2012
12 1 1 10 09 08 07 06 05 04 03 0 2 Das vielleicht letzte 0 1 Magazin der Welt
8,50 Euro
WWW.2012.AT
Musik und Apokalypse
REQUIEM
FĂœR EINEN PLANETEN
Bevor die Welt untergeht, sollten Sie alle 12 Ausgaben von 2012 Ihr Eigen nennen:
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In beiden Fällen gilt: jetzt bestellen und erst am 22. 12. 2012 bezahlen – vielleicht.
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0853
LICHTE UIE REQ M FÜ
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SEITE
Bild: Shutterstock.com
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Zwölf Musiker. Alle aus verschiedenen Genres. Ein Thema. Das Ende der Welt. Hörproben der Stücke 12 bis 07 und Vorbestellungen auf: www.2012.at/requiem. Die vielleicht letzte Platte der Welt.
Lichte Seite
REQUIEM FÜR EINEN PLANETEN (1)
DIE LICHTE SEITE, KÜNSTLER 12–07
12. DER NINO AUS WIEN
11. KYRRE KVAM
10. FRITZ OSTERMAYER
Mit 15 war er in einer Gang, mit 25 hat er eine Band und ist Literat und Liedermacher, ein Unikat aus Johnny Ramone und André Heller. Zuletzt erschien sein Album „Schwunder“ bei Problembär Records mit visionären Tracks wie „Venedig geht unter“ (problembaerrecords.net).
Komponist (für Theater in der Josefstadt und Volkstheater), Schauspieler, Sänger (Hauptrollen in: „Jesus Christ Superstar“ in London, „Poppea“ in Sydney). Schrieb zuletzt die Musik für die Fernsehserie „Braunschlag“ von David Schalko und davor jene für „Falco – Verdammt wir leben noch!“.
Vorleser des Untergangs und ChefPoet der Wiener „schule für dichtung“, FM4-Moderator („Im Sumpf“) und Mitglied der „Neigungsgruppe Sex, Gewalt & Gute Laune“. Berühmt ist Ostermayer auch für seine „Dead & Gone“-Kompilationen von Trauermärschen und Totenliedern (trikont.de).
09. NAKED LUNCH
08. ROLAND NEUWIRTH
07. HELMUT JASBAR
Eine Rockband wie ein Roman von William S. Burroughs – und das aus Kärnten. Ja, da – und dort – muss es auch etwas anderes geben. In „Amerika“ (2011), dem Soundtrack zu einem Theaterstück, vereinen sie Kafka und Pop (monkeymusic.at).
Der Extremschrammler. Der Erneuerer des Wienerliedes. Nächste Auftritte: beim Jazzfestival in Saalfelden auf dem Rathausplatz, 25. August 2012 (jazzsaalfelden.com) und ganz stilecht beim Heurigen Bernreiter in Wien-Floridsdorf, 2. September 2012 (bernreiter.at).
Gitarrist, Komponist, Autor und Radiojournalist (regelmäßig zu hören auf Ö1: „Pasticcio“ und „Apropos Musik“). Im Oktober 2012 gibt er zusammen mit Cornelius Obonya im Wiener Stadtsaal „Das Konzert am Ende der Welt. Best of Apocalypse“, siehe Seite 0827 (jasbar.at).
Des ollaletzte Liad (Text & Musik: Nino Mandl)
Every Sucker Needs a Home (Text: Oliver Welter, Musik: Oliver Welter, Herwig Zamernik)
Der Montag ist so traurig (Text: Peter Turrini, Musik: Kyrre Kvam)
Des End vom Liad (Text & Musik: R. Neuwirth)
Kärntner Requiem (Bearbeitung: Fritz Ostermayer)
Requiem für jedermann (Musik: Helmut Jasbar)
Bild: www.nawrata.com, Lukas Beck, Arnold Pöschl, P. Russmann
0845
DUNKLE Requiem für einen Planeten (2), die dunkle Seite, Künstler 06–01, enthüllen wir im September-Heft.
