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PHILOSOPHEN-INTERVIEW
PLATON SAGT:
„Liebe ist spontan und frei“
Der verbreitete Wunsch, einen Partner zu finden, der perfekt zu einem passt, ist komplett überbewertet, findet der griechische Philosoph Platon – in unserem fiktiven Interview über Liebe und Leidenschaft mit dem deutschen Philosophen Christoph Quarch.
Ach, wenn Sie wüssten … Aber lassen wir das. Sehen Sie: Wir Menschen sind zu keinem Zeitpunkt fertig – was auch Ihre Hirnforscher bestätigen. Wir sind keine Puzzleteile, die man zusammenlegen könnte; und wenn’s passt, dann war’s das. Nein, das Wunder des Eros ist anders: Er ist eine Kraft, die Sie dazu bringt, the red bulletin: Eine bekannte Online- Ihre Potenziale zu entfalten, zu wachsen, zu Partnervermittlung wirbt damit, dass reifen, neues Leben zu zeugen und ein sich auf ihrer Plattform alle elf Minu- großer Mensch zu werden. Dauerhaft ten ein Single verliebt. Intelligente glückliche Partnerschaften sind nicht Algorithmen werten dafür die Pro- solche, bei denen die Partner genau fle der Nutzer aus und ermitteln den Wunschvorstellungen des anhand von „Matching Points“, anderen genügen, sondern solche, wer zu wem passt. Schon manche bei denen sie sich wechselseitig glückliche Ehe soll so entstanden in ihrem Wachstum unterstützen, sein. Was halten Sie davon? um gemeinsam zu erblühen. Platon: Hm, wenn ich Sie recht verstehe, fragen Sie danach, ob ich Aber wollen wir nicht alle Partner, denke, dass man das Wirken des Gottes, die unseren Wünschen entsprechen? den wir Griechen Eros nennen, Durchaus, aber genau deshalb sind mathematisch errechnen kann. „Eros ist kein so viele unglücklich. Eros ist kein Ja, so kann man es auch sagen. Klebstoff, der zwei Klebstoff, der zwei passende Hälften verbindet, sondern ein Feuer, das So sollte man es sagen. Denn schau passende Hälften sich am Anderssein der Partnerin en Sie: Meine Vorfahren stellten sich die Macht der Liebe – oder besser: der Liebesleidenschaft – mit gutem verbindet, sondern ein Feuer, das sich oder des Partners entzündet. Wenn alles genau so passt, wie man es sich ausgerechnet hat, gibt es keine Grund als einen Knirps mit Pfeil und Bogen vor. Sie wussten, dass der Pfeil des Eros einen Menschen am Anderssein entzündet.“ Entwicklung mehr – dann erstarrt ein Paar in Harmonie. Wo Sie hingegen von Liebe für einen Menschen ungewollt und ungerufen trifft – ergriffen sind, der vorerst gar nicht und dass diese Leidenschaft gerade keinen Regeln zu Ihnen passt, bei dem Sie aber ahnen, dass Sie mit oder Algorithmen folgt, sondern spontan und frei ist, ihm reifen können, da verleiht Ihnen Eros Flügel – ja, wie ein Kind, das spielt. er lässt Sie über sich hinauswachsen.
Also ist digitale Partnervermittlung nichts für Sie?
Exakt. Bei den Dingen des Eros sind Algorithmen fehl am Platz. Da hilft nur eins: sich dem Leben hingeben, Herz und Geist für das Unerwartete öffnen und sich berühren lassen. Eros ist pure Energie. Wer sich auf ihn einlässt, hat die Chance, ein wirklich lebendiger Mensch zu sein – mit allem Leid und aller Freude.
Aber wird die Chance, von Liebe – oder von mir aus: von Eros – ergriffen zu werden, nicht größer, wenn ich dank einer digitalen Vorauswahl nur solche Menschen treffe, die zu mir passen?
