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RANGNICKS PROGNOSEN

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Als Sportdirektor, Trainer und Taktik-Vordenker prägte RALF RANGNICK, 62,

Europas Fußball. Für uns beantwortet er elf Fragen über die Zukunft seines Sports: warum Big Data immer wichtiger wird und Romantik niemals stirbt.

IDENTITÄT SCHLÄGT KAPITAL WIE SIEHT FUSSBALL IN ZEHN JAHREN AUS, HERR RANGNICK?

Interview: Christian Eberle-Abasolo Fotos: Philipp Horak

1. Wenn ich mir in zehn Jahren ein Champions-League-Spiel ansehe, wo werde ich die größte Veränderung merken?

Fußball hat sich in den letzten Jahren zu einer Hochgeschwindigkeitssportart gewandelt, und diese Entwicklung ist noch nicht zu Ende. Passschärfe, Passpräzision und Entscheidungsschnelligkeit werden weiter zunehmen. Spieler bekommen noch weniger Zeit und Raum, einen Ball in Ruhe anzunehmen. Früher gab es ja Sätze von Experten wie „Es braucht auch einmal einen, der das Spiel beruhigt, der auf den Ball steigt“. Mach das heute gegen die Spitzenmannschaften. So schnell kannst du gar nicht schauen, wie die dich auffressen.

2. In den letzten Jahrzehnten hat die körperliche Leistungsfähigkeit rasant zugenommen. Gibt es noch Möglichkeiten, junge Spieler besser zu machen?

In puncto Leistungsfähigkeit wird es keine Quantensprünge mehr geben, daher wird die Verletzungsvorbeugung noch wichtiger. Dank TrackingDaten wissen unsere Athletiktrainer genau, wie anstrengend eine Einheit ist, wann Pausen einzuhalten sind. Da steckt der Teufel im Detail. In Zukunft wird es aber vor allem um „train the brain“, also kognitives Training gehen: Spieler zu provozieren, sie im Training aus der Komfortzone zu holen, sie unter erschwerten Bedingungen trainieren und Entscheidungen auf engstem Raum unter Zeitdruck treffen zu lassen. In Hoffenheim haben wir etwa eine CountdownUhr am Trainingsplatz aufgestellt. Zehn Sekunden Zeit, ein Tor zu schießen. Acht Sekunden Zeit, einen verlorenen Ball wiederzuerobern. Das Ticken ständig hörbar. Das war für alle Spieler nicht nur neu, sondern im wahrsten Sinne des Wortes nervig. Es ging ihnen auf die Nerven, und das musste es auch, um Verhaltensänderungen – „train the brain“ – zu erzielen.

„Die Zukunft heißt ‚train the brain‘, kognitives Training, das Spieler aus ihrer Komfortzone holt.“

Erfolgsmacher: Ralf Rangnick, 62, führte als Trainer Hoffenheim und RB Leipzig in die Bundesliga. Er war Sportdirektor in Leipzig und Salzburg und gilt als einer der Väter des modernen Pressing-Fußballs.

3. Wird es noch Spieler geben, die sich im Alltag – sagen wir einmal – nicht ganz so professionell verhalten?

Die wird es geben. Aber sie werden nie das Maximale aus ihrer Karriere herausholen. Es gab ja lange eine Meinung unter Trainern und TVExperten, die lautete: „Du brauchst auch ein paar Sauhunde in der Mannschaft, die aus dem Trainingslager ausbüxen, die Nacht zum Tag machen, einmal einen über den Durst trinken.“ Aber solche Spieler haben keine Chance mehr. Das wäre so, als würde Max Verstappen versuchen, ein Formel1Rennen zu gewinnen, aber ständig Diesel ins Auto tanken.

