Rhizom05

Page 1

rhizom-5-092-097.indd 1

07/05/2007 1:06:49 PM


Redaktion.indd 2

jakob schneider

+ linda schirona

+

nelda schirona

+

andre le masur

noemi stockmann

paul plattner-wodarczak †+ prof. rßdiger quass von deyen

maike breuer

henning walther

tabea rabenow

melanie otte

christina taphorn

julia hĂźckel

martin kaumanns

+

ute wibral

+ pia hartmann

+ +

till wiedeck

marie lammers

+

05.07.2007 20:08:57 Uhr


Redaktion.indd 3

05.07.2007 20:09:49 Uhr


CAFFÉLATTECAPPUCIN OCARAMELMACCHIAT VOLLKOMMEN OCAFFÉMOCHAWHITE CHOCOLATEMOCHACA »FRAPPUCCINO-ADDICTED« FFÉAMERICANOCOFFE EOFTHEWEEKFRENCH PRESSESPRESSOESP RESSOMACCIATOESP RESSOCONPANNAICE DCAFFÉLATTEICEDCA RAMELMACCIATOICED CAFÉMOCHAICEDWHIT ECHOCOLATEMOCHAIC EDCAFFÉAMERICANO TAZOICEDCHAITEALAT TECARAMELFRAPPUCI NOBLENDEDCOFFEEM OCHAFRAPPUCINOBLE NDEDCOFFEEENGLISH BREAKFASTCALMRE FRESHCITRONTDARJE ELINGZENEARLGREYT AZOCHAICAFFÉLATTEC APPUCINOCARAMELM ACCHIATOCAFFÉMOCH ACHOCOLATEMOCHA Das amerikanische Konzept von Starbucks lockt immer mehr junge Kunden hinein in die Coffee-Shops und weg von traditionellen Familien-Cafés. Hinter den offensichtlichen Unterschieden der Cafékonzepte steht eine ganze Philosophie. Wie der Kaffee die Welt erklären kann, weiß Julia Troesser

»Das ist die absolute Krönung nach einer Tour durch die Stadt. Ab und zu muss man sich das einfach gönnen.« Lara stochert mit einem Strohhalm in dem fast leeren Plastikbecher herum, der zuvor ihren Vanille-Frappuccino enthalten hatte. Sie verbringt den Nachmittag mit einer Freundin im Münsteraner Starbucks. Doch Münster ist hier weit weg. Der Coffee-Shop könnte genau so gut in New York, Paris oder London stehen, denn die Charakteristika von Starbucks sind weltweit gleich: dunkle Sessel, große Tassen und Berge von Milchschaum. »Es schmeckt gut hier und die Sofas sind superbequem. Die Atmosphäre ist irgendwie besonders«, fasst die 16-Jährige ihre Liebe zu Starbucks zusammen. Genau diese Atmosphäre ist es, die so viele Kunden in die Shops der amerikanischen Coffee-Kette zieht, die seit 2002 auch in Deutschland Erfolge feiert. Starbucks ist die »In-Adresse« der jungen Generation, zahlreiche andere Cafés sind mittlerweile nachgezogen und arbeiten nach dem gleichen Konzept. »Ich mag es, dass man zwischen so vielen Geschmacksrichtungen wählen kann, die Auswahl ist einfach riesig«, fügt Freundin Clara hinzu, die trotz »toller Riesenauswahl« nur einen Caffé Latte getrunken hat. Obwohl ihre Tassen längst leer sind, herrscht bei den Mädchen keine Aufbruchstimmung. Die Schülerinnen wollen noch länger vom StarbucksKlima zehren – auch ohne einen Kaffee in der Hand. Was die Schülerinnen an Starbucks so beeindruckt, ruft bei dem Österreichischen

Layout_Kaffeekultur.indd 14

Kaffee-Experten Leopold Edelbauer nur Unverständnis hervor. »Wenn ich Kaffee-Geschmack will, dann geh ich ins Café und wenn ich Vanille-Geschmack will, dann geh ich gefälligst in die Eisdiele«, lautet sein Kommentar zum Konzept der Coffee-Shops. Der 80-jährige Professor für Ernährungswissenschaft lehrt an der Universität Wien und für die neuen Trend-Cafés mit Selbstbedienung, Brownies und Sirup im Kaffee habe er kein Verständnis: »In einem guten Café sollte es ehrliche Ware geben und keinen Kaffee, der mit abartigen Geschmacksstoffen vermischt ist.« »Ehrliche Ware« nach Professor Edelbauers Geschmack gibt es im traditionellen Café Kleimann am Münsteraner Prinzipalmarkt, nur ein paar Straßen von Starbucks entfernt. Und doch liegen Welten zwischen dem amerikanischen Coffee-Shop und der familiengeführten Konditorei. Die Auswahl fällt hier zwischen Kaffee in der Tasse oder im Kännchen. Es ist schwer zu sagen, ob es an der überschaubaren Kaffee-Karte oder vielleicht an dem handgeschriebenen Schild »Im Café keine Handybenutzung« liegt, das an der Glastür des Cafés hängt. Gäste jüngerer Generationen verirren sich jedenfalls nur selten in die Räumlichkeiten des Traditionsbetriebes, die Kunden sind vorwiegend in Professor Edelbauers Alter. Doch nicht nur der Jahrgang ist es, der die Gäste mit dem Ernährungswissenschaftler verbindet. Genau wie er wollen sie einen guten Kaffee trinken. Und zwar einen, der nicht mit Geschmacksstoffen oder einer extra Portion Espresso gemischt ist, sondern einen klassischen schwarzen Kaffee, vielleicht mit Milch oder Zucker verfeinert. Den soll eine freundliche Bedienung bringen, die sich um die Gäste kümmert, sich mit ihnen unterhält und auch noch ein Stück Kuchen anbietet. Da ist sich die ganze Generation einig. Die Kellnerin im Café Kleimann trägt ein schwarzes Kleid mit weißem Schürzchen. CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.14+ +

06.07.2007 0:50:22 Uhr


Gerade überzeugt sie einen Gast davon, doch noch das »hausgebackene Kekschen« zu essen, das er auf der gold umrandeten Untertasse liegen gelassen hat. Ein »wirklich angenehmes Erlebnis« verspricht die – erstaunlicherweise vorhandene – Homepage des Cafés von einem Besuch. Die Konditorei soll »anders in einer immer schneller werdenden Gesellschaft« sein. Anders als Starbucks ist sie, daran besteht kein Zweifel. In dem Coffee-Shop geht alles schnell und genau das ist einer der Gründe, für die Starbucks von vielen Gästen geliebt wird. Einer von ihnen ist die 27-jährige Cordula. »Selbstbedienung ist so praktisch«, erzählt sie. »Wir sind sofort dran, bezahlen direkt und können gehen, wann immer wir möchten.« Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bietet Starbucks also und genau das ist es, was die junge Generation möchte. Sie will nicht bedient werden und von Kellnern und Rechnungen abhängig sein, sondern selbst entscheiden, was wann passiert. Obwohl Cordula diesem Konzept entsprechend die Möglichkeit dazu hat, will sie den Starbucks-Shop noch lange nicht verlassen. Sie nippt noch an ihrem »Chai Tea«, der nach einer Mischung aus Zimt und Pfeffer schmeckt. Warum ausgerechnet Starbucks? »Die Sessel sind sooo bequem«, lautet die spontane Antwort. »Und den Tee hab ich bislang in keinem anderen Laden gefunden. Bequeme Sessel und gute Atmosphäre. Braucht es wirklich nicht mehr, um eine erfolgreiche – und mittlerweile oft kopierte – Cafékette mit mehr als 12.000 Filialen weltweit zu betreiben? Starbucks selbst sieht das natürlich anders. »Den weltbesten Kaffee« verspricht die Firmenphilosophie. Außerdem ein »reichhaltiges Angebot an exzellenten Spezialitätenkaffees und Kaffeespezialitäten«. Reichhaltig ist das Angebot ohne Zweifel. Es umfasst vermeintliche Kaffee- und Espressoklassiker wie Caffé Latte, Caramel Macchiato oder White Caffé Moccha, der aus flüssiger weißer Schokolade, Espresso und Sahne besteht. Außerdem gibt es eisgekühlte Frappuccino-Getränke auf Kaffee-, Tee- oder Sahnebasis und eine breite Palette an Tees, die Namen wie Calm, Refresh oder Zen tragen. Doch ob der Kaffee wirklich weltklasse und exzellent ist, das können die meisten Kunden wohl kaum beurteilen. Star-

bucks schwört auf seine gerösteten Bohnen, aber Professor Edelbauer ist skeptisch: »Die heutigen Konsumenten sind einfach nicht genügend informiert. Wer kennt denn heutzutage schon einen richtig guten Kaffee?« Fest steht: Starbucks versteckt die Herkunft seines Kaffees nicht. Gratis-Prospekte informieren über die drei Hauptanbauregionen Lateinamerika, Afrika und Asien. Wer möchte, der kann sich also schlau machen, wo der StarbucksKaffee her kommt und ob er wirklich so gut ist, wie Handzettel, Plakate und Homepage verkünden. Doch kaum ein Gast schenkt diesen Informationen Aufmerksamkeit. Auch Jura-Studentin Vivien ist die Herkunft der Bohnen unwichtig, solange der Geschmack stimmt. »Der Kaffee hier ist einfach total lecker«, findet sie. »Wir gönnen uns den aber auch nur selten. Sonst muss immer der Ein-Euro-Kaffee aus dem Mensa-Automaten reichen.« Caramal Macchiato und Frappuccinos hat die Mensa jedoch nicht zu bieten, deshalb hat sich die 21-Jährige heute mit ihrer Kommilitonin im Coffee-Shop getroffen. »Wir sind einfach gerne hier. Außerdem bin ich vollkommen Frappuccino-addicted. Ich liebe das Zeug.« 4,40 Euro musste die Studentin in ihr Lieblingsgetränk investieren, nach dem sie nach eigener Aussage süchtig ist. In der Mensa hätte sie dafür noch ein ganzes Essen zum Kaffee bekommen. Trotz der von vielen Kunden kritisierten Preise stehen die Espressomaschinen hinter der Theke nie still. Das unaufhörliche Zischen und Dampfen gehört zur Starbucks-Welt dazu, genau wie das Klappern von Löffeln, die typische Chillout-Musik und das Gelächter der Kunden. Zwischendurch Rufe wie »Ein White Caffé Moccha tall to go für Karin«, wenn die Bestellungen der Kunden weitergegeben werden. Szenenwechsel zum nahegelegenen Café Kleimann: hier läuft keine Musik, es ist ruhig. Die meisten Gäste genießen zum Kaffee ein Stück der hausgemachten »Torten mit gutem Geschmack, der heutzutage im Einheitsbrei der durchdesignten Konsumprodukte sehr selten geworden ist«. Dieses Zitat der Firmenphilosophie verspricht nicht zu viel. Als »köstlich« beschreiben viele Gäste das Gebäck. Der Kuchen ist hausgemacht, die Obstschnitte frisch gebacken und alles sieht wirklich sehr gut aus. Doch auch der leckere Kuchen lockt

keine junge Kundschaft an. Die genießt lieber die Cookies und Brownies von der StarbucksTheke, die modern und amerikanisch sind. Guter Kuchen hat an Relevanz verloren. Was heute für junge Kunden zählt, sind schönes Ambiente, Modernität und ein internationales Lebensgefühl. »Wenn ich nicht zu Starbucks gehe? Dann immer ins Floyd«, lautet Cordulas Kommentar. »Manchmal noch ins Extrablatt«. Sie nennt Filialen größerer Café- und Bistroketten, ins traditionelle Familiencafé mit Kuchenauswahl und Bedienung im schwarz-weißen Dress geht sie nicht. Ein altmodisches Image schreckt ab. Starbucks hingegen ist in, hip und bei der jungen Generation angesagt. Hier trifft sie sich eben nicht auf einen Kaffee, sondern auf einen Chai Tea oder Frappucchino und zahlt für diesen mehr als für ein ganzes Kännchen Kaffee im traditionellen Café. Das kostet nur vier Euro und reicht für mindestens zwei Tassen. Auch wenn Professor Edelbauer weiterhin den Kopf über die modernen Konzepte schüttelt, steht eines für ihn fest: »Wir alle sollten viel guten Kaffee trinken, weil er sehr gesund sein kann. Es wurde sogar herausgefunden, dass Kaffeetrinker seltener an Alzheimer oder Krebs erkranken.« Welche Stoffe dafür verantwortlich sind, sei jedoch nicht erforscht. Dafür enthalte das Getränk einfach zu viele Aromastoffe, so der 80-jährige Wissenschaftler. Er selbst ist jedenfalls das beste Beispiel dafür, dass das koffeinhaltige Getränk zumindest innerlich jung halten kann: »Für mich ist guter Kaffee das reinste Doping. Ich trinke immer zwei Tassen vor meinen Tennisspielen und bin dann topfit.« julia troesser+

CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.15+

+

Layout_Kaffeekultur.indd 15

06.07.2007 0:50:45 Uhr


POR Wer sich zu viele Pornos anschaut,

der stumpft irgend-

wann ab. Die Dosis muss erhöht werden, die Filme werden härter. Die eigenen sexuellen Praktiken werden

mit denen der Pornos verglichen. Pornografie wird zum Leitfaden für gelebte Sexualität. Der Konsument langweilt sich beim Anblick eines »normalen« Pornofilms. Ähnliche Langeweile befällt auch denjenigen, der sich mit dem derzeitigen Pornografie-Diskurs der Medien befasst. Beinahe wöchentlich erscheinen Beiträ-

ge, die sich thematisch mit der sexuellen Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Der mediale Diskurs über Porno scheint up to date zu sein. Wobei viele Beiträge, abgesehen von ihrem unterhaltenden Aspekt, den man in den meisten Fällen nicht absprechen kann, inhaltlich wenig aufschlussreich sind. So zum Beispiel im April 2007. Alice Schwarzer vertrat Sandra Maischberger, in ihrer gleichnamigen Talkshow und versammelte eine außergewöhnliche Runde zum Thema Pornografie. Schwarzwald-KlinikSchwester Christa, Gaby Dohm, erwartet man nicht gerade, wenn das Thema »Früher, härter, unromancyan.0 magenta.0 yellow.0

key.18 +

ausgeschrieben.indd 2

07/05/2007 1:28:54 PM


ORN tischer – Sex ohne Liebe?« lautet. Schon eher ins Bild passt da ein Pornoproduzent und Rapper. Manuell

Romeike, aka King Orgasmus One, dem jungen, etwas dümmlich wirkender Berliner, fiel die unglückliche Rolle des Prügelknaben zu. Obwohl es ihm nicht gelang, die provokative Attitüde seines Szene-Images zu

repräsentieren, bekam er doch eine Menge Aufmerksamkeit seitens der Moderatorin, die einst den Satz

prägte, Pornografie sei Anleitung zur Vergewaltigung. Diesem Credo über Jahrzehnte treu geblieben, ließ Frau Schwarzer beherzt ihrem Hass freien Lauf, und feuerte aus vollen Rohren auf Romeike, indem sie eine (sehr lange) Textpassage aus seinem Rap „Du nichts – ich Mann“ verlas, um sich im Anschluss mit der äu-

ßerst geistreichen Frage »Ist ihnen so was eigentlich nicht peinlich?« an Romeike zu wenden; worauf sie ein promptes, ebenso geistreiches »ähh …,nö« erhielt. Diejenigen, die fachkundliche Auskunft hätten geben können, wie die Ärztin Dr. Esther Schoonbrood, die Aufklärungsunterricht an Schulen gibt, und Sexualforscher Dr. Jakob Pastöter, kamen, wenn überhaupt, nur spärlich zu Wort. Das führte dazu, dass die Lösungscyan.0 magenta.0 yellow.0

key.19 +

ausgeschrieben.indd 3

07/05/2007 1:28:54 PM


NOG again

&

ansätze am Ende der fünfundsiebzigminütigen Schwarzerschen Selbstdarstellung eher mager ausfielen. Wieder christliche Wertevorstellung vermitteln, so die Devise der Ärztin; Eltern sollten ihren Kindern Liebe und ein geborgenes Heim schenken, lautete die des Pornoproduzenten. Man tut sich offensichtlich schwer.

