G 3777 FACHZEITSCHRIFT DES BDP ZEITSCHRIFT DES BERUFSVERBANDES DEUTSCHER P S YC H O LO G I N N E N U N D P S YC H O LO G E N E .V. 36. JAHRGANG APRIL 2011
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reportpsychologie W W W . B D P - V E R B A N D . D E
Engagiert oder
Als Psychologe in Bangladesch Symbiose von Schul- und Testpsychologie
WOGE
verdrossen? Politisches Engagement in Deutschland
r e p o r t psychologie
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Liebe Leserin, lieber Leser, seit Wochen werden wir Zeugen großer Umwälzungen in der arabischen Welt. Erst Tunesien, dann Ägypten, nun Libyen – autokratische Herrscher, die zum Teil über 40 Jahre regiert hatten, wurden durch kollektiven Protest gestürzt oder herausgefordert. Was für viele unwahrscheinlich und unerreichbar schien, ist möglich geworden. Auch in Deutschland haben die Demonstrationen gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 deutlich gemacht, dass Menschen politisch teilhaben und mitbestimmen wollen. Doch zeigen Umfragen die engen Grenzen des politischen Engagements in Deutschland. So beschränkt sich die politische Beteiligung der meisten Bürgerinnen und Bürger auf den Gang zum Wahllokal. Über die Beteiligung an Wahlen hinaus ist nur eine Minderheit zu einem Engagement innerhalb und außerhalb von Parteien und Verbänden bereit. Weshalb begehren Menschen gegen Regime auf? Was bringt andere dazu, politische Systeme zu unterstützen, in denen sie selbst offensichtlich benachteiligt werden? Welche Möglichkeiten gibt es in Deutschland, das politische Engagement insbesondere unter jenen Menschen zu fördern, die als »politikfern« gelten (z.B. Jugendliche, Migranten)? Solchen und weiteren zentralen Fragen widmet sich die Politische Psychologie seit vielen Jahren. Politische Psychologinnen und Psychologen untersuchen dabei insbesondere die individuellen Voraussetzungen politischen Engagements wie die Persönlichkeit, politische Handlungskompetenzen oder auch kollektive Identitäten. In mehreren großen Umfragen wie dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) und dem European Social Survey (ESS) werden seit einigen Jahren psychologische Merkmale wie die Big Five, Wertorientierungen, Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitserwartungen miterfasst. Dies zeigt die hohe Bedeutung der Politischen Psychologie für die Erklärung politischer und sozialer Phänomene. In der interdisziplinären Erforschung des Phänomens »Politisches Engagement« liegt eine große Chance. Die Sektion Politische Psychologie hatte diesem Thema im Februar 2011 eine interdisziplinäre Fachtagung gewidmet. Wissenschaftler aus Psychologie, Politikwissenschaft und Soziologie sowie Entscheidungsträger aus der Politik und weitere Interessierte aus dem Bereich der politischen Bildung diskutierten in Mannheim Voraussetzungen, Formen und Förderungsmöglichkeiten politischen Engagements. Das spannende Thema der Fachtagung ist auch der Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe von »report psychologie«. Ich wünsche Ihnen viel Freude und interessante Anregungen beim Lesen! Ihre Constanze Beierlein Vorsitzende der SK Politische Psychologie
BD P-I N TE RN
154 Nachrichten aus den Sektionen und Landesgruppen F OK U S
159 Politische Partizipation aus Sicht von Psychologen und Politikwissenschaftlern 160 Der Wutbürger: Strukturelle und psychologische Determinanten kollektiven Protests 162 Politisches Engagement von Migranten und Jugendlichen I N T E R N AT I O N A L
164 100 Jahre konflikthafte Symbiose von Schulpsychologie und Testpsychologie 177 Entwicklungshilfe braucht Psychologie – »Psychologen über Grenzen« in Bangladesch PS YC HOT HE RAPI E
180 Abschied von Heinrich Bertram als VPP-Bundesvorsitzendem 180 Jahresbilanz 2010 des LFV Berlin Brandenburg 182 Berufshaftpflicht auch für PiA? 183 Rösler plädiert für Aufschub von Kodierrichtlinien S PEKTRU M
184 Werke von A. R. Penck im Kölner Museum Ludwig 186 Wirkung von langem Arbeiten auf Sozialleben und Gesundheit RU BRI K E N
179 188 191 193 194 197 200
Akademie aktuell Rezensionen Marktplatz Stellenmarkt Fort- und Weiterbildungsangebote BDP-Termine Impressum
online-archiv Zugangsdaten für 4|2011 gültig vom 7.4.– 8.5.2011 www.report-psychologie.de Report Benutzername Beobachtung Kennwort 153
r e p o r t fokus
Engagiert oder verdrossen? Politische Partizipation aus Sicht von Psychologen und Politikwissenschaftlern Aktive politische Partizipation ist ein wesentliches Element demokratischer Gesellschaften – ohne ein Mindestmaß an politischer Beteiligung ist ein demokratisches Gemeinwesen auf Dauer nicht lebensfähig. Trotz dieser wichtigen Rolle ist nur ein kleiner Teil der Gesellschaft politisch aktiv. Warum das so ist, welche Rolle Persönlichkeiten, Gerechtigkeitsüberzeugungen und kollektive Identitäten spielen, wird von der Psychologie erforscht. Die Politikwissenschaft konzentriert sich auf die Rolle politischer Akteure, den politischen Willensbildungsprozess sowie Teilhabemöglichkeiten in unterschiedlichen Systemen. Die Fachtagung der Sektion Politische Psychologie unter der Überschrift »Politisches Engagement heute – Voraussetzungen, Formen und Fördermöglichkeiten aus interdisziplinärer Perspektive« brachte Wissenschaftler aus beiden Fachrichtungen zusammen und zog darüber hinaus Gäste von der Landesund der Bundeszentrale für politische Bildung sowie aus dem Bundesministerium des Innern an.
