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Das Schälen der Zwiebel
Auf der Bühne hat sie bereits internationale Erfahrung
„Autofahrt durch den Schnee an einem Morgen im Mai, Aufbruch aus einer Liebeshöhle, einem kleinen Zimmer in einem Hinterhof, einem verwunschenen Ort.“ So beginnt „Janus“, ein Theaterstück, geschrieben von Anouk Wagener und uraufgeführt im Kasemattentheater. Es geht um ein Paar ohne Namen. Sie heißen nur „die Aussteigerin“ und „der Spurensucher“. „Janus“ bzw. der Gott gleichen Namens aus der römischen Mythologie steht für Doppelgesichtigkeit, aber auch für Gegensätze. Er symbolisiert Dualität in verschiedenen Formen, wie zum Beispiel Schöpfung und Zerstörung, Leben und Tod, Licht und Dunkelheit, Anfang und Ende, Zukunft und Vergangenheit, Ankunft und Abschied. Und er besagt, dass alles Göttliche immer einen Gegenspieler in sich birgt. Und für was steht er in Anouk Wageners Stück?
Ich treffe mich mit der Autorin im Hinterzimmer der „Bouneweger Stuff“, ein mit Möbeln vollgestellter Raum mit niedriger Decke, der gemütlich wirkt, aber auch Enge ausstrahlt. „Es geht um einen Mann und eine Frau, die eine Beziehung führen, die sehr kompliziert ist“, erklärt Anouk Wagener. „Beide sind eins, schauen aber in eine andere Richtung. Es herrscht
Zerrissenheit. Ein Kampf mit sich selbst und dem anderen. Die Frage ist: Wie nah kann ich dem anderen sein? Oder wie weit weg kann ich sein? Wie viele Geheimnisse kann ich haben?“ Die Gegensätze können weitergesponnen werden: Kopf und Herz etwa, Verstand und Gefühl. Das etwa einstündige Stück besteht aus einzelnen Passagen. Und zoomt in der Inszenierung von Kay Wuschek in die intimsten Gedanken der Personen hinein.
„Zuerst hatte ich ‚Janus‘ gar nicht als Stück geschrieben“, sagt die Autorin. „Ich schickte den Text an Marc Limpach, der ihn im vergangenen Jahr in den ‚Cahiers luxembourgeois‘ veröffentlichte. Er fragte mich, ob ich ein Stück für das Kasemattentheater schreiben wollte. Damals hatte ich gerade mein Engagement am Theater in Cottbus beendet. So dachte ich nicht, dass ich ein Stück schreiben könnte. Doch Marc meinte, was ich geschrieben hatte, könnte man auch als Zweipersonenstück machen.“ Der Inhalt des Textes, der aus einzelnen Passagen besteht, hat also auch etwas mit Anouk Wageners eigenem Verlassen eines Ortes und der Ankunft an einem anderen zu tun, mit Aufbruch und Ankommen. Die 35-jährige Schauspielerin, in Wien am Max-Reinhardt-Seminar ausgebildet und hierzulande schon in zahlreichen Bühnen- und Filmproduktionen zu sehen, hatte bereits Mitte des vergangenen Jahrzehnts fest einem Ensemble angehört, dem Theater der Stadt Heidelberg. Letzteres hatte bereits zwei Luxemburger Theatergrößen als Sprungbrett gedient: André Jung und Frank Hoffmann.
Zuletzt war Anouk Wagener am Staatstheater Cottbus unter Vertrag. „Ich kündigte dort meinen Festvertrag, nachdem ich von meiner Schwangerschaft erfahren hatte“, erzählt sie. „Viele meinten, ich sollte den Vertrag nicht kündigen, weil es ein festes Engagement sei.“ Das deutsche Staats- und Stadttheatersystem biete zwar Sicherheit, gibt die Schauspielerin zu, fügt aber an, dass man manchmal den Eindruck habe, man sei gerade in einem kleinen Ensemble gefangen. „Hier in Luxemburg ist es dagegen freier“, sagt sie, „außerdem gibt es mehr Einflüsse von außen, etwa vom französischen Theater.“
Nach der Ankunft, der Abschied. In Cottbus hatte es für sie sehr gut angefangen. „Die damalige Schauspieldirektorin Ruth Heynen wollte das Theater europäischer gestalten“, erklärt Anouk Wagener. Dazu sei erwähnt, dass Heynen, die frühere Leiterin des Theatertreffens Nordrhein-Westfalen, die „Union des thé ^ atres de l’Europe“ mit mehr als 40 Mitgliedern aus 16 Ländern in Paris führte und Chefdramaturgin am Thé ^ atre National du Luxembourg (TNL) war. Sie verließ Cottbus nach kurzer Zeit. Die neue Leitung, bestehend aus einem Dreierteam um den damaligen Hausregisseur Armin Petras, übernahm zu Saisonbeginn die Schauspieldirektion; das war für Anouk Wagener ein Grund zu gehen. Es habe nicht mehr „gepasst“.