Ja, so dachte auch mein Freund Aristophanes, dem ich die Theorie in den Mund gelegt habe, wir Menschen seien einst kugelrund gewesen. Dann aber habe Zeus uns im Zorn in zwei Hälften gespalten, sodass wir seither verzweifelt nach unserer anderen, besseren Hälfte suchen. Wenn es sich so verhielte, könnten Algorithmen bei der Partnersuche helfen. Aber so sehr die vom Eros Entfammten manchmal das Gefühl haben, erst durch ihren Partner komplettiert worden zu sein, ist das Bild doch trotzdem irreführend.
Vielleicht, verehrter Herr Platon, haben Sie ja einfach noch nicht Ihre bessere Hälfte gefunden.
PLATON (428–348 v. Chr.) ist der wohl einflussreichste Philosoph der europäischen Kultur. Seine vollständig erhaltenen Dialoge verraten nicht nur eine hohe literarische Begabung, sondern auch die Fähigkeit, die ganze Weisheit der griechischen Antike zu einer Philosophie zusammenzufassen. Die von ihm gegründete Athener Akademie war knapp tausend Jahre lang das intellektuelle Zentrum der alten Welt. CHRISTOPH QUARCH, 56, ist deutscher Philosoph, Theologe, Unternehmens-Coach und Autor zahlreicher philosophischer Bücher. Zuletzt erschienen: „Platon und die Folgen“.
Die Freiheit eines Atemzugs
Seit 15 Jahren begleitet der Franzose Franck Seguin die Elite der Apnoe-Taucher mit der Kamera. Hier erzählt er von seinen Bildern einer magischen Welt unter Wasser.
Text PH CAMY
Der neongrüne Champion
Villefranche-sur-Mer, Frankreich, 2006
„Das ist eines meiner ersten Freitauchfotos. Ich habe fast alle französischen Champions begleitet, um ihren Sport bekannt zu machen. Guillaume Néry, der Beste von ihnen, und ich sind später Freunde geworden. Für dieses Bild habe ich ihn gebeten, statt des üblichen schwarzen Neoprenanzugs mal die neongrüne Variante anzuziehen.“
Wandern über Wale
Mauritius, Indischer Ozean, 2017
„Für das Projekt ‚One Breath around the World‘ (Mit einem Atemzug um die Welt) reisten wir zwei Jahre lang zu den atemberaubendsten Orten der Ozeane. Hier ist Guillaume vor Mauritius 20 Meter zu einer Gruppe von Pottwalen hinuntergetaucht. Auf dem Foto habe ich es so aussehen lassen, als würde er über ihre Rücken wandern.“
Der Außerirdische
Cenote Angelita, Yucatán, Mexiko, 2018
„Guillaume Néry taucht hier in einer Höhle, 30 Meter unter Wasser, fünf Autostunden von jeder Zivilisation entfernt. Er ist umgeben von einer Wolke aus Schwefelwasserstoff, die aus dem Zusammentreffen von Meer und Süßwasser und verwesten Baumresten entsteht. Dafür sieht er eigentlich ganz entspannt aus.“
So sehen Helden aus
Frioul-Inseln, Marseille, Frankreich, 2015
„Der zweifache ApnoeWeltmeister Morgan Bourc’his war früher Lehrer. Ein Mensch mit unendlicher Güte und außergewöhnlichen körperlichen Fähigkeiten. Die Sorte Freund, die du dir wünschst, weil dir mit ihm an deiner Seite nichts passieren kann – ein Superheld im engeren Sinn, hier unter Wasser vier Kilometer westlich vor Marseille.“
Tiefenentspannt
Villefranche-surMer, Frankreich, 2021
„Das ist Arnaud Jerald, der kommende große Star der FreitaucherSzene. Der 24-Jährige kann ohne Pressluftflaschen über hundert Meter tief tauchen. Und das, obwohl er in seiner Kindheit an Dyspraxie litt, einer Koordinations- und Entwicklungsstörung. Hier konzentriert er sich knapp unterhalb des Wasserspiegels auf das Abtauchen.“
