The Red Bulletin DE 07/21

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B O U L E VARD DER HEL DEN

MARLENE DIETRICH

ZUCKER ODER FETT?

Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 4: Wie eine junge dicke Journalistin bei der Diva ihr Fett abkriegte.

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THE RED BULLETIN

BENE ROHLMANN, CLAUDIA MEITERT

GETTY IMAGES

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MICHAEL KÖHLMEIER

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husnelda Harris war gerade ein­ es gab vieles, was er ihm von früher her mal zwanzig Jahre alt, als ihr schuldig war. Immerhin: Einen besseren Henry R. Luce, Herausgeber des Start in das Leben einer dicken hübschen amerikanischen „Life Magazine“, Schriftstellerin, als Marlene Dietrich zu den Auftrag erteilte, Marlene interviewen, gab es nicht. Dietrich zu interviewen. Henry Luce arlene Dietrich war zu dieser Zeit war ein Freund von Miss Harris’ Vater am Höhepunkt ihrer Karriere an­ aus Studentenzeiten, sein ehemaliger MICHAEL KÖHLMEIER Der Vorarlberger gelangt. Sie war der Inbegriff der Kommilitone hatte ihn gebeten, seiner Bestsellerautor gilt Diva. „Die Apotheose der Diva“, wie der Tochter eine Chance zu geben. Denn als bester Erzähler Schriftsteller Gore Vidal schrieb. Nach zur Schönheitskönigin werde sie es nicht deutscher Zunge. ihr werde man von einer Diva nur mehr bringen, sagte er. Zuletzt erschienen: in der Vergangenheitsform sprechen. Das war im Jahr 1958, dreizehn Jahre „Die Märchen“, Ein Jahr zuvor war der Film „Witness nach Ende des Krieges. Amerika präsen­ 816 Seiten, Verlag tierte sich der Welt als Vorbild, als poli­ Carl Hanser. for the Prosecution“, also „Zeugin der tisches, wirtschaftliches und militärisches Anklage“, herausgekommen, eine Adap­ tion des gleichnamigen Stücks von Agatha Christie, Vorbild – und als Vorbild, was den Lebensstil betraf. bei der Billy Wilder Regie geführt hatte. Marlene Auch wenn Ärzte schon damals besorgt feststellten, Dietrich spielt darin die Ehefrau eines vermeint­ dass die amerikanische Jugend von Jahr zu Jahr lichen Mörders, verkörpert von Tyrone Power – die ­dicker werde, war Amerikas selbstbewusst fröhlicher Auflösung soll hier nicht bekanntgegeben werden, Vorschlag an die Welt: fit sein und schlank sein! ich halte mich an die Bitte der Produktionsfirma, Thusnelda Harris hatte mit Auszeichnung als die über dem ­Abspann zu lesen war: Wer den Film Beste ihres Jahrgangs in Hartford, Connecticut, das ge­sehen habe, solle den Schluss nicht verraten. Mar­ College absolviert und war im ersten Anlauf an der lene Dietrich gibt in diesem Film einen neuen Typ Columbia University in New York aufgenommen Frau, neu im amerikanischen Kino: eine schlanke, worden; aber sie war dick, sehr dick. Dazu hatte sie andro­gyne, hohe­Erscheinung, spitze Schultern, ein hübsches Gesicht. Was paradoxerweise als ein schmale Wangen, rauchige Stimme, nach außen hin weiterer Nachteil gewertet wurde. Sie wollte näm­ lich Schriftstellerin werden. Eine dicke hässliche kalt und berechnend, intelligent, wagemutig und Schriftstellerin wäre mit dem nationalen Selbstver­ vorausblickend wie eine Meisterschachspielerin, die ständnis verträglich gewesen, ebenso eine schlanke Männer einschüchternd, den Männern überlegen, hübsche, nicht jedoch eine Mischung, also eine wie tief drinnen aber – so viel darf verraten werden – Thusnelda Harris. ­lodernd vor Leidenschaft, tapfer und treu. Ihr Vater war dieser Meinung und sein Freund Nie zuvor war auf der Leinwand eine so wider­ sprüchliche Figur gezeigt worden, und hätte Billy Henry Luce auch und die amerikanische Öffentlich­ keit auch. Aber Mister Harris liebte seine Tochter, Wilder die Rolle mit einer anderen Schauspielerin und Mister Luce respektierte seinen Freund, und besetzt, wir befürchten, die ganze Geschichte wäre


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