„Ich machte ein Stück mit Armin Petras“, sagt sie, „und ich spürte sofort, dass dies nicht mein Weg sein würde.“ Rückblickend betrachtet sei ihre Zeit in Cottbus „so etwas wie Himmel und Hölle“ für sie gewesen. Die hatte mit Antonio Latellas Inszenierung „Zorro und Wonder Woman“ 2021 gut begonnen. „Ein wunderschönes Stück“, so die Schauspielerin, „und ich liebte es auch, wie er mit uns gearbeitet hat, sehr respektvoll und still. Sehr ‚da‘ und klar. Und mit einer gewissen italienischen Leichtigkeit.“ Petras hingegen habe alles „inszeniert“, man haben keine Zeit zum Atmen gehabt. „Man konnte selbst nichts einbringen. Außerdem war die Rollengestaltung sehr verzerrt. Ich aber will die Wahrheit.“
Anouk Wagener legt nach eigenen Worten großen Wert darauf, wie Regisseure mit den Schauspielern umgehen.
Sie mag es nicht, wenn gebrüllt wird, auch nicht dieses „von oben herab“. Ihr fehle allgemein eine gewisse Stille auf der Bühne. „Im deutschen Theater sei es sehr laut“, weiß sie. Das deutsche Regietheater, auch wenn es längst seinen Zenit überschritten hat, wirkt lange nach. Seine Protagonisten, wie etwa Frank Castorf, inszenieren nach wie vor ihre Spektakel. Letzterer ist unter anderem als „KlassikerZertrümmerer“ bekannt geworden und damit, dass er Romane auf die Bühne brachte. Trotz mancher genialer Regiestreiche konnte einem aber bei zahlreichen fünf- oder mehrstündigen Theaterexzessen schon mal das Ensemble – noch mehr als das Publikum am Rande der Erschöpfung – leidtun.

Vielmehr zeichnet sich mittlerweile eine Tendenz zum intimeren, eben auch stilleren Theater ab. Selbst inszeniert hat die 35-Jährige noch nicht. „Ein Regisseur hat eine gewisse Macht“, sagt sie. „Ich fühle vor dem Beruf Demut. Mit dem Schreiben war ich allein, ein Regisseur hingegen muss da sein und immer wieder eingreifen.“ Als Autorin hält sie sich aus den Proben heraus: „Ich finde es generell schwierig, wenn Autoren zu den Proben kommen.“ Vergangene Woche hat sie sich dennoch eine Probe im Kasemattentheater angeschaut. „Pitt Simon und Catherine Janke sind mir vertraut. Und ich habe Vertrauen in sie.“
Vor einem halben Jahr begann für Anouk Wagener mit der Geburt ihres Kindes ein neuer Lebensabschnitt: „Die Geburt ist ein so intensives Erlebnis, das vieles verändert“, sagt sie. Im Sommer hatte sie noch an dem Stück „Doheem – Fragments d’intimités“ des Künstlerkollektivs Independent Little Lies im Rahmen von Esch 2022 mitgewirkt. Nachdem die kleine Lou geboren war, hatte sie erst mal keine Rolle mehr angenommen. „Ich habe in den vergangenen Monaten hauptsächlich das Mutterdasein genossen.“
„Janus“, auch das ist gewissermaßen ihr Baby, sei über einen längeren Zeitraum entstanden. „Angefangen zu schreiben hatte ich noch während der Pandemie. Ich habe das Interesse entwickelt, immer tiefer einzusteigen, und habe immer wieder viel umgeschrieben. Teilweise strich ich einige Sachen komplett heraus, weil ich am Anfang noch nicht wusste, um was es gehen sollte. Ich hatte das bewusst nicht im Kopf. Das hat sich erst allmählich herauskristallisiert. So habe ich mich immer wieder hingesetzt. Das Bedürfnis zu schreiben, habe sie schon immer verspürt. So entstand auch ‚Janus‘ aus einem Drang zu schreiben.“ Ähnlich sei es auch gewesen, als sie schon einmal für die Cahiers luxembourgeois geschrieben hatte. „Am Ende stellte sich heraus, dass es ein Hörspiel für zehn Personen ist“, erinnert sie sich.
