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FRAUEN GEHEN VORAN

Olympische Spiele, Weltmeisterschaft, Champions League: Als Spielerin hat

ANJA MITTAG, 36, alles gewonnen. Im Trainerteam von RB Leipzig will sie ihren Sport aufs nächste Level heben – als starkes Vorbild mit eigenem Podcast.

FRAUEN SETZEN DIE TRENDS DIE ZUKUNFT IST WEIBLICH

Text: Nicol Ljubi´c Fotos: Urban Zintel

Wie es sein sollte, hat Anja Mittag in der Saison 2002/03 erlebt. Letzter Spieltag, Showdown zwischen Turbine Potsdam und FFC Frankfurt, es ging um die Meisterschaft. 7900 Zuschauer drängten sich ins Karl-Liebknecht-Stadion in Babelsberg. Beim Anpfff – daran erinnert sich Anja Mittag – standen immer noch Menschen draußen. „Diese Stimmung, diese besondere Anspannung – ich fand das großartig“, sagt sie. Es war ihre erste Saison in der Bundesliga und nach vielen Spielen vor ein paar Dutzend Zuschauern auch das erste Mal, dass ihr klar wurde: Krass, da geht was, die Leute interessieren sich ja doch für Frauenfußball! So sollte es immer sein, dachte sie damals, nicht nur am letzten Spieltag, wenn es um die Meisterschaft geht.

Endlich zündet der Turbo

Seitdem hat sich viel getan im Frauenfußball, vor allem die vergangenen Jahre waren wie ein Turbo für die Entwicklung. Es gab einen Rekord nach dem anderen: 60.700 Zuschauer beim Ligaspiel zwischen Atlético Madrid und dem FC Barcelona, 77.800 beim Testspiel zwischen England und Deutschland im WembleyStadion. 993 Millionen Menschen weltweit vor den Fernsehern während der WM 2019 in Frankreich, 30 Prozent mehr als noch bei der Weltmeisterschaft in Kanada vier Jahre zuvor. 822.000 aktive Spielerinnen waren 2020 beim DFB gemeldet, 2010 waren es 711.000 gewesen. Und mittendrin in dieser Entwicklung: Anja Mittag. Es gibt wohl kaum eine bessere Zeitzeugin für das, was sich in den vergangenen zwanzig Jahren im Frauenfußball getan hat.

Schwer zu stoppen: Mit Tempo-Fußball stieg RB Leipzig zuletzt in die 2. Bundesliga auf. Hier dribbelt Marlene Müller (Nr. 27) im DFB-Pokal gegen den 1. FFC Niederkirchen.

Anja Mittag kam 2002 zu Turbine Potsdam in die 1. Bundesliga, spielte im Laufe ihrer Karriere unter anderem beim FC Rosengård und dem Malmö FF in Schweden, bei Paris Saint-Germain und dem VfL Wolfsburg. 2019 wechselte sie zu RB Leipzig und stieg mit der Mannschaft in die 2. Liga auf. Eigentlich hatte sie als Spielerin längst aufhören und sich auf ihre Aufgabe als Individualtrainerin konzentrieren wollen, aber weil immer wieder Spielerinnen aufgrund von Verletzungen fehlen, steht sie mit 36 Jahren nach wie vor auf dem Platz. Anja Mittag hat 158 Spiele für die deutsche Nationalmannschaft bestritten und jeden Titel gewonnen, den es im Fußball zu gewinnen gibt: Spielerin des Jahres, Torschützenkönigin, Rekordtorschützin in den Vereinswettbewerben der UEFA, dazu Olympiasiegerin, Weltmeisterin, mehrfache Europameisterin sowie deutsche und schwedische Meisterin, Pokal- und Champions-League-Siegerin. Dass der Fußball heute weiblicher denn je ist, hat auch mit Spielerinnen wie ihr zu tun.

Als sie anfng, hatten sie bei Turbine Potsdam nicht mal einheitliche Trainingskleidung. Anja Mittag erinnert sich an die Zeiten, in denen die eine Spielerin im

Offensiv-Mission: Als Trainerin konzentriert sich Anja Mittag vor allem auf die Schulung der Stürmerinnen.

Ideale Basis: In Leipzig profitieren die Frauen von der Top-Infrastruktur – samt Kunstrasen.