4. Sterben klassische Straßen- oder Käfg-Kicker aufgrund der zunehmenden Professionalisierung im Jugendbereich aus?

Ich sehe es als Aufgabe der Vereine und Akademien, Elemente aus dem Käfgund Straßenfußball ins Training zu

integrieren. Das heißt: sich durchsetzen, sich gegen Ältere behaupten und um jeden Sieg kämpfen. In den Verbänden gibt’s Überlegungen, wegen des Leistungsdrucks bei ganz jungen Spielern keine Tore mehr zu zählen, Sieg, Niederlage und Tabellen abzuschaffen. Völliger Blödsinn! Hättest du das dem achtjährigen Joshua Kimmich (heute Prof bei Bayern München; Anm.) gesagt, wäre seine Antwort gewesen: „Der einzige Grund, warum ich kicke, ist, zu gewinnen.“ Aufgrund dieser Mentalität hat er schon mit achtzehn in Leipzig Mitspieler zusammengestaucht, wenn sie im vier gegen vier nicht Vollgas gegeben haben. Und aufgrund dieser Mentalität spielt er heute in München. Genau dieses Mindset muss in Akademien mehr trainiert werden.

5. Was muss der Fußball verändern, um ein junges Publikum mit geringerer Aufmerksamkeitsspanne zu erreichen?

Ich glaube, dass diese geringere Aufmerksamkeit ein Klischee ist. Gerade der E-Sport zeigt ja, dass junge Menschen sehr wohl bereit und auch in der Lage sind, sich stundenlang auf eine Sache zu konzentrieren. Es gibt zudem ein größeres Verlangen nach einem evidenzbestimmten Verständnis des Spiels, Statistiken, Passwege, erwartete Tore, Laufkilometer, Top-Speed. 0Es gibt ja inzwischen so ziemlich über alles Datenmaterial. Digitalisierung und künstliche Intelligenz werden auf dem Vormarsch bleiben. Entscheidend ist die Frage: Wie interpretierst du diese Daten? Sowohl für Zuseher als auch für ein Trainerteam. Das Schöne bei all den Innovationen ist, dass ganz am Ende trotzdem wieder Menschen mit diesem Datenmaterial umgehen und es entsprechend interpretieren müssen.

6. Welche Regeländerung würden Sie begrüßen?

Ich würde weiter wie in Corona-Zeiten fünf Auswechslungen erlauben. Das macht das Spiel schneller, mindert Verletzungen, hält den Kader besser bei Laune. Und man sollte darüber diskutieren, was ich schon vor 15 Jahren gefragt habe: Ist die Torgröße noch angemessen? Als das Tor mit 2,44 Meter Höhe und 7,32 Meter Breite festgelegt wurde, war der Mensch im Schnitt zehn Zentimeter kleiner, auch Torhüter. Macht man das Tor drei Zentimeter breiter und zwei Zentimeter höher, fallen sicher ein paar Tore mehr.

„Erfolg hängt an drei Ks: Konzept, Kompetenz und Kapital. Kapital ist schnell mal vorhanden, meistens scheitert es an den anderen zwei.“

Jeder Klub braucht eine Identität, sagt Ralf Rangnick: „Ein Trainer wie Jürgen Klopp hat so in Dortmund und Liverpool eine ganze Stadt elektrisiert.“

7. Was sind die wichtigsten Eigenschaften, die ein erfolgreicher Trainer in zehn Jahren haben muss, um große Titel zu gewinnen?

Teamverständnis, Menschenführung und Entscheidungssicherheit. Im Prinzip alles, was ein moderner Manager in der freien Wirtschaft auch haben sollte. Bei meinem ersten Trainerjob waren wir zu dritt: Co-Trainer, Torwarttrainer, ich. Heute musst du Ansprechpartner sein für 15 bis 20 Fachleute, vom Videoanalysten bis zum Ernährungsberater. Und es ist nicht getan, Aufgaben an diese Experten zu delegieren, du musst mit ihnen in den Dialog treten können. Deshalb muss ein Trainer auch über viel mehr Spezialwissen als früher verfügen.

