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Grabarka: Orthodoxe Pilgerstätte in Polen

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Kreuze am heiligen Berg

Grabarka ist der bedeutendste orthodoxe Wallfahrtsort in Polen. Jedes Jahr kommen Tausende Pilger hierher und lassen Holzkreuze zurück. Besuch einer ganz besonderen Pilgerstätte.

Stau. Grob 150 Kilometer östlich von Warschau, tief in der polnischen Provinz ist das ein eher seltenes Phänomen. Plötzlich dämmert mir, was der Grund für den stockenden Verkehr sein könnte. Ich lasse meine Freundin mit dem Auto zurück und bewege mich zu Fuß weiter. Und tatsächlich: Bald erspähe ich eine lange Kolonne an Pilgern auf der hügeligen Landstraße vor mir, und dies obwohl das orthodoxe Kloster St. Martha und Maria noch mehr als zehn Kilometer entfernt ist.

Klar, glaubenstechnisch ist Polen Heimat des hier tief verehrten und inzwischen heiliggesprochenen Papst Johannes Paul II, vor allem katholisch geprägt, doch im äußersten Osten des Landes, in der Grenzregion zu Belarus, zählt auch die polnisch-orthodoxe Kirche zahlreiche Anhänger. Jedes Jahr im August, am Fest der Verklärung Christi, pilgern Tausende von ihnen, die allermeisten zu Fuß und teils tagelang, zum heiligen Berg Grabarka, dem wichtigsten orthodoxen Wallfahrtsort des Landes, um dort ihr Glaubensbekenntnis zu erneuern.

Unter der drückenden Mittagssonne, inbrünstig singend und betend, kommen die Pilger nur langsam voran. Zeichen von Erschöpfung lassen sich erkennen, die mitgebrachten Holzkreuze lasten schwer auf ihren Schultern. Um die größten Kreuze überhaupt schleppen zu können, müssen sich mehrere Männer in regelmäßigen Abständen abwechseln. Dies sind meist gemeinschaftlichen Kreuze eines ganzen Dorfs, die meisten Teilnehmer haben zusätzlich noch ihre eigenen, in der Dimension bescheideneren, Kreuze dabei. „Die Gläubigen schreiben Ihre Wünsche auf die Kreuze und beten, dass diese in Erfüllung gehen“, erklärt Schwester Agnes, als wir endlich oben auf dem Klosterberg ankommen. Sicherlich mehr als 10.000 dieser Kreuze, einige Zentimeter winzig oder mehrere Meter hoch, grob zusammengezimmert oder kunstvoll verziert, zähle man inzwischen in dem kleinen Stück Wald rund um die Verklärungskirche.

Immer neue Pilgergruppen strömen die Treppe zum Kloster herauf und umkreisen bei Ankunft mehrmals das kleine, aus Holz erbaute Gotteshaus. Manch besonders Frommer erfüllt diesen letzten, wichtigsten Teil seiner heiligen Reise demütig auf Knien rutschend und hinterlässt dabei tiefe Spuren im Sand. Die Schar der Wallfahrer scheint kein Ende zu nehmen. Die Ankömmlinge reihen sich in lange Warteschlangen vor den goldglitzernden Ikonen ein, um die Heiligenbilder küssen zu dürfen. Dünne Kerzen aus gelbem Bienenwachs werden angezündet. Gebete werden gesprochen, heilige Lieder gesungen. Einige Mönche nutzen die Gelegenheit und sammeln Almosen für ihr Kloster.

Priester segnen in kleinen Zeremonien die mitgebrachten Holzkreuze, die anschließend von den Pilgern mit Bedacht aufgestellt werden. Man sucht – und findet – die Kreuze der vergangenen Jahre, und erinnert sich an die damals festgehaltenen Wünsche. Alte Bekanntschaften sehen sich wieder, man tauscht die Neuigkeiten des vergangenen Jahres aus. Spezialisierte Stände verkaufen mit

viel Erfolg religiöse Devotionalien. Vor einer Quelle, dessen Wasser heilende Kräfte nachgesagt werden, drängen sich die Menschen, um einen Schluck des vielversprechenden Nassen zu ergattern. Eine interessante Mischung aus frommer Besinnlichkeit und heiterem Ausflugstrubel, finde ich.

Als am frühen Abend dann eine Prozession von mehr als 20 Priestern, darunter auch der Metropolit von Warschau und Oberhaupt der PolnischOrthodoxen Kirche, sich vom Kloster aus in Bewegung setzt, ist der Hügel rund um die Kirche bereits schwarz von Menschen, die sich die gleich beginnende Vigil, ein besonderer nächtlicher Gottesdienst, nicht entgehen lassen wollen. In der schon beginnenden Dämmerung setzt der dunkle Kiefernwald, mit seinen zehntausend Kreuzen, die brennenden Kerzen in den Händen der Gläubigen, und die feierliche Atmosphäre, den Ton für die jetzt beginnende Zeremonie.

Der offene Pavillon, in dem der Gottesdienst abgehalten wird, erlaubt den Kirchgängern freien Blick auf die Runde der Gottesmänner, deren prachtvolle Kronen und Gewänder goldfarben im letzten Abendlicht leuchten. Die Messe dauert stundenlang. Bei den jüngeren Messdienern lassen sich schon erste Anzeichen von Müdigkeit erkennen. Es ist fast Mitternacht, als sich langsam die Menge der Pilger lichtet und auch wir uns auf den Weg in unser Gästehaus machen. Bis in den Vormittag hinein werden jetzt Messen gelesen, lassen wir uns sagen.

Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, bietet sich uns auf dem heiligen Berg jedoch ein gänzlich anderes Bild. Die Klosteranlage liegt vergleichsweise verlassen da, nur noch wenige Kerzen brennen in den dafür vorgesehenen Metallkästen, einige einsame Gläubige sprechen ihre Gebete. Wir vernehmen gedämpfte religiöse Gesänge und folgen der Musik. In einer kleinen Kirche, die wir am Tag vorher noch gar nicht entdeckt hatten, wird die letzte Messe der Nacht gelesen.

Ein wenig verweilen wir noch, streifen durch das Meer an Kreuzen und entziffern Inschriften aus längst vergangenen Zeiten. Mehr als 300 Jahre Gebete, Sorgen, Anliegen und Bitten vermodern langsam im feuchten Waldboden. Ob sie wohl von einem offenen himmlischen Ohr erhört wurden? Ob die Kranken geheilt, die Söhne aus dem Krieg zurückgekehrt sind? Auf jeden Fall üben die Versprechungen Grabarkas auch heute noch eine starke Anziehungskraft auf die zahlreichen orthodoxen Christen Polens aus, die alljährlich hier die Nähe zu Gott suchen.

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