Dortmund-Trikot, die andere im Hoodie zum Training kam. An die Plätze, auf denen sie ihre Ligaspiele austrugen – eher Dorfacker als Stadien. Und an die Rückfahrten im Bus, während der die Spielerinnen vom Physiotherapeuten ausmassiert wurden. Heute gehört nicht ein Physiotherapeut zur Mannschaft, sondern mehrere, die Spielerinnen bekommen Trainingspläne, und statt im Bus massiert zu werden, bekommen sie Zeit zum Regenerieren. Es gibt nicht bloß einen Co-Trainer, der für Torwart- und Athletiktraining zuständig ist, sondern einen für jeden Bereich. Heute proftieren die Spielerinnen auch von der Infrastruktur der Männer, denn viele Bundesliga-Vereine haben die Bedeutung des Frauenfußballs und dessen Potenzial bereits erkannt. Dazu gehören unter anderem der FC Bayern, der VfL Wolfsburg, die TSG Hoffenheim, Bayer Leverkusen, Werder Bremen und RB Leipzig.

Quotenrekorde und eigene Köche

Besonders wichtig für die Entwicklung aber waren die deutsche Frauennationalmannschaft und deren Erfolge, Anja Mittag nennt sie „Zugpferd“. Sie erinnert sich an ein Freundschaftsspiel gegen Brasilien in Frankfurt im Jahr 2009 vor 44.800 Zuschauern. Dann kam die WM 2011 in Deutschland und lockte insgesamt 845.700 Zuschauer in die Stadien. Das Spiel gegen Spanien während der WM 2019 sahen sich 6,15 Millionen Menschen im deutschen Fernsehen an, das war die höchste Quote aller PrimeTime-Programme an jenem Tag. Aber es war nicht nur die öffentliche Wahrnehmung der Nationalmannschaft, die den Frauenfußball voranbrachte, sondern auch eine Infrastruktur, die sie als Frauen in den Vereinen lange nicht vorgefunden hatten. Dass zum Beispiel ein Koch mit dabei war, nicht nur bei großen Turnieren, sondern auch bei Lehrgängen und Länderspielen. Dazu kamen mehrere Physiotherapeuten, gute Trainingsplätze und richtige Stadien.

Den stärksten Boost aber, so erlebt es Anja Mittag, erfährt der Frauenfußball, seitdem auch andere Länder in Europa angefangen haben, in den Sport zu investieren. Das führte dazu, dass bei der Europameisterschaft 2017 nicht wie gewohnt die deutsche Mannschaft den Titel holte, sondern erstmals die niederländische. „Auf einmal merkte man, da

Mittendrin: Anja Mittag im Spieler(innen)trakt des Trainingszentrums

passiert was in anderen Ländern, es tut sich was“, sagt Mittag, „die Konkurrenz wird besser, und als Fußballerin kann man plötzlich auch in England spielen, in Spanien, in Frankreich, in Schweden. In meiner Zeit hatte ich noch nicht so viele Optionen. Jetzt hast du als Spielerin viel mehr Möglichkeiten, was super ist für die Entwicklung des Frauenfußballs.“

England läutet die Zukunft ein

Es ist aber vor allem England, das mit der ersten europäischen Profliga, der Women’s Super League (WSL), die große Zukunft des Frauenfußballs eingeläutet hat. Die Liga zieht die besten Spielerinnen der Welt an, auch deutsche Nationalspielerinnen wie Melanie Leupolz oder Leonie Maier. Vor kurzem ist die Dänin Pernille Harder für die Rekordablöse von kolportierten 350.000 Euro vom VfL Wolfsburg zum FC Chelsea gewechselt.

„Wir Frauen müssen Pionierarbeit leisten für die nächste Generation, wir sind gewillt, nach Veränderung zu suchen.“

Viele Profis engagieren sich für Veränderungen im Frauenfußball, Anja Mittag mit eigenem Podcast.

Eben hat die WSL einen Deal über drei Jahre mit der BBC und Sky Sports abgeschlossen. Ab der kommenden Saison werden 66 Spiele pro Saison gezeigt, die meisten zur besten Sendezeit, was der Liga rund 18 Millionen Pfund pro Saison einbringt. Die WSL zeigt, was im Frauenfußball möglich ist. Als Profs können sich Spielerinnen ganz auf den Fußball konzentrieren, sie müssen nicht neben-

her eine Ausbildung machen oder in einem anderen Job arbeiten, so wie viele Frauen in der Bundesliga. Auch Anja Mittag kennt das vom Beginn ihrer Karriere, als sie von 7 bis 16 Uhr bei der Arbeit war, dann schnell nach Hause fuhr, ein Brot aß und um 17 Uhr zum Training kam. Sie sagt: „Dass Spielerinnen in England nebenher keinen Job haben müssen, sondern unter denselben Bedingungen trainieren können, ist großartig. Schließlich ist Fußballerin auch ein Beruf, den du zu hundert Prozent ausüben möchtest. Von der WSL sollten wir in Deutschland lernen – es muss unser Ziel sein, dahin zu kommen.“