8. Womit muss ich beginnen, um in zehn Jahren mit einem Team erfolgreich zu sein?

Es braucht eine klare Vereinsphilosophie. Wofür möchte ich stehen? In der freien Wirtschaft redet man von Corporate Identity. Ohne Corporate Identity gibt es auch kein Corporate Behaviour. Wenn

„Moderne Methoden begrüße ich mit offenen Armen. Aber die Essenz muss die Liebe zum Sport bleiben.“

Vordenker Rangnick setzt auf Big-Data-Analysen und Tech-Fortschritt. Aber er sagt: Am Ende entscheidet stets der Mensch über die Anwendung der Technik.

es keine Identität gibt beziehungsweise sich die mit jedem Trainerwechsel ändert, stehst du als Verein für nichts. Deshalb spielt Schalke 04 nächste Saison in der zweiten Liga. Erfolg hängt an drei Ks: Konzept, Kompetenz und Kapital. Kapital ist schnell mal wo vorhanden, meistens scheitert es an fehlender Kompetenz der Handelnden und am fehlenden Konzept. Ich nenne es auch Spielidee. Schau dir an, was Jürgen Klopp in Dortmund oder Liverpool gemacht hat. Er hat Verein, Spieler und die ganze Stadt elektrisiert.

9. Wird es in Zukunft noch Underdog-Storys geben, oder geht die Ära der Serienmeister weiter?

Die zweite deutsche Liga, wo kleinere Vereine wie Fürth oder Kiel vorn mitspielen, zeigt das gut. Und okay, die Bayern sind wieder Meister. Aber wäre Erling Haaland bei RB Leipzig und nicht bei Borussia Dortmund, hieße der Meister 2021 RB Leipzig. Das ist eine Hypothese. Aber man muss sich nur seine Torquote im Verhältnis zu den liegen gelassenen Chancen bei Leipzig anschauen. Kurzum: Wenn du viel richtig machst, kannst du auch Vereine, die deutlich mehr fnanzielle Mittel haben, überfügeln. Das wird auch in zwanzig Jahren noch so sein. Also dieses Geld schießt Tore oder gewinnt Meisterschaften – da gibt es zu viele Gegenbeispiele, als dass ich das so ohne weiteres unterschreiben würde.

10. Was würden Sie den Initiatoren der Super League ausrichten?

Bezieht ein bisschen mehr Fußballfachkompetenz in die Gespräche ein. Bei dieser Diskussion war die wirtschaftliche Kompetenz offensichtlich zu einseitig vertreten. Wer sich die Schuldenstände der führenden Vereine ansieht, braucht kein HardcoreFan zu sein, um zu verstehen, dass es nur um Geld ging. Hier bin ich totaler Traditionalist: Es muss weiterhin die erfolgsbasierte Fußballpyramide geben. Kleine Vereine müssen aufsteigen können. Und große Klubs, wenn sie über Jahre hinweg misswirtschaften, müssen absteigen. Mit einem FranchiseSystem wie in den USA (siehe S. 60) konnte ich mich schon zu meiner Zeit als Head of Global Soccer bei Red Bull schwer arrangieren, und ich glaube, in diesem Leben schaffe ich das auch nicht mehr.

11. Was war im Fußball früher besser, als es heute ist?

Die Atmosphäre in den Stadien. Ich kann mich an Besuche im alten Stuttgarter Stadion, im Highbury von Arsenal oder im Upton Park in London erinnern – da kriege ich jetzt noch Gänsehaut. Damals gab es so gut wie keine VIPRäume oder Lounges, keine Leute, die zum Spiel gekommen sind, um gut zu essen und sich zu unterhalten. Es ging nur um Fußball. Um Herz, Emotionen und die Liebe zu dieser Sportart. Genau das darf man nie aus den Augen verlieren. Moderne Methoden, um Spieler und Mannschaften zu entwickeln, sind mit offenen Armen zu begrüßen. Aber die Essenz muss die Liebe zum Sport bleiben.

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