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Bild: Shutterstock.com
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0843
Musik rettet/zerstรถrt die Welt. Der Gute (Bono Vox) und der Bad Boy (Michael Jackson), der Himmlische (David Bowie) und der Satanische (Marilyn Manson). Bild: Mateusz Lesman
INHALT
#05
Von Seite 0856 bis 0677
0823
Apokalyptische Philosophie
0769
Katastrophen des Alltags
0761
Pessimismus ist Humanismus, die vernichtenden Analysen des Menschen dessen letzte Rettung. Das Denken des Günther Anders.
0811
Cover-Bild: Pennie Smith
0783
Die Welt geht unter. Und niemand bereitet sich vor. Das geht nicht. Wir haben unseren Autor zum Überlebenstraining geschickt. Ein Selbstversuch in körperlichen Schmerzen.
Being Ben Becker
Wer weiß schon, ob das Leben nicht das Totsein ist und das Totsein das Leben. Ein Mysterienspiel um den „Tod“ im Jedermann.
Von der Angst zu lachen über das Einschlafen (und Schnarchen) bei einem Klassikkonzert bis zu peinlichen Verletzungen beim Sex.
Überleben in Wien
So lesen Sie 2012 2012 beginnt mit dem Ende. Mit Heft Nummer 12, auf Seite 2012 und zählt hinunter. Am Zwölften jeden Monats erscheint ein neues 2012. Bis Dezember 2012. Dann ist Schluss. Sie befinden sich in Nummer 05 – auf Seite 842.
Soundtrack des Sterbens
Böse Dinge haben Lieder: von der Populärmusik der Pest, Totentänzen und Kometenliedern.
0755
Der Blick in den Abgrund
Der Rock ’n’ Roll frisst seine Kinder, und die Kinder wissen nicht, dass sie längst dem Untergang geweiht sind. Noch lächeln sie, aber bald fließen die Tränen. Untergangsszenarien von Falco bis Amy Winehouse.
0841
# 06 Die gefährlichste Waffe Der Welt
Das Ende
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2012
12 1 1 10 09 08 07 06 05 04 03 0 2 Das vielleicht letzte 0 1 Magazin der Welt
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Letzter Fehler
Die gefährlichste Waffe Der Welt Das Gehirn. Und wie es versucht, die Welt zu zerstören.
Beim Cover von Heft 2012/06 fehlte die korrekte Quellenangabe, das Bild stammt von Daniela Leitner/Salon Alpin. Pardon!
P. b. b., GZ11Z039132 P, Verlagspostamt 1110 Wien
0837 Der letzte Maya-Musiker 0833 Die Letzten ihrer Art 0824 Wie klingt der Weltuntergang? 0787 Letzte Fragen 0829 Die letzten Bilder 0740 Letzte Lieder 0825 Die letzte Hymne Letzte Wünsche 835 Moser 831 Sigur Rós 830 Stadlober 827 Obonya 001_0612_cover [P];10.indd 1
0733
02.07.12 17:58
Die Magie der 12 Töne
0707
Ich + du: Wir sind eins
0699
„Alles muss zerstört werden“
0687
Anton von Weberns großes Ziel: die Erschaffung einer neuen Musik, die weit mehr können sollte als die alte – etwa eine metaphysische Realität vermitteln. Dass dieses Vorhaben scheiterte, ist einem tödlichen Zufall zu verdanken.
0727
Einst war der Untergang eine produktive Kraft. Die Gewissheit des Endes hatte etwas Befreiendes. Der Ausdruck dieses Lebensgefühls: Punk.
Geschichte eines romantischen Existenzialisten, der mit seiner toten Frau zu einem neuen Wesen verschmelzen will.
0719
Wer sich der Apokalypse in der Musik ausliefern will, steuert am besten ihr Epizentrum an – TT, das Mastermind der legendären österreichischen Black-MetalBand Abigor, die seit den frühen 1990er-Jahren den Weltuntergang herbeisehnt.
