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BOULEVARD DER HELDEN. Eine

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DER COMPUTER-COACH

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MARLENE DIETRICH ZUCKER ODER FETT?

Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 4: Wie eine junge dicke Journalistin bei der Diva ihr Fett abkriegte.

Thusnelda Harris war gerade ein es gab vieles, was er ihm von früher her mal zwanzig Jahre alt, als ihr schuldig war. Immerhin: Einen besseren Henry R. Luce, Herausgeber des Start in das Leben einer dicken hübschen amerikanischen „Life Magazine“, Schriftstellerin, als Marlene Dietrich zu den Auftrag erteilte, Marlene interviewen, gab es nicht. Dietrich zu interviewen. Henry Luce war ein Freund von Miss Harris’ Vater aus Studentenzeiten, sein ehemaliger Kommilitone hatte ihn gebeten, seiner MICHAEL KÖHLMEIER Der Vorarlberger M arlene Dietrich war zu dieser Zeit am Höhepunkt ihrer Karriere angelangt. Sie war der Inbegriff der Tochter eine Chance zu geben. Denn Bestsellerautor gilt Diva. „Die Apotheose der Diva“, wie der zur Schönheitskönigin werde sie es nicht als bester Erzähler Schriftsteller Gore Vidal schrieb. Nach bringen, sagte er. Das war im Jahr 1958, dreizehn Jahre deutscher Zunge. Zuletzt erschienen: „Die Märchen“, ihr werde man von einer Diva nur mehr in der Vergangenheitsform sprechen. nach Ende des Krieges. Amerika präsen 816 Seiten, Verlag Ein Jahr zuvor war der Film „Witness tierte sich der Welt als Vorbild, als poli Carl Hanser. for the Prosecution“, also „Zeugin der tisches, wirtschaftliches und militärisches Anklage“, herausgekommen, eine AdapVorbild – und als Vorbild, was den Lebensstil betraf. tion des gleichnamigen Stücks von Agatha Christie, Auch wenn Ärzte schon damals besorgt feststellten, bei der Billy Wilder Regie geführt hatte. Marlene dass die amerikanische Jugend von Jahr zu Jahr Dietrich spielt darin die Ehefrau eines vermeintdicker werde, war Amerikas selbstbewusst fröhlicher lichen Mörders, verkörpert von Tyrone Power – die Vorschlag an die Welt: ft sein und schlank sein! Auflösung soll hier nicht bekanntgegeben werden,

Thusnelda Harris hatte mit Auszeichnung als ich halte mich an die Bitte der Produktionsfrma, Beste ihres Jahrgangs in Hartford, Connecticut, das die über dem Abspann zu lesen war: Wer den Film College absolviert und war im ersten Anlauf an der gesehen habe, solle den Schluss nicht verraten. MarColumbia University in New York aufgenommen lene Dietrich gibt in diesem Film einen neuen Typ worden; aber sie war dick, sehr dick. Dazu hatte sie Frau, neu im amerikanischen Kino: eine schlanke, ein hübsches Gesicht. Was paradoxerweise als ein androgyne, hohe Erscheinung, spitze Schultern, weiterer Nachteil gewertet wurde. Sie wollte näm schmale Wangen, rauchige Stimme, nach außen hin lich Schriftstellerin werden. Eine dicke hässliche kalt und berechnend, intelligent, wagemutig und Schriftstellerin wäre mit dem nationalen Selbstver vorausblickend wie eine Meisterschachspielerin, die ständnis verträglich gewesen, ebenso eine schlanke Männer einschüchternd, den Männern überlegen, hübsche, nicht jedoch eine Mischung, also eine wie tief drinnen aber – so viel darf verraten werden – Thusnelda Harris. lodernd vor Leidenschaft, tapfer und treu.