Leicht hingegen scheint die Suche nach den Ursachen. Die Brutaloteufelsvergewaltigungsmusik des jungen Rappers, und die frei zugängliche Pornografie im Internet waren schnell als Triebfedern gefunden. Damit

scheint die Fehleranalyse schon abgeschlossen. Lässt sich die Schuld dafür, dass Pornografie zu einem Massenphänomen und -problem avanciert ist, allein auf Web 2.0 oder auf ein paar Berliner Jungs schieben, die ihren amerikanischen Vorbildern nacheifern und eine etwas eigene Art von Humor entwickelt haben? Und was den Umgang mit Pornografie betrifft, so werden wohl weder christliche Werte, noch elterliche Liebe deren Ausbreitung aufhalten. Vielmehr sollte es über eine offene Medienerziehung möglich sein, Kindern und Jugendlichen fern von Prüderie verständlich zu machen, dass Porno nicht gleich Sex ist. Wie dem auch cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.20 +

ausgeschrieben.indd 4

07/05/2007 1:28:54 PM


GRA sei, eins ist jedenfalls sicher: Porno ist schick und verkauft sich gut. Teenypopidole wie Britney Spears und

Christina Aguilera haben schon in der Vergangenheit gezeigt, dass eine Karriere durch eine ordentliche Por-

tion Pornoästhetik wieder in Gang gebracht werden kann. Wenn Frau Spears in »I´m a slave 4 U« der Kamera ihre neuen, verschwitzten Brüste im tief ausgeschnittenen Fetzen lasziv präsentiert und sich von ihren Vide-

okomparsen eindringlichst beschnuppern lässt, dann sollte bedacht werden, dass auch dies zum Nacheifern anregt, besonders die Mädchen, die Britney auch schon als »not yet a woman« angehimmelt haben. Abgese-

hen von der Visualisierung, transportieren die Texte englischsprachiger Chartbreaker ebenso pornografische Inhalte, wie die von Sido oder Bushido. Dass 50 Cent mit »Lollypop« keinen Dauerlutscher meint, versteht auch eine Vierzehnjährige. Es wird zwar nicht auf Deutsch getextet, doch so dumm ist die Jugend hierzulande nun auch wieder nicht. Aber schließlich bestimmt ja die Nachfrage das Angebot, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass MTV – einst renommierter Musiksender, heute vielmehr Klingeltonvertreiber – beinahe das cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.21 +

ausgeschrieben.indd 5

07/05/2007 1:28:54 PM


APH again

&

gesamte Musikprogramm zugunsten von Flirt- und Rummachshows à la »Dismissed«, »Next« und »Parental

Control« einstellte. Auch hier werden problematische Identifikationsangebote gestellt, die bereitwillig rezipiert werden. Die Krönung des Stumpfsinns aber ist ein Format namens »Are U Hot?« auf dem B-Musiksender VIVA. Die Kandidaten werden von einer dreiköpfigen Jury (der Scooters Feingeist H.P. Baxxter vorsitzt, die anderen sind gänzlich unbekannt), nach den Kriterien »Face«, »Body« und »Sex-Appeal« bewertet, und per

Buzzer, als »hot« oder »not« abgeurteilt. Wer hot ist, kommt weiter, wer nicht, der nicht. Das »Gewinnerpärchen« darf dann ein paar Wochen später ins Fleischbeschau-Finale einziehen, und wieder nichts tun, als gut aussehen. Denn das allein scheint erstrebenswert. Dass die Jugend nach einer Dauerbestrahlung durch ein solches Programm, die Wertevorstellung ihrer Elterngeneration nicht teilt, sollte eigentlich nicht verwundern. Es mag als leichter Ausweg erscheinen, eine Sexualisierung der Gesellschaft als neuerlichen Wandel

cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.22 +

ausgeschrieben.indd 6

07/05/2007 1:28:54 PM


PHY again

&

again & again & again

zu interpretieren, und Medienangebote aus dem Extrembereich an den Pranger zu stellen. Doch würde ein

Pornoverbot das Problem aus der Welt schaffen? Die Verwobenheit von Sex und Gesellschaft, Angebot und Nachfrage lässt sich nicht unlängst in Pornografie, Teenyfernsehen aber auch Werbungen für Schokolade

feststellen. Ebenso zeigt auch die Prägung des medialen Diskurses über das Thema Kontinuitäten. Moral Panic schaffen, polarisieren und Schuldige benennen. Der Leser oder Zuschauer kann sich guten Gewissens

an den »Tätern und Opfern« ergötzen, solange die gezeigten Probleme Extrempole sind, die nichts mit dem eigenen Alltag zu tun haben. Deshalb verwundert auch das öffentliche Interesse an der Pornodebatte wenig. Pornosucht, Pornografisierung und Sexualisierung sind Schlagwörter, die Publikum ziehen. Auch das dürfte ein Grund dafür sein, dass soviel in den Medien über ein Thema berichtet wird, welches es schon immer gab, und das hin und wieder hervorgeholt wird, um ausgeschlachtet zu werden. Wieder und wieder und wieder. martin kaumanns+ cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.23 +

ausgeschrieben.indd 7

07/05/2007 1:28:54 PM


EINE FRAGE DER NOTWENDIGKEIT

Eigentlich so llte in der heu tigen moder Ein Artikel ü nen Gesellsch ber das was aft eine ges zu einer Notw chlechtliche endigkeit wer Gleichstellun den sollte. g berei

ts erreicht se

Als ich mit der Recherche für diesen Artikel angefangen habe, stellten sich mir immer wieder dieselben Fragen. Ist es in der heutigen Gesellschaft der Kanzlerin Merkel überhaupt noch notwendig über Feminismus nachzudenken? Haben Frauen heutzutage nicht schon alles erreicht? Gibt es überhaupt schon eine absolute Gleichstellung der Geschlechter? Leider habe ich mit Bedauern feststellen müssen, dass in diesem Bereich noch lange nicht alles getan ist, was getan werden müsste. Warum werden also die letzten Spuren der Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen Frauen gegenüber nicht einfach ausgemerzt? Schließlich leben wir in einer toleranten und modernen Gesellschaft … sollte man meinen. Gleichberechtigung ist zwar im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 3 Absatz 2 festgeschrieben, aber das bedeutet noch lange nicht, dass Gleichberechtigung in der Realität auch umgesetzt wird. Nach dieser traurigen Erkenntnis drängte sich mir eine weitere Frage auf: Ist Feminismus out? Ganz und gar nicht, er ist nur in Vergessenheit geraten, leider. Denn ob jemand von seiner Umgebung

in ... oder?

als Frau oder als Mann wahrgenommen wird, beeinflusst immer noch in vielen Situationen, wie sie oder er beurteilt wird. Und auch, wie Frauen oder Männer leben und handeln, wofür und wogegen sie sich entscheiden. Dabei spielen Vorurteile eine große Rolle, und die betreffen Frauen und Männer gleichermaßen. Vorurteile sind Stereotype, die gesellschaftliche Normen ausdrücken. Frauen und Männer prägen durch ihr Verhalten Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Doch jeder Mensch ist anders, dementsprechend gibt es so viele »Weiblichkeiten« und »Männlichkeiten« wie Menschen. Es gibt keine scharf zu ziehende Grenze dazwischen, sondern ein breites Spektrum, das sich nur durch Zuschreibungen verfestigt. So sind Männer nicht immer in Frösche verzauberte Prinzen und Frauen nicht immer die schutzsuchenden Prinzessinnen.

cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.24+

Layout_Rhizom_Feminismus.indd 24

05.07.2007 17:08:01 Uhr


Simone de Beauvoir schrieb 1949 einmal »Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht!« . Sie meinte damit, dass Frauen nicht von Natur aus jene Eigenschaften besitzen, die traditionell als weiblich galten: Passivität, Bescheidenheit, Sanftmut, Anpassung, Friedfertigkeit und Häuslichkeit ­– Zuschreibungen, die Frauen verinnerlichten und zum Teil auch heute noch lernen. Zwar sind die Verhältnisse inzwisch­n in vielen Gesellschaftsbereichen differenzierter geworden – das Spektrum der Klischees mit denen Frauen heute zu kämpfen haben reicht immerhin von den Karriere-, Quoten- und Powerfrauen über die Mutter- und Hausfrauenrollen bis hin zu den mit Barbie spielenden Mädchen – doch haben Frauen nach wie vor mit Abwertungen zu rechnen, sobald sie aus bestimmten Klischees ausbrechen.

»Eigentlich werden wir als Menschen geboren – und erst die geschlechtsspezifischen Prägungen und Rollenzuweisungen machen uns zu Frauen beziehungsweise Männern.« Alice Schwarzer (2006, in einem Interview mit der Zeit)

cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.25+

Layout_Rhizom_Feminismus.indd 25

05.07.2007 17:08:02 Uhr


Was ist »Femin

ismus« eigentl

ich?

Der Begriff »Feminismus« tauchte erstmals um 1880 als »féminisme« in Frankreich auf. Um 1890 hatte sich das Wort in Europa verbreitet, zwanzig Jahre später dann auch in Nord- und Südamerika. In »Feminismus« steckt das französische Wort für Frau, »femme«. Der Anhang »-ismus« bezeichnet Theorien, politische Ideologien und soziale Bewegungen. Die Bedeutung des Begriffs und seine Bewertung haben sich weltweit in der Geschichte sowie innerhalb verschiedener Kulturen und gesellschaftlicher Gruppen immer wieder gewandelt. Der Duden von 2007 liefert folgende sachliche Definition von Feminismus: »Richtung der Frauenbewegung, die, von den Bedürfnissen der Frau ausgehend, eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Normen (z. B. der traditionellen Rollenverteilung) und der patriarchalischen Kultur anstrebt.« Vielleicht ist dies tatsächlich die kleinstmöglichste Grundlage für einen gemeinsamen Lösungsansatz, doch den meisten Frauen dürfte das eindeutig zu wenig sein. Die nachgewiesene offene und verdeckte Diskriminierung von Frauen hat Männern und Frauen die Augen dafür geöffnet, dass das Geschlecht von Menschen für ihr gesellschaftliches Leben eine ebenso wichtige Rolle spielt

cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.26+

Layout_Rhizom_Feminismus.indd 26

05.07.2007 17:08:02 Uhr


Von dem Mädch

en auf Seite Ein

wie ihr Alter, ihre Hautfarbe, ihre Sexualität oder ihre Ausbildung. Und das auch in Fällen, in denen es eher von untergeordneter Bedeutung sein sollte. So erhalten Frauen durchschnittlich 12% weniger Rente als Männer, mit dem Argument, dass sie durchschnittlich länger leben. Doch hat es keinesfalls nur die Geschlechterzugehörigkeit Einfluss auf die Lebenserwartung, sondern beispielsweise auch die berufliche Tätigkeit – ein Maurer oder Zimmermann wird im Durchschnitt nicht so alt wie ein Richter oder ein Universitätsprofessor. In allen Bereichen des menschlichen Lebens kommt der Geschlechtszugehörigkeit Bedeutung zu. Das bringt auch für Männer nicht nur Vorteile. Beispielsweise erhalten in einigen Ländern der Europäischen Union alleinerziehende Väter weniger Sozialleistungen als alleinerziehende Mütter. Geschlechterstereotype sind allgegenwärtig und schränken die persönliche Freiheit von Frauen und Männern ein. Das Ziel einer feministischen Theorie und Praxis ist immer noch ein Zuwachs an sozialer Gerechtigkeit. Das schließt die freie Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbestimmung von Frauen ein bzw. setzt die voraus – schließlich ist über die Hälfte der Menschheit weiblich.

Layout_Rhizom_Feminismus.indd 27

s

»Wanda sitzt im Windkanal – Nicht alles immer so wörtlich nehmen, liebe Wanda! Nur weil ihr Nachbar von ihrem ›schnittigen Fahrwerk‹ schwärmte, hätte die Gute nicht extra den Beweis antreten müssen. Aber so ein bisschen frischer Wind ums kecke Näschen und eine Brise in den Haaren tut jedem gut. Auch wenn er nicht ganz so windschnittig ist wie die gute Wanda!« Dieser kleine humoristische Beitrag ist in der Ausgabe Nr. 128 der Kölner Tageszeitung Express zu finden. Gezeigt wird eine junge Frau die mit nichts weiter bekleidet ist als mit schwarzen Riemchensandalen, in einem Büro hockt und sich mit den Fingern durch die blonden Haare fährt. Da frage ich mich wer ist Wanda und was hat sie bitte auf dem Titelblatt meiner Tageszeitung verloren? Zugegeben, der Kölner Express hat nicht gerade den Anspruch zu den seriöseren Zeitungen zu gehören, er befindet sich eher auf dem Niveau der beliebtesten Tageszeitung Deutschlands – der Bild. Und genau da finden wir sie wieder, das Mädchen auf Seite Eins. Diesmal heißt sie nicht Wanda sondern Chantalle, die sich barbusig auf einem Billardtisch räkelt und sich lächelnd Millionen von Deutschen auf dem Frühstückstisch präsentiert. Was diese Mädchen auf der ersten Seite

bewirken sollen ist klar, sie sollen die Auflage steigern und besonders die männlichen Leser dazu animieren gerade diese Tageszeitung zu kaufen. Liebe Männer, ist es denn wirklich so wichtig, dass auf dem Titelblatt euch eine Frau ihren Busen entgegenstreckt? Ist eine Tageszeitung, wenn auch hauptsächlich Boulevard und Sport, nicht zur reinen Information und Unterhaltung da? Es gibt doch genügend andere Magazine und Zeitschriften die sich dem pornografischen bzw. erotischen Journalismus widmen. Ist es also notwendig Frauen auf diese Weise auch noch in Tageszeitungen darzustellen? Nicht unbedingt! Frauen werden dadurch auf Sexobjekte herabgesetzt und Männer als »notgeil« abgestempelt. Sicher, diese Frauen senden freiwillige ihre billig geschossenen Fotos an die Verlage, in der Hoffnung irgendwann mal ein Quäntchen Ruhm abzubekommen. Liebe Chantalle, liebe Wanda, dieses wird nie geschehen. Die Bild ist nicht ohne Grund die meistgelesene Zeitung Deutschlands, aber das allein macht sicherlich nicht das Mädchen auf Seite Eins. Dies ist nur ein Beispiel für die Herabsetzung der Frau in den heutigen Medien. Gerade in der Werbung wird man täglich mit Vorurteilen, Klischees und stereotypischen Rollen-

05.07.2007 17:08:04 Uhr


Eine unglaubliche Feststellung oder die alte Frag e Kind oder Karriere?

verteilungen konfrontiert und somit automatisch beeinflusst – ob man das nun will oder nicht. Dabei geht es nicht einmal nur um das offensichtliche Produkt, vielmehr werden durch dieses Produkt Werte, aber auch Einstellungen und Rollenbilder vermittelt. Wer kennt nicht das glückliche Bild der Familie, wo die Hausfrau und Mutter gerade einen neuen Putzwedel entdeckt hat, weswegen sie jetzt noch mehr Zeit zum Kaffeetrinken hat? Das alles zieht an uns vorbei oder zumindest nehmen wir es hin, ohne dass wir es wirklich wahrnehmen. Sollte man da aufschreien? Wo ist die Grenze? Wie weit sind wir mit der so genannten »Gleichberechtigung« , wenn das ständig vermittelte »klassische« Rollenbild nirgendwo für Erregung sorgt, sondern vielmehr stillschweigend hingenommen wird.Frauen tappen regelrecht in die »Faltenfalle«. Frauen sollen jung sein und spielen häufig besorgte Ehefrauen, heimliche Geliebte, überforderte Mütter oder andere Menschen in komplizierten Gefühlslagen. Ihre Welt ist das Privatleben. Und wenn man sich dann das komplette Fernsehprogramm weiter anschaut, sieht das auch auf den zweiten Blick nicht viel anders aus: Zuerst erblickt man zwar höchst erfolgreiche Kommissarinnen und sonstige Karrierefrauen in leitenden Positionen. Zugleich erscheint das einem aber fast zwanghaft vermittelt, die absolute Gleichberechtigung per Knopfdruck, erzwungen. In der Wirklichkeit sieht es leider noch ganz anders aus.

