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Stefano Recchia: „Eine politische Führung sollte auch Mut beweisen
Als Politikwissenschaftler ist er kein Kommentator des Tagesgeschehens, sondern beschäftigt sich mit längerfristigen Tendenzen und Regelmäßigkeiten im politischen Geschehen. Und da deutete für den gebürtigen Pusterer Stefano Recchia vieles darauf hin, dass eine gewalttätige Ausschreitung wie zuletzt in den USA vielleicht nur eine Frage der Zeit gewesen sei. Haben die USA die Gefahr im eigenen Land unterschätzt? Was haben seine Wurzeln mit der Liebe für Konfliktforschung zu tun? Und ist Südtirol ein Vorzeigemodell für die Lösung ethnischer Konflikte? Im Interview erzählt der 42-Jährige, warum die hiesige Politik teilweise noch an veralteten Strukturen festhält.
PZ: Am 6. Jänner 2021 stürmten Anhänger von Donald Trump den US-Parlamentssitz. War das nur eine Frage der
Zeit?
Stefano Recchia: Angesichts des extrem angespannten politischen Klimas in den USA im Laufe der letzten Jahre ist es eher überraschend, dass es nicht schon früher solche gewalttätigen Ausschreitungen gegeStefano Recchia, Jahrgang 1978, wächst zweisprachig in Bruneck auf. Nach der Matura am Realgymnasium studiert er Politikwissenschaften in Rom und Straßburg. Im Anschluss promoviert er an der Columbia University in New York in internationale Beziehungen und arbeitet als Dozent an der Uni Cambridge. 2005 wurde er mit dem Futura-Forschungspreis ausgezeichnet, er war auch Stipendiat der Alexander von Humboldt--Stiftung in Berlin. Seit 2019 ist er Uniprofessor und Inhaber des Lehrstuhls für internationale Beziehungen am Tower Center for Public Policy and International Affairs in Dallas, Texas, wo er sich mit Konfliktforschung und US-Außenpolitik beschäftigt. Recchia ist Mitglied von Südstern. Er lebt mit seiner Frau und dem kleinen Sohn in Dallas. Weitere Informationen zu seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit findet man im Internet unter: www.stefanorecchia.net //
ben hat. Die Frage ist, wie es dazu kommen konnte. Die USA sind eine multikulturelle Gesellschaft und ein Einwanderungsland, viel mehr noch als Westeuropa. Bei den jüngeren Bevölkerungsschichten sind Amerikaner europäischer Abstammung mittlerweile in der Minderheit. Das führt dazu, dass sich die traditionell dominanten Bevölkerungsschichten, also vor allem weiße Angloamerikaner, teilweise zur Seite gestellt fühlen. Dieses Gefühl ist vor allem unter den wirtschaftlich Schwachen und weniger Gebildeten weit verbreitet. Donald Trump hat seit Beginn seiner politischen Laufbahn deren Unzufriedenheit geschürt und dadurch viel Zuspruch erhalten. Seine Aussagen wurden immer extremer, und er hat letzthin auch direkt oder indirekt zur Gewalt angespornt. Dazu kam dann noch das ständige Verneinen des Wahlsiegs von Joe Biden und der Vorwurf des Wahlbetrugs, was die Geister noch weiter erhitzt hat.
In jedem Hollywoodblockbuster wird
Amerika als Supermacht dargestellt.
Bei der Erstürmung des Kapitols haben Polizeikräfte keine gute Figur abgegeben.
Die USA bleiben wirtschaftlich und vor allem militärisch der mächtigste Staat der Welt.
Allerdings ist auch eine Supermacht nicht allmächtig, das gilt für die Außen- und für die Innenpolitik. Dass es im Herzen der Supermacht zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen konnte und die Ordnungskräfte nicht dazu imstande waren, die Protestierenden vom Kapitol abzuhalten, zeigt, dass uns Filme und Serien doch ein etwas idealisiertes Bild der amerikanischen Gesellschaft und Politik vorgaukeln. Es zeigt aber auch, dass Entscheidungsträger und allgemein politische Eliten das Risiko rechtsextremer Gewalt im eigenen Land unterschätzt haben. Man hat sich in der jüngeren Vergangenheit auf die islamistische Terrorgefahr konzentriert, dann auf die politische Linke, zum Beispiel die „Black lives matter“-Bewegung und auch auf das Problem der Einwanderung. Mehrere Kommentatoren haben ziemlich plausibel behauptet, dass die Polizei im Falle einer ähnlichen Protestaktion durch einen schwarzen Mob ganz anders durchgegriffen hätte und womöglich auch das Militär eingesetzt worden wäre. Auch unter den Ordnungskräften gibt es rassistische Vorurteile und nach wie vor viel Sympathie für Donald Trump und seine Bewegung. Einige der Polizisten haben mit den Protestierenden am Kapitol Selfies geschossen.