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Wissenschaft für den politischen Alltag Wie stark politische Kräfte – Parteien, Gewerkschaften, andere Organisationen, Gremien, aber auch einzelne Politiker – von den Erkenntnissen dieser Experten profitieren können, wurde bei mehreren Themen besonders deutlich: direkte und indirekte Einflüsse politischen Wissens auf politisches Engagement, politische Fertigkeiten in der Arbeit von Betriebsräten, Persönlichkeit und politische Partizipation, in mehreren Vorträgen zum politischen Engagement von Migranten und Jugendlichen, aber auch in der Session zur Rolle von Vertrauen und Misstrauen als Einflussfaktoren. Dies alles vor dem Hintergrund der zum Tagungszeitpunkt höchst lebendigen Debatte über die Ereignisse in Tunesien und Ägypten, an der Schwelle eines Jahres mit vielen Landtagswahlen und angesichts der noch gut im Gedächtnis haftenden Proteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 sowie der niedrigen Wahlbeteiligung bei zurückliegenden Wahlen als Zeichen zunehmender Politikverdrossenheit. Gerade die Debatte um Stuttgart 21 machte auch Session 5 mit Vorträgen zum Für und Wider von direkter Demokratie höchst aktuell. Die gute Tagungsorganisation gab allen Teilnehmern Zeit, auch über die eigentliche Poster-Session hinaus mit Autoren zu sprechen, sich mit Referenten auszutauschen, in eine Diskussion über vorgetragene Thesen zu kommen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten.
bürger«, der zunächst in einem »Spiegel«-Essay auftauchte, dann aber in allen Medien Karriere machte und schließlich durch die Gesellschaft für Deutsche Sprache zum »Wort des Jahres« geadelt wurde, zeugte von der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Leidenschaft. Stürmer wies nach, dass es eben nicht die persönliche Betroffenheit ist und nicht die egozentrische Sicht anstelle einer am Gemeinwohl orientierten, die Stuttgarter Bürger auf die Straße gebracht hat, dass es nicht die Angst vor Neuem ist. Den Protestierenden Frustration und in der Folge Aggression zu unterstellen, affektive Handlungen, diskreditiert nach Stürmer diese Bewegungen. Es handle sich vielmehr um rationale Akteure. Der Wutbürger-Begriff negiere das gemeinsame Handeln einer Klasse bzw. Gruppe; das sei wissenschaftlich problematisch. Der Wutbürger erscheine als Teil einer Masse im Sinne Le Bons, irrational und impulsiv agierend als Individuum; genau dies aber gelte für die engagierten Stuttgarter nicht. So sei eine Gegenmobilisierung gegen die Ewiggestrigen, die Verhinderer von Projekten nationaler Bedeutung entstanden. Immer mehr würden die tatsächlichen Argumente der Gegner von Stuttgart 21 (die Kosten, die Profite bei Banken und Konzernen und die Demokratiedefizite) in den Hintergrund gedrängt, und ihre Unzufriedenheit mit strukturellen Problemen bei Entscheidungsprozessen wurde in der Politik verdrängt.