Ob ihr es glaubt oder nicht, Frauen arbeiten und studieren. Es gibt Politikerinnen und Tischlerinnen, Managerinnen und Elektrotechnikerinnen, Lokführerinnen und Ärztinnen. Und sogar Soldatinnen, genau genommen seit 2001, denn seit dem Zeitpunkt dürfen sie bei der Bundeswehr nicht mehr nur in Musikcorps oder als Sanitäterinnen arbeiten. Und auch Regelungen wie das Arbeitsverbot für Frauen auf Baustellen sind nun abgeschafft worden: Begründet wurde das Verbot mit einem besonderen Arbeitsschutz für Frauen, denn Heben und Tragen beinhalte das Risiko von Schädigungen der Gebärmutter. Die gleichen Tätigkeiten wurden aber in Bereich der Kranken und Altenpflege nie in Frage gestellt. Betrachtet man aber die Zahlen gemeinsam mit der Gehaltsstufe, so stellt sich heraus, dass Frauen selten in den Chefetagen zu finden sind. 1971 betrug der Frauenanteil in der Führung der Wirtschaft 0,003%, von 3000 Stellen im Top-Management war nur eine mit einer Frau besetzt. Dreißig Jahre später liegt der Frauenanteil im oberen Management großer Unternehmen in Deutschland bei sechs Prozent. Damit besetzt Deutschland mit Italien und Spanien Europas hinterste Plätze. Wollen Frauen nicht in die Führungsetagen? Ziehen sie von sich aus die Familie vor? Sind vielleicht einfach die Männer schuld, die das Eintreten von Frauen in Managerpositionen verhindern? Jedenfalls lässt sich die Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr, wie noch zu Zeiten der ersten Frauenbewegung, auf einen Bildungsrückstand zurückführen. Im Gegenteil: Im Wintersemester 2002/03 haben in Deutschland zum ersten Mal mehr Frauen als Männer ein Studium begonnen. Insgesamt absolvieren auch mehr Frauen als Männer einen Schul- und Universitätsabschluss und schneiden zudem auch besser ab. Auch die Familienorientierung der Frauen hat nachgelassen, nur einige sind noch bereit oder können es sich leisten, wegen der Kinder auf Berufstätigkeit zu verzichten. Wie kommt es also, dass Frauen immer noch weniger cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.28+

Layout_Rhizom_Feminismus.indd 28

05.07.2007 17:08:04 Uhr


verdienen als ihre männlichen Kollegen? Zumindest in Deutschland haben Frauen im Durchschnitt am Ende des Monats weniger Geld auf ihrem Gehaltskonto: Ihr Einkommen liegt bei 77% des männlichen Bruttoverdienstes, hat die Bundesregierung ermittelt. Verglichen werden die Gehälter bei angenommener gleicher Arbeitszeit. Es gibt ihn also, den kleinen Unterschied, … leider. Laut einem Bericht aus der FAZ im Jahre 2006 gibt es dafür 5 naheliegende Gründe: Erstens: Die Männer sind die Schuldtragenden, da sie mehrheitlich über Frauenkarrieren entscheiden. Frauen werden direkt diskriminiert, was sich am besten an den Gehaltsunterschieden zu ihren männlichen Konkurrenten in Führungspositionen zeigt. Bis zu einem Drittel beträgt dort die Gehaltsdifferenz zu Lasten des weiblichen Geschlechts, die sich nicht mehr durch Unterschiede in Alter, Bildung und Dauer der Unternehmenszugehörigkeit erklären lässt. Hinzu kommt, dass Frauen viel seltener in Führungspositionen gelangen. Vorurteile und uralte Rollenmuster verstellen den Entscheidern den Blick dafür, was Frauen leisten oder leisten können. Die Diskriminierung beginnt dabei häufig schon zu Beginn des Berufslebens. Bereits bei der Einstellung werden Frauen anders – und oft schlechter – behandelt als Männer, was sich dann durch ihr ganzes Erwerbsleben zieht, von der Bezahlung bis hin zur Beförderung. Zweitens: Ganz so schlecht aber ist das starke Geschlecht nicht – gibt es doch noch ganz andere Gründe als die direkte Diskriminierung da­für, dass Frauen weniger verdienen als

Männer. Frauen nehmen am Erwerbsleben anders teil als ihre männlichen Artgenossen. Denn sie unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit häufig für Jahre – meist für die Familie. Lange Lücken prägen die weiblichen Erwerbsbiographien. Das hinterlässt tiefe Spuren auf den Gehaltsabrechnungen des schwachen Geschlechts. Unterbricht eine Frau ihren Beruf für längere Zeit, wird automatisch vermutet, dass sie aufgrund fehlender Erfahrung weniger leistet. Sie gilt als weniger produktiv. Und das drückt auf ihr Gehalt. Es ist, wie es ist am deutschen Arbeitsmarkt: Berufserfahrung in Form einer kontinuierlichen Vollzeiterwerbstätigkeit wird belohnt. Bezahlt wird nach Seniorität – unabhängig von Leistung und Leistungsfähigkeit. Für Frauen ist das ein Nachteil. Drittens: Frauen waren lange Zeit schlechter ausgebildet als Männer und damit tatsächlich weniger produktiv. Noch in den siebziger Jahren verfügten Mädchen über eine schlechtere Schulbildung als Jungen. Mit schlechterer Schulbildung waren andere Ausbildungswege vorgezeichnet, an deren Ende sich Frauen auf weniger qualifizierten und damit schlechter bezahlten Stellen wiederfanden. Sie sind am Arbeitsmarkt weniger wert. Das schlägt bis heute auf die Erwerbsstatistiken durch. In Beschäftigungsgruppen mit niedrigen Gehältern sind Frauen überrepräsentiert. Viertens: Der deutsche Arbeitsmarkt ist segmentiert, er zerfällt in Männerund Frauenberufe, deren Grenzen noch längst nicht verschwunden sind. Die typischen Frauenberufe (etwa in der Kranken- und Altenpflege) sind der Gesellschaft weniger wert; sie

werden im Durchschnitt schlechter bezahlt als typische Männerberufe. Mehr noch: Diese Berufe, für die sich Frauen entscheiden, führen häufig in die Sackgasse. Frauen können sich nicht weiterqualifizieren, weil das nicht vorgesehen ist, und sie können vor allem eines hier nur begrenzt: beruflich aufsteigen und mehr Geld verdienen. Und Fünftens: Das »Risiko« dass Frauen schwanger werden könnten und ausfallen. Deswegen stellt der Arbeitsgeber sie oft lieber gar nicht erst ein. Verheiratete Frauen werden als Doppelverdienerinnen steuerlich diskriminiert. Zudem haben Frauen nach der Schwangerschaft oft einen Wissensrückstand, den sie erst aufholen müssen, was den Wiedereinstieg erschwert. Also liebe Frauen, wenn ihr richtig Karriere machen wollt, dann verzichtet am besten ganz auf Familie. Denn laut einer Umfrage im Jahre 2004 des Statistischen Bundesamts, haben kinderlose Frauen im Alter von 30 und 45 Jahren insgesamt bessere Jobs als ihre gleichaltrigen Männer. Der Präsident des Wiesbadener Amtes nannte es »durchaus bemerkenswert, dass Männer ohne Kinder bei gleicher Ausbildung weniger erfolgreich sind als Frauen ohne Kinder« . Die Betonung liegt dabei allerdings auf die Kinderlosigkeit. Doch positiv bleibt: Zumindest kinderlose Frauen haben inzwischen gute Chancen. Und zum Schluss noch eine gute Nachricht: Es tut sich was in Deutschland. Und das hängt mit der Verbesserung des Humankapitals der Frauen zusammen. Sie werden produktiver, sind im Durchschnitt besser ausgebildet als ihre männlichen Mitspieler. Die Wirkung dessen kommt allerdings erst noch. Denn wir sind ja noch nicht aus unserem Studium bzw. Ausbildung raus und haben uns noch gar nicht auf den Arbeitsmarkt begeben. Und wenn das in den nächsten Jahren geschieht, dürfte sich die Gehaltslücke irgendwann schließen. julia hückel+ cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.29+

Layout_Rhizom_Feminismus.indd 29

05.07.2007 17:08:05 Uhr


Living On The

EDGE .de

elt guine w r Tie erpin r e d n d reise i d il ie orb ww.d V :w Ein n - tseite i u g pin terne r e s Kei der In aus

CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.30


E

Die Antarktis Wenn es Winter wird in der gnadenlosen Eiswüste der Antarktis, einer der unwirtlichsten Gegenden des Planeten, nimmt eine bemerkenswerte Reise ihren Lauf - und das seit Urzeiten. Tausende von Keiserpinguinen verlassen die tiefblaue Sicherheit der Meere - ihren angestammten Lebensraum , klettern auf das Packeis und machen sich auf den langen Weg in eine Region, die so extrem ist, dass dort zu dieser jahreszeit keine andere Lebensform existieren kann. In einer Reihe schreiten die Pinguine voran, geblendet von Schneestürmen, gebeutelt von hurrikanartigen Winden, aber letztlich unbezwingbar und getrieben von dem überwältigenden Wunsch, sich zu paaren und fortzupflanzen, um das Überleben ihrer Spezies zu sichern. Geleitet von ihrem Instinkt und dem gleißend hellen Licht des „Kreuz des Südens“ wandern sie zu ihrem traditionellen Fortpflanzungsort, wo sie sich nach einer rituellen Balz komplizierter Tänze und vorsichtiger Annäherung, die von einer Kakophonie ekstatischer Gesänge begleitet wird - zu Paaren zusammenfinden, die eine monogame Beziehung führen.

Die Tage werden kürzer, das Wetter rauer. Die Keiserpinguinweibchen verweilen nur so lange, bis sie ein einziges Ei gelegt haben. Danach kehren sie, erschöpft von Wochen ohne Nahrung, zurück über das Packeis in den fischreichen Ozean. Die Rückreise ist gefährlich, räuberische Seeleoparden lauern. Die Keiserpinguinmänchen bleiben an Ort und Stelle, um die kostbaren Eier auszubrüten, die sie auf ihren Füßen balancieren. Dabei sind sie Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt ausgesetzt, trotzen den schrecklichen Unbilden des arktischen Winters und anderen Gefahren.

Nach zwei schier endlosen Monaten, in denen die Männchen keine Nahrung zu sich nehmen, schlüpfen die Küken. In jener unheimlichen weißen neuen Welt, in die sie hineingeboren werden, können die Küken nur begrenzt von den knappen Nahrungsreserven der Väter zehren. Benötigen ihre Mütter zu lange, um mit frischer Nahrung vom Meer zurückzukehren, müssen die Küken sterben. Sind die Familien schließlich wiedervereint, erfolgt ein Rollentausch: die Mütter bleiben bei ihren Jungen, während sich ihre Partner, erschöpft und nahezu verhungert, auf den Weg ans Meer machen, um Fische zu fangen. Unterdessen, im antarktischen Sommer, sind die Küken der allgegenwärtigen Bedrohung durch räuberische Riesensturmvögel ausgesetzt. Während die Temperaturen steigen, das Eis allmählichrissig wird und zu schmelzen beginnt, wiederholen die Erwachsenen die anstrengenden Reisen zwecks Futtersuche unzählige Male; dabei legen sie hunderte von Kilometern zurück, die sie durch eines der heimtückischsten Gebiete der Erde führt.

CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.31


„Wenn du die Natur beherrschen willst, musst du ihr gehorchen.“ Luc Jacquet

Um besser gegen den strengen Winter der Antarktis gewappnet zu sein, haben die Keiserpinguine ein soziales Verhaltensmuster entwickelt, das ihnen hilft, Energie zu sparen. Beis starkem Wind und großer Kälte stehen sie eng aneinander gepresst in einer großen Gruppe. Die Pinguine im äußersten Rand der Gruppe stehen mit ihren Rücken zum Wind. Dabei verändert jeder Pinguin seine Position, so dass auch die am Rand stehenden für eine Weile Schutz vor dem rauen Klima im Inneren der Gruppe finden, von wo aus sie immer weiter rotierend die Pinguine am Rand ablösen.

Ein Vorbild an Ernsthaftigkeit und Ausdauer. Eine der überraschensten Eigenschaften der Keiserpinguine ist ihre Fähigkeit, während der Fastenperiode mit ihren Nahrungsreserven auszuhalten. Während der Fastenperiode, die beim männlichen Tier etwa 115 Tage dauert, kann jeder Vogel bis zu einem Drittel seines Körpergewichts verlieren. Durch die Fastenperiode läuft der gesamte Vorgang von Balz, Vereinigung, Legen des Eis, Brutvorgang, Schlüpfen des einzigen Kükens und seine Aufzucht. Nach der Geburt des Kükens kommt die Mutter, die den Brutvorgang dem Vater alleine überlässt, vollgefressen vom Meer zurück und löst den ab. Ein Aussergewöhlicher Brutvorgang Jedes Pinguinpaar legt nur ein Ei, das es während der kältesten Jahreszeit - dem antarktischen Winter - in eine Hauttasche gehüllt auf den Füßen trägt. Das Ei ist empfindlich und darf keinesfalls mit Eis in Berührung kommen. Es muss bis zum Schlüpfen des Jungen in der Hauttasche bleiben, da es sonst erfrieren, zerbrechen oder von Räubern gefressen werden kann, die ständig auf der Lauer liegen. Im Durchschnitt schlüpfen nur zwei Drittel der Küken. Eine einzigartige Sprache, eine weitere erstaunliche Eigenschaft der Keiserpinguine ist ihre Fähigkeit, sich mit Hilfe der Stimme zu erkennen. Ein Küken kann seine Eltern bereits nach zwei Zehntel - Sekunden einer Melodie erkennen und es kann ein Elter selbst dann identifizieren, wenn sechs andere Eltern um es herum singen und dabei auch noch bis zu sechs Dezibel lauter sind als das eigene Elter. Ein Vorbild an Treue Pinguinpaare bleieben sich während der gesamten Brut - und Aufzuchzeit treu. Allerdings verbringen sie nicht ein ganzes Leben miteinander.

sie die ... , k c rü hrt n zu Erde fü r e t me er Kilo biete d n o ev Ge dert chsten n u h is n sie imtück e g e le er h bei .. . da eines d h durc

CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.32


Km 100 CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.33


e

rst

te ens

und

ck

ro e, t

te düs er

nd ise

e

t gsr igs n d u n i h e, w rde“ Forsc t s lte er E n, r kä ent d ckelto e „D tin cha Kon est S Ern

auch s l a r asse n the W o m ohl i „Living w o s s bens nguin al e L s i e P n ein n eines e t ä e it trem das Leb x E n s it de lich, das m n üsse wunder m e n ver ui Ping es nicht t So is

CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.34


Der Pinguin ist in der Lage, seine Körperwärme selbst zu regulieren. Er ist ein Warmblüter und kann selbst unter extremen Bedingungen eine konstante Körpertemeperatur halten. Dies gelingt ihm mit hilfe des Öls, das er ausscheidet und mit dem er seine Federn einreibt, damit sie wasserundurchlässig werden (während er das Öl mit Hilfe seines Schnabels auf seiene Federn verteilt, schließt er große Mengen Luft, die als Isolation von der Kälte dienen, zwischen dem Öl und seinem Körper ein), mit Hilfe seiens Körperfetts (das verhindert, dass zuviel Körperwärme abfließt), aber auch mit Hilfe des hohen Fettanteils seiner Nahrung. Der Keiserpinguin kann seine Körpertemperatur mit Hilfe von zwei verschidenen Temperaturen in seinem Körper regulieren: Die Temperatur im Inneren des Tiers ist warm, während die Extremitäten beinahe so kalt sind wie die Umgebungstemperatur.