Zwar habe sie kein genaues Konzept gehabt, „aber eine Form in der Sprache, die gab es schon“, erklärt sie. Dies sei schon während ihres Studiums so gewesen. Das Schreiben habe sie nicht zuletzt dafür benutzt, um Dinge zu verarbeiten und um ihnen auf die Spur zu kommen, schon in der Kindheit. Daraus entstand eine Form des assoziativen Schreibens, auf das sie auch oft für ihre schauspielerische Arbeit zurückgreift.
Bei „Janus“ spielt neben dem bereits genannten Dualismus der Gegensätze auch das Motiv der Reise eine große Rolle. „Koffer packen und in den Zug steigen, das Unterwegssein, dann kam die Liebe hinzu“, sagt Anouk Wagener. „Eine Rolle ist immer eine Reise auf einem unberührten Terrain. Es ist wie beim Schälen einer Zwiebel. Ich hoffe, dadurch eine Person zu verstehen.“ Ähnlich verhält es sich beim Schreiben. Sie sei nie zufrieden mit etwas, gesteht die Autorin. „Selbst wenn ich schon etwas abgeschickt habe, stelle ich es in Frage. Deshalb das viele Streichen und Überarbeiten.“
„Ich gehe viel auf einer vernünftigen Ebene, über die Sprache, an eine Rolle heran und stelle mir die Frage: Was ist der Grund für etwas? Was sind die Konsequenzen?“, erklärt Anouk Wagener. Intensiv setze sie sich mit der Sprache auseinander, über die Emotionen. Ein Widerspruch? Es weckt eher Assoziationen an die „emotional memory“ in Lee Strasbergs Schauspieltheorie des „method acting“ von der Erinnerung an komplexe Gefühle. Anouk Wagener sagt: „Man muss sich aber vielmehr freimachen von seiner eigenen Geschichte.“ Sie habe schon immer Schauspielerin werden wollen. „Am Anfang war es der Zirkus, weil mich das Seiltänzerische faszinierte“, erinnert sie sich. „Man kann vom Seil fallen, aber gleichzeitig auch abheben, schweben, wegfliegen.“
Sie würde gerne weiterschreiben und sich darin auch weiterbilden, sagt die Autorin-Schauspielerin. Sie denkt über die unterschiedlichen Sichtweisen über die Schauspielerei nach. Ihr Partner und Vater ihres Kindes, ein italienischer Schauspieler, der zurzeit in Luxemburg ist, steht vielleicht für diese andere Herangehensweise. „Er sieht das Schauspielen viel instinktiver“, sagt sie. „Er hat viel mit Antonio Latella gearbeitet.“ Ihr fehle das Körperliche manchmal am hiesigen Theater, sagt Anouk Wagener. Als sie in Wien studierte, habe das eine größere Rolle gespielt. Das sei hierzulande anders. „Mir fehlt es zum Beispiel an einem Bühnenbild, an dem einfach herumgetollt und geklettert werden kann. Hier merke ich oft, dass ich auf Stühlen sitze.“
Als Darstellerin wirkt sie zurzeit bei einer Produktion im Ettelbrücker CAPE mit: „Weinender Mond“ ist ein musikalischer Abend von Claude Lenners, Mariette Lentz gewidmet. Als Schauspielerin auf der einen Bühne, als Autorin im Hintergrund der anderen. Als sie die Proben von „Janus“ besuchte, konnte sie beobachten, wie es ist, den eigenen Text lebendig und verkörpert auf der Bühne zu sehen und wie ihre poetische Sprache szenische Gestalt annimmt. „Es war äußerst bewegend, Catherine und Pitt beim Spielen zuzusehen“, schildert sie ihren ersten Eindruck. „Ich freue mich auf die Premiere.“

Die Zuschauer können sich auf die Gestaltwerdung der Poesie freuen – und auf Sätze wie die der Aussteigerin: „Die Zeit ist rücksichtslos, mit dem Mörder Zeit ist jeder allein, darum schwimme ich jeden Tag durch die Wellen.“ Oder jene des Spurensuchers: „Das Kerzenlicht flimmert, so wie unsere Beziehung. Immer können wir nicht eins sein. Sie fährt morgen wieder weg.“
Text: Stefan Kunzmann
Fotos: Rainer Weisflog (Staatstheater Cottbus), Georges Noesen, Bohumil Kostohryz, Hilde van Mas
Aufführungen von „Janus“ im Kasemattentheater, am 5., 6., 19., 20., 21. und 23. Mai 2023, jeweils um 20 Uhr.
„Weinender Mond“ ist am 3. und 4. Mai, jeweils um 20 Uhr im CAPE Ettelbrück , sowie am 24. am 26. Mai im TNL (ebenfalls ab 20 Uhr) zu sehen.