Ist Donald Trump ein Rechtsradikaler? Trump hat im Grunde keine Ideologie, also keine holistische Weltanschauung, die ihn antreibt. Es geht ihm um das Eigeninteresse und die Macht, für sich und seine Familie. Aber als Präsident hat er sich rechtsradikaler Gruppierungen bedient und auch mit ihnen geliebäugelt, im Bewusstsein, dass ihn diese Gruppierungen unterstützen. Rechtsradikale und auch Neonazis sind in den USA nichts Neues, aber Trump hat diese Gruppen ganz klar ermutigt, mit schwerwiegenden Folgen.
Die vergangenen Jahre sind auch ein
Lehrstück für die Macht der Bilder und
Worte. Twitter und Facebook haben
Donald Trump auf stumm geschaltet.
Eine richtige Entscheidung?
Dass private Unternehmer, wie z.B. Facebook-Chef Mark Zuckerberg und TwitterCeo Jack Dorsey entscheiden, Trump (oder irgendwann einfach andere Personen) abzudrehen, scheint mir prinzipiell problematisch. Eine bessere Alternative wäre es, mit entsprechenden legislativen Maßnahmen klare Rahmenbedingungen zu schaffen und Parameter zu definieren, innerhalb derer dann ein freier Dialog über die Onlinemedien stattfinden kann. Rassistische Hetzkampagnen und Aufrufe zur Gewalt über soziale Netzwerke sollten einfach verboten werden. Das bundesdeutsche Mediengesetz stuft solche Inhalte als Straftaten ein und verpflichtet, diese nach Eingang von Beschwerden zu löschen. Ein weiteres Problem ist die Zersplitterung der Medienland-
Seit 2019 ist Stefano Recchia Uniprofessor und Inhaber des Lehrstuhls für internationale Beziehungen in Dallas. Im Bild ist er mit einigen Studenten und dem ehemaligen US-Verteidigungsminister Robert Gates zu sehen.
schaft, und das gilt nicht nur für die USA. Bis vor 20 Jahren hatte die breite Öffentlichkeit Zugang auf relativ wenige staatliche oder auch private Fernsehsender und Tageszeitungen, die mehr oder weniger faktenbasiert und relativ professionell berichteten. Heute holen sich die Internet-User ihre Informationen vielfach aus kleinen Blogs und digitalen Nischenmedien, die, nennen wir es euphemistisch, flexibler mit der Wahrheit umgehen und oft einfach Vorurteile festigen.
Das gilt ja auch besonders für Donald
Trump.
Natürlich, er erzählte über Monate und Jahre hinweg Sachen, die ziemlich offensichtlich nicht der Wahrheit entsprechen, aber seine Zustimmungswerte blieben bis fast zuletzt über 40 Prozent. Das hängt damit zusammen, dass sich viele Amerikaner ihre Informationen von Medien mit einer ganz klaren politischen Orientierung holen, wie z.B. Fox News, und dadurch leben sie in einer Blase, in der Kritik am eigenen politischen Lager verpönt ist. Der auf faktisches Wissen und gegenseitigen Respekt basierte Austausch von Ideen, der die Grundlage unserer liberalen Gesellschaften darstellt, kommt dadurch ins Schwanken. Wenn es diesen Dialog nicht mehr gibt, dann tut man sich sehr schwer, einen Konsens zu finden, und es kommt zu starker Polarisierung der Gesellschaft. Das sieht man auch in Europa.
Sie haben während Ihres Doktoratsstudiums in den USA gelebt und sind 2019 nach sieben Jahren in England dorthin zurückgekehrt. Wie hat sich das Land während der Präsidentschaft von Donald Trump verändert?