. men m o tk . rech en kann u z Land et werd m e auf d bezeichn “ Edge

„Kilometer um Kilometer kämpfen sie sich durch die fürchterlichsten Stürme, verloren in der Weite der Antarktis, weit weg vom Meer, ihrem eigentlichen Lebensraum. Und dann legen sie ein Ei auf dem unsichersten Gelände überhaupt und verbringen den Rest des Winters mit einem ewigen Hin und Her zwischen ihrer Brutkolonie, wo sie ein Martyrium erleben, und dem Meer, das alles für sie bereithält. Der Keiserpinguin lebt hart an der Grenze zum Tod. Nach ihm kommt nichts mehr. In dieser endlosen Schneewüste ist der Keiserpinguin der lezte Beweis dafür, dass es auf der Erde Leben gibt.“ Luc Jacquet

Das Keiserpinguin-Lexikon Überklasse: Kiefermäuler Reihe: Landwirbeltiere Klasse: Vögel Unterklasse: Neukiefervögel Ordnung: Pinguine Lebensraum: Nur zwei der 17 Pinguinarten auf der Südhalbkugel leben unmittelbar am Südpol: der Keiserpinguin und der Adèlie-Pinguin. Es gibt rund 400.000 Keiserpinguine, verteilt auf 44 vom Menschen katalogisierte Kolonien. Der Keiserpinguin hat eine Lebenserwartung von rund 30 Jahren. andrey duhnev+

CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.35


BEVOR ICH MICH HAENGEN LASSE, GLAUBE ICH AN DEN ENDSIEG! Makaber, bissig und tiefschwarz - der Flüsterwitz im Dritten Reich ist ein Beleg für heimlichen Protest und Widerstand.

Ganz Deutschland ist eine Straßenbahn. Vorne steht der Führer. Hinter ihm steht das Volk. Wer nicht hinter ihm steht, der sitzt. Alle paar Minuten wird kassiert. Das Abspringen während der Fahrt ist verboten. Schwarzer Humor im braunen Reich? Wer im Nationalsozialismus nach Humor sucht, wird kaum fündig werden. In der Weimarer Republik scherzte die NSDAP noch über die Sozialdemokraten, und auf Reichsparteitagen wurde angeblich schon mal ein kleiner interner Witz gerissen. Mit der Machtergreifung 1933 erstickte die verbissene Ernsthaftigkeit auch die parteiinternen Späße endgültig. Das totalitäre NS-System war bestimmt von einer ausgeprägten Humorlosigkeit, zwischen brauner Ideologie, Judenhass und Expansionsdrang fand der Humor keinen guten Nährboden. „Gestern ging’s uns schlecht, heute geht’s uns gut. Ach, wenn es doch wieder gestern wäre.“ (Karl Valentin) Freie Meinungsäußerung, sachliche Kritik an bestehenden Verhältnissen, das Hören oppositioneller Stimmen – demokratische Grundprinzipien hatten in der braunen Diktatur keinen Platz. Die Partei bestimmte die Volksmeinung: Denken, Fühlen und Glauben im Gleichschritt, Links-Rechts-Marsch! Doch die äußere Gleichschaltung implizierte nicht unbedingt eine innere, viele Menschen trugen ihren Unmut mit sich herum. Alles Aufgestaute muss irgendwann raus, und so entwickelte sich als Ventil der Flüsterwitz.

Hitler möchte direkt erfahren, wie das Volk über ihn denkt. Er verschafft sich eine Perücke, schneidet den Bart ab und begibt sich auf die Straße. Den ersten, den er trifft, fragt er: „Was denken Sie über den Führer?“ Der Mann flüstert: „Das kann ich Ihnen hier auf der Straße nicht sagen“ und führt Hitler in eine Seitengasse, betritt mit ihm ein Hotel, geht mit ihm in ein Zimmer, sieht dort unters Bett, verschließt die Türe, kontrolliert die Schränke und deckt das Telefon mit einem Kissen ab. Dann nähert er sich Hitler und flüstert ihm ins Ohr: „Ich sympathisiere mit dem Führer!“ Das Verbreiten von politischen Witzen war gefährlich, ja in der Endphase des Dritten Reiches sogar lebensbedrohlich. Durch das weit verbreitete Denunziantentum war Vorsicht geboten, eine falsche Äußerung in der Öffentlichkeit, und man wurde in Gewahrsam genommen. Die Gleichschaltung der Gerichte führte zu hohen Zuchthausstrafen oder gar dem Todesurteil, mit der Deportation in ein Konzentrationslager wegen „böswilliger Heimtücke“ und „Wehrmachtszersetzung“. Hohe Strafen, lediglich für das Erzählen eines Witzes. Doch die Tabuisierung und das harte Vorgehen gegen politische Scherze forcierte dabei nur eine stärkere Verbreitung im Volk, da der Flüsterwitz nun mit dem Reiz des Verbotenen besetzt war. „Guten Tag, Karl!“ „Heil Hitler!“ „Wie geht’s denn?“ „Heil Hitler!“ „Wie steht es zu Hause?“

CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.54+

rhzm5-kowi-ts2.indd 58

06.07.2007 11:04:03 Uhr


oft das Bemühen, sich von der Mitschuld am bestehenden System frei zu machen. So belegt die mündliche Weitergabe vieler Witze über Konzentrationslager, dass einer breiten Öffentlichkeit der Holocaust durchaus bekannt war, aber schweigend geduldet wurde. „Heil Hitler!“ „Was macht dein Geschäft!“ „Heil Hitler!“ „Nun gib doch endlich einmal eine vernünftige Antwort!“ „Ne mein Lieber, meinst du, ich will mich ins KZ bringen lassen?“ Flüsterwitze verbreiteten sich auf dem Lande äußerst schnell, da sich die Menschen hier besser kannten als in der Stadt. Wer einen Flüsterwitz erzählen wollte, musste sich vergewissern, dass in seiner Umgebung kein möglicher Denunziant anwesend war. Zur Absicherung, ob die Luft „nazifrei“ war, machte der Witzeerzähler oft Anspielungen auf Juden und wartete die Reaktionen der Umstehenden ab. Zum Schutz vor gegenseitiger Denunzierung beendeten Bekannte das Gespräch mit „Vergessen Sie nicht, dass Sie auch einiges gesagt haben!“ oder „Ich bestreite, mich mit Ihnen unterhalten zu haben!“. Optimist: „Wir werden den Krieg verlieren!“ Pessimist: „Aber wann?“ Optimist: „Wir werden den Krieg gewinnen!“ Pessimist: „Ja, aber die Regierung behalten!“ Welche Funktion erfüllten die heimlich erzählten Witze? Gewiss, bei vielen war es eine Form von Widerstand, ein kleiner Versuch, der auferlegten Ohnmacht zu entkommen. Allerdings konnten viele der Witze eine katharsische Reinigung von bewusster Mitschuld am Status quo bieten. Das direkte Sprechen über Verbrechen und Schuld des Nationalsozialismus im Gewand des Witzes war

rhzm5-kowi-ts2.indd 59

„Was bekommt man für einen neuen Witz?“ „Zwei Monate Dachau.“ Schwarzer Humor sticht oft in gesellschaftlich heikle Themen und Tabus, bereitet diese satirisch auf, überspitzt und verharmlost Sachverhalte und stellt dabei vieles in Frage. So macht auch der Flüsterwitz kaum vor etwas halt und tritt in vielerlei Hinsicht gegen das ungeliebte System. Führungspersonen, Ideologie, Terrorregime, Bombennächte, Einrichtungen, Krieg, Holocaust, Pogrome, Not, Elend, Einsatz von Kindern an der Front – dem Flüsterwitz war kaum ein Thema heilig. Lediglich die einfachen Soldaten an der Front, als unschuldiges Ausführungsorgan der wahnsinnigen Führerpläne, waren selten Ziel von Hohn und Spott.

Was ist wichtig, damit ein Witz funktioniert und sich möglichst weit verbreitet? Einfach, reduziert auf das Wesentliche und möglichst knapp soll er gehalten sein, Sachverhalte und Anspielungen müssen vom Hörer gekannt und verstanden werden. Dabei haben Witze oft persönlichen Charakter und arbeiten zur allgemeinen Verständlichkeit stark mit dem Stilmittel der Personifizierung. So ist es kein Wunder, dass die braune Führungselite ein äußerst beliebtes Ziel des politischen Witzes darstellte.

06.07.2007 11:04:36 Uhr


Aussehen und persönliche Gebrechen, öffentliche Äußerungen und persönliche Vorlieben der im Volk bekannten Führungskräfte boten eine breite Angriffsfläche für die Sticheleien des Flüsterwitzes. Die Charaktere werden auf ihre wesentlichsten Eigenschaften reduziert. Betrachten wir einmal genauer, wie in den meisten Witzen Hitler, Goebbels und Göring dargestellt werden. Reichskanzler Hitler wird zu „Adolf der Mächtige“. Ein austrischer Ex-Maler ohne Talent mit Vorliebe für Wagners Opern an der Spitze eines deutschen Reiches, der zunehmend den Realitätssinn verliert und in Teppiche beißt.

Pressenotiz: Wenn England bis zum 30. 9. 43 nicht mit den Terrorangriffen auf schutzlose deutsche Städte aufhört, wird Reichminister Dr. Goebbels eine vernichtende Vergeltungsrede halten.

Was ist paradox? Wenn ein Österreicher mit italienischem Gruß und amerikanischer Uniform deutscher Reichskanzler wird.

Wenn man nun den Flüsterwitz noch berühmten Kabarettisten und Komikern wie Werner Finck oder Karl Valentin in den Mund legte, erhöhte sich der Verbreitungsgrad um ein Vielfaches.

Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, wird veräppelt als „Joseph der Schmächtige“. Seine kleine Statur und verkürztes Bein geben ihm die Beinamen „Humpelstilzchen“ und „Schrumpfgermane“, seine öffentlichen Reden führten zu der Bezeichnung „Schreihals“ und der Volksmund sprach folgendes abgewanderte Sprichwort: „Die Lüge hat ein kurzes Bein.“

rhzm5-kowi-ts2.indd 60

Göring, Oberbefehlshaber über die Luftwaffe, wird in den Witzen präsentiert als „Hermann der Prächtige“, ein fetter, prunksüchtiger Ordensammler ohne Bildung, vom Volk als „Goldfasan“ oder „Lametta-Heini“ betitelt. Charlie Chaplin beklagt sich: „Dass Hitler mein Bärtchen trägt, dazu will ich nichts sagen, auch darüber nicht, dass Goebbels so geht wie ich, dass die Leute aber über Göring mehr lachen als über mich, das finde ich nicht recht!“

„Es ist ja eine Ironie des Schicksals, dass gerade in dem Lande, wo am meisten Heil gerufen worden ist, so wenig heil geblieben ist.“ (Werner Finck) Doch duldete das NS-Regime die innere Zerstörung des Deutschen Reiches durch die so genannten „Brunnenvergifter“, wenn sonst

schon beim kleinsten Mucks der Gashahn aufgedreht wurde? Natürlich bemühten die Nazis sich um eine Unterbindung des völkischen Abfalls, Goebbels verordnete im Reichskulturkammergesetz: „Glossierungen von Persönlichkeiten, Zuständen oder Vorgängen des öffentlichen Lebens, auch angeblich positiv gemeinte, sind in Theatern, Kabaretts, Varietés und sonstigen öffentlichen Unterhaltungsstätten verboten.“ Die gewünschte Wirkung der gesetzlichen Intervention blieb wohl aus, denn 1941 bemächtigte man sich der Presse zur Abwertung des Flüsterwitzes. Im „Kladdaradatsch“, einem von den Nationalsozialisten angepasstem Satire-Magazin, wurde das Gedicht „Der Flüsterwitz“ von Fred Endrikat auf Drängen Goebbels publiziert. „Der Flüsterwitz ist eine Fliege, die ausgebrütet auf dem Mist, aus Bazillen, Bosheit, Lüge. Kein Mensch weiß, wer der Vater ist“ heißt es darin. Inwiefern diese Maßnahmen wirklich die mündliche Tradierung einschränkten, ist unbekannt. Ein humorvoller Umgang mit dem Nationalsozialismus war in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg verpönt.

06.07.2007 11:05:12 Uhr


Erst in den letzten Jahren wird Hitler immer öfter als lächerliche Witzfigur präsentiert, mit alltäglichen, menschlichen Fehlern. In den satirischen Comics „Adolf die Nazisau“ von Walter Moers hat Hitler den Weltkrieg überlebt, tötet sein Tamagotchi und vergnügt sich sexuell mit einem geschlechtsumgewandelten Hermann „Hermine“ Göring. Dem Comic liegt das Cartoon-Video „Ich hock in meinem Bonker“ bei, darin sitzt ein nackter Adolf auf der Toilette im Führerbunker und besingt zu einem Reggae-Groove seine missliche Lage. In Dani Levys Film „Mein Führer“ mimt die singende Herrentolle Helge Schneider Hitler und kläfft im goldenen Trainingsanzug wie ein Hund. All diese Fälle regten immer wieder die öffentliche Diskussion an: Dürfen die Deutschen sich über den Nationalsozialismus lustig machen? Darf man über so etwas lachen?

„Wie schnell doch die Zeit vergeht! Schon sind tausend Jahre um.“ (Stoßseufzer 1945)

thomas schörner+

Die Debatten über eine humoristische Aufbereitung des Dritten Reiches haben stets den Flüsterwitz außer Acht gelassen. Schon zur damaligen Zeit teilte man verbal gegen die Führung und das System aus, und das oft noch bösartiger als die genannten Beispiele. Der Krieg wurde durch den Flüsterwitz nicht beendet, die Diktatur nicht gefällt, Menschenleben nicht gerettet. Aber er war eine Methode der Verarbeitung der eigenen Erfahrungen, das Lachen schaffte Distanz zum Erlebten. Doch im Gegensatz zu heute geschah dies heimlich, hinter vorgehaltener Hand. Es war schwarzer Humor im braunen System, der aus seinem schwarzen dunklen Loch nicht heraus ans Tageslicht kam.

CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.57+

rhzm5-kowi-ts2.indd 61

06.07.2007 11:05:53 Uhr


RHZM5_layout_01_v2.3.indd 58

05.07.2007 23:17:06 Uhr


CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.65+

HEILIGE INSHORTS

»WIR HABEN EINE UNGLAUBLICHE VERPFLICHTUNG DEN 50.000 VERRÜCKTEN DA DRAUSSEN UND MILLIONEN DA DRAUSSEN, HEUT‘ WAS GANZ GEILES ABZULIEFERN!« J.Klinsmann

Dort wo gebetet wird, da gibt es einen Gott. Seine Jünger beten für höhere Löhne, gutes Wetter, den Tod ihrer Nachbarn, oder wie in diesem Falle, für das erlösende Tor! Am vierten Juli des vergangenen Jahres, sollten die abertausenden Gebete den deutschen Fans jedoch nichts nützen. Die Italiener haben, mit dem Vatikan im Land, quasi den Draht nach oben von Haus aus gepachtet. Da hilft nicht einmal ein Deutscher im höchsten Amt. Doch Fußball ist Religion, und nur weil Gott hin und wieder mal mit dem Untergang droht, ist ja auch nicht gleich Schicht im Schacht fürs Christentum. Wie dem auch sei, in der Zeit zwischen dem sechsten Juni und dem Selbigen des darauffolgenden Monats befand sich Deutschland im Ausnahmezustand. Wer während eines Spiels, fern ab von großen Plätzen die Straße betrat, fühlte sich

RHZM5_layout_01_v2.3.indd 59

wie in der hiesigen Kirche zum Abendgebet. Nichts! Keine Menschenseele! Die innerstädtische Steppe! Alle, ja wirklich Alle saßen daheim vor dem Fernseher oder standen vor einer der unzähligen Großbildleinwände um ihrem neuen Gott zu huldigen. Die folgenden 90 Minuten gehörten König Fußball – ach was, dieser ganze Monat gehörte König Fußball! Da kann selbst Papst Benedikt mit seinem Weltjugendtag einpacken, denn wenn Kaiser Franz eine Weltmeisterschaft organisiert, dann aber richtig. Unser Kaiser war sich auch nicht zu schade, sich jedes, aber auch wirklich jedes Spiel der WM anzusehen. Dafür stellte er sich selbst sogar einen Hubschrauber zur Verfügung. Wie großzügig von ihm. Aber auch für die volltrunkene Masse wurde Einiges geboten. Vom obszönen Maskottchen, welches ganz nach ostdeutscher

05.07.2007 23:17:07 Uhr


// HEUT SIND SIE FÄLLIG, ICH SCHWÖR'S EUCH JUNGS! DIE SIND FÄLLIG!// CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.66+

RHZM5_layout_01_v2.3.indd 60

FKK-Manier »unten ohne« daher kam, bis zum lustigen WM-Logo mit seinen drei Grinsebacken wurde nichts ausgelassen, um eine positive Atmosphäre zu schaffen. Da stimmte der frisch gebackene Chorleiter Oliver Pocher auch gerne mal ein Loblied an. Immerhin war »die Welt zu Gast bei Freunden«, und unter Freunden kann man schonmal ganz locker durch die nicht vorhandene Hose atmen. Doch nicht nur die Gäste, auch die Daheimgebliebenen erfreuten sich der neuen Gelassenheit im Lande. Die Kinderwagen waren behangen mit Schwarz-Rot-Goldenen Fähnchen und Papa schlürfte genüsslich das sechzehnte Bier während die zweijährige Jaqueline wiederholt über ihr Deutschlandtrikot in Größe 164 stolperte, das Papa ihr geschenkt hatte. Auch die Diddl-Maus musste einer+TeamgeistMiniatur von McDonald‘s weichen. Ein schwieriges Unterfangen, da Jaqueline, so fanatisch

sie mit ihren zwei Jahren auch sein mochte, doch lieber ihre Diddl-Maus gedrückt hätte. Aber man wäre ja kein guter Vater, wenn man seine Kinder nicht rechtzeitig auf ihre religiöse Zukunft vorbereiten würde. Wo früher Goethe, Mozart und Schiller als die Großen der deutschen Geschichte gefeiert wurden, stehen jetzt nämlich Poldi, Frings und Ballack auf dem Treppchen, und es wäre ja wohl ein unverantwortliches Versäumnis, seiner Kleinen nicht beizubringen, was Kultur bedeutet. Im Übrigen stehen die Herren Fußballer dort ganz zurecht, denn was könnte eine Mannschaft aus allen großen deutschen Dichtern & Denkern des letzten Jahrtausends schon gegen nur einen unserer drei Heroen auf dem Spielfeld ausrichten? Richtig, Nichts! Wer mit einem Training von Mark Verstegen und einer Ansprache von Klinsi aus der Kabine geht, der fürchtet Nichts und Niemanden mehr!

05.07.2007 23:17:07 Uhr


RHZM5_layout_01_v2.3.indd 61

05.07.2007 23:17:07 Uhr


RHZM5_layout_01_v2.3.indd 62

05.07.2007 23:17:07 Uhr


CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.69+

Nicht einmal den Teufel oder einen Jüngling im Besitz einer mysteriösen Zauberflöte. Nach seinen starken Predigten im Kreise seiner Jünger durfte sich Klinsi, der Messias des deutschen Fußballs, nach der Weltmeisterschaft das Bundesverdienstkreuz bei Horst Köhler, für seine »revolutionären Trainingsmethoden«, abholen. Aber ganz Jesus-like, verzichtet Klinsi auf die Verleihung und tut Buße, quittiert den Dienst als Religionsoberhaupt des deutschen Fußballs und übergibt das höchste Amt an seinen treuen Jünger Jogi. Doch Klinsi hinterlässt eine bekehrte Gemeinde und das weit über die Grenzen des Fußballs hinaus. Er brachte den Deutschen wieder bei, sich zu begeistern. Er hat auf eigenes Risiko die Euphorie, am amerikanischen und deutschen Zoll vorbei, über Kalifornien nach Deutschland reimportiert, und sich dabei von Nichts aus der Ruhe bringen lassen. Selbst die bösen Zungen seitens des DFB wurden

RHZM5_layout_01_v2.3.indd 63

// SCHWARZ UND WEISS! WIR STEHEN AUF EURER SEITE…// gekonnt umflogen. Nun war das sicher nicht Klinsi‘s alleiniger Verdienst, aber doch schon eine reife Leistung, die wohl zur Heiligsprechung reichen sollte. Doch die WM hat in der Welt einen gesamtdeutschen Imagewechsel hervor gerufen. Als Deutscher musste man sich bis vor einem guten Jahr oftmals rechtfertigen, wenn man sich überschwänglich für Etwas begeisterte. Da hieß es immer gleich: »Oh, die Deutschen… wir wissen ja, wo das damals hingeführt hat!« Die Wahrheit ist doch, seit Hitler hat es Nichts und Niemand mehr geschafft, die breite deutsche Maße so für etwas zu begeistern wie Fußball! Dieses Spiel hat uns unsere gottgegebene Euphorie wieder geschenkt, und zwar im positivsten Sinne. Danke Klinsi! Danke Fußball!

77:3

7M

in|D

eut

sch

land

3:0

Por

tug

al

till wiedeck+

05.07.2007 23:17:08 Uhr


MIT FUSSBALL UND THAMI GEGEN AIDS Mangelnde Motivation, nicht mangelndes Wissen ist eines der großen Hindernisse der AIDS-Prävention. Ein Fußballprojekt für Kinder und Jugendliche mit einer Kämpfernatur als Lehrer geht dagegen an. Apartheid, AIDS und Weltmeisterschaft 2010 – wer an Südafrika denkt, dem drängen sich fast zwangsläufig diese drei Begriffe auf. Die Apartheid als Vergangenheit, AIDS als Gegenwart und die WM als Zukunft eines Landes, in dem »Schwarz« und »Weiß« immer noch mehr sind als nur die beiden Pole der Farbenskala. Auch für Thami Cebekhulu, einen schwarzen Südafrikaner aus dem kleinen Ort Edendale in der östlichen Provinz KwaZulu-Natal, stellen diese drei Themen Eckpfeiler seines Lebens dar. Im Jahr vor seiner Geburt, nämlich 1973, verabschiedete die UN-Vollversammlung gerade eine Konvention, die die in Südafrika herrschende Apartheid in Südafrika als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ächtete. Die Schilder mit Aufschriften wie »Nur für Weiße!« (»Net Blankes – Whites Only!«) und »Reserviert für die alleinige Nutzung durch Mitglieder der weißen Rasse« (»Reserved for the sole use of members of the white race group«) standen jedoch noch fast weitere 20 Jahre an Stränden, vor Restaurants und sogar Parkbänken. Das weiße Apartheidsregime bestimmte bis zum Ende der Apartheid 1994 alles: wo die

Schwarzen wohnten, wo sie arbeiteten und wo sie zur Schule gingen; überall herrschte strikte Trennung der Hautfarben. Thami reiste als Kind zunächst mit seiner Mutter und den Geschwistern der Arbeit hinterher in Richtung Norden. Als Jugendlicher kehrte er jedoch wegen der Highschool nach Edendale zurück und startete eine ungewöhnliche Karriere: Er trat dem Karate-Verein bei und wurde innerhalb einiger Jahre so gut, dass er mit 21 in der südafrikanischen Nationalmannschaft kämpfte und für Turniere und Wettkämpfe bis nach Europa reisen durfte. Eine Schulterverletzung brachte das Ende seine Karriere: Obwohl Thami mehr schwarze Gürtel als der momentan amtierende Vorsitzende des südafrikanischen Karateverbande hat, konnte kein Geld für eine Operation aufgebracht werden. Thamis eigenes Geld ging fast komplett für die Flüge zu den Wettkampforten drauf. Geblieben sind ihm von seiner Karriere Ruhm, Prestige – und Neid. Jeder im Dorf kennt ihn; wer mit Thami durch die Straßen läuft, kann mit ihm an jeder Ecke stehen bleiben und einen Plausch halten. Aber einmal hielten

CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.82+

aidsinsüdafrika_ganzneu.indd 82

05.07.07 23:24:24 Uhr


ihm Neider auch eine Pistole unter die Nase – allerdings nicht entsichert. Thami erzählt solche Geschichten mit sichtlichem Vergnügen und lacht: »Die wollten mich töten!« Er lacht, weil ihn das Erstaunen des Zuhörers freut, und auch, weil er sein eigenes Leben wirklich nicht so wichtig nimmt. Was ihm inzwischen am Herzen liegt, ist etwas ganz anderes: Thami arbeitet jetzt als Lehrer beim Projekt WhizzKids United. Jede Woche kommt eine neue Schulklasse aus den örtlichen Schulen zu ihm und lernt, wie man sich vor HIV schützt. Und vor allem, warum es sinnvoll ist, sich zu schützen. Südafrika ist bekanntermaßen eines der Länder mit der höchsten Rate von HIV-Infizierten und Neuansteckungen. Schätzungen der UNO zufolge waren 2006 mehr als 18 Prozent der südafrikanischen Erwachsenen HIV-positiv. Die Statistik für Thamis Provinz sieht noch trauriger aus. Die Gründe für die erschreckenden Zahlen sind auf höchster Staatsebene ebenso zu suchen wie innerhalb der Familien: Jahrelang leugnete der Staat Südafrika das Problem AIDS und trieb durch fehlende Prävention die Ausbreitung voran. Auf der lokalen Ebene, also in den Dörfern und Familien, ist früher Geschlechtsverkehr unter Jugendlichen und auch sexuelle Gewalt gegenüber Frauen normal – Schutz durch Kondome jedoch nicht. Viele sehen einfach nicht den Sinn dahinter, warum sie sich schützen sollen, denn vom Leben erwarten sie sowieso nicht viel Und als würde die Epidemie den längst abgeschafften Gesetzen der Apartheid folgen, trifft HIV hauptsächlich Schwarze. Auch wenn immer mehr Menschen wissen, wie man Kondome benutzt – viele sehen einfach nicht den Sinn dahinter, warum sie sich schützen sollen, denn vom Leben erwarten sie sowieso nicht viel: Ein Großteil der schwarzen Bevölkerung hat keinerlei Aussicht auf eine Arbeit, sie leben in Armut und ohne Perspektiven. Also warum vor AIDS schützen, wenn die Zukunft sowieso nichts bringt? Wer richtig an AIDS erkrankt ist – was bedeutet, dass er noch zirka ein Jahr zu leben hat – bekommt vom Staat eine Sozialhilfe von umgerechnet 86 Euro. Es gibt die Gerüchte, dass einige HIV-Patienten

aidsinsüdafrika_ganzneu.indd 83

absichtlich ihre Medikamente absetzen, um den Status eines Todkranken zu erreichen. Immerhin bekommt man dadurch Geld. Langfristige Lebensplanung scheint für manche Menschen keine Priorität zu haben. Nicht so sehr mangelndes Wissen als vielmehr mangelnde Motivation zu Schutz des eigenen Lebens ist also das große Hindernis bei der Bekämpfung von AIDS. Und genau hier setzt Thamis Job an, und genau hier ist er mit seiner kämpferischen und doch warmherzigen Art goldrichtig: Über den Spaß beim Fußballspielen sollen die Kinder und Jugendlichen lernen, auf ihre Körper aufzupassen. Thami gibt ihnen so genannte »Life Skills« mit auf den Weg, also Qualitäten, die beim Fußball ebenso wichtig sind wie im richtigen Leben: Teamgeist, Durchhaltevermögen, Fairplay und das Wissen, wie man angreift und abwehrt. Diese Verknüpfung zeigt sich auch im Unterrichtskonzept: Abwechselnd wird erst im Klassenzimmer diskutiert und Wissen vermitteln, um dann anschließend auf dem Fußballplatz zu trainieren und sich auszutoben. Selbst Kinder mit geringer Aufmerksamkeitsspanne werden so vier Stunden lang jeden Tag bei der Stange gehalten. Und damit auch alle Kinder alles verstehen, findet der Unterricht hauptsächlich auf Zulu, ihrer Muttersprache, statt. Nur die Unterrichtsmaterialien sind auf Englisch. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von weißen Engländern; die freiwilligen Helfer und die Spendengelder kommen aus England, Deutschland und den USA. Aber das Herzstück des Projekts ist ohne Zweifel Thami. Thami, der – immer im Trainingsanzug – jeden Tag mit den Kindern in der glühenden Sonne Fußball spielt. Thami, zu dessen hünenhafter Statur die Kinder aufschauen, Thami, dem einfach jeder Gehör und Glauben schenkt, wenn er vom ABC der AIDS-Prävention spricht: »Abstinence, Be Faithful, Condomize«, also Abstinenz, Treue und Benutzung von Kondomen. Eine wirkliche Perspektive und Arbeitsplätze kann zwar selbst er den Kindern und Jugendlichen nicht vermitteln, aber immerhin ihre Einstellung dem Leben gegenüber beeinflussen. Seine Begeisterung für die Methode des Projektes geht soweit, dass er sich auch nachts in Discos und Clubs der Großstadt Durban

nicht zurückhalten kann, selbst noch Prostituierte bekehren zu wollen und sie fragt: »Hast du dir denn keine Ziele im Leben gesteckt?« Das WhizzKids United-Projekt läuft gut, vor allem auch in der Begeisterungswelle der kommenden Weltmeisterschaft. In Europa spekulieren jedoch schon immer mehr Medien, ob es Südafrika überhaupt schafft, »Wenn ich die Sprache der Weißen kann, kann mir keiner mehr was anhaben« bis 2010 die nötige Infrastruktur auf die Beine zu stellen. Weiße Südafrikaner sträuben sich dagegen, dass die Stadien in ihre Stadtteile gebaut werden sollen, weil so die fußballbegeisterten Schwarzen dorthin gelockt werden. Für Thami und die Fußballkinder wäre eine Absage eine herbe Enttäuschung, für das Projekt eine Katastrophe. Thami hat jedoch schon neue, private Projekte im Hinterkopf: zum einen wäre er in Zukunft gerne Karate-Trainer in internationalen Camps, zum anderen möchte er Afrikaans, die Sprache der weißen Südafrikaner, lernen. Gerade deshalb, weil er seine weißen Landsleute nicht besonders mag; das ist bei jedem Zusammentreffen zu merken. Dafür hat er schon zu viel Benachteiligung erfahren. Aber Verbitterung ist nicht Thamis Sache, dann lieber die Offensive. Denn er ist sich sicher: Wenn er die Sprache der Weißen kann, »kann mir keiner mehr was anhaben!«. simone schubert+

05.07.07 23:24:37 Uhr


cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.86+

There are worse crimes than burning books.