So diskreditiert man engagierte Bürger Mit dem Eröffnungsvortrag unter dem Titel »Der Wutbürger: Strukturelle und psychologische Determinanten kollektiven Protests« von Prof. Dr. Stefan Stürmer von der Fernuniversität Hagen wurde gleich am Anfang Diskussionsfreude in die Tagung hineingetragen. Seine durchaus polemische Auseinandersetzung mit dem Begriff »Wut159
Constanze Beierlein, neue Vorsitzende der Sektion Politische Psychologie, moderierte einen Teil der Diskussion.
Dr. Yvonne Kuhn von der Universität der Bundeswehr in Hamburg ging auf den gewandelten Partizipationsanspruch von Bürgern ein, der aber nichts ins System passe. Zudem problematisierte sie Partizipation in einigen Fällen und führte dazu u.a. die Abstimmung über die Schulreform in Hamburg an. Partizipation könnte auch zu einer Betonung von Partikularinteressen führen, statt die Gemeinwohlorientierung in den Vordergrund zu stellen. Mehr Partizipation könne unter Umständen die Verletzung der Gleichheitsdimension verschärfen. Es gelte außerdem zu berücksichtigen, dass nicht alles zur Disposition gestellt
werden könne, nicht zuletzt weil einiges bereits auf höherer Ebene (EU) entscheiden sei. Für und Wider direkte Demokratie Dr. Christina Eder vom Forschungszentrum Wahlen setzte sich mit der irrigen Vorstellung auseinander, dass direkte Demokratie angesichts starker Politikverdrossenheit zur Lösung aller Probleme führen könne. Die wissenschaftliche Betrachtung von Möglichkeiten und Grenzen direkter Demokratie, ergänzt durch Beispiele aus dem politischen Alltag in Deutschland und den USA, ließ erkennen, dass direkte Demokratie – so wie jedes Medikament – Nebenwirkungen hat und in populistischen Wahlkampfreden kritisch zu hinterfragen ist. Die Sektion Politische Psychologie beabsichtigt die Herausgabe eines Tagungsbandes, wird aber auch darüber hinaus mit den Erkenntnissen aus der Tagung öffentlichkeitswirksam arbeiten. Christa Schaffmann
Der Wutbürger Im Essay »Der Wutbürger« präsentiert der Journalist Dirk Kurbjuweit eine viel beachtete Analyse aktueller Bürgerproteste (»Der Spiegel«, 41/2010). Ein Anlass sind die anhaltenden Proteste gegen das Projekt Stuttgart 21. Aus sozialpsychologischer Perspektive ist das Essay in mehrfacher Hinsicht interessant: ErsDie Fachtagung fand tens lässt sich daraus eine subjektive Theorie zu kollektiam 11. und 12. Februar vem Protest gegen Stadtentwicklungsprojekte extrahieim Mannheimer ren, die sich wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenZentrum für Europäische Sozialforschung statt. überstellen lässt. Zweitens stellt Kurbjuweits Analyse auch einen Beitrag zur Konstruktion einer sozialen Repräsentation der Bürgerproteste dar. Dies bietet Gelegenheit, die sozialen Funktionen der vorgebrachten Interpretation zu beleuchten. Kurbjuweit zufolge sind Wutbürger »zum großen Teil ältere Menschen«, »wohlhabend« und »konservativ«. Die Ursachen ihres Protests werden überwiegend auf egoistische (statt gemeinnützige) Interessen zurückgeführt: »Der Wutbürger denkt an sich, nicht an die Zukunft seiDer Autor Prof. Dr. Stefan Stürmer ner Stadt. Deshalb beginnt sein Protest in dem Mopromovierte zum Dr. phil. ment, da das Bauen beginnt, also die Unannehmlichan der Christian-Albrechtskeit.« »Wut« hat eine zentrale handlungssteuernde Universität zu Kiel und ist seit Juni 2007 Universitäts- Funktion: »sie [die Wutbürger] treibt die nackte Wut, professor für Psychologie an auch sie brüllen und hassen, Tag für Tag, Woche für Woder Fernuniversität in che zieht es sie an den Bauzaun, wild entschlossen, in Hagen mit Schwerpunkt Sozialpsychologie. fanatischer Gegnerschaft.« Zusammengefasst haben wir 160