Ihr Vater war dieser Meinung und sein Freund Nie zuvor war auf der Leinwand eine so widerHenry Luce auch und die amerikanische Öffentlich sprüchliche Figur gezeigt worden, und hätte Billy keit auch. Aber Mister Harris liebte seine Tochter, Wilder die Rolle mit einer anderen Schauspielerin und Mister Luce respektierte seinen Freund, und besetzt, wir befürchten, die ganze Geschichte wäre

wegen Unglaubwürdigkeit in sich zusammengebrochen. In Anspielung auf Dietrichs ersten großen Erfolg „Der blaue Engel“, die Verflmung des Romans „Professor Unrat“ von Heinrich Mann, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Die Wandlung vom blauen zum schwarzen Engel ist vollzogen.“ Nach diesem Film relativierten sich die Sexsymbole Marilyn Monroe und Mae West zu Pin-up-Bildchen an der Innenseite der Kleiderschränke von Pubertierenden. Marlene Dietrich war das erste und vielleicht einzige erwachsene Sexsymbol – was die Frage aufwirft, ob dieser Begriff hier überhaupt zutrifft.

An den Star heranzukommen war schwer, selbst für den Herausgeber des „Life Magazine“. Eine Kette von Fürsprechern und Fürsprecherinnen war nötig. Über den Komponisten Burt Bacharach gelang es schließlich, Marlene Dietrichs Interesse zu wecken – ausdrücklich ihr Interesse an einer „jungen dicken Frau mit hübschem Gesicht, die Schriftstellerin werden möchte“.

Als die Diva schließlich Thusnelda Harris gegenüberstand, lachte sie heraus und rief: „Sie sind ja noch dicker und noch hübscher, als mir versprochen wurde. Jetzt sehe ich kein Hindernis mehr, dass Sie auch eine großartige Schriftstellerin werden.“

Miss Harris stellte Marlene Dietrich ihre erste Frage: „Was war das Wichtigste, worauf Sie in Ihrem Leben verzichtet haben?“

Nach einer langen Pause fragte Frau Dietrich: „Inwiefern wichtig?“ „Ich meine“, antwortete Miss Harris, „was sollte man im Leben keinesfalls tun?“

Wieder nach einer langen Pause sagte Frau Dietrich: „Zucker essen.“ „Soll ich Ihre Antwort auf mich beziehen?“, fragte Miss Harris, als würde sie die Antwort nicht auf sich beziehen. „Sie meinen, ich bin zu dick, weil ich zu viel Zucker esse. Habe ich recht?“ „Zeigen Sie mir Ihre Zähne!“, sagte Frau Dietrich. Sie saß in einigem Abstand von ihrer Interviewerin. Sie war geschminkt und gekleidet wie Christine Vole in „Zeugin der Anklage“. Die Redaktion des „Life Magazine“ hatte angekündigt, man werde einen Fotografen schicken, den besten selbstverständlich. Marlene Dietrich wollte wahrgenommen werden, wie Millionen sie kurz zuvor auf der Leinwand gesehen hatten. „Kommen Sie her!“, rief sie der jungen Interviewerin zu.

Miss Harris ging um den Tisch herum. „Näher!“

Miss Harris trat näher. „Noch näher! Und nun beugen Sie sich über mich und machen den Mund auf!“

Auch das tat Miss Harris.

Frau Dietrich schaute in Miss Harris’ Mund, sie zog mit den Zeigefngern die Backen auseinander, sie schnupperte, sie griff nach den Schneidezähnen, rüttelte daran. Schließlich sagte sie: „Sie essen nicht viel Zucker, habe ich recht? Oder Sie putzen viermal am Tag die Zähne. Was nun?“ „Ich mag Süßes nicht“, antwortete Miss Harris.

Frau Dietrich ließ die Arme sinken, sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Dann ist es also doch das Fett. Ich kann es nicht glauben“, murmelte sie, sprach zu sich selbst. „Ich kann es nicht glauben… ich will es nicht glauben…“ „Ich verstehe Sie nicht.“ „Sie verstehen mich nicht?“, sagte Frau Dietrich. „Wirklich nicht? Sie sollten mich aber verstehen. Ich komme aus Deutschland, und ich bin nach Amerika ausgewandert, weil ich mit Hitler und seinen Verrückten nichts zu tun haben wollte. Ich bin nicht so erzogen worden, wie die Nazis die Welt gesehen haben. Ich bin Amerikanerin geworden. So eine wie Sie. Dann hat Hitler gegen England einen Krieg begonnen, und Amerika ist England zur Seite gesprungen, und wir haben Hitler besiegt. Und nun haben sich Amerika und England zerstritten, Amerika und Europa. Wussten Sie das nicht?“ „Nein“, sagte Miss Harris, „das weiß ich nicht.“ „Der Fett-Zucker-Krieg“, füsterte Frau Dietrich und winkte Miss Harris nahe an sich heran. „Die Engländer behaupten, Zucker macht dick, die Amerikaner sagen, es ist das Fett. Macht der Zucker dick, oder macht das Fett dick? Das ist doch die Frage.“