One of them is not reading them. // Joseph Alexandrovitch Brodsky

print_und_paranoia_final.indd 2

06.07.2007 10:46:56 Uhr


UND //IM LAND DER VERBOTENEN BÜCHER Die Caney Creek Highschool im texanischen Montgomery County im September 2006 – Diana Verm, 15 Jahre, erzählt ihrem Vater Alton Verm von einem Buch, das sie und ihre Mitschüler in der Schule lesen sollen. Ihrem Eindruck nach beinhalte das Werk einen hohen Anteil sittlich unangemessener Ausdrucksweise – die Schülerin weigert sich, die entsprechenden Unterrichtsmaterialien weiter zu bearbeiten. Vater Alton verfasst daraufhin eine Beschwerde an den zuständigen School District. Seine Forderung: Das Buch sei umgehend aus dem Lehrplan zu entfernen. Er verweist auf den beunruhigenden Gebrauch von »schmutzigen« Wörtern, der Darstellung von Gewalt und Alkoholismus, Verweise auf die Bibel und den blasphemischen Gebrauch des Namen

print_und_paranoia_final.indd 3

Gottes. »It's just all kind of filth.«, fasst er seinen Appell gegenüber einer Lokalzeitung zusammen, betont jedoch gleichzeitig, er selbst habe das Buch nie gelesen. Dem Antrag des besorgten Familienvaters wird kurz darauf stattgegeben, statt des im Lehrplan vorgesehenen Buches darf seine Tochter parallel zu ihren Mitschülern ein alternatives Werk lesen. Mag dieser Vorfall auf einen außenstehenden Betrachter bis zu diesem Punkt wie eine juristische Lappalie wirken, so offenbart spätestens der Blick auf den Streitgegenstand die Absurdität des Falls: Bei dem Werk handelt es sich um Ray Bradbury's 1953 veröffentlichten Klassiker »Fahrenheit 451«. Bradbury thematisiert in seinem Roman die Vision eines totalitäres Amerikas der Zukunft,

06.07.2007 10:46:57 Uhr


»Somewhere the saving and putting away had to begin again

and someone had to do the saving and the keeping, one way or another,

in books, in people’s heads, in records,

any way at all so long as it was safe,

// Ray Bradbury, Fahrenheit 451 in welchem das Verbot und die methodische Vernichtung von Büchern eine denkbefreite, entindividualisierte und indifferente Gesellschaft geschaffen haben. Zensur im selbsterklärten »land of the free«? Was auf den ersten Blick wie ein kurioser Einzelfall erscheint, hat sich seit Beginn der Reagan-Ära zu einem erstaunlichen Massenphänomen an amerikanischen Schulen und Bibliotheken entwickelt. Anlass genug für die »American Library Association« (ALA) 1981 zum ersten Mal die seitdem jährlich im September stattfindende »banned books week« auszurufen. Um auf die Ausmaße und Risiken einer unsichtbaren Zensurwelle hinzuweisen und gleichzeitig den von der Zensur betroffenen Werken ein öffentliches Forum zu bieten, lesen Autoren im Rahmen der Aktion aus genau jenen verbotenen Büchern, Bibliotheken plakatieren Schaufenster – seit dem letztem Jahr unterstützt außerdem ein prominenter Partner die Aktion: Google modifizierte seine Online-Buchsuche auf einer eigens für die Aktion ins Leben gerufenen Website. Unter dem Motto »Celebrate Your Freedom To Read« lassen sich seitdem auf der Seite landesweit Bibliotheksbestände nach verbannten Büchern durchsuchen.

nischen Bibliotheken tabu, da in den Werken nicht nur Hexen und Zauberer, sondern auch okkulte Rituale an sich idealisiert werden. Besorgt zeigen sich die Kritiker der Reihe außerdem über die darin porträtierte Welt, in welcher Kinder sich konsequent über die Autorität erwachsener Erziehungspersonen hinwegsetzen.

Ähnlich grotesk präsentiert sich die Diskussion um das Verbot bezüglich Mark Twains Erzählungen der Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Jene landeten im Visier der Zensoren, nachdem private Organisationen wie die »Nationale Gesellschaft zur Förderung Farbiger« massiv gegen den Gebrauch des Wortes »Nigger« in den Büchern protestierten. Andere Gruppen widerum sahen in der Titelfigur selbst die Wurzel des sittlichen Verfalls – Huckleberry Finn propagiere in seiner Rolle als Außenseiter das Leben außerhalb der Gesellschaft, fürchte dabei weder Gott noch weltliche Autoritäten und sei daher alles »If liberty means anything at all, it means the right andere als ein Vorbild für die amerikanische Jugend. to tell people what they do not want to hear.« Rund 200 private Organisationen üben gegenwärtig // George Orwell, Animal Farm in den USA Druck auf öffentliche Bibliotheken aus – in den meisten Fällen mit beachtlichem Erfolg. Obskure Gruppierungen wie das »Komitee gegen Blasphemie« aus Michigan oder das kalifornische »Netzwerk patriotischer Briefeschreiber« protestieren öffentlich gegen Literatur, welche ihren Begriff der moralischen Grundfesten Amerikas angreift – Im Visier der Moralisten finden sich dementsprechend Themen wie sexuelle Aufklärung, Angriffe auf das traditionellen Familienbild und Kritik am Patriotismus. Nicht selten werden dem ALA Fälle gemeldet, bei denen Literatur linker oder homosexueller Autoren methodisch aus Bibliotheksbeständen entfernt wurde. In den Top Ten der am häufigsten angefochtenen Bücher des letzten Jahrzehnts befindet sich neben »The Adventures of Huckleberry Finn« von Mark Twain und John Steinbecks »Of Mice and Men« auch J.K. Rowlings international beliebte »Harry Potter«-Serie. Die Abenteuer des Zauberschülers sind mittlerweile in vielen amerika-

print_und_paranoia_final.indd 4

06.07.2007 10:46:59 Uhr


cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.89+

free from moths, silverfish, rust and dry-rot,

and men with matches.«

»Hardly education/ All them books I didn’t read/ They just sat there on my shelf/ Looking much smarter than me« //Modest Mouse

Das »Büro für Intellektuelle Freiheit« der ALA erhält täglich im Schnitt etwa fünf Meldungen bezüglich Zensurmaßnahmen an öffentlichen Bibliotheken und Schulen aus allen Teilen des Landes. Unterschieden wird dabei zwischen Büchern die »angefochten« (challenged) werden, deren Verbannung also beantragt wurde, und jenen, welche tatsächlich aus Schulen oder Bibliotheken verschwinden. Der Verbannung fielen seit 1990 knapp 9000 Bücher zum Opfer, die jährlich herausgegebene Liste der »Most Frequently Challenged Books« liest sich wie ein »Who-Is-Who« der amerikanischen Literaturgeschichte. Besonders christlich-konservative Gruppen, begünstigt durch den historischen Aufwind neo-konservativer Bevölkerungsgruppen unter der Bush-Administration, haben sich in der Diskussion um moralische Werte in der amerikanischen Literatur zum Hauptakteur entwickelt. Diverse Lehrer-Gebetsgruppen, die »Besorgten Christen« oder der

print_und_paranoia_final.indd 5

06.07.2007 10:47:00 Uhr


»we are not afraid

to entrust the American people with unpleasant facts, foreign ideas, alien philosophies, and competitive values. For a nation that is afraid to let its people judge

the truth and falsehood in an open market is a nation that is

afraid of its people.« // John F. Kennedy

selbsternannte »Republikanische Führungsrat« – der Einfluss dieser Koalition der selbsternannten Rechtschaffenen auf die Lehrpläne an öffentlichen Schulen ist nicht erst seit der von Seite der Kreationisten forcierten Diskussion um die Lehre von Darwins Evolutionstheorie zu einer dominanten Größe im gegenwärtigen Literaturstreit herangewachsen. Die Masse der privaten Organisationen ist dabei längst unüberschaubar geworden, die Ziele der einzelnen Gruppen erscheinen immer obskurer, teilweise ergeben sich im Kampf gegen literarische Meinungsfreiheit Zensurmaßnahmen, welche sich längst selbst ad absurdum führen. Kürzlich ließen Schulleitungen in New Jersey alle Exemplare des »Webster’s Dictionary« aus ihren Bibliotheken entfernen – mit der Begründung, die Definition von Geschlechtsverkehr enthielte obszöne Begriffe. Andernorts wurde eine Biographie des Mathematikers und Ökonoms John Maynard Keynes aus dem Bibliotheks-

print_und_paranoia_final.indd 6

bestand verbannt – das Buch sei »zu schwierig« und provoziere, dass »Schüler, die damit gesehen werden, Beleidigungen ausgesetzt sein könnten«. Liest man sich durch die Liste der am häufigsten angefochtenen Bücher, so bleibt man nach »The Catcher in The Rye« (Platz 13), »Brave New World« (Platz 52), und »Lord of The Flies« (Platz 70) spätestens bei Platz 88 hängen. Jenen Platz okkupiert erstaunlicherweise Martin Hanfords beliebtes »Where’s Waldo?«. Die Darstellung einer unbedeckten Brust in einem der traditionell überfüllten Suchbilder hat dem Werk offenbar diesen prominenten Platz eingebracht. Fest steht damit zumindest, wo Waldo vorerst definitiv nicht zu finden sein wird – in vielen amerikanischen Bibliotheken. henning walther+

06.07.2007 10:47:02 Uhr


cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.91

+

print_und_paranoia_final.indd 7

06.07.2007 10:47:03 Uhr


LÜGEN JETZT!

Großer schlanker Kerl

(39 J.) sucht junges, dic kes, perverses Mädel zwec ks längerfristigen Bindung. Ich freu mi ch auf dich.

Vorbei ist die Zeit als Geheimnisse noch als romantisch galten. Vorbei die Zeit als Sie sorgsam gepflegt und umsorgt wurden. Schade um die diskreten Chiffrenanzeigen, die die Identität in Zeitungsannoncen geschickt verbargen. Geheimnisse waren die notwendigen Accessoires um seine Sünden zu verschleiern. Nur die Männer, die schauspielerisches Talent aufwiesen, konnten sich eine Geliebte leisten. Die Geliebte musste unter Lebenseinsatz vor der Ehefrau versteckt werden. Frauen hatten keine Vergangenheit, und das Wort »exlover« musste erst noch erfunden werden. Um jeden Preis galt es aus den sexuellen Vorlieben ein Mysterium zu machen. Diese Raffinesse zwischen Lügen, Geheimnissen und der wahren Identität machten uns unwiderstehlich. Doch nun ist das Zeitalter der Schamlosigkeit angebrochen. Alles was peinlich, pervers und moralisch nicht vertretbar ist, wird enthüllt. Jedes Geheimniss wird offen zur Schau gestellt. Je grösser die Sauerei, desto besser. Ja ja, früher war alles besser, mag einer sagen, doch war es noch nie so spannend wie derzeit. Wir können uns millionen privater Videos im Internet, z.B. auf YouTube anschauen, wo Protagonisten mit Geheimnissen um sich schmeissen. Das Fernsehen bietet uns jeden Tag mindestens drei Talkshows an, in denen die Gäste ihre Geschichten erzählen und Lügen aufdecken. Wem das alles noch zu harmlos erscheint, der findet im Internet unzählige Foren, wo Geheimnisse gelüftet und Beichten abgelegt werden. Jeder der sein Geheimnis nicht mehr für sich behalten kann, es aber auch niemandem erzählen möchte, den er kennt, kann anonym im Internet beichten. Ob es dem Jeweiligen danach besser geht, sei dahin gestellt. Doch die Geschichten sind schockierend amüsant. Folgende Beichten sind nur ein winziger Tropfen einer Flutwelle aus Seelenstriptease. Gefunden unter www.beichthaus.com.

Linda Schirona+

cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.92

+

rhizom-5-092-097.indd 2

07/05/2007 1:06:49 PM


rhizom-5-092-097.indd 3

07/05/2007 1:06:50 PM


Lust auf Sperma? Ich (28 J.) hatte seit Wochen keinen Or gasmus mehr und suche eine h端be sche Sie, die es mag, vollgespritzt zu werden.

cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.94

+

rhizom-5-092-097.indd 4

07/05/2007 1:06:51 PM


Ich trage seit 3 Jahren abonnierte Zeitungen aus. In einer Ausgabe einer Zeitung (weiss nicht mehr welche) waren neulich Proben von Slipeinlagen drin. Die sollen ganz toll gewesen sein, und kaum zu spüren sein. Jedenfalls hab ich eine aus der Verpackung genommen, welche außen an der Zeitung festgeklebt wurden, und benutzt. Ich bin einige Stunden damit rumgelaufen, habe sie anschließend für gut befunden und in die Packung zurückgesteckt. Die Zeitung habe ich selbstverständlich zugestellt.

rhizom-5-092-097.indd 5

Welcher ältere Herr nim

(m. 38 J.) hin und wied

mt mich

er mit dem Auto raus in die Natur? Für dies und das...

Ich (m/47) wurde letzten Monat in einem 40–50 Chatroom eines bekannten Online–Dienstes von einer mir bis dahin nicht bekannten Dame aus meiner Nachbarstadt angesprochen. Es war zwei Uhr morgens, und ich war gut angeschickert. Wie auch immer, nach einigem Palaver bot sie mir ihre Telefonnummer an, ich habe dann auch angerufen. Tja, die übliche Story: sie (49) wird von ihrem Mann (Fernfahrer) schon seit Jahren nicht mehr beglückt und sucht sich daher auf eigenem Wege was. Ich bin in der gleichen Nacht noch (mit mindestens 1,5 Promille) zu ihr gefahren. Danke, liebe Polizei, dass ihr mich nicht erwischt habt. Als ich dank Navi dann vor ihre Haustür gefunden hatte – SCHOCK! Ca 1,60 gross, aber bestimmt 130 kg. Naja, ich hatte ja zum Glück meine Promille :–). Sie führte mich dann in die Küche, bot mir einen Kaffee an und fragte auch gleich, ob sie mir nicht zu füllig sei. Gentleman, der ich bin und besoffen wie ich war, verneinte ich das natürlich. Wir sind dann direkt in die Kiste, ich habe sie geleckt wie wild und sie ist gekommen ohne Ende. Hatte wohl echt eine Durststrecke hinter sich. Aber als ich ihr mein Ding reingesteckt hatte, fiel er gleich um. So ein Geschwabbel unter mir, das konnte ich mit Phantasien anderer (toller) Frauen einfach nicht überdecken, auch besoffen nicht. Sie hat es mir aber nicht krumm genommen. Hat sich den Sch*anz in den Mund geholt, mir den Zeigefinger in den Hintern gesteckt und geblasen wie wild – bis es mir kam. Sie hat alles geschluckt und wurde davon auch noch viel geiler. Das war echt der Blow–Job meines Lebens! Ich habe das aber jetzt nach drei solchen Nächten beendet. Nicht wegen meiner Freundin (die lange nicht so gut blasen kann), als mehr wegen dem sächsischen Dialekt der Dame. Wie soll man eine Erektion auf solch einer Schwabbel–Tante aufrecht erhalten können, wenn man sich dauernd dieses sächsische Gestöhne (oh mei Guudaa) anhören muss? Ausser, wenn sie meinen Sch*anz im Mund hatte. Dann war nämlich Ruhe, abgesehen von dem Geschmatze, und dann stand der auch ordentlich. Ihr Mann ist inzwischen arbeitslos, daher hätte sich das Ganze sowieso von selbst erledigt. Das möchte ich beichten, aber bereuen tue ich es nicht!

Ich habe mal auf eine Anzeige geantwortet, in der »Darstellerinnen für erotische Aufnahmen« gesucht wurden. Ich sollte mich dann auf der Strasse anquatschen lassen und dann mit dem Typ mitgehen und mich dann langsam ausziehen, mir meine M****i rasieren und es mir zum Schluss mit einem D***o besorgen. Ich hab dafür 500 Euro bekommen, dafür steht das teil jetzt in jeder Videothek rum. Hoffentlich sieht das keiner der mich kennt, eigentlich hat es aber Spass gemacht. Ich hab dabei echt eine feuchte M****i bekommen und bin voll gekommen. Ach ja ich bin 23 und brauchte das Geld auch dringend.

07/05/2007 1:06:52 PM


Du hast Lust auf Anals

ex, bekommst ihn aber nicht? Dann melde dich doch, ich, 28 J., 190 cm , 80 kg verwรถhne dich komp lett.

rhizom-5-092-097.indd 6

07/05/2007 1:06:53 PM


Ich arbeite ab und zu in einer großen Bar hinterm Tresen. Letzte Woche war es mal wieder extrem stressig, weil eine Band aufgetreten ist. Die Leute mussten halt ein wenig länger warten, was den meisten auch nicht schwer gefallen ist. Bloß war da ein Typ, der die ganze Zeit mit seinem Glas rumgefuchtelt, laut gerufen und mich dann sogar am Ärmel gezupft hat. Dann beschwert er sich auch noch, dass er zu wenig Eis in seinem Drink hätte und Trinkgeld gab es natürlich auch keins, eben ein echter Kotzbrocken. Nur leider hat der Gute sein Portemonnaie am Tresen liegen lassen, was ich sofort gesehen habe. Hätte ihn noch rufen, oder das Portemonnaie hinter den Tresen legen können, aber ich entschied mich statt dessen dafür nichts zu unternehmen und den Dingen ihren Lauf nehmen zu lassen. Hab mir dann genüsslich angesehen wie ca. 3 Minuten später ein anderer Typ das Portemonnaie nimmt, sich umschaut, öffnet und alle Scheine raus nimmt (ca. 100 bis 150 Euro). Das war einer der wenigen Momente absoluter Genugtuung. Normalerweise fahren solche egoistischen Arschlöcher im Leben immer besser und das ärgert mich sehr. Da tut es gut zu sehen, dass auch solche Typen von Zeit zu Zeit wegen ihrer arroganten Art Rückschläge erleiden.

