3 minute read
Komponieren auf der Grenze
Freitag, 14 Uhr. Die teilnehmenden Männer, die sich von mir zum Schreibcafé haben einladen lassen, kommen zielstrebig aus dem Hafthaus in den Gruppenraum der Seelsorge. Kaffee, Kekse und Tee stehen als Gaumenfreuden auf dem Tisch. Eine lockere Atmosphäre. Freitagmittag beginnt hier das Wochenende. Die Arbeitszeit für die Gefangenen ist zu Ende. Wir begrüßen uns, füllen unsere Tassen, nehmen Platz, holen unsere DIN-A4-Schreibhefte hervor, schreiben das Datum und los geht’s. Zehn Minuten Freewriting mit dem Impuls „Ich um zwei Uhr mittags …“. Stille atmet sich durch den Raum. Nur die Stifte machen Laute. Alles darf auf das Papier, alles darf frei und unzensiert komponiert werden. Freude, Frust und Ärger aus der Woche finden ebenso Eingang in die Worte wie das körperliche Befinden, das Essen oder die Vögel draußen. Herr N. sieht ganz versonnen aus dem Fenster in den Himmel. Ich weiß, am Ende wird er ein Haiku komponiert haben. Für das Schreibcafé hat er extra seine Psychologengespräche verlegt.
Auch ich schreibe in mein Heft, sehe fasziniert, wie alle in ihr Tun vertieft sind, betrachte die Gitter an den Fenstern und finde Lücken zwischen den Stäben. Unsere Sinne entpuppen sich derweil aus ihrer starren Begrenztheit. Die Innengeräusche, Schlüssel, Durchsagen, Kommandos weichen und geben den Außentönen der Vögel, Flugzeuge und Regentropfen Raum. Nach zehn Minuten lasse ich alle wartenden Gedanken in drei Pünktchen wandern. Ich spreche diese Worte, wie ich sie bei Brigitte Leeser in meiner Poesietherapie-Ausbildung gehört habe: „Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen.“ Tiefe Atemzüge richten die Körper an den Tischen auf. Ich fange freu- dig strahlende Blicke ein und beende das Freewriting für alle damit, eine Verdichtung zu schreiben. Die Fülle in ein knappes Hier und Jetzt zu bringen. Wir überraschen uns beim Vorlesen mit Elfchen, Haikus oder Vierzeilern, nicken Beifall und üben uns im wertfreien Resonanzgeben. Ein unverhohlenes Glücksgefühl findet Ausdruck: „Ich wusste gar nicht, dass ich das kann!“
Advertisement
Individuell sein dürfen
Das Gefängnis versammelt ein weites Spektrum an Straftätern und Haftzeiten. Manche leben im Schutz von Therapiegruppen. Das Bedürfnis ist groß, sich voneinander abzugrenzen. Beim Schreiben hebt sich diese Grenze plötzlich auf. Es spielt keine Rolle mehr, wer was getan hat. Zugegeben, anfangs war ich mir nicht sicher, ob sich die Gruppe aushält. Nun umfasst der drohende Zeigefinger den Stift, der damit beschäftigt ist, über das Papier zu fliegen. Später teilen alle miteinander ihre Gedankenausflüge und die Tränen ihrer Seelenlandschaften. In diesem Moment zählt nur die Poesie, die entstanden ist, die Würdigung dieser und das Erkennen ihres je eigenen Wertes.
Das Vorlesen ist freiwillig. Ich bin beeindruckt und gerührt, mit welcher tiefen Ernsthaftigkeit die Männer ihre Geschichten teilen und einander zuhören. Endlich mal ohne Therapie-Ohr. Sonst wird alles, was sie sagen, in ihrer Akte dokumentiert. Unauslöschbar. Das Schreibcafé ist ein Ort jenseits therapeutischer Reglementierung und Festschreibung. Es wird zum geistigen und kreativen Freiraum, in dem sich die Gefangenen im Schreiben ausprobieren können.
Schreiben als Raumerweiterung
Sie denken sich in die Zukunft, ins Universum, in Listen, zwischen die Zeilen eines
Aufstellungsphänomene
SUSANNE BUCHBERGER & UTE HABENICHT
Eine von uns wurde kurzfristig gefragt, ob sie einen Artikel zu diesem Heft beisteuern könne. „Ja, klar!“, dachte sie sich und hatte keine Ahnung, wie sie innerhalb weniger Wochen einen Artikel aus dem Boden stampfen sollte. „Hast du Lust, gemeinsam einen Artikel zu schreiben?“
Ein Griff zum Telefon, ein leiser Hilferuf und die Antwort „Ja, sehr gerne, ich schreibe am liebsten zu zweit!“, waren der Ausgangspunkt für einen ko-kreativen Prozess, der überraschende und überwältigende Erkenntnisse brachte.
Wir vereinbaren einen gemeinsamen Schreibtag, mit dem Ziel, an einem Tag diesen vorliegenden Artikel zu produzieren. Wir haben zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, was wir schreiben werden, bestenfalls ein paar lose Ideen. Unser vorhandenes Material: Der Titel Über Grenzen hinweg schreiben und der Auftrag, dass es „irgendwas zum Thema Komfortzone“ werden soll. Im Telefonat war ein erstes Brainstorming entstanden. Aber eigentlich hatten wir nur besprochen, dass wir uns auf einen gemeinsamen Schreibprozess einlassen wollen, etwas ausprobieren werden und uns dabei zusehen, wie es uns damit geht. Wir kannten einander zumindest in dem Ausmaß gut, dass wir davon überzeugt waren, dass bei zwei so genialen Frauen wie uns nur was Gutes herauskommen kann, wenn sie gemeinsam kreativ werden.
Als gebürtige Wienerin nur für einen Workshop nach Kärnten zu fahren, ist per se bereits eine Grenzüberschreitung. Ute ist Klagenfurterin und reist selbstverständlich und regelmäßig für Tagesworkshops nach Wien. Sie ist verwundert, dass Susanne bereit ist, für einen gemeinsamen Schreibtag extra nach Klagenfurt zu fahren. Das kommt nicht oft vor.
Nach einem gemeinsamen Frühstück richten wir unsere Schreibutensilien in Utes neuem Coaching-Raum her und kochen eine Kanne Tee. Bis hierher war uns das Vorhaben klar gewesen, ab jetzt gibt es nur mehr ein großes weißes Blatt vor uns. Was sind unsere besten Hoffnungen für diesen Schreibtag?