es damit mit einer Variation der Frustrations-Aggressions-Hypothese zu tun: Unannehmlichkeit führt zu Wut, Wut zu aggressivem Protest. Ob dieses Deutungsmuster zutrifft, ist eine empirische Frage. Aufschlussreich ist eine Befragung von 814 Teilnehmern an einer Demonstration gegen Stuttgart 21, die im Oktober 2010 von einer WZB-Forschungsgruppe um Dieter Rucht durchgeführt wurde. Wie die Daten zeigen, handelt es sich bei den Demonstranten weder überwiegend um ältere Menschen – legt man die OECD Altergrenze von 65 Jahren zugrunde, fallen gerade 15 % der Demonstranten (und damit weniger als der Bundesdurchschnitt) in diese Altergruppe –, noch legen Daten zur politischen Orientierung nahe, dass sich die Proteste mehrheitlich aus dem konservativen Lager rekrutieren. Vielmehr entsprechen die Demonstranten weitgehend dem Profil des kommunal engagierten Bürgers, das sich bereits in anderen Kontexten herauskristallisiert hat: mittleres Lebensalter, höherer Bildungsstand, eher linksliberal. Auch im Hinblick auf die Psychodynamik des Wutbürgers geben die Daten von Rucht et al. Anlass zum Zweifel. Wäre die Frustrations-Aggressions-Hypothese zutreffend, sollte man erwarten, dass der Protest der Bürger dann beginnt, wenn die Unannehmlichkeit akut wird. Tatsächlich nennen aber nur ca. 13% der Demonstranten den offiziellen Baubeginn als erstmaligen Anlass für ihr Engagement gegen Stuttgart 21. Über 30% (und damit die größte Gruppe der befragten Telnehmer) geben hingegen an, ihr Engagement habe mit der Ablehnung der Zulassung eines Bürgerentscheids im November 2007 begonnen. Zwar liegen mir keine Studien vor, die sich explizit mit »Wut« als Motivator der Proteste gegen Stuttgart 21 befassen, Forschungsbefunde aus anderen Kontexten legen allerdings nahe, dass eine
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Strukturelle und psychologische Determinanten kollektiven Protests
Von der Politik nicht angesprochen Politisches Engagement von Migranten und Jugendlichen
Relevante Einflussgrößen Aktuelle Erkenntnisse zu psychologisch relevanten Einflussgrößen politischen Engagements von Migranten und Jugendlichen wurden auf der Fachtagung »Politisches Engagement heute« vorgestellt, welche die Sektion Politische Psychologie im Februar am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) veranstaltete. Frank Reichert von der Universität Kiel beschrieb in seinem Vortrag, wie das Identitätsempfinden Studierender mit türkischem Migrationshintergrund deren Politisierung beeinflusst. Mit Politisierung ist dabei zum Beispiel das Interesse an politischen Prozessen gemeint, welches auch das tatsächliche politische Engagement beeinflusst. Seiner Arbeit diente das Modell politisierter kollektiver Identität (Simon & Klandermans, 2001; Simon & Ruhs, 2008) als Grundlage. Frank Reichert beschrieb, dass sich eine duale Identität förderlich auf das normative gesellschaftlich-politische Engagement von jungen Migranten auswirkt und das Vertrauen in das politische System fördert. Dies zeige sich zum Beispiel in der Thematisierung migrationspolitischer Fragen in Gesprächen mit der Familie oder Freunden. Eine duale Identität zeigen die Befragten dann, wenn sie sich sowohl mit der Bundesrepublik Deutschland als übergeordnetem sozialen Gefüge als auch mit der Gruppe der in Deutschland lebenden türkischstämmigen Migranten identifizieren können. Dabei entsteht für diese Personen der Anreiz, sich in das politische Geschehen einzubringen und als Vertreter der türkischen Migranten aktiv zu werden. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass das Erleben von Benachteiligung hierbei eine entscheidende Rolle spielt. So weisen Studierende, die eine duale Identifikation zeigen, sich selbst aber gleichzeitig als benachteiligt wahrnehmen, oft eine Tendenz zu nicht normativem politischen Verhalten auf (z.B. zur Unterstützung radikaler politischer Forderungen).
