er VPP hat sich immer für die Verbesserung der Versorgung schwer psychisch kranker Menschen durch innovative Verträge eingesetzt. Die neueste Entwicklung sehen wir aber als sehr problematisch an: Das AMNOG (Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes, verabschiedet am 11. November 2010 im Bundestag) ermöglicht es nun Pharmaunternehmen, direkt mit den Krankenkassen IV-Verträge abschließen. Bisher war dies Krankenkassen und

Leistungserbringern vorbehalten. Die Kammerwahlen in Hamburg laufen bereits seit 18. Januar, und auch die Wahlunterlagen für die Wahlen zur Delegiertenversammlung der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer wurden bereits im Januar versandt. Bitte beteiligen Sie sich an den Wahlen, und wählen Sie die Bündnisse, in denen der VPP für die Vertretung Ihrer Interessen sorgt. In Hamburg tritt das »Integrative Bündnis für Psychische Gesundheit« für die Vielfalt aller wissen-

Sozialrechtlicher Zwang zur Psychotherapie? Sozialleistungen entfallen nicht automatisch

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ersonen, die bei freiberuflichen Psychotherapeuten oder Psychologen mit dem Hinweis erscheinen, sie seien gezwungen, eine Psychotherapie zu machen, um ihren Sozialleistungsanspruch nicht zu verlieren, bedürfen eventuell zunächst einer Beratung über ihre Wahlmöglichkeiten. Im formalen Sinne kann niemand zu einer Psychotherapie gezwungen werden. Allerdings empfinden viele Betroffene keine Wahlmöglichkeit, wenn ihnen bei Unterbleiben der Psychotherapie der Verlust eines Sozialleistungsanspruchs droht. 1) § 63 SGB I sieht grundsätzlich vor, dass jeder der »wegen Krankheit oder Behinderung Sozialleistungen beantragt oder erhält, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer Heilbehandlung unterziehen soll […]«, womit natürlich auch eine Psychotherapie gemeint sein kann. Liegt auch keine der Einschränkungen gemäß § 65 Abs. 1 SGB I vor – kurz gesagt: Unangemessenheit oder Unzumutbarkeit –, dann regelt § 66 Abs. 2 SGB I die Folge eines Verstoßes gegen diese Mitwirkungspflicht. Sie kann – grob 76

gesagt – äußerstenfalls auch der Verlust eines in § 66 Abs. 2 SGB I genannten Sozialleistungsanspruchs sein. Für den Tatbestand des § 63 und auch des § 64 SGB I ist charakteristisch, dass zwei Sozialleistungen miteinander verknüpft werden. Der Sozialleistungsträger nimmt eine beantragte oder gewährte Sozialleistung zum Anlass, auf die Inanspruchnahme einer anderen Sozialleistung hinzuwirken, damit die kostspieligere erste Sozialleistung überflüssig wird oder herabgesetzt werden kann. Auf dieser Konstellation baut der Folgenmechanismus des § 66 SGB I auf: Die Versagung oder die Entziehung der beantragten oder erbrachten Sozialleistung wird für den Fall angedroht, dass der die Psychotherapie betreffenden Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen wird. In der Regel erbringt der Sozialleistungsträger, der für die beantragte oder gewährte Sozialleistung zuständig ist, auch die Psychotherapie. Denkbar ist jedoch, dass auch ein anderer Sozialleistungsträger die Heilbehandlung sicherstellen kann, wenn diese nicht

schaftlich anerkannten Therapieverfahren und für eine Politik ein, die die gemeinsamen Interessen der Psychotherapeuten in den Mittelpunkt stellt, statt zwischen einzelnen Gruppen zu polarisieren. Zum sehr erfolgreichen Ausgang der KV-Wahlen in Berlin möchten wir der stellvertretenden Bundesvorsitzenden des VPP, Eva Schweitzer-Köhn, herzlich gratulieren: Sie hat als Spitzenkandidatin von VPP und bvvp 600 persönliche Stimmen erhalten. Das war die höchste Stimmenzahl bei dieser Wahl überhaupt! Wir berichten in der kommenden Ausgabe von »VPP aktuell« ausführlich über die einzelnen KV-Wahlergebnisse. Heinrich Bertram Bundesvorsitzender des VPP im BDP