Brüder im Geist
Tahiti, FranzösischPolynesien, 2019
„Zwei Menschen unter Wasser: rechts Guillaume Néry, links Arnaud Jerald. Der Meister und sein Nachfolger – Rollen, die beide akzeptieren –, also hat dieses Foto starke Symbolkraft. Von einer Übergabe würde ich trotzdem nicht sprechen. Denn vorläufig bleibt Guillaume, der Ältere, unumstritten die Nummer eins.“
Im großen Blau
Villefranche-sur-Mer, Frankreich, 2020
„Guillaume Néry in den unendlichen Weiten des Ozeans. An diesem Ort kenne ich mich aus, und der Taucher ist einer meiner besten Freunde: perfekte Voraussetzungen, wenn man etwas Neues schaffen will. Ich wollte die vielen Nuancen von Blau festhalten.“
Südsee-Abenteuer
Tahiti, FranzösischPolynesien, 2019
„Altmeister Guillaume Néry (re.) und sein junger Freund Arnaud Jerald tauchen Seite an Seite zu einem Flugzeugwrack in der Südsee hinunter, ein Schwarm tropischer Fische begleitet sie. Mich erinnert dieses Bild immer ein bisschen an die Ästhetik eines ComicHefts: Die Szene könnte genauso gut gezeichnet sein.“
DER FOTOGRAF Zu Wasser hatte Franck Seguin immer schon ein inniges Verhältnis: In Dunkerque (Dünkirchen) am Ärmelkanal geboren, begeisterten ihn als Kind die Dokus des berühmten Ozeanografen Jacques Cousteau. Später ging er zur Marine. Dennoch war Seguin, der sein Alter nicht verraten will, nicht mehr ganz jung, als er vor 15 Jahren das Feld entdeckte, für das er heute berühmt ist: Er gilt als Chronist der weltbesten ApnoeTaucher, er hält ihre Abenteuer unter Wasser fest, diese wunderbare und doch fremde Welt, die sich mit nur einem Atemzug erschließt. Seguins Qualitäten? „Franck ist kein Taucher, der sich der Fotografe zugewandt hat“, beschreibt es Guillaume Néry, ApnoeLegende und inzwischen mit Franck Seguin eng befreundet, „sondern ein Fotograf, der Tauchen gelernt hat.“ Das trifft es auffallend: Franck Seguin war ursprünglich Sportfotograf und ist einer der Fotochefs bei der französischen Sport Tageszeitung „L’Équipe“.
Instagram: @franckseguinphoto
Er ist so frei
Villefranche-sur-Mer, Frankreich, 2006
„Dieses Foto zeigt für mich das Wesen des Freitauchens: Guillaume Néry beim Luftholen, entweder vor dem Ab oder nach dem Auftauchen. Dieser eine tiefe Atemzug verschafft ihm die Freiheit, sich schwerelos in einer fremden Welt zu bewegen. Als ich anfing, ApnoeTaucher zu fotografieren, gab es diese Art Bilder noch nicht.“
Die Frau, die immer Erste ist
Wie Lara Lessmann, 21, trotz ihrer Schüchternheit stets neue Welten erobert: im Bike-Park, im Internat, in diesem Sommer als Debütantin bei den Wettkämpfen in Tokio.
Text ALEXANDER NEUMANN-DELBARRE Foto CHRISTOPH VOY
Am Ende zählt nur der „Run“: sechzig Sekunden auf dem Rad. Was du vor der Jury zeigst, entscheidet über den Lohn für tausende Stunden Arbeit. Das macht die Sache so faszinierend – und manchmal so grausam.
Buenos Aires, Argentinien, Olympische Jugend-Sommerspiele 2018. Lara Lessmann steht auf einer Rampe am Rand des BMX-Parcours. Man sieht es ihrem lächelnden Gesicht nicht an, aber sie ist so nervös, dass ihr die Knie zittern. Lara versucht alles auszublenden: Die Teamgefährten, die sie anfeuern, weil eben ihr Name aufgerufen wurde. Den Druck, der auf ihr lastet, weil es hier und jetzt um Gold geht.