Als ich keine Zukunft hatte
Der Weg in die Ewigkeit
Steirische Höhlenforscher entdeckten mysteriöse Gänge, Höhlen und Kammern, die auf untergegangene Zivilisationen hinweisen – oder auf fremde, unterirdische Welten. Eine Expedition ins Dunkle.
„Kreativ ist destruktiv“
Die Popkultur hat die Kunst mit dem Alltag versöhnt und die Menschen zu Kreativen erklärt. Die erfinden nun ihr eigenes Ich immer wieder neu und zerstören es dabei, sagt Zukunftsforscher Andreas Reiter.
Fünf musikalische Apokalypsen (2). Beethovens 5. Symphonie („Schicksalssymphonie“) interpretiert von Filius de Lacroix.
0839
F端nf musikalische Apokalypsen (5). Mozarts Requiem, interpretiert von Philipp Comarella/Salon Alpin
ENDE Geschichten von den letzten Dingen
DAS LETZTE COVER Pennie Smith hielt es für kein gutes Foto. Unscharf war es. Als sie es schoss – sie stand direkt vor der Bühne –, wich sie schutzsuchend zurück. Sie wollte nie, dass es auf einem Cover veröffentlicht wird.
P
aul Simonon konnte – wie auch Sid Vicious, der Bassist der Sex Pistols (Seite 0707) – keine einzige Note spielen, als er 1976 mit Joe Strummer und Mick Jones The Clash gründete und ihr Bassist wurde. Dafür aber hatte er Stil, ein Gespür für Mode und für gute Shows. Drei Jahre später, als die britische Punk-Band in den USA tourte, konnte Paul noch immer nicht Bass spielen. Aber das war egal. Am 21. September 1979 wurde er zum berühmtesten Bassisten der Musikgeschichte: Im New Yorker Palladium zerschmetterte er seine weiße Fender Precision – ein solide gebautes, schweres Bass-Modell mit Massivholzkorpus und schönem Ahornhals. Eine junge Londonerin begleitete damals die Band, Pennie Smith war schon auf Tour mit Led Zeppelin, The Rolling Stones und The Who gewesen und hatte sich einen guten Ruf als Musikfotografin erworben. Diesen Ruf wollte sie nun nicht verlieren. Ihr Foto mochte den richtigen Moment eingefangen haben, aber für eine Veröffentlichung war es definitiv ungeeignet: völlig unscharf, verwackelt, kein Gesicht zu erkennen. Für eine Band, die nicht spielen konnte, war das Foto einer Fotografin, die scheinbar nicht fotografieren konnte, perfekt. The Clash wollten das
Bild unbedingt für ihr nächstes Album haben. Pennie wehrte sich lang, ließ sich aber schließlich doch erweichen. Das „London Calling“-Album wurde zu einem der berühmtesten Musikalben der Welt, Pennies Foto 2002 in London zum „Best Rock ’n’ Roll Photograph of All Time“ gewählt. Dennoch wollte Pennie nicht, dass ihr Bild je wieder auf einem Cover erscheint, schon gar nicht auf einem Magazin-Cover. 33 Jahre lang blieb sie hart – bis heute. Thank you, Pennie!
K H L O E T Y A C I AP PS
0823
PHILOSOPHIE IN
5
BILDERN
Pessimismus ist Humanismus, die vernichtenden Analysen des Menschen dessen letzte Rettung. Das Denken des G端nther Anders. Text: Julia Grillmayr, Bilder: Felix Auer
Anders Der ewige Apokalyptiker „Wir sind Titanen“, schreibt Günther Anders und meint damit die Menschheit seit dem Besitz der Atombombe. Der Hiroshimatag, am 6. August 1945, machte Anders zum apokalyptischen Philosophen. In der monströsen Katastrophe sah er aber nicht nur einen Wendepunkt in seiner eigenen Philosophie, sondern in der Philosophie allgemein. Durch die Macht, die gesamte Menschheit auszulöschen sei der Mensch „Wesen einer neuen Spezies“ geworden, schreibt er in seinem Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“ von 1956. Nicht zuletzt der Zweite Weltkrieg und Hiroshima machten Anders zum politischen Denker. Er verwehrte sich dagegen, allein für einen kleinen akademischen Kreis zu schreiben, denn seine Themen – wie etwa die
Auslöschung der Menschheit – gingen alle an.