Miss Harris sagte: „Sie nehmen mich auf den Arm, Mrs. Dietrich. Aber das macht nichts. Es ist eine Ehre, von Ihnen auf den Arm genommen zu werden.“ „Reden Sie kein dummes Zeug“, zischte Frau Dietrich sie an. Die beiden Frauen waren nicht allein in dem Raum – einem Extrazimmer im Hotel Waldorf-Astoria in der Park Avenue in New York City. „Wer diesen Krieg gewinnt, America oder Old Europe, der wird die Zukunft gewinnen. Die Zukunft ist schlank. Die Zukunft ist durchtrainiert. In Zukunft sehen Siebzigjährige aus wie heute die Vierzigjährigen. Und warum? Weil sie sich schlank halten. Da kannst du eine noch so hübsche Larve haben, wenn deine Oberschenkel wabbeln und deine Oberarme wabbeln, dann wird nichts aus dir. Ich war vorhin freundlich, ich wollte dich nicht entmutigen, Kleines. Verträgst du die Wahrheit? Ja, du verträgst sie. Aus den Fetten werden auch keine Schriftstellerinnen. Warum nicht? Weil niemand fette Schriftstellerinnen

„Sie nehmen mich auf den Arm, Mrs. Dietrich. Aber das macht nichts.“

mag. Am allerwenigsten die Fetten. Die Fetten wollen nur schlanke Menschen sehen. Aber weil es immer weniger schlanke und immer mehr fette Menschen gibt, fängt der Mensch an, sich selbst zu hassen. Die Fetten kriegen die Krankheiten ab, und sie kriegen den Spott ab, sie gehen als Letzte durch das Ziel, und sie sterben als Erste. Zucker oder Fett, das ist die Frage. Du isst wirklich keinen Zucker, Kleines? Ich sag’s nicht weiter. Sag mir die Wahrheit. Flüstere mir die Wahrheit ins Ohr. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit!“

Und Thusnelda Harris füsterte Marlene Dietrich die Wahrheit ins Ohr: „Ich bin verrückt nach Süßem. Ich esse heimlich Süßes. Ich habe gelogen und lüge die ganze Zeit. Mum und Dad denken, ich mag Süßes nicht. Aber ich mag es. Ich bin süchtig danach. Ich bin verloren. Ich fresse und fresse und fresse Süßes. Ich kann nicht mehr. Helfen Sie mir, Mrs. Dietrich! Bitte, helfen Sie mir!“

Frau Dietrich seufzte und nickte, nickte lang, seufzte lang. „Wir sollten mit den Engländern Frieden schließen“, sagte sie. „Friss Fett, Kleines! Und lass das Süße! Das Süße ist das Wichtigste, worauf ich in meinem Leben verzichtet habe.“

Damit erhob sie sich, drehte sich noch einmal zu dem Fotografen um – es war übrigens Richard Avedon, der damals hippste Modefotograf von New York –, senkte die Augenlider und sog die Wangen ein. Dann wirbelte sie herum und war weg.

Thusnelda Harris’ Interview mit Marlene Dietrich ist nie im „Life Magazine“ erschienen. In den folgenden Jahren hat sie dreißig Kilo abgenommen. Sie wurde eine erfolgreiche Schriftstellerin. In einem ihrer Romane beschreibt sie die Begegnung einer jungen dicken Journalistin mit einem berühmten Filmstar.

„Das Süße ist das Wichtigste, worauf ich in meinem Leben verzichtet habe.“

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