Sie atmet tief durch, dann lässt sie sich mit Schwung in die Rampe fallen. Konzentriert fährt sie durch den Parcours, die Sprünge sitzen, die Tricks funktionieren. Als es vorbei ist, weiß sie, warum sie sich das alles immer wieder antut: Sie schwebt fast vor Erleichterung und Glück. Der Run war so gut, dass sie damit Gold im Mixed-Wettbewerb mit Partner Evan Brandes gewinnt. Sie hat sich wieder was getraut, sich überwunden, sich belohnt. Und vielleicht ist ihr all das in Buenos Aires auch deshalb so gut gelungen, weil sie es im Grunde schon ihr halbes Leben lang macht – nicht nur auf der Rampe.
Laras steiler Weg beginnt auf dem „Schlachthof“
In wenigen Wochen wird Lara Lessmann mit 21 bei den Spielen in Tokio antreten. Als erste deutsche BMXerin in der Disziplin Freestyle Park, die dort Olympia-Premiere feiert. Ihr Ziel? „Ich möchte einen Podiumsplatz erreichen“, sagt sie im Videointerview, das sie von ihrer Berliner Wohnung aus gibt, „am liebsten natürlich den obersten.“ Laras Chancen stehen gut. Mit siebzehn gewann sie Silber bei der WM, mit neunzehn wurde sie Vize-Europameisterin, bei den Weltcup-Events der UCI steht sie regelmäßig auf dem Treppchen. Laras Geschichte klingt nach einer geradlinigen Erfolgsstory: Ein großes Talent, früh entdeckt, gut gefördert, fertig ist die MedaillenKandidatin. Aber es ist auch die Geschichte einer jungen Frau, die sich getraut hat, unbeirrt ihrer Leidenschaft zu folgen, die beharrlich blieb und gelernt hat, klug mit Zweifeln und Ängsten umzugehen. Es war kein ganz einfacher Weg.
Er beginnt in Flensburg. Norddeutschland, Ostsee, wirklich schöne Sandstrände. Aber an denen sieht man Lara selten. Ihre großen Brüder fahren BMX, irgendwann sieht sie die Burschen durch den örtlichen Skatepark namens „Schlachthof“ springen und weiß: Das will ich auch. Sie lernt die Rampen auf Inlinern kennen, dann auf dem Skateboard. Als ihre Großeltern eine kleine Summe in einer Lotterie gewinnen, schenken sie Lara ihr erstes BMX. Da ist sie neun und hat ihr Leben längst in den Schlachthof verlegt. „Ich war jeden Tag nach der Schule bis zum Sonnenuntergang dort. Meine Eltern haben mich teilweise richtig vermisst, weil ich kaum noch zu Hause war.“
Dass sie oft das einzige Mädchen im Skatepark ist, stört sie nicht. Die Jungs lassen es sie auch nicht spüren. Im Schlachthof gilt: Wer kommt, gehört dazu, ganz einfach. „Ich habe viel von den Jungs gelernt“, erzählt Lara. „Sie waren mir anfangs oft ein bisschen voraus. Wenn sie etwas Neues konnten, wollte ich das auch sofort können. Das war sehr motivierend.“ Dass Lara Talent hat, ist schnell klar. Wie gut sie wirklich ist, begreift auch sie selbst erst nach und nach.
Zuerst besiegt sie die Jungs. Weil 2012 bei einem Contest im Schlachthof keine Mädchen antreten, fährt sie einfach gegen ihre männlichen Altersgenossen und lässt sie alle hinter sich. Ähnlich macht sie es in den folgenden Jahren. Ab und zu bekommt sie was von einem angeblichen Mädchenbonus zu hören, lässt sich aber davon nicht irritieren.
Als Nächstes besiegt sie erwachsene Frauen. Gleich beim ersten Weltcup, den sie mit fünfzehn fährt, 2016 in Kroatien, setzt sich Lara gegen ein international besetztes Teilnehmerinnenfeld durch.