Ich lebe in Dallas, also in Texas. Texas ist der US-Staat mit der zweitgrößten Bevölkerungszahl nach Kalifornien und eine Hochburg der republikanischen Partei. Dallas ist als Großstadt recht weltoffen und multikulturell, da spaziert selten jemand in Cowboystiefeln herum oder fährt einen Pick-up-Truck. Aber trotzdem ist die Gesellschaft konservativer als beispielsweise an der Ostküste der USA. Donald Trump hat gewisse Tendenzen zugespitzt, die es schon seit mehreren Jahren in der amerikanischen Politik und Gesellschaft gegeben hat. Schon während der Präsidentschaft von Bill Clinton in den 1990-er-Jahren hat der populistische Flügel bei den Republikanern stark an Einfluss zugenommen. Die republikanische Partei ist heute tief gespalten zwischen einem traditionellen sozial konservativen und wirtschaftsfreundlichen Flügel, und jenen, die alles über den Haufen werfen wollen, weil sie ihren Status gefährdet sehen durch Globalisierung und Einwanderer, aber auch durch die Emanzipation der Frauen. Und diese Unzufriedenen haben in Donald Trump ihre Symbolfigur gefunden. Die Folgen werden auch nach seiner Abwahl zu spüren sein.
Es heißt ja, er würde 2024 erneut kandidieren.
Auch um das zu verhindern, wurde ein zweites Impeachment-Verfahren gegen Trump in Gang gesetzt. Jetzt muss der amerikanische Senat entscheiden. Es sind aber auch unter den Demokraten längst nicht alle überzeugt, es bis zum Ende durchzuziehen. Joe Biden befürchtet, dass ein lange hinausgezogenes Amtsenthebungsverfahren den Start in seine Präsidentschaft überschatten könnte. Er hat andere Prioritäten.
Welche sind das?
Die Bekämpfung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen. Die Sozialpolitik. Und dann, für mich besonders spannend, die Außenpolitik. >>
Da gibt es viel zu reparieren.
Das Image der vereinigten Staaten hat im Laufe der vergangenen Jahre in der Welt enorm gelitten, nicht nur unter den westlichen Alliierten, sondern auch in den Entwicklungsländern. Dort hatte sich die Bevölkerung vielfach für mehr Demokratie eingesetzt und auf Amerika als Modell geschaut. Donald Trump hat durch sein chaotisches Regieren und seinen Angriff auf die Legitimität demokratischer Wahlen im eigenen Land Diktatoren weltweit in die Hand gespielt. Die sagen jetzt, schaut mal, was passiert, wenn man in einer Demokratie lebt. Trump hat also dem liberaldemokratischen Modell überhaupt enorm geschadet. Präsident Biden und seine Mitarbeiter wissen das natürlich. Biden ist ein sehr erfahrener Staatsmann. Er hat ein Team erstklassiger Diplomaten zusammengestellt, die starke Befürworter der internationalen Bündnisse und allgemein internationaler Zusammenarbeit sind, vor allem mit den Europäern, der Nato und der EU. Biden versteht, dass die USA die großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte nicht alleine angehen können.
Sie sprechen den Klimawandel an?
Auch, da wird Biden gewiss eine andere Haltung einnehmen als Trump. Aber auch die Sicherheitspolitik. China steigt auf zur nuklearen Großmacht und gewinnt in Asien - aber auch anderswo - immer mehr an Einfluss. Chinas Umgang mit Menschenrechten und die Bemühungen, das eigene autoritäre politische Modell in der Welt zu verkaufen, sollten uns mit Sorge erfüllen. Die Gefahr ist real, dass es zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen China und den USA kommt, weil vor allem im westlichen Pazifischen Ozean die Interessen beider Länder aufeinanderprallen. Die USA führen dort regelmäßig Seemanöver mit ihren Kriegsschiffen und Flugzeugträgern aus, aber die Chinesen sehen es als ihr Einflussgebiet. Wenn eine neue Großmacht aufsteigt und hegemoniale Ansprüche entwickelt, dann führt das oft zu großen internationalen Spannungen. Ein Blick in die Geschichte reicht: Athen in der klassischen Antike, das napoleonische Frankreich im 19. Jahrhundert, Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Sie beschäftigen sich mit US-Außenpolitik und Konfliktforschung. Wann wurde das Interesse für diese komplexen
Themen bei Ihnen geweckt?