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Bildung als notwendige Voraussetzung Dr. Alison Benbow von der Universität Augsburg, die Dr. Philipp Jugert (Universität Jena) vertrat, griff die Frage nach psychologischen Prozessen, die junge Deutsche, Türken und Spätaussiedler dazu motivieren, sich sozial und politisch zu engagieren, auf. In der von Alison Benbow vorgestellten Studie wurden insgesamt 95 junge Deutsche, Türken und Spätaussiedler mit Hilfe von qualitativen Fokusgruppen-Interviews befragt. In Abhängigkeit vom Alter und vom Bildungshintergrund der Befragten zeigten sich bedeutende Unterschiede bezüglich der Definition von Bürgerrechten, bezüglich relevanter politischer Themen und Hemmnisse von Partizipation. »Gerade für Befragte mit türkischem Migrationshintergrund spielt die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft und die damit verbundene Möglichkeit, durch Wahlen politisch zu partizipieren, eine große Rolle«, wusste Dr. Benbow zu berichten. Für Deutsche und Spätaussiedler sei die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein wichtiges politisches Thema. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass gerade für Türken und Spätaussiedler Migrantenorganisationen eine bedeutende Rolle spielen, obwohl das Ausmaß von politischem Engagement, sowohl konventioneller als auch unkonventioneller Art, in allen Gruppen gering ausgeprägt ist. Als konkrete Ideen zur Verbesserung nennen die Befragten insbesondere bildungspolitische Ziele: Investitionen in Bildung sowie die Einführung von »Bürgerkunde« als Schulfach. Bildung wurde von den Befragten als notwendige Voraussetzung für Partizipation angesehen. Weiterhin wird die Möglichkeit zur besseren Identifikation mit Politikern gefordert. Dies sei insbesondere für Migrantinnen und Migranten wichtig, denen es an Vorbildern im öffentlichen Raum mangelt. Einstellung und Selbstwirksamkeit – wichtige Prädiktoren In zwei von Katharina Diener (ebenfalls Universität Jena) vorgestellten Studien ging es um »Prädiktoren politischer Partizipationsbereitschaft im Jugend- und jungen Erwachsenenalter«. Dieser Lebensphase werde für die Entstehung und Festigung von politischen Einstellungen und Verhaltensweisen eine besondere Bedeutung beigemessen, auch wenn im Jugendalter noch nicht die Möglichkeit bestehe, durch Wahlen auf konventionelle Art und Weise am politischen Geschehen zu partizipieren. Ausgangspunkt für die Untersuchungen waren die Annahmen der sozialpsychologischen Theorie des geplanten Handelns von Ajzen (1991). Nach dieser entsteht tatsächliches Verhalten direkt aus einer Handlungsintention, die ihrerseits aus der Einstellung gegenüber dem Verhalten, der subjektiven Norm und der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle resultiert. In den Studien wurden 925 Teilnehmer zweimal in Abstand von maximal einem Jahr befragt. Katharina Diener beschrieb, dass sowohl die Einstellung gegenüber
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Immer wieder sehen sich Migrantinnen und Migranten in der aktuellen Integrationsdebatte mit Äußerungen konfrontiert, die sie als bloße Nutznießer des deutschen Sozialwesens darstellen und ihnen eine tragende Rolle im deutschen Gemeinwesen absprechen. Ähnliches gilt für Jugendliche in Deutschland. Sie verfolgt hartnäckig das beliebte Vorurteil, sie hätten »null Bock« auf Politik. Dass solche Pauschalisierungen keine fundierte Debatte zum politischen Engagement von Jugendlichen und Migranten anregen, steht außer Frage. Dabei gibt es unterschiedliche Forschungsansätze in der Psychologie sowie in den Politikwissenschaften, die verschiedenste Faktoren politischen Engagements ausfindig gemacht haben und an der Lebenswelt junger Menschen vorbeigehende Diskussionen überflüssig werden lassen.
r e p o r t fokus politischem Engagement als auch die wahrgenommene Verhaltenskontrolle, die als politische Selbstwirksamkeit erfasst wurde, zukünftige Bereitschaft zu politischem Engagement vorhersagen. Interessanterweise hat die wahrgenommene subjektive Norm keinen zusätzlichen Einfluss. In einer der beiden Studien konnte auch bestätigt werden, dass Veränderungen im tatsächlichen Verhalten signifikant durch die Bereitschaft zur politischen Beteiligung vorhergesagt werden. Alle drei Arbeiten leisten einen wertvollen Beitrag für das Verständnis von politischem Engagement von Migranten und Jugendlichen aus psychologischer Sicht. Verschiedene psychologische Variablen, wie die Identifikation einer Person mit einem politischen System oder Akteur, hängen maßgeblich mit politischem Handeln zusammen. Das Gleiche gilt für die internale politische Selbstwirksamkeitserwartung, die das Gefühl beschreibt, mit Hilfe eigener Fähigkeiten gewünschte Handlungen im politischen Bereich erfolgreich ausführen zu können. Sie wird durch erfolgreiche Beteiligungserlebnisse gefördert und sollte daher im Zuge der aktuell geführten integrationspolitischen Debatte als Konzept mehr Beachtung finden. Wie sich zeigt, fühlen sich junge Menschen aber nach wie vor nicht von der Politik angesprochen und zum Teil sogar benachteiligt. Diese Problematik wird in den vorgestellten Studien als Partizipationshindernis beschrieben. Eine bessere Wahrnehmung psychologischer Erkenntnisse und ihrer Implikationen durch Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft könnte also auch die Integrationsdebatte in sinnvoller Art und Weise unterstützen und voranbringen. Maike Thomas An der sehr lebendigen Diskussion beteiligte sich auch Prof. Siegfried Preiser, Gründungsrektor der Psychologischen Hochschule Berlin.