Günther Anders wurde 1902 als Günther Stern in Breslau, im heutigen Polen, geboren. Er studierte bei den großen deutschen Philosophen Ernst Cassirer, Edmund Husserl und Martin Heidegger – und wurde später einer der schärfsten Kritiker Heideggers. Als Jude von Verfolgung bedroht, emigrierte Anders 1933 nach Paris und später in die USA, wo er als freier Journalist und Philosoph lebte, bis er 1950 nach Wien zurückkehrte. Hier starb er im Dezember 1992. Zu Unrecht geriet Anders’ Philosophie in Vergessenheit. Erst in jüngster Zeit scheinen seine Bücher eine Renaissance zu erleben. Neben der technikkritischen „Antiquiertheit des Menschen“ schrieb er zahlreiche engagierte Texte gegen die Atombombe und auch Literarisches. Vielen ist Anders durch seine Ehe mit der politischen Denkerin Hannah Arendt ein Begriff. „Die Kirschenschlacht“ ist sein zuletzt erschienenes Buch, in dem er sich an die Gespräche mit seiner Frau erinnert. Anders’ Philosophie ist dunkelschwarz. Kulturpessimismus und Apokalyptik prägen ihren Ton. Dennoch entspringen seine vernichtenden Analysen des postmodernen Alltags keiner Frustration, sondern einem humanistischen Ideal und großer Fürsorge für den Menschen. Er gibt sich nicht geschlagen. Als ewiger Apokalyptiker schreibt er gegen den Untergang an. Verstehen wir seine Hiobsbotschaften als Denkanstöße und Liebesbriefe
an das Menschliche!
0811
Akustische Katastrophe. Falsche Musik am falschen Ort spielen. Bild: Fabienne Feltus
DIE KLEINEN
KATA STRO PHEN DES ALLTAGS Von der Angst zu lachen 端ber das Einschlafen (und Schnarchen) bei einem Klassikkonzert bis zu peinlichen Verletzungen beim Sex. Zusammengetragen von Elisabeth Gronau, Julia Harlfinger, Susan M端cke, Nadine Oberhuber und Karin Pollack
0783
Ăœberle inWie
eben en
Die Welt geht unter. Und niemand bereitet sich vor. Das geht nicht. Wir haben unseren Autor zum Über lebenstraining geschickt. Ein Selbst versuch in körperlichen Schmerzen und persönlicher Erniedrigung. Text: Mike Mandl, Bilder: Kurt Prinz
Bilder: Nina Ball
0769
BEING
BEN
BECKER Nur noch ein Tag bis zur Premiere. Ausnahmezustand. Ben Becker ist angespannt und zwischen den Welten unterwegs. Er geht auf in seiner Rolle als Tod, spielt ihn zum zweiten Mal bei den Salzburger Festspielen. So intensiv und authentisch, dass man nicht weiß, wie nah Ben Becker dem Tod bereits war. Oder ist. Und wer weiß schon, ob das Leben nicht das Totsein ist und das Totsein Leben. Ein kleines Mysterienspiel von Doris Schretzmayer über Ben Beckers Leben mit dem Tod.
0761
Bild: akg-images/picturedesk.com
„Durch Gott vergießen wir unser Blut, das ist uns für die Sünde gut.“ Geißler ziehen singend durch Europa und bekämpfen mit ihren Reimen die Pest im 14. Jahrhundert.