Schließlich, beim Weltcup 2017 in Budapest, schlägt sie zum ersten Mal die besten Fahrerinnen der
„Ich war jeden Tag bis Sonnenuntergang im Park am Bike.“
Lara Lessmann über ihre Jugend als oft einziges Mädchen unter Jungs
Welt. „Da dachte ich nur: Das kann nicht wahr sein!“ Ist es aber. Und eines ist ihr und einigen Verantwortlichen in der deutschen BMX-Szene wie dem heutigen Bundestrainer Tobias Wicke längst klar: Laras Talent muss noch professioneller gefördert werden. Auch, weil mittlerweile bekannt geworden ist: Es wird in Tokio einen olympischen Wettbewerb im BMX Freestyle Park geben.
Auf dem Internat beißt sie sich als Außenseiterin durch
Im Sommer 2017 zieht Lara Lessmann nach Berlin. Den besten BMXPark der Stadt, manche sagen: Deutschlands, kennt sie bereits: Im „Mellowpark“ in Köpenick hat sie schon ganze Sommerwochen verbracht, tagsüber auf dem BMX, nachts bei Freunden auf der Couch. Nun will sie an einer Sporteliteschule, ein paar Straßen vom Mellowpark entfernt, Abitur machen und sich zur Medaillenkandidatin in Tokio entwickeln. Guter Plan, bloß nicht einfach umzusetzen. „Ich merkte schnell, dass mein Leben sich komplett veränderte“, sagt Lara.
Der Wettkampf-Rhythmus wird härter, sie tritt bei Weltcupbewerben an, bei Weltmeisterschaften, kämpft um die Olympia-Quali, 2018 fährt sie eine Live-Demo bei den X Games. Gleichzeitig hat sie es in der Schule nicht leicht. Sie ist dort die erste BMXerin, ein Sonderling und Außenseiter. Ein bisschen ist es wie im Schlachthof früher, nur dass sie jetzt nicht umgeben ist von einem Haufen netter Skatepark-Kids, sondern von ehrgeizigen Fußballern, Kanuten und anderen Leistungssportlern. „Es war nicht leicht, akzeptiert und ernst genommen zu werden“, sagt sie. „Das hat mich auch mal runtergezogen, und ich habe die eine oder andere Träne vergossen.“ Lara ist keine Sprücheklopferin. Im Interview wirkt sie fröhlich, freundlich, aber eher ruhig. Keine Eigenschaften, mit denen man angehende Fußballprofs beeindruckt. Aber sie lernt, die Sprüche zu kontern und auch mit dem Druck der vielen Wettkämpfe umzugehen. „Es war nicht einfach, mich in dieser Zeit zu beweisen. Aber ich war stark genug. Vielleicht auch, weil ich abgehärtet war durch das BMX-Fahren. Wenn du als Frau jahrelang in einer männerdominierten Sportart dabei bist, lernst du, dich durchzusetzen. Du wirst selbstbewusst, selbständig, vertraust auf deine Stärken.“
Das Bewältigen eines persönlichen „Angsttricks“
Und noch etwas hat sie auf dem BMX gelernt: wie man gewaltig scheinende Herausforderungen bewältigt – Stück für Stück, im eigenen Tempo und mit großer Beharrlichkeit. So wie den Rückwärtssalto. Sie nennt ihn „meinen Angsttrick“.
Als sie vor zwei Jahren anfängt, daran zu arbeiten, gruselt ihr davor. Sie übt erst im Schaumstoffbecken. Sprung um Sprung landet sie darin, jedes Mal versucht sie, das Rad etwas weiter zu drehen. „Das sah nicht cool aus. Und wenn du kopfüber mit dem Rad auf dir landest, tut das auch im Schaumstoffbecken weh.“
Aber sie kommt voran. Sie hat das Projekt in kleine Portionen unterteilt, die große Furcht in kleine überwindbare Ängste. Mit jedem Sprung überschreitet sie eine neue machbare Grenze. Erst als sie sich absolut sicher fühlt, das dauert sechs Monate, wagt sie den Sprung auf der Rampe – und schafft ihn. Ein paar Wochen später folgt ein Rückschlag: Sie stürzt beim Rückwärtssalto, die Angst ist zurück.