Ich war gestern direkt nach der Arbeit im Supermarkt. Ich trug einen Anzug und unterhielt mich mit einer Bekannten, die dort Regale einräumt. Nach dem kurzen Gespräch wendete ich mich wieder dem Einkaufen zu. Doch ich kam nicht dazu, denn eine Frau (etwa Anfang 30) fragte mich, ob ich nicht einen Job für sie hier hätte. Ich sagte Ihr, dass sie morgen früh um 6 Uhr zu einem Probetag bei »uns im Supermarkt« vorbeikommen soll, da wir ja immer Platz für motivierte Mitarbeiter hätten. Am nächsten Morgen um ca. 6.30 Uhr machte ich mich wieder auf den Weg zur Arbeit und fuhr aus Neugierde am Supermarkt vorbei. Da stand doch tatsächlich diese Frau vor der Eingangstür und wartet auf ihren „Probetag“. Ich habe mich köstlich amüsiert und bin fröhlich und munter ins Büro gefahren. Mich plagen keinerlei Gewissensbisse, schließlich finanziere ich dieses Volk ja – die gehören quasi mir/uns.

Ich (m, 44) war mit meiner, wie ich bemerken muss sehr vermögenden Frau auf Korsika zum Urlaub machen. Leider haben wir uns gleich am ersten Tag gestritten und haben die weiteren 3 Tage nicht mehr damit aufgehört. Am nächsten Tag waren wir am Strand und sie fragte mich völlig genervt und mit abscheulichem Unterton, ob ich ihr den Rücken einschmieren könne. Ich hatte so die Schnauze voll, dass ich absichtlich nicht ihre Muttermale eingeschmiert habe. Die nächsten Tage hab ich das genau so gemacht und hoffe dass sie eines Tages an Hautkrebs stirbt. Ich bin nämlich im Falle ihres Tode als alleiniger Erbe genannt und würde an die 2,4 Mio Euro bekommen.

cyan.0 magenta.0 yellow.0

key.97

+

rhizom-5-092-097.indd 7

07/05/2007 1:06:53 PM


CYAN.0 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.98+

rhizom-V-106-111.indd 2

06.07.2007 10:56:53 Uhr


Letztes Jahr noch hat das britische Parlament mit eindeutiger Mehrheit entschieden. Körperliche Züchtigung muss als gesetzliches Elternrecht festgeschrieben bleiben. Jüngst erst gingen Eltern in Neuseeland auf die Straße. Politiker hatten angedacht, ihnen ihr gesetzmäßiges Recht, ihre Kinder zu prügeln, zu entziehen. Die Idee, Kinder mit körperlicher und psychischer Gewalt zu züchtigen, ist nicht neu. Im Gegenteil, je weiter man in der Geschichte zurückblickt, desto selbstverständlicher wird mit dieser Erziehungsmethode umgegangen. Gibt es Gründe für die Beibehaltung dieses Ansatzes? Ein Neandertaler löste viele Probleme mit der Faust und ging es nur darum, den Nachbarn von einer neuen Sitzverteilung am Lagerfeuer zu überzeugen. Der Erfolg seines Handelns und dessen Alltäglichkeit ließ ihn diese Art der Auseinandersetzung auch in den häuslichen Bereich übertragen. Ein Steinzeitmensch dachte noch nicht weitsichtig, was wir ihm nachsehen wollen. Man hatte menschheitsgeschichtlich zunächst andere Probleme zu lösen. Einige tausend Jahre später hatte man sich Sprache angeeignet und war nicht mehr auf rein körperliche Kommunikation angewiesen. Vielen Menschen fiel das eigenständige Nachdenken und Lösen von Problemen jedoch immer noch recht schwer, weshalb man für die komplizierteren Fragen des Lebens Religionen hinzuzog. Selbst für die Kindeserziehung hatte die Kirche in diesem Beispiel bereits Lösungsansätze parat. So konnte man in der Bibel nachlesen oder nachlesen lassen: »Wer sein Kinde lieb hat, der hält es stets unter der Rute, dass er hernach Freude an ihm erlebe« (Sirach 30,1). Einerseits naheliegend: Eine institutionalisierte Religion, die den Machtanspruch ihrer Institution durch Erzeugen von Angst unter ihren Anhängern zementiert, pflanzt entsprechendes Gedankengut in die Köpfe der Menschen. Andererseits waren diese Zeiten generell geprägt von einem mächtigen Patriarchat und strikten Hierarchien in allen Lebensbereichen. Andere Methoden als das Prinzip des Stärkeren waren zu der Zeit einfach noch nicht genug erprobt, um für die Mehrheit als gängiges Mittel durchzugehen. So mussten auch die Kinder ihre hierarchische Stellung in der Familie auf diese Weise spüren.

rhizom-V-106-111.indd 3

06.07.2007 10:57:53 Uhr


Ganz besonders wurde ich immer darauf hingewiesen, dass ich Wünsche oder Anordnungen der Eltern, der Lehrer, Pfarrer usw., ja aller Erwachsenen bis zum Dienstpersonal hätte und mich durch nichts davon abhalten lassen dürfte. Was diese sagten, sei immer richtig. Diese Erziehungsgrundsätze sind mir in übergegangen. ( kommandant Rudolf Höss)

unverzüglich durchzuführen bzw. zu befolgen Fleisch und Blut Auschwitz

Wieder einige Zeit später begann das Zeitalter der Aufklärung und mehr Menschen fanden Gefallen am eigenen Nachdenken. Zuvor hatten Beobachtungen ergeben, dass geprügelte Kinder ab einer gewissen Dosis nicht mehr für weitere Schläge zur Verfügung standen. Das war ein greifbares Problem und man begann erneut, über Erziehung nachzudenken, um das Thema in sinnvollere Bahnen zu lenken. Aufgrund der zeitlichen Nähe zu heute – die Antike muss an dieser Stelle aus Platzgründen sowieso ausgeklammert werden – erscheinen J. Sulzers Ansätze von 1748 interessant: »Sind aber die Eltern so glücklich, dass sie ihnen gleich anfangs durch ernstliches Schelten und durch die Rute den Eigensinn vertreiben, so bekommen sie gehorsame, biegsame und gute Kinder«. Offensichtlich geht es hier um eine Dressur des Kindes mit dem Ziel, ein handliches Etwas ohne Eigensinn zu erhalten. Gehorsam und Anpassungsfähigkeit galten als besonders positive Eigenschaften, wohl auch, weil sie die Kinder für die Eltern deutlich komfortabler im Umgang machten. Es fällt auf, dass es hier auch um das Wohl der Eltern geht. Man war wohl schlicht überzeugt und hatte erfahren, dass dieses Ziel durch Züchtigung zu erreichen sei. Vielleicht, weil man diesen Umgang miteinander einfach gewohnt war. Das Mittelalter lag noch nicht lange zurück und gerade zu dieser Zeit gehörte Zimperlichkeit weniger zum guten Ton. Von diesem Gedanken der biegsamen Kinder sind die Erziehungsansätze auch hundert Jahre später noch geprägt, wie uns Dr. Schreber 1858 in seinen »Ratschlägen für die Erziehung« zeigt: »Als die ersten Proben, an

rhizom-V-106-111.indd 4

denen sich die geistig-erzieherischen Grundsätze bewähren sollen, sind die durch grundloses Schreien und Weinen sich kundgebenden Laute der Kleinen zu betrachten [...] Man darf sich jetzt nicht mehr wie anfangs ausschließlich abwartend verhalten, sondern muss schon in etwas positiverer Weise entgegentreten: durch schnelle Ablenkung der Aufmerksamkeit, ernste Worte, drohende Gebärden, Klopfen ans Bett [...], oder wenn dieses alles nicht hilft – durch natürlich entsprechend milde, aber in kleinen Pausen bis zur Beruhigung oder zum Einschlafen des Kindes beharrlich wiederholte körperlich fühlbare Ermahnungen [...] Eine solche Prozedur ist nur ein- oder höchstens zweimal nötig, und – man ist Herr des Kindes für immer. Von nun an genügt ein Blick, ein Wort, eine einzige drohende Gebärde, um das Kind zu regieren. Man bedenke, dass man dadurch dem Kinde selbst die größte Wohltat erzeigt«. Auch aus diesem Ausschnitt spricht der Wunsch, das Kind besonders formbar zu halten. Als störend werden dabei Bedürfnisse des Schützlings empfunden, die per se keinen allzu großen Wert haben können. Also muss das Kind regiert werden und eine höhere Instanz entscheidet, was richtig und falsch ist. Aufklärung hin

06.07.2007 10:58:19 Uhr


CYAN.1 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.100+

Die Strafe folgte auf großem Fuß. Zehn Tage lang, zu lang für jedes Gewissen, segnete mein Vater die ausgestreckten, vier Jahre alten Handflächen seines Kindes mit scharfem Stöckchen. Sieben Tatzen täglich auf jede Hand: macht hundertvierzig Tatzen und etwas mehr: es machte der Unschuld des Kindes ein Ende. Was immer im Paradies geschah, mit Adam,

Eva, Lilith, Schlange und Apfel, das Gebrüll des Allmächtigen und sein ausweisender Finger – ich weiß davon nichts. der mich von dort vertrieb. (Chr. Meckel, 1980, S. 59)

Es war mein Vater,

oder her – über Jahre gewachsene Gesellschaftsstrukturen scheinen nicht allzu schnell aus den Köpfen zu verschwinden. Aber Dr. Schreber geht noch weiter: »Liebkosungen, ja gar einen milden Blick gilt es zu vermeiden, bis das unrechte Kinde wieder zur Vernunft gefunden hat und in Weinen und Flehen keinen Zweck mehr findet«. Hier kommt zur körperlichen Züchtigung noch die Komponente des psychischen Drucks hinzu. Liebes- und Respektentzug wirken auf ein Kleinkind umso stärker, als es seine Selbsteinschätzung fast ausschließlich auf das gefühlte Urteil der Eltern stützen kann. Das scheint dem Erzieher gerade recht zu kommen und er instrumentalisiert diese zwischenmenschliche Ebene für das Durchsetzen seines Plans. Das Kind soll mit allen Mitteln dazu gebracht werden, nach den Vorstellungen der Erzieher zu funktionieren. Heute wissen wir, dass es große Probleme für die Entwicklung eines Kindes bergen kann, wenn es Zorn und Schmerz nicht artikulieren darf, ohne Gefahr zu laufen, Liebe und Zuwendung der Eltern zu verlieren. Das Entstehen von Selbstakzeptanz und die Ausprägung eines Selbstwertgefühls werden empfindlich gestört.

rhizom-V-106-111.indd 5

Möglicherweise wird dieser Mensch seiner eigenen Person nur schwerlich ein gesundes Maß an Respekt entgegenbringen können – für andere Menschen wird umso weniger zur Verfügung stehen. Ein Kind hat erlebt, dass das Äußern und Eingestehen von Gefühlen zu einem Respektverlust durch die wichtigsten und oft einzigen Bezugspersonen im Leben führt. Deshalb entwickelt es Mechanismen, solche Gefühle abzutöten. Zwangsläufig führt das zu einem Mangel an Empathie: Nie konnte das Kind sich selbst in der Opferrolle sehen, nie konnte das Kind sich mit seinen Sorgen und Ängsten auseinandersetzen; umso schwerer fällt es ihm, sich in die Lage anderer gequälter Menschen zu versetzen. Ebenso wissen wir heute, dass der unterdrückte Zorn nicht verloren geht, sondern mit mehr oder weniger Energie in der Versenkung gehalten werden muss. Die Projektion der negativen Gefühle auf Ersatzpersonen oder -zusammenhänge ist eine häufige Folge und der häufigste weil leichteste Weg der Problembewältigung. Wir sehen: Die Eltern leben in diesen Darstellungen einen Kampf vor, in dem es darum geht, individualistische Keimzellen im Kind zu ersticken.

06.07.2007 10:58:50 Uhr


Aus dem Jahr 1752 findet sich folgende Empfehlung: ist ebensogut, als eine gegen eure Person. Euer Sohn will euch die Herrschaft rauben, und ihr seid

Ungehorsam Kriegserklärung befugt, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, um euer Ansehen zu befestigen, ohne welches bei ihm keine Erziehung stattfindet. Dieses Schlagen muss kein bloßes Spielwerk sein, sondern ihn überzeugen, dass ihr sein Herr seid. So soll gewährleistet sein, dass es sich nicht in eine falsche, für die Eltern unbequeme Richtung entwickelt. Diese Angst der Erzieher vor einer eigenen, persönlichen Entwicklung des Schützlings äußert sich noch mehr im empfohlenen Umgang mit der Pubertät. Schwierig an diesem Lebensabschnitt: Schon aus biologischen Gründen tritt das Bedürfnis nach emotionaler Selbstdefinition und Auslebung von Gefühlen bei den Heranwachsenden hervor. Man sah sich nun in der Pflicht, dem noch stärker entgegenzuwirken und fand eine verlässliche Lösung: »Man kann sicher glauben, dass jede Entdeckung, die sie für sich machen, ihrer schon erhitzten Einbildungskraft immer mehr Nahrung verschaffen und also ihrer Unschuld gefährlich werden wird. Schon aus diesem Grund wäre es ratsam, ihnen zuvorzukommen. [...] Aber wissen soll doch der Knabe, wie ein weiblicher Körper gebildet ist; wissen soll das Mädchen, wie ein männlicher Körper gestaltet ist, sonst setzt man der grübelnden Neugier keine Schranken. Man bediene sich zu dieser Absicht eines entseelten menschlichen Körpers. Der Anblick einer Leiche flößt Ernst und Nachdenken ein, und dies ist die beste Stimmung, die ein Kind unter solchen Umständen haben kann. Das Bild, das in seiner Seele zurückbleibt, hat nicht die verführerischen Reize der Bilder, die die Einbildungskraft freiwillig erzeugt.« (J. Oest, 1787) Es wird deutlich, wie sehr die psychische Gewalt mit der physischen einhergeht. Vor allem zeigt sich der gleiche manipulatorische Hintergrund. Die persönliche Entwicklung eines Kindes muss um jeden Preis kanalisiert werden, so scheint das Credo zu lauten, anders kann es kaum wohl geraten. Nur nebenbei sei erwähnt, dass man diese Form der Sexualerziehung später als einen der Hauptgründe für die Bildung sexueller Perversion identifizierte.