SOUNDTRACK DES
STERBENS Böse Dinge haben Lieder: Kriege, Krankheiten und das Krepieren. Text: Clemens Makanaky
Die Populärmusik der Pest
Gesang des Schwarzen Todes Die Dörfer sind längst entvölkert. Alle bislang verschont Gebliebenen drängen in die Städte. Als würden deren Mauern Schutz bieten. Doch auch hier wütet die Pestilenz. Die Toten werden nicht mehr bestattet, man wirft sie übereinander in eilig ausgehobene Gruben. Jeden Tag sind es Dutzende, in den Städten Hunderte. Ein Ende des großen Sterbens ist nicht abzusehen. Der Schwarze Tod breitet seinen Mantel über Europa aus. Die Welt geht unter. Wir schreiben das Jahr 1349. Und dann hört man sie. Obwohl sie noch kilometerweit entfernt sein dürften, hört man sie. Sie nähern sich der Stadt, langsam, Schritt für Schritt. Ihre Gesänge gehen durch Mark und Bein. Überlaut und monoton singen sie vom Leid und von der Buße. Gruselige Männerchoräle der Landstraße. „Nun hebet auf eure Hände, dass Gott dies große Sterben wende!“ Sie tragen weiße Mäntel und Hüte, beide mit roten Kreuzen versehen. Ganz vorne, ein großes Holzkreuz fest umklammernd, schreitet ihr Anführer. Dahinter folgen Fahnenträger und dann, in Zweierreihen, die übrige Schar. Es sind vierzig, achtzig, vielleicht zweihundert. Unheimliche Gestalten, erfüllt von Sendungsbewusstsein und bebend vor Rage. Zielstrebig nähern sie sich dem Stadttor. Ihr Anblick jagt den gebeutelten Menschen Ehrfurcht und Schauer ein. Und ihr Gesang hört niemals auf. „Nun hebet auf eure Arme, dass Gott sich über uns erbarme!“ Ihr erstes Ziel ist die Kirche, wo sie eine dreistündige Andacht abhalten, sich wieder und wieder auf den Boden werfen, immerzu betend, um Ver-
gebung flehend, ihre Lieder singend. Am Abend beginnt dann das große Schauspiel: Der Festzug formiert sich erneut und nimmt, begleitet von einer staunenden Menge, auf einer Wiese vor der Stadt Aufstellung. „Jesus, durch deine Namen drei, mach, Herr, uns von den Sünden frei!“ Die jaulenden Männer entblößen ihre Oberkörper. Sie greifen zu ellenlangen Stöcken, von denen drei Schnüre herabhängen, an deren Enden jeweils zwei Eisenzinken über Kreuz verknotet sind. „Jesus, durch deine Wunden rot, behüt uns vor dem jähen Tod!“ Mit weit ausholenden Schwüngen schlagen sie sich die Eisenspitzen über die Schultern hinweg ins eigene Fleisch, geißeln sich so lange, bis ihnen das Blut über Rücken und Arme rinnt. „Durch Gott vergießen wir unser Blut, das ist uns für die Sünde gut.“ Die nächsten 33 Tage wiederholt sich die grausige Inszenierung. Jeden Morgen. Jeden Abend. Dann verlässt der Geißlerzug die Stadt. Mit Dutzenden neuen weiß gekleideten Anhängern in seinen Reihen. Eine Welle des kollektiven religiösen Wahns bewegte sich parallel zur Pest durch Europa. Die Geißlerzüge, deren eindringliche Reimgesänge in Österreich, Deutschland, Frankreich und Italien zum Soundtrack des großen Sterbens wurden, verloren jedoch nach einem knappen halben Jahr an Popularität. Offenbar hatten sie zur tatsächlichen Heilung wenig beizutragen. In der Hochzeit ihrer Verbreitung allerdings waren ihre kruden Aufrufe zu Reinigung und Sühne mitverantwortlich für die größten Judenverfolgungen in Europa vor dem 20. Jahrhundert.
Bild: Barbara Krobath/picturedesk.com
0755
DER
BLICK IN DEN
ABGRUND Der Rock ’n’ Roll frisst seine Kinder, und die Kinder wissen nicht, dass sie schon längst dem Untergang geweiht sind. Noch lächeln sie, aber bald fließen die Tränen. Untergangsszenarien von Falco bis Amy Winehouse.