Was ihr nun hilft? „Wieder von vorn anzufangen, bei Schritt eins, und zu akzeptieren, dass nicht alles sofort klappt. Jeder hat seine eigene Zeit, die er braucht, um seine Angst zu überwinden. Die muss man sich geben und darauf vertrauen, dass man es schafft. Das ist, glaube ich, das Geheimrezept: Mach dir selbst nicht zu viel Druck.“
Zur Not enteist Lara die Rampen per Bunsenbrenner
Den macht sich Lara nun auch vor Tokio nicht. „Ich werde alles geben, um was zu reißen. Aber ich fnde, man kann auch schon stolz sein, überhaupt unter den neun Fahrerinnen zu sein, die dort teilnehmen.“
Auch dass ihre Vorbereitung der Pandemie wegen ganz anders verläuft als geplant, nimmt sie gelassen. „Es hat auch Vorteile gehabt: Ich kam zur Ruhe, konnte meine Batterien aufladen. Ich habe jeden Tag im Olympia-Stützpunkt an meiner Kraft und Ausdauer gearbeitet.“ Zuletzt reiste Lara fürs Wintertraining nach Kalifornien oder Spanien. Diesmal blieb sie in Berlin und griff auch mal zum Bunsenbrenner, um die Rampen vom Eis zu befreien.
Was sie immer wieder antreibt: „Ich will beweisen, dass ich was draufhabe, und jungen Frauen zeigen, dass man sich auch in einer von Männern dominierten Sportart durchsetzen kann. Und klar, Erfolg zu haben, das macht einfach Spaß.“
Ihren bislang größten kann sie in Tokio einfahren. Sie wird wieder an der Rampe stehen, sich überwinden, konzentriert in den entscheidenden Run starten. Ob sie dann ihren Angsttrick wagen wird, den Rückwärtssalto? Sie hat da eine Ahnung. Aber verraten will sie es noch nicht.
Mit Bike und ohne – auf Instagram zeigt Lara Highlights ihrer Tage: @lara_lessmann
„#MeToo war ein Riesenschritt nach vorn“
Sie ist die Sängerin von London Grammar und macht ihre Band zur Nummer eins in England. Wie? Hannah Reid verwandelt ihren Ärger über mächtige Männer in Kunst.
Text STEPHANIE PHILLIPS Foto WILL REID
Als wir Hannah Reid daheim in West London erreichen, erzählt sie, wie sie und ihre Band das Beste aus dem Lockdown gemacht haben: „Statt auf Tour zu gehen, haben wir neue Songs geschrieben und an einem vierten Album gearbeitet.“
Diese Ansage kommt überraschend, denn das dritte Album von London Grammar ist zum Zeitpunkt des Interviews gerade erst erschienen. „Californian Soil“ ist eine Sammlung aus geschickt gemachten Tracks, die toxische Frauenfeindlichkeit, das Ende des American Dream und Reids persönliche Entwicklung behandeln. Und es stieg sofort auf Nummer eins der Charts ein. Was auffällt: Die Lieder sind selbstbewusster als die Songs auf früheren Alben der Band. Dieses neue Selbstbewusstsein schreibt die 31Jährige der Inspiration durch eine jüngere Generation von Künstlerinnen zu.
the red bulletin: Sie wurden ziemlich jung bekannt. Wie hat Sie das persönlich beeinfusst?
hannah reid: Wir haben unseren ersten Plattenvertrag bekommen, als ich 21 war, das hat mich als Mensch auf jeden Fall verändert. Die Musikindustrie ist ein hartes Pfaster. Sie ist komplett von Männern dominiert, und der Wechsel in dieses Umfeld war eine krasse Umstellung für mich. Wenn du erfolgreich wirst, haben plötzlich viele Leute, die du nicht kennst, eine Meinung zu dir und deiner Arbeit. Du riskierst, dein Gefühl dafür zu verlieren, wer du bist. Aber ich glaube, dass ich mir dieses Gefühl auf dem dritten Album wieder zurückhole. Ich habe mich als Mensch verändert, und hinter meiner Musik steckt eine andere Energie. Das Album klingt ziemlich poppig, aber die Texte sind teilweise dunkel und aggressiver als sonst.
Ist das Selbstbewusstsein mit dem Alter gekommen?