Ich hatte das Glück, zweisprachig aufzuwachsen. Die Beziehungen zwischen den Sprachgruppen in Südtirol und der historische ethnische Konflikt haben mich vor allem während der Oberschulzeit stark beschäftigt. Die Konfliktforschung wurde schließlich ein wichtiges Thema in meiner Berufslaufbahn: Wie kann die internationale
Naturliebhaber: Zwei Mal im Jahr kommt Recchia in seine alte Heimat Bruneck und schätzt das Wandern wie hier in Oberwielenbach mit Söhnchen Alexander.
Staatengemeinschaft dazu beitragen, ethnische, nationale und auch religiöse Konflikte friedlich zu lösen?
Südtirol lässt sich ja gerne als Vorzeigemodell bezeichnen. Berechtigt?
Die Südtiroler Erfahrung kann international als Erfolg gesehen werden. Es ist gelungen, einen Konflikt, der in den 1960-er und 70erJahren auch zu gewaltsamen Ausschreitungen geführt hat, friedlich beizulegen. Das gelang durch die Einführung einer territorialen Autonomie und auch durch die Machtteilung zwischen den Sprachgruppen auf Landesebene, was im Übrigen auch in anderen Krisenregionen so ähnlich gehandhabt wurde. Das Problem solcher Modelle ethnischer Streitbeilegung ist aber, dass sie institutionell stark konservativ sind.
Was heißt das genau?
Es wird viel Wert gelegt auf die ethnische Aufteilung der Macht und weniger auf die interethnische Zusammenarbeit. Die Politik profitiert von dieser Machtteilung und auch von der Aufrechterhaltung einer gewissen Spannung zwischen den Volksgruppen, denn das legitimiert die ethnisch ausgerichteten Parteien. Somit hinkt die Politik der Entwicklung der Zivilgesellschaft oft hinterher und kann diese Entwicklung sogar bremsen. Das sieht man auch in Südtirol. Vor allem für die jüngeren Generationen steht das Ethnische vielfach nicht mehr im Mittelpunkt. Mischehen gehören mittlerweile zum Alltag, Sportvereine sind vielerorts längst nicht mehr rein deutsch oder italienisch, und die Kinder besuchen oftmals einen Kindergarten der anderen Sprachgruppe. Die Mehrsprachigkeit der Südtiroler und die Brückenfunktion des Landes zwischen deutscher und italienischer Kultur sind im Rahmen eines offenen Europas eine Chance für Jugend und Arbeitskräfte. Die Politik aber hält teilweise noch an veralteten Strukturen fest, wie zum Beispiel an der namentlich ethnischen Zugehörigkeitserklärung, die gemischte, komplexere Identitäten schlicht nicht vorsieht, oder auch am Verbot der mehrsprachigen Schule.
Eine politische Entscheidung, um Stimmen der Stammwähler zu sichern?
Ich beobachte die Südtiroler Politik mittlerweile aus der Ferne, aber es scheint mir, dass die SVP stark darum bemüht ist, sich politisch nach rechts abzusichern. Die Entscheidungsträger auf Landesebene befürchten anscheinend, wenn sie sich zu sehr in Richtung Mehrsprachigkeit öffnen, dann könnten Wählerstimmen verloren gehen. Aber eine politische Führung sollte auch Mut beweisen, um die eigene Gesellschaft zukunftsfähig zu gestalten.
Im Februar kehren Sie nach einer Corona-Pause in die USA zurück. Warum sind Sie mit Ihrer Familie nach Südtirol gekommen?
Ich fühle mich hier immer noch zuhause, und mein Vater und meine Schwester leben hier. Außerdem ist Social Distancing während der Corona-Krise hier viel einfacher möglich, als in einer Millionenstadt. Meine Vorlesungen habe ich online halten können, auch das geht mit der digitalen Vernetzung ziemlich einwandfrei. Somit habe ich gemeinsam mit meiner Frau beschlossen, einige Monate in Südtirol zu verbringen. Nur die Zeitverschiebung mit den USA bereitet kleinere Probleme. Eine meiner Vorlesungen findet um 20 Uhr am Abend statt, Ortszeit Dallas. Da ist es hier spät in der Nacht.
Sind Sie ein guter Skifahrer?
(lacht). Nicht so gut wie meine Schwester Lucia. Ich gehe lieber langlaufen oder wandern. In normalen Zeiten komme ich ein, bis zwei Mal im Jahr nach Südtirol. Dann genieße ich die Natur und den Frieden hier.