Falco. Er ist der erste Österreicher, der einen Nummer-eins-Hit in Amerika landet („Rock Me, Amadeus“), und seine Attitüden sprengen ebenso die Grenzen wie sein Erfolg. Als er noch Bassist bei der Szeneband Drahdiwaberl ist, singt Falco schon die Drogenhymne „Ganz Wien“. Als Weltstar ist er die Hauptperson der eigenen Drogenfantasien. Er stirbt 1998 bei einem Verkehrsunfall in der Dominikanischen Republik.
0741
Fünf musikalische Apokalypsen (3). Schuberts „Tod und das Mädchen“ interpretiert von Knarf & Bazuco (Lumpenpack).
LETZTE LIEDER Es gibt Songs, die sind so todtraurig, todessehnsüchtig und böse, dass sie ihre Zuhörer in Depression und Verzweiflung stürzen können – und manchmal sogar in den Selbstmord treiben. Die Charts der Apokalypse. Text: Mathias Morscher & Peter Hiess
W
as steht auf dem Grabstein eines BluesMusikers? „Didn’t wake up this morning …“ (Heute Morgen bin ich nicht aufgewacht …). Ist ja auch gescheiter so, für den Bluesman. Schließlich begann zu seinen Lebzeiten jeder Tag mit einem „Woke up this morning …“, gefolgt von einer schier endlosen, wenn auch musikalisch meisterhaft umgesetzten Litanei des Elends. Von der Frau und meistens auch gleich dem besten Freund hintergangen, beim Glücksspiel alles verloren, verkatert vom schlechten Selbstgebrannten – und wenn er seine Seele unten an der Kreuzung dem Teufel verkauft hat, dann wollte ihn der trotzdem schon holen, bevor die erste Platte auf dem Markt war. Diese scheinbare Hoffnungslosigkeit, die Aneinanderreihung von privaten Apokalypsen und Tragödien, ist genau der Grund, warum wir den Blues lieben – und nicht nur ihn. Fast jedes Lied, jeder Popsong, der über Jahrzehnte hinweg im Gedächtnis hängenbleibt (Ausnahmen bestätigen die Regel, wie immer – aber von denen soll ja hier nicht die Rede sein), ist traurig, depressiv, handelt von unglücklicher Liebe, Schicksalsschlägen, innerer Zerrissenheit, Tod und Verderben – zumindest teilweise. Wie wir auch aus dem Kinofilm wissen, ist der interessanteste Teil der uralten EntertainmentFormel „Boy meets girl, boy loses girl, boy
gets girl“ der mittlere – in dem die junge scheint und der „Boy“ alle möglichen Widerstände überwinden muss, um sie dann doch noch zu retten. Oder auch nicht. Das mit dem Mädchen und der Liebe lässt sich auch auf jede andere Lebenssituation übertragen, weil wir ja immer auf der Suche sind: nach Reichtum, einem erfüllten Leben, Selbstverwirklichung, einer glücklichen Familie, Harmonie und dem Sinn des Daseins im Allgemeinen. Dass uns die Welt auf dem Weg dorthin eine Hürde nach der anderen in den Weg stellt, davon handeln alle gelungenen Lieder. Ein Grund dafür ist sicher, dass jeder wirklich begabte Musiker seine Karriere im Teenager-Alter beginnt, voller Zwei-
Liebe verloren
fel und Weltschmerz, traumatisiert, unzufrieden mit der Gesellschaft und der menschlichen Natur. Und weil auch jeder echte Musikfan seine Ohren als Jugendlicher erstmals der Kunst öffnet, setzen sich eben diese Dinge in der Erinnerung fest. Selbst im fortgeschrittenen Alter denken wir beim Hören eines dieser prägenden Songs wieder daran, wie wir einst von Gefühlen übermannt wurden, uns dem Schmerz hingaben und uns im Selbstmitleid suhlten – The Soundtrack of Our Lives (die Hits unseres Lebens). Die Evolution hat dafür gesorgt, dass schlechte Erfahrungen sich dem Gehirn stärker einprägen als gute – weil wir uns später in bedrohlichen
Bild: Imagno/picturedesk.com
0733 0000
DIE MAGIE DER
Die Zwölftonmusik war eines der gewagten Kunstprojekte des 20. Jahrhunderts: die Erschaffung einer neuen Musik, die weit mehr können sollte als die alte – unter anderem eine metaphysische Realität vermitteln. Dass dieses Vorhaben scheiterte, ist einem tödlichen Zufall zu verdanken. Text: Michael Ginthör
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0727
S/He, Lady Jaye (li.) und Genesis. Zwei Körper, ein Leben, ein Geist.