Auf dem ersten Album war ich tatsächlich sehr verloren und verletzlich, wie viele junge Leute es in diesem Alter sind. Auf dem zweiten Album habe ich mich hinter den Texten versteckt. Jetzt dachte ich mir: „Ich werde sagen, was auch immer ich sagen will.“
Sie haben erwähnt, dass Sie das neue Album als feministisches Werk sehen …
Die Texte sind es defnitiv. Ich habe prägende Erfahrungen als Frau in der Musikindustrie gesammelt, und als ich dann nach Hause kam und meinen Freundinnen davon erzählte, habe ich gemerkt, dass sie alle dieselben Erfahrungen gemacht hatten. Und das, obwohl sie gar nicht in derselben Branche arbeiten. Es war enttäuschend. Ich dachte: „Wow, die Welt hat sich nicht so weiterentwickelt, wie ich geglaubt hatte.“
Glauben Sie, dass die #MeTooBewegung einen bleibenden Effekt auf die Musikindustrie hat?
#MeToo ist ähnlich wie Black Lives Matter – es hat Menschen dazu gebracht, in sich zu gehen und nachzudenken. Sogar wirklich gute Männer, mit denen ich zusammengearbeitet habe, sagten: „Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass Frauen sich so fühlen.“ #MeToo war ein Riesenschritt nach vorn.
Lassen Sie sich auch von anderen Künstlerinnen inspirieren?
Ich liebe jede Art von Kunst, die von Frauen geschaffen wurde und in der es darum geht, unsere Stärken zu kennen und unser Leben selbst zu bestimmen. Gerade gibt eine neue Generation von Künstlerinnen den Weg vor, zum Beispiel Arlo Parks und Billie Eilish. Sie sind deutlich jünger als ich, aber haben die Kontrolle über ihre Karriere und sagen alles, was sie sagen wollen. Das macht mir neuen Mut.
Lässt Sie Ihr neu gewonnenes Selbstvertrauen auch an eine Solo-Karriere denken?
Zwischen uns drei in der Band ist eine Magie, die ich wirklich schätze. Egal wie sich die Musik von Album zu Album verändert: Wir als Trio haben uns immer weiterentwickelt. Es ist faszinierend, ein Teil davon zu sein. Obwohl: Ich könnte mir schon vorstellen, eines Tages ein wirklich obskures, tragisches CountryAlbum aufzunehmen, das sich vermutlich niemand anhören würde. Aber das ist noch weit weg.
London Grammars Album „Californian Soil“ ist bereits erschienen.
„Künstlerinnen wie Billie Eilish machen mir neuen Mut.“
Sängerin Hannah Reid, 31, wird von einer neuen Generation selbstbewusster Künstlerinnen inspiriert.
„Deine Angst kann auch ein Antrieb sein“
Eisbaden, Kühe melken, allein durch Georgien wandern: Schauspielerin Henriette Confurius, 30, über die spezielle Kraft, die man nur in der Natur fndet.
Interview RÜDIGER STURM Foto MATHIAS BOTHOR
Das Jahr 2021 könnte für die Karriere von Henriette Confurius, 30, ziemlich bedeutend werden. Nach der NetfixSerie „Tribes of Europa“ ist sie in zwei Kinoflmen zu sehen: Sowohl in dem Drama „Das Mädchen und die Spinne“ wie auch in der BestsellerVerflmung „Generation Beziehungsunfähig“ spielt sie eine Hauptrolle. Die Kraft, die sie für ihr Spiel braucht, holt sie sich in der Natur. Im Gespräch erklärt sie, wie ihr diese Erfahrungen geholfen haben, ihr volles Potenzial auszuschöpfen.
the red bulletin: Fast gleichzeitig starten zwei Kinoflme mit dir. Gibt es einen gemeinsamen Nenner?
henriette Confurius: Vielleicht die Angst, Gefühle zuzulassen und sie dann ehrlich auszudrücken. Und auch die Angst vor dem Schmerz des Verlassenwerdens.
Was ist deine Erfahrung? Kann man solche Ängste überwinden?