zum Leistungskatalog des zuständigen Sozialleistungsträgers gehört (vgl. Hauck-Noftz´ Kommentar zu § 63 SGB I Rz. 2). 2) Durch die Einschränkung auf Sozialleistungen, die man »wegen« Krankheit oder Behinderung erhält, sind betroffen von der Regelung insbesondere Antragsteller auf/Empfänger von Erwerbsminderungsrenten nach dem SGB VI, Verletztengeld und Unfallrenten nach dem Unfallversicherungsrecht des SGB VII, von Versorgung der Kriegsopfer nach dem Bundesversorgungsgesetz, Versorgung nach dem Sozialversicherungsgesetz oder dem Opferentschädigungsgesetz, von Geldoder Sachleistungen im Rahmen der Pflegeversicherung nach dem SGB XI, Krankengeld nach dem SGB V, aber auch diejenigen, die die Zuerkennung eines Nachteilsausgleichs oder die Feststellung eines bestimmten Grades der Behinderung nach dem SGB IX begehren (jurisPK-SGB I § 63 Rz. 21). 3) Bedeutung hat insbesondere die Psychotherapie als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation, die durch einen bewilligenden Verwaltungsakt »angeboten« wird. Zwar bedarf eine solche Reha-Maßnahme gemäß § 9 Abs. 4 SGB IX der Zustimmung des Leistungsberechtigten, wird diese jedoch verweigert, greift § 66 Abs. 2 SGB I. Dabei wirkt sich der Verstoß gegen die Mitwir-

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Problematisch: IV-Verträge zwischen Krankenkassen und Pharmaunternehmen


r e p o r t psychotherapie kungspflicht im Sinne des § 63 SGB I (hier konkretisiert als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation) nicht auf die angeordnete Maßnahme, also die Heilbehandlung, aus. Das wäre nämlich völlig wirkungslos, denn der Betroffene möchte die Heilbehandlung gerade nicht. Die Folge des Verstoßes gegen die Mitwirkungspflicht kann sich vielmehr auf andere in § 66 Abs. 2 SGB I genannte Sozialleistungen auswirken, z.B. auf den Anspruch auf Rente. 4) Kostenträger für eine angeordnete Psychotherapie ist meist die Krankenkasse als Reha-Träger. Nach wohl herrschender Auffassung gilt aber die Psychotherapierichtlinie. Hingegen wird vertreten, dass eine Kassenzulassung nicht Voraussetzung ist (Knittel-Kommentar zu § 26 SGB IX Rz. 38). Denkbar sind aber auch andere Sozialleistungsträger, erkennbar aus dem anordnenden Verwaltungsakt. Soweit diese selbst spezialgesetzlich Psychotherapie anordnen können, gilt grundsätzlich nicht das Erfordernis einer Kassenzulassung, und eventuell bedarf es sogar nicht der Berücksichtigung der Einschränkungen aus der Psychotherapierichtlinie. 5) Für ALG-II-Empfänger (»Hartz 4«) hat § 63 SGB I keine Bedeutung, weil man das ALG II wegen der Erwerbslosigkeit und nicht ggf. wegen einer psychischen Erkrankung erhält. In Eingliederungsvereinbarungen gemäß § 15 SGB II bzgl. Arbeitslosen-

geld II (ALG II) mit dem Grundsicherungsträger (ARGE oder Kommune) kann nur eine Aufforderung erfolgen, sich zwecks Feststellung der Arbeitsfähigkeit und/oder der Eignungsfeststellung für bestimmte Arbeitsförderungsmaßnahmen psychologisch untersuchen zu lassen. Ein Verstoß gegen eine solche Verpflichtung kann gemäß § 31 Abs. 2 SGB II zur Kürzung des ALG II führen. Im Maßnahmenkatalog der Eingliederungsleistungen gemäß §§ 16 ff. SGB II ist die Psychotherapie hingegen nicht erwähnt. Sofern sich aus einer Eingliederungsvereinbarung gleichwohl eine Aufforderung zur Psychotherapie ergibt – was im Hinblick auf die grundsätzliche Zielrichtung der Eingliederungsförderung (§ 1 SGB II) im Einzelfall durchaus sinnvoll erscheinen mag –, kann sie nur ein Appell bzw. ein Vorschlag sein. Werden an die Nichtbefolgung Nachteile wie die Kürzung des ALG II geknüpft, ist die Eingliederungsvereinbarung nichtig: Das SG Braunschweig entschied in einem Eilverfahren (S 21 AS 962/06 ER vom 11.09.06), dass Psychotherapie keine zulässige Gegenleistung für das ALG sei, weil sie nicht der Eingliederung in den Arbeitsmarkt diene, sondern der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. 6) Wer als niedergelassener Psychotherapeut einen Klienten/Patienten hat, der nur gekommen ist, weil ihm der Verlust von Sozialleistungen droht, sollte zunächst erfragen, ob