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Abgeordnete erleben sich nicht als selbstwirksam Deutschlands Politiker wollen vieles verändern – die meisten von ihnen fühlen sich aber zu machtlos, um solche Vorhaben anzustoßen. Nur eine Minderheit unter den Abgeordneten des Bundestags und der 16 Landtage glaubt, persönlich viel für einen gesellschaftlichen Wandel bewirken zu können. Laut einer im Februar veröffentlichten Studie der Stiftung »Change Centre« und der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf meint zwar immerhin jeder dritte Parlamentarier, im Bereich Erziehung und Bildung »persönlich großen politischen Einfluss darauf« zu haben, »welche Veränderungen es hier geben wird«, auf allen anderen Politikfeldern schreibt sich aber höchstens jeder fünfte Volksvertreter eine wichtige Rolle zu. Fast die Hälfte der deutschen Abgeordneten ist der Meinung, dass weniger sie, sondern vor allem die Bürger die Verantwortung für den gesellschaftlichen Wandel tragen. Als möglichen Grund für dieses Gefühl der Machtlosigkeit unter deutschen Abgeordneten führen die Autoren der Studie unter Leitung der Professoren Ulrich von Alemann und Joachim Klewes »die vielfältigen Zwänge von Fraktionen und Parteiapparaten« an. Aus demokratietheoretischer Perspektive sei dieser Befund jedoch
»bedenklich«. Die Volksvertreter begegneten dem Volk »weniger offensiv und aktiv, sondern reaktiv.« So lesen die Wissenschaftler aus den Antworten auf ihre Befragung: »Sie verstecken sich fast vor den Bürgern.« Das könnte auch daran liegen, dass 46 Prozent der befragten Politiker die Verantwortung für gesellschaftlichen Wandel vor allem beim einzelnen Bürger selbst sehen. 34 Prozent machen dafür die Wirtschaft, aber nur 33 Prozent den Staat verantwortlich. Allerdings teilen sich die Politiker gerade in dieser Frage in zwei Lager, und zwar nach »dem klassischen Links-rechts-Schema«, wie die Autoren schreiben. SPD, Linke und Grüne sehen in weit höherem Maß als auf der anderen Seite CDU, CSU und FDP den Staat für Veränderungen und Innovationen zuständig. Andererseits jedoch sehen die Grünen – wie sonst nur noch die Liberalen – auch den einzelnen Bürger als wichtigsten Motor gesellschaftlicher Veränderung.
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Entwicklungshilfe braucht Psychologie Evaluation eines Schulprojekts in Bangladesch
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Die ersten Kooperationsgespräche zwischen den »Psychologen über Grenzen« und den »Ärzten für die Dritte Welt« fanden 2009 statt. Als neu gegründete Non-Profit-Organisation waren und sind wir bemüht, Kooperationsmöglichkeiten mit geeigneten Partnern auszuloten. Der Non-Profit-Sektor kann u.E. aus der Kooperation seinen größten Nutzen ziehen; das gilt nicht nur für die Zielländer, sondern sollte bereits im Spenderland beginnen. Entwicklungszusammenarbeit war lange Zeit von einem Nebeneinanderher verschiedener Organisationen geprägt. Im Ergebnis machen sich Professionen und Organisationen mit unterschiedlichen Zielen (etwa technische Projekte, Bildungsprojekte, medizinische Projekte, politische Zusammenarbeit) häufig Konkurrenz auf dem heimischen Markt. Kooperation ist zudem eine Grundvoraussetzung fast jeder psychologischen Arbeit. Damit wird das Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit auch ein wichtiges psychologisches Feld. Vorbereitung auf einen ungewöhnlichen Einsatz Das erste gemeinsame Projekt von »Psychologen über Grenzen« und »Ärzten für die Dritte Welt« an einer Schule in Bangladesch, bei dem ich von der Konzeption bis zur Umsetzung im Feld Verantwortung trug, hatte Pilotcharakter. Alle an der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Erhebung beteiligten Psychologen über Grenzen haben ehrenamtlich gewirkt. Die Flugkosten wurden von der Partnerorganisation übernommen. Die sonstige Finanzierung erfolgte über Eigenmittel (Stammkapital) sowie Querfinanzierung aus Einnahmen in anderen Bereichen (ehrenamtlich durchgeführte, aber vergütete Coaching/Trainingsarbeit). Der Feldphase ging eine intensive Einarbeitungs- und Konzeptionsphase voraus. Das begann mit der Einführung in die Landeskultur und Geschichte (Vortrag, Diskussion), ging weiter mit der standardisierten Vorbereitung auf Auslandseinsätze (Briefing im Hinblick auf Risikofaktoren und Entstehungsbedingungen von PTBS, Umgang mit belastenden Erlebnissen, Verhalten in Krisenregionen im Allgemeinen, Verhalten bei Überfällen, Verhalten bei Konflikten im Team, Einrichtung einer telefonischen Notfallbetreuungsmöglichkeit im Heimatland) sowie Impfungen und endete bei Versicherungsabschlüssen für den Krankheits- bis Krisenfall. Ein Schwerpunkt der Hochschulausbildung einer begleitenden Kollegin lag auf interkultureller Kompetenz. Das war sehr hilfreich.