Ängste sind ja prinzipiell nichts Schlechtes. Angst kann auch ein Antrieb sein. Ein Problem wird sie nur, wenn sie einen davon abhält, das Leben zu führen, das man führen will.
Wie hast du herausgefunden, welches Leben du führen willst?
Eine wichtige Erfahrung war, dass ich mit siebzehn ein Jahr auf einer Farm in Irland gelebt habe. Ich hatte mit zehn mit dem Schauspielen angefangen und wollte nicht mehr weitermachen. Die Schule hatte ich auch abgebrochen – so habe ich mir eine Pause von meinem Leben genommen.
Was hat das mit dir gemacht?
Ich habe mich dabei besser kennengelernt – und gemerkt, was mir guttut: frühes Aufstehen, eine feste Struktur und ganz besonders die körperliche Arbeit – wie Kühemelken. Viele Menschen wissen gar nicht mehr, wie es sich anfühlt, physisch zu arbeiten.
Aber du melkst ja auch nicht mehr jeden Tag Kühe.
Nein, aber ich stehe noch immer früh auf, um den Sonnenaufgang zu erleben. Im Alltag hinterfragt man vieles, und das löst ein Grundrauschen an Sorgen und Stress aus. Das verschwindet in solchen Momenten. Wenn ich früh genug draußen war und frische Luft hatte, dann befnde ich mich in einem Rhythmus, der zu mir passt. Eine ganz ähnliche Wirkung hat es, wenn ich durch den Wald gehe oder am Meer sitze.
Was war bis jetzt deine intensivste Naturerfahrung?
Ich bin vor etwa sechs Jahren einen Monat lang durch Georgien gewandert – und zwar ohne wirklich gut Karten lesen zu können. Und ich hatte nie viel Proviant dabei. Einmal war ich zwei Tage durchgehend in der Natur unterwegs, ohne einen Menschen zu treffen. Aber ich habe nicht daran gedacht, dass mir etwas passieren könnte. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass ich schon jemandem begegnen werde.
Woher hast du diese Sicherheit genommen?
Ich muss zugeben, dass da ein bisschen Naivität dabei war. Aber ich bin jemand, der sich in vermeintlich gefährlichen Situationen sicher fühlen kann. Ich glaube, speziell aus meinen Naturerfahrungen habe ich gelernt, mit meinen Ängsten umzugehen. Vieles ist Kopfsache.
Wie hast du das gelernt?
Mit Eisbaden zum Beispiel. Normalerweise löst die Vorstellung von eiskaltem Wasser Angst aus, zum Beispiel vor dem Krankwerden. Wir denken, wir sind da in Gefahr. Aber du darfst deine Empfndungen nicht bewerten. Das ist wie in einer Meditation – du beobachtest nur. Und sagst dir: Das ist Kälte, und sie macht das und das mit meinem Körper. Mein Herzschlag wird erst sehr, sehr schnell und dann plötzlich sehr langsam. Die Farben, die ich sehe, verändern sich. Das, was ich höre, verändert sich, und auch mein Zeitgefühl. Ein ähnliches Beispiel habe ich beim Dreh zu „Das Mädchen und die Spinne“ erlebt, wo ich eine Spinne über meine Hand laufen lassen musste. Zuerst hat sich der Körper aus spontanem Ekel heraus verkrampft, aber dann habe ich ihr einfach nur zugeschaut und alles geschehen lassen, schon war ich ruhig.
„Das Mädchen und die Spinne“ startet am 24. Juni in den Kinos, „Generation Beziehungsunfähig“ am 1. Juli.
„Ich habe ein Jahr auf einer Farm gearbeitet. Das hat mich geprägt.“
Netflix-Star Henriette Confurius nahm sich in Irland eine „Auszeit vom Leben“.
Dossier DIE ZUKUNFT DES FUSSBALLS
…wird sehr anders. Auf den folgenden Seiten erzählen uns Experten, warum Profi-Spieler ihr Gehirn am Klavier trainieren, Frauen TV-Rekorde brechen und Lionel Messi bald keine Freistoß-Tore mehr schießt. Und keine Angst: Das Runde muss weiterhin ins Eckige.