rhizom-V-106-111.indd 6

Diese vorgenannten Zitate geben ein Gefühl dafür, auf welchen Irrwegen der Erziehung man sich noch vor hundertfünfzig bis dreihundert Jahren befand. Trotz gravierender Neuansätze ist ein Meilenstein im breiten Bewusstsein dann erst wieder in den 1960er Jahren gelegt worden, als man sich das erste Mal in der Lage sah, tradierte Erziehungsbilder vollständig zu hinterfragen. Dass man mit der daraus entstandenen antiautoritären Erziehung aus heutiger Sicht etwas über das Ziel hinausschoss, steht noch auf einem anderen Blatt Papier. Abschließend führen uns extreme Beispiele in der Geschichte noch weiter an die Gegenwart heran. Alice Miller zieht diese in ihrem Buch »Am Anfang war Erziehung« hinzu, um besonders drastische Auswirkungen fehlgeleiteter Erziehungsmethoden zu illustrieren. Der spätere KZ-Aufseher Rudolf Höss zum Beispiel wuchs unter einem streng gläubigen Vater auf, der nicht im Geringsten das Ziel hatte, seinen Sohn zu einem KZAufseher zu erziehen. Durch den übermäßig gepredigten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit jedoch machte er sein Kind taub und blind für die Reflexion und Hinterfragung ihm aufgetragener Aufgaben. Das Verhalten eines praktizierenden Nationalsozialisten entwickelte sicher ab einem Punkt eine Eigendynamik. Eine Basis für seine Karriere wurde aber offensichtlich in der Kindheit Höss’ gelegt. Adolf Eichmann, zentral verantwortlich für die Ermordung und Deportation der Juden während des Nationalsozialismus, blickt auf eine ähnliche Erziehung zurück. Auch von ihm wird Bezeichnendes berichtet. Eichmann konnte während seines Prozesses in Israel 1961 die erschütterndsten Berichte der Zeugen ohne Gemütsregung über sich ergehen lassen; aber als er bei der Urteilsverkündung aufzustehen vergaß, errötete er verlegen, nachdem er darauf aufmerksam gemacht worden war. Die Fähigkeit, auf Anweisungen einer höheren Instanz zu reagieren, war bei ihm ungleich größer angelegt als das Vermögen, Mitgefühl mit den Opfern zu empfinden. Die »Erziehung« dieser Männer war restlos und perfekt gelungen. Wie abwegig, wie blind erscheint angesichts dieser nicht allzu neuen Erkenntnisse die Forderung der reaktionären Lager, die Prügelstrafe weiterhin als legitime Erziehungsmethode in unseren Gesetzen verankert zu lassen. Ist es Ausdruck einer eigenen Unfähigkeit, mit der geprügelten Vergangenheit umzugehen? Besteht eine immens große Angst, seinen eigenen Lebensweg und die Rolle der Eltern darin zu hinterfragen? Mir kommt das so vor. jakob schneider+

06.07.2007 10:59:20 Uhr


CYAN.3 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.100+

rhizom-V-106-111.indd 7

06.07.2007 10:59:45 Uhr


achromatopsie_end.indd 110

06.07.07 0:59:18 Uhr


Wenn der Himmel nicht blau und das Gras nicht grün ist… Circa 3.000 Menschen leiden allein in Deutschland unter der Farbenblindheit. Für sie existiert die Welt nur in Graustufen.

achromatopsie_end.indd 111

06.07.07 0:59:19 Uhr


CYAN.12 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.100+

achromatopsie_end.indd 1112

06.07.07 0:59:22 Uhr


ACHROMATOPSIE | Farbenblindheit

Schon der Begriff Farbenblindheit stiftet Verwirrung, da der Volksmund die Rot-Grün-Blindheit als Farbenblindheit bezeichnet. Diese vollkommen andere Erkrankung, die bei fünf Prozent der Männer auftritt, ist aber in Wirklichkeit meist eine Grünschwäche. Die totale Farbenblindheit (Achromatopsie) ist eine angeborene Sehstörung. Die Krankheit ist sehr selten und trifft nur etwa einen von 30.000 Menschen. An Achromatopsie Erkrankte leiden unter Augenzittern und einer extremen Lichtempfindlichkeit. Ihre visuelle Darstellung beschränkt sich auf ein schemenhaftes Schwarz-Weiss-Sehen. In den meisten Fällen wird die Achromatopsie vererbt. Sie ist an kein Geschlechtschromosom gebunden, Männer und Frauen sind daher gleichermaßen betroffen. Im Jahr 1998 identifizierten Forscher das erste Gen, dessen Mutation zur Farbenblindheit führt. Diese Mutation bewirkt, dass bestimmte Zellen, die sogenannten Zapfen, in der Netzhaut funktionslos sind oder vollständig fehlen. Die Zapfen befinden sich vorrangig in der Netzhautmitte und sind für das Farbsehen und die Sehschärfe zuständig. Hell und dunkel wird mit Hilfe der Stäbchen unterschieden. Diese Zellen sind verstreut auf der gesamten Netzhaut und sind für das Nachtsehen zuständig. Bei der Achromatopsie funk-

achromatopsie_end.indd 1113

tionieren durch den genetischen Defekt nur noch die Stäbchen. Daher müssen die Betroffenen auch bei Tag mit den Sinneszellen zurechtkommen, die eigentlich für das Dämmerungssehen vorhanden sind. Die Alltagsprobleme der Achromaten werden daher in erster Linie von der hohen Blendungsempfindlichkeit beeinflusst. Bei hellem Tageslicht kann die Sehkraft fast auf null sinken, der Farbenblinde sieht dann nur noch nebliges Weiß oder Grau. Die kurzzeitige Blendung z.B. beim Verlassen eines Gebäudes kann bei oftmaliger Wiederholung sehr ermüdend sein oder in unerwarteten Situationen sogar Panikreaktionen verursachen.

06.07.07 0:59:23 Uhr


Neben der Blendempfindlichkeit und dem »Nicht - Sehen« von Farben gibt es noch ein weiteres Problem: die verminderte Sehschärfe. Sie liegt nur bei etwa fünf bis zehn Prozent des normalen Sehens. Einen Gegenstand den ein Normalsichtiger in etwa zehn Meter Entfernung sehen kann, erkennt ein Achromatopsie-Betroffener erst in einer Entfernung von 50 bis 100 Zentimetern. Dieses Bild ist ungefähr vergleichbar mit dem, was wir am Rande unseres Gesichtsfeldes sehen.

Dass man keine Farben sehen kann ist daher eher das kleinere Problem. Hinzu kommt, dass im gelben Fleck, normalerweise der Stelle des schärfsten Sehens auf der Netzhaut, weder Zapfen noch Stäbchen vorhanden sind. In der Mitte der Netzhaut befinden sich beim Achromaten also keine Sinnesrezeptoren. Vermutlich aus diesem Grunde versucht das Gehirn den nicht-sehenden Bereich mitten in der Netzhaut auszugleichen,

indem es versucht abwechselnd mit dem rechten und dem linken Auge ein Objekt zu fokussieren. Durch diese Ausgleichsversuche entsteht das Augenzittern, welches man auch Nystagmus nennt. Achromatopsie ist bisher noch nicht heilbar, aber es gibt Hilfsmittel, die den Achromatopsie-Betroffenen das Lesen erleichtern. Dies sind zum Beispiel spezielle Vergrößerungsprogramme für Computer, Lupen oder elektronische Lesegeräte. Das Augenzittern kann man durch eine Operation etwas beruhigen. Spezille Filtergläser in Brillen helfen außerdem gegen die hohe Lichtempfindlichkeit der Augen. Für unterschiedliche Lichtverhältnisse gibt es verschieden dunkle Brillen. Weiter gibt es Geräte, die Farben erkennen können. Solche Geräte schicken einen kleinen Lichtstrahl auf den Gegenstand und messen dann, wie viel Licht wieder zurückkommt. So kann das Gerät sagen welche Farbe ein Gegenstand hat. Viele Betroffene haben solche Aperate, nutzen sie allerdings eher selten, da sie keine Vorstellung von Farben besitzen und daher mit der Information in den meisten Fällen nichts anfangen können. Kinder, die früh genug beim Sehen gefördert werden, können sogar eine ganz normale Schule besuchen. Das Hauptproblem ist aber bisher, dass die Krankheit häufig auch von Augenärzten nicht erkannt wird, weil man den Augen sowohl äußerlich als auch oft bei der Augenhintergrunduntersuchung der Netzhaut nichts ansieht. So wissen vermutlich die Hälfte der Patienten nicht, dass sie Achromaten sind. christina taphorn+

CYAN.14 MAGENTA.0 YELLOW.0

KEY.100+

achromatopsie_end.indd 1114

06.07.07 0:59:24 Uhr


achromatopsie_end.indd 1115

06.07.07 0:59:28 Uhr


RhizomV_132-137.indd 132

05.07.2007 13:21:35 Uhr


OFF »Den Typen kenn ich doch, aber wer ist das bloß?… er kommt auf mich zu … soll ich ihn grüßen? Die dunklen wuscheligen Haare, die markante Nase … kommt mir alles bekannt vor, aber ich komme einfach nicht drauf, wer er ist…« ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Wer kennt das nicht, das Gefühl jemanden zu kennen ohne ihn einordnen zu können. In den meisten Fällen löst sich das Rätsel ziemlich schnell auf. Der Unbekannte entpuppt sich schnell als Zeitungsbote oder als eine Freundin eines Bekannten. In der Regel ergeben Name, Gesicht und Gestik nach einem kurzen Moment ein festes Bild. ~~~~

~Gesichter prägen sich ein~ Bereits Säuglinge können nach kürzester Zeit spüren ob sie angelächelt werden oder nicht. Vor allem ihre Mutter erkennen sie unglaublich schnell. Die natürliche Begabung Menschen anhand ihrer Gesichter einordnen zu können, ist die Basis einer funktionierenden Kommunikation, sei es im Gespräch mit Bekannten oder beim alltäglichen Smalltalk. Menschen, die unter »Prosopagnosie« leiden, fehlt das fotografische Gedächtnis für Gesichter.

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

cyan.33 magenta.0 yellow.0

key.100+

RhizomV_132-137.indd 133

05.07.2007 13:21:39 Uhr


~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~//~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ //~~//~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~//~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~//~~// ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~//~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~//~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~//~~~~~~~~~~ ~~~//~~~~~~~~~/~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~//~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~//~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~// Um Personen trotzdem unterscheiden zu der Prosopagnosie. Bei der apperzeptiven ~~~~~~~~~~~~~~ können, fangen sie an nach verschiedenen Prosopagnosie können die Betroffen das ~~~~~~~~~~~~~~ Anhaltspunkten zu suchen. ~~~~~~~~~~~~~~ Alter und Geschlecht ihres Gegenübers nicht ~~~~~~~~~~~~~~ gleichzeitig fehlt ihnen meist auch //~~~~~~~~~~~~ ~Orientierung bieten erfassen, ~//~~~~~~~~~/~~ das Gespür für Emotionen. ~~~~~~~~~~~~~~ die Form der Ohren, ~Gesichter wirken auf ~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~ die Nase oder der sie gleich~ ~~~~~~~~~~~~~~ Haaransatz~ Im Gegensatz dazu können die assoziati- ~~~~~~//~~~~~~ Jene hingegen zu einem exakten Bild ven Prosopagnostikern zwei Gesichter hin- ~~~~~~~~~~~~~~ zusammenzufügen und dieses jederzeit sichtlich ihrer Gleich- oder Verschiedenheit ~~~~~//~~~~~~~ abrufen zu können, ist ihnen nicht möglich. unterscheiden. Weitere Informationen, wie die ~~/~~~~~~~~~//~ Bewegen sie sich im Kreise vieler Menschen Identität der betrachteten Person oder ihren ~~~~~~~~/~~~~~~ können sie die Identität des Einzelnen nicht Beruf, können sie jedoch nicht erfahren. ~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~ Beide Typen beruhen auf einer neuronalen ~~~~//~~~~~~~~~ klären. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Umgangssprachlich wird der Begriff Schädigung in bestimmten Hirnbereichen und /~~~~~~~~~~~~~ »Gesichtsblindheit« der Prosopagnosie können durch eine Schädelverletzung, einen ~~~~~~~~~~~~~~ gleichgesetzt, jedoch ist das nicht korrekt. Schlaganfall oder einem Kreislaufstillstand ~~~~~~~~//~~~~ Nur in sehr schweren Fällen von Menschen hervorgerufen werden. Der Hirnbereich wel- ~~~~~~~~~~~~~~ mit Hirnschädigungen werden Gesichter cher für die Gesichtserkennung verantwortlich ~~~~~~~~~~~~~~ gar nicht mehr erkannt. Ansonsten ist der ist, wird in diesen Fällen in Mitleidenschaft ~~~~~~~~~~~~~~ Prosopagnostiker durchaus in der Lage Teile gezogen. Für die Betroffenen bedeutet das ~~~~~~~~~~~~~~ des Gesichts zu erkennen. ~~~~~~~~~~~~~~~ Strategien entwickeln zu müssen, um relativ ~~~~~~~~~~~~~~ Laut Erkenntnissen einer Umfrage der sicher in ihrem Umfeld zurechtzukommen ~~~~~~~~~~// ~~//~~~~~~~~~~~ Universität Münster von ca. 500 Schülern und ihr neues Leben zu bewältigen. ~~~~~~~~~~~~~~~ leiden rund zwei Prozent der Befragten an ~~~~~~~~~~~~~~~ Prosopagnosie. Hochrechnungen lassen vermu~~~~~~~~~~~~~~~ ten, dass ungefähr ein Prozent der Deutschen ~~~~~~~~~~~~~~~ an der angeborenen Prosopagnosie leiden. ~~~~~~~~~~~ Hinzu kommen die beiden anderen Typen ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~//~~//

RhizomV_132-137.indd 134

05.07.2007 13:21:40 Uhr


Häufig Haare zum Zopf gebunden

Große dunkle Augen

Kleine Ohren

Ausgeprägtes Gebiss

cyan.35 magenta.0 yellow.0

key.100+

RhizomV_132-137.indd 135

05.07.2007 13:21:52 Uhr


~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~//~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~//~~//~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~//~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~//~~//~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~//~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~//~ ~//~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~

RhizomV_132-137.indd 136

~//~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~//~~~~~~~~~~~~~//~~~~~~~~~/~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~//~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ~~~~~~~~~~//~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~// Die angeborene Prosopagnosie ist eine genetisch bedingte Teilleistungsschwäche des Gehirns und vererbbar – 50 Prozent der Kinder von Prosopagnostikern sind selbst erkrankt. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Häufig ist den Betroffenen nicht einmal bewusst, dass sie unter dieser Krankheit leiden. Sie wirken zerstreut, unfreundlich, verlegen und denken selbst sie seien sehr vergesslich. ~~~~~~~~~~ Aus diesem Grunde sind bis heute nicht viele Fälle von der kongenitalen Prosopagnosie überliefert. »Wenn Betroffene zum Arzt gehen, hören sie oft, sie seien gesund und sie sollten sich nur mehr konzentrieren, erzählt Martina Grüter«, Ärztin am Institut für Humangenetik der Universität Münster. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Des Öfteren werden die Symptome für eine Nebenerscheinung bei Autismus oder dem Asperger-Syndrom (leichte Form des Autismus) gehalten, bedingt durch die ähnlichen Anzeichen. ~~~~~ Leute mit Autismus nehmen häufig andere Personen und Gesichter wie Objekte wahr. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass manche Menschen mit Autismus visuelle Informationen beim Erblicken von Personen in einem Teil des Gehirns verarbeiten, welcher ursprünglich für die Wahrnehmung von Gegenständen verantwortlich ist.

Die instinktive Begabung Gesichter im Bruchteil einer Sekunde zu erkennen und zuordnen zu können, fehlt ihnen. Eine frühzeitige Diagnose kann den Betroffenen helfen, in dem sie ihr Umfeld auf deren Defizit aufmerksam machen können und Missverständ­ nisse verhindert werden, so dass eine sozialen Isolation unwahrscheinlicher wird. Vor allem für Kinder ist es wichtig, dass ihre Schwäche berücksichtigt wird. In Gruppen fühlen sie sich schnell überfordert und ausgegrenzt. Ihre Spielkameraden können sie nicht auseinander halten und bleiben lieber allein. Leute, die von klein auf mit Proso­pagnosie leben, kommen größtenteils damit zurecht, da sie unbewusst Methoden entwickeln, um die Behinderung zu umgehen, doch der Alltag bleibt nicht ohne Her­ ausforderungen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Die Person die am Morgen noch einen Zopf oder ein Kostüm getragen hat, erkennt man später im Freizeitoutfit nicht mehr wieder … marie lammers+

ON

05.07.2007 13:21:53 Uhr


cyan.37 magenta.0 yellow.0

key.100+

RhizomV_132-137.indd 137

05.07.2007 13:21:59 Uhr


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.