Zur fachlichen Vorbereitung im engeren Sinn wurde eine Synopse zur Wirksamkeitsforschung im Bereich von Breitenbildungsmaßnahmen in Entwicklungsländern erstellt. Die darin benannten Wirksamkeitsfaktoren wurden zum Ausgangspunkt und Rahmen der Erhebungsphase und des Erhebungsdesigns. Da es sich um ein Schulprojekt handelt, wurden auch internationale Standards und Bewertungsdimensionen zusammengetragen, die im Verdacht stehen, die Wirksamkeit von Bildung in Schulen im Allgemeinen zu erhöhen. Davon ausgehend haben wir die derart beschriebenen Faktoren in Frageform für Interviews operationalisiert sowie Prüflisten erstellt. Arbeit in einem Slum von Dhaka Die Schule, an der wir tätig werden sollten, befindet sich in einem Slum von Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs. Rund sechs Millionen der insgesamt 153 Millionen überwiegend muslimischen Einwohner des Landes leben in dieser großen, sehr lauten und in weiten Teilen auch sehr schmutzigen Stadt. Emissionen aus riesigen Fabriken, die den deutschen und weltweiten Markt mit günstigen Textilien versorgen, verdunkeln tagsüber die Sonne. Die Lebensbedingungen im Slum sind schlecht. Kinder spielen im Gestank von Müll und Fäkalien. Auf engstem Raum leben viele Menschen, viele in kargen Hütten aus Blech. Häuser werden oft ohne Genehmigung und ohne statische Kenntnisse gebaut, obwohl Dhaka in einer Erdbebenregion liegt. Fremde sind 177
Vertrauen gewinnen durch partnerschaftlichen Umgang Die lokalen Projektverantwortlichen, die Lehrer und auch die Schüler wurden vorab und währenddessen in das Prozedere einbezogen, haben Sinn und Zweck verstanden, es hinterfragt, schließlich akzeptiert und weitestgehend begrüßt. In einem abschließenden Workshop wurden die Hauptergebnisse der Interviews diskutiert, Entwicklungsmöglichkeiten erarbeitet und konkrete Umsetzungsschritte festgelegt. Ängste, die sich aus der Bewertung im Vorfeld ergeben hatten, konnten abgebaut werden. Die Zusammenarbeit war partnerschaftlich. Das Gesamtergebnis wird den »Ärzten für die Dritte Welt« (Geschäftsführung, Projektleiterin) übergeben. Kernergebnisse werden an die Projektverantwortlichen vor Ort übermittelt. Über die weitere Veröffentlichung ist noch nicht entschieden.
Kriterien und Methoden Es gab zwei Erhebungsphasen. In der ersten wurden von der deutschen Projektleiterin der auftraggebenden Organisation viele beschreibende Daten zur Schule mittels Interview vor Ort erhoben. Die Ergebnisse wurden anschließend besprochen und ausgewertet, das Instrumentarium wurde vervollständigt. Die Haupterhebung fand in einer zehntägigen Feldphase statt. Das Methodeninstrumentarium bestand vorwiegend aus den Elementen teilnehmende Beobachtung, Dokumentenanalyse, Interview (offen bis strukturiert), Workshop. Zur Validierung der gewonnenen Ergebnisse wurde zudem eine einheimische, mit dem Aufbau und der Betreuung von Schulprojekten international tätiger NGOs beschäftigte Organisation zur Unterstützung angefragt. Eine Projektleiterin begleitete unsere Evaluation vor Ort drei Tage lang, war auch bei einigen unserer Interviews dabei, beantwortete spezielle Fragen, das bangladeschische Bildungssystem betreffend, und bewertete unsere Erkenntnisse aus einheimischer Sicht. Unser geplantes Vorgehen konnte fast uneingeschränkt umgesetzt werden. Unsere Erwartungen im Hinblick auf den Erfolg der Erhebungen und das Ergebnis wurden übertroffen. Wir hatten wesentlich mehr Aufwand und Zeit für den Aufbau einer vertrauensvollen Atmosphäre eingeplant und konnten über die geplante Evaluationserhebung hinaus bereits mit allen Beteiligten Verbesserungspotenziale konkret planen. Hauptmethode war Interviewtechnik, vorwiegend gestützt auf vorbereitete Leitfäden. Es gab auch offene Interviews, daneben Dokumentenanalysen und teilnehmende Beobachtungen des Unterrichts und der Abläufe. Vor Ort arbeiteten wir mit allen Lehrern, der Schulleitung, mit Kindern und Eltern. Wichtig waren auch die Kontakte zu Experten im einheimischen Bildungssystem und natürlich die Ärzte, die zur gleichen Zeit im Einsatz waren wie wir. Die Verständigung erfolgte auf Englisch. Wir hatten jederzeit eine Person zur Unterstützung, die zwischen Englisch und Bengali übersetzen konnte. Die Verständigung war insgesamt nicht schwierig, die Fehlerquote durch die Mehrfachübersetzung haben wir durch redundante Informationserfassung verringert.