WIR SIND
+DU ICH EINS Geschichte eines romantischen Existenzialisten, der mit seiner toten Frau zu einem neuen Wesen verschmelzen will. Text: Florian Horwath, Bilder: Yasmina Haddad
Bild: Adopt Film
I
m Leben von Genesis Breyer P-Orridge haben sich die Grenzen entmaterialisiert. Die zwischen dem Selbst, dem Individuellen und dem Kollektiven ebenso wie die zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, dem Realen und Non-Realen, dem Tun und dem Sein. Über seinem Leben und Wirken steht geschrieben: Pandrogynie. Das Ziel lautet: S/He – Verschmelzung mit der geliebten, inzwischen verstorbenen Lebenspartnerin Lady Jaye zu einem einzigen körperlosen, androgynen Zwitterwesen.
0719 0000
„ALLES MUSS ZERSTÖRT WERDEN“
Wer sich der Apokalypse in der Musik ausliefern will, steuert am besten ihr Epizentrum an – die Höhle von TT, Mastermind der legendären österreichischen Black-Metal-Band Abigor, die seit den frühen 1990er-Jahren den Weltuntergang herbeisehnt. Bild: Abigor
Text: Rokko Marschall und Peter Balon
Rituale ohne Personenkult. „Anders als im Pop-Rock-Zirkus stehen bei Abigor Musiker und Protagonisten im Hintergrund, um nicht vom eigentlichen Inhalt abzulenken“, sagt TT.
0707 0000
Bild: Lynn Goldsmith/Corbis
„God Save the Queen!“, Sex Pistols, 1977. Sid Vicious, der sich gerade „Gimme a fix“ mit einer Rasierklinge in die Haut geritzt hat, spielt blutig am Bass, Johnny Rotten singt: „No future for you, no future for me.“
Als ich keine Zukunft hatte
Einst war der Untergang eine produktive Kraft. Die Gewissheit des Endes hatte etwas Befreiendes. Der Ausdruck dieses Lebensgef端hls: Punk. Text: Frank Apunkt Schneider
0699 0000
Abstieg ins Schattenreich. Hier beginnt die Reise zum Mittelpunkt der Erde – und endet nach 100 Metern auch schon wieder. Warum vor Jahrhunderten alle Wege ins Innere unseres Planeten verschlossen wurden, weiß heute niemand …
DER WEG IN DIE EWIGKEIT
Die Welt geht nicht zum ersten Mal unter. Steirische Höhlenforscher entdeckten mysteriöse Gänge, Höhlen und Kammern weit unter der Erdoberfläche, die auf verschüttgegangene Zivilisationen hinweisen – oder auf fremde, unterirdische Welten. Eine Expedition ins Dunkle. Text: Peter Hiess & Heidelinde Moser, Bilder: Kurz Prinz
0679
Vorschau auf Heft # 04 Die Apokalypse der Wirtschaft
Das Ende des Geldes Der Marktwert des Menschen sinkt. Wirtschaftlich betrachtet sind wir ein Auslaufmodell. Macht nichts: Wenn der letzte Mensch gestorben ist, werden Börsencomputer noch immer gute Geschäfte machen. Das nächste vielleicht letzte Magazin der Welt erscheint am 12. 9. 2012.