Experimente mit E-Sport

Es wäre der nächste logische Schritt in der Entwicklung. Und dabei geht es in erster Linie gar nicht mal um „Equal Pay“, sondern um „Equal Play“. Als Anja Mittag anfng, bekam sie ihr Geld noch in Umschlägen, und von Sieg- und Punkteprämien war keine Rede. Das hat sich mit den Jahren geändert. Mittag sagt: „Wenn ich überlege, was ich in meinem ersten Jahr Bundesliga bekommen habe und was man heute bekommt, ist das eine sehr gute Entwicklung.“

Auch wenn sie nicht daran glaubt, dass Frauen im Fußball jemals so viel verdienen werden wie Männer. Aber es geht ihr auch mehr um die Bedingungen, unter denen Frauen trainieren und spielen: „Equal Play“ eben. Und dann zählt sie auf, was ein Verein wie RB Leipzig den Fußballerinnen bietet. Die Trainingsqualität, die guten Plätze, es gibt Vormittagseinheiten, die sie selbst als Trainerin leitet, die Spielerinnen haben einen SoccerBot360 für kognitives Training, können einen Bus im Look von RB Leipzig für die Auswärtsspiele nutzen, und sie bekommen Mittagessen in der Akademie. „Solche Dinge hatte ich in Wolfsburg oder Paris, aber dass wir sie bei einem Verein in der 2. Liga haben, zeigt, was sich tut im Frauenfußball.“

Und vielleicht ist der Frauenfußball in mancher Hinsicht sogar weiter als der Männerfußball, innovativer. Kaum vorstellbar, dass es bei den Männern einen Spieler gibt, der wie Lena Güldenpfennig gleichzeitig in der E-Sport-Bundesliga spielt und so Vorbild ist für viele junge

„Junge Mädchen sollen Spielerinnen wie Pernille Harder oder Dzsenifer Marozsán nacheifern und nicht Messi oder Ronaldo.“

Weibliche Vorbilder seien entscheiden für die Zukunft des Frauenfußballs, findet Anja Mittag.

Spielerinnen. Sie zeigt, dass beides geht, man muss sich nicht entscheiden, was möglicherweise ganz neue Wege eröffnet in Zeiten, in denen E-Sport unter Jugendlichen so beliebt ist. Anja Mittag sagt: „Wenn sich Mädchen für E-Sport interessieren, bekommen sie auch ein besseres Verständnis für den Fußball.“ 1995 sagte der damalige FIFA-Präsident Sepp Blatter, die Zukunft des Fußballs sei weiblich, und zeigte sich damit erstaunlich visionär. Auch wenn es gedauert hat und das Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft ist.

Vorkämpferinnen mit Podcast

Vor allem die mediale Wahrnehmung hinkt der Entwicklung hinterher – zumindest in Deutschland. In Schweden wurde schon vor zehn Jahren in den Medien gleichberechtigt über Frauen- und Männerfußball berichtet. „Das war wirklich eine sehr beeindruckende Erfahrung“, sagt Anja Mittag, „in Schweden habe ich gemerkt, dass es möglich ist, man muss es nur wollen.“

Sie erzählt, wie sie kürzlich versucht hat, sich im Internet die Highlights des Champions-League Halbfnales zwischen Bayern und Chelsea anzuschauen und nicht wusste, auf welcher Seite sie suchen sollte. Es gibt sie nämlich nicht, die zentrale Vermarktung des Frauenfußballs, einen Streaming-Dienst, der alle Spiele überträgt oder zusammenfasst. „Wird aber Zeit“, sagt Mittag, die sich, wie andere bekannte Spielerinnen, sehr für die Zukunft des Frauenfußballs einsetzt. Auch, indem sie offen über Frauenfußball reden, wie in dem Podcast, den sie zusammen mit ihrer ehemaligen Mitspielerin Josephine Henning betreibt. „Wir müssen Pionierarbeit leisten für die Generation, die nach uns kommt“, sagt Anja Mittag, „ich glaube, wir Frauen sehen darin eine Chance – wir sind gewillt, nach Veränderung zu suchen.“

Und dann spricht sie davon, wie wichtig weibliche Vorbilder für die Zukunft des Fußballs seien und dass sie auch deswegen die stete Professionalisierung brauchten. Damit junge Mädchen wissen, dass sie die Möglichkeit haben, Prof-Fußballerin zu werden, und alles geben, um einmal so gut zu werden wie eine Pernille Harder oder eine Dzsenifer Marozsán und nicht wie ein Messi oder Ronaldo. Das, sagt Anja Mittag, sei ihr größter Wunsch.

„Dass Spielerinnen in England nebenher keinen Job haben müssen, ist großartig. Davon sollten wir in Deutschland lernen.“

Anja Mittag wünscht sich Verhältnisse wie in der englischen Profi-Liga WSL.

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