Mitgliedschaft von PiA in allen Kammern erwünscht Deutscher Psychotherapeutentag stärkt die PiA-Bundeskonferenz

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m 13. November 2010 fand in Hannover der 17. Deutsche Psychotherapeutentag statt. Neben einer ausführlichen Diskussion der Reform der Psychotherapeutenausbildung sind insbesondere zwei weitere Beschlüsse für PiA relevant, welche im Vorfeld ausführlich von der PiA-Bundeskonferenz vorbereitet und über PiA-Delegierte des DPT eingebracht wurden. Der erste erfolgreiche Antrag diente

einer Stärkung der PiA-Bundeskonferenz. Zum einen kann nun nach Rücksprache mit dem Vorstand der BPtK die PiA-Bundeskonferenz auch mehr als einmal pro Jahr stattfinden. Die dadurch entstehenden Kosten werden durch die Landeskammern und die BPtK getragen. Zum anderen werden nun zwei statt drei stellvertretende PiA-Sprecher durch die Bundeskonferenz gewählt. Diese beiden organisatorischen Verbesserun-

die Psychotherapie ausdrücklich angeordnet worden ist, insbesondere ob die Psychotherapie als medizinische Rehabilitation angeordnet worden ist. Droht ihm demnach tatsächlich Kürzung oder Versagung von bestimmten Sozialleistungen, ist es zunächst ratsam, auf ein Einsehen des Patienten/Klienten hinzuwirken, denn in aller Regel ist diese Maßnahme nicht beliebig angeordnet worden, sondern erfolgt als Ergebnis fachkundiger Diagnostik durch dafür qualifizierte Personen. Zwangsläufig kann dies angesichts noch ausstehender probatorischer Sitzungen nur in allgemeiner Form geschehen. Lässt sich auf diese Weise die erforderliche Motivation für eine Psychotherapie nicht herstellen, ist dem Patienten/Klienten zu empfehlen, sich weiteren rechtlichen Rat einzuholen. Denn in obiger Darstellung ist aus Gründen der Übersichtlichkeit eine Reihe von Voraussetzungen für die Kürzung oder Versagung von bestimmten Sozialleistungen nicht erwähnt oder nur angedeutet worden, die zugunsten des Betroffenen wirken und die abgeprüft werden sollten. Es besteht keineswegs ein Automatismus dahin gehend, dass ohne Weiteres Sozialleistungen entfallen. Diese Beratung sollten sich Psychotherapeuten nicht zumuten, und dies von ihnen zu verlangen, würde auch den Rahmen nebenvertraglicher Aufklärungspflicht bei Weitem sprengen. Jan Frederichs Rechtsanwalt

gen waren aufgrund der hohen Arbeitsbelastung der PiA-Sprecher und zur Verbesserung des Austauschs der bundesweit berufspolitisch aktiven PiA notwendig geworden. Ein dritter Antragspunkt zur Einführung einer regelmäßigen Aufwandsentschädigung der PiA-Bundessprecher wurde aufgrund einer damit verbundenen notwendigen Satzungsänderung bereits am Vorabend des DPT von PiASeite zurückgezogen. Der zweite PiA-Antrag betraf die Mitgliedschaft der PiA in den Psychotherapeutenkammern. Hier gibt es aktuell bundesweit sehr unterschiedliche Regelungen. So haben PiA in Hamburg und Baden-Wüttemberg einen Mitgliedsstatus mit 77


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