Chance für weitere Projekte wächst mit Spenden Wenn wir – wie in diesem Fall – in einem evaluierten Projekt zu dem Ergebnis gelangen, dass es insgesamt sinnvoll und effizient zur Verwirklichung der Menschenrechte beiträgt, dann beschreiben wir die Maßnahmen, die aus unserer Sicht zu einer weiteren Verbesserung der Wirksamkeit beitragen könnten, und versuchen, für diese Maßnahmen Spenden zu sammeln. Falls hierüber Gelder zusammenkommen, sorgen wir dafür, dass sie dementsprechend eingesetzt werden. Wir erwarten, dass sich aus der begonnenen Kooperation und dem gemeinsamen Auftreten mit unserer Partnerorganisation, die seit Jahrzehnten im Entwicklungshilfesektor tätig ist, weitere ähnliche Projekte ergeben. Ich wünsche mir das sehr, habe ich doch erlebt, dass psychologische Arbeit in Entwicklungsländern ebenso wichtig ist wie z.B. medizinische. Durch die Methoden und das Know-how psychologischer Messung und Kommunikationsfertigkeit ist es möglich, Entwicklungshilfeprojekte zu stärken und zu verbessern. Hierdurch kann auch eine nicht klinische psychologische Tätigkeit dazu beitragen, konkrete und messbar nützliche Entwicklungshilfe zu leisten. Unser Wissen und unsere speziellen Kenntnisse im Methodischen und in der Kooperation und Kommunikation sind ein Alleinstellungsmerkmal. In unserem Evaluationsbericht zum Bildungsprojekt »Glory Future Model School« konnten wir insgesamt eine ganze Reihe positiver Ergebnisse benennen, angefangen beim baulichen Zustand des Gebäudes bis zur Zusammensetzung der Lehrerschaft, in der Frauen, ethnische Minderheiten und Nichtmuslime annähernd im bangladeschischen Durchschnitt vertreten sind. Mindestens genauso wichtig sind jedoch unsere Empfehlungen zur Erhöhung der Wirksamkeit des Projekts. Sie betreffen sowohl die Schulorganisation (Stundenpläne, Unterrichtszeit, Sauberkeit usw.) als auch die Unterrichtsinhalte, die Personalentwicklung und die Arbeit mit den Eltern. Langfristig von Bedeutung dürften auch die von uns erarbeiteten Monitoring-Instrumente sein, mit denen in Zukunft Daten erhoben werden aus deren Verlauf Rückschlüsse auf die Entwicklung der Schule möglich sind. Tom Frenzel
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eher selten und werden entsprechend misstrauisch beäugt. Wir konzentrierten uns bei unserem Aufenthalt in dem südasiatischen Staat mit seinem tropischen Klima auf unsere Arbeit. Die von uns wie beschrieben gewonnenen Kriterien und Indikatoren für die Evaluation wurden im nächsten Schritt der Taxonomie von Wirksamkeitsdimensionen zugeordnet: Output, Outcome, Impact, also die gängigen Wirkungsebenen bei der Messung von Wirksamkeit in dem Sektor. Das Spektrum der Messung geht also von beschreibenden Zahlen, etwa Schüleranzahl oder Klassenräume, bis hin zu abstrakten Wirkungen auch auf soziale, wirtschaftliche und politische Dimensionen. Eine konkrete Fragestellung war hier etwa die, welche Veränderungen sich in dem Slum, in dem die Schule steht, auf personaler bis sozialer Ebene ergeben und ob diese messbar sind.