Magazin für den nicht-heterosexuellen Film Ausgabe dreiundzwanzig · September bis November 2014 · kostenlos
Londoner Aliens: Maggie schwingt die Peitsche s Wie Gertrude und Alice: Aber Mutter! s Repressive Toleranz: Warten auf die Festanstellung Mädchen im Sattel: Zwischen Immenhof und Bullerbü s Beziehungsleben: Geschichten von Häschen s Im Hexenhaus: Verlockende, tödliche Braut s Rosa Kryptonit: Aquaman und Ghost Rider s Sturmfrisur: Reflexion der erfundenen Welt s Steve+Die 4ever: Wir ändern uns nicht s Kreisbewegungen: Sex unter Fassbinder-Postern s Rollkragenpullover: Klischeehafter, als wir wahr haben wollen s Magisches Zwangsdenken: Alphabet der Zahlen s Mailkonflikt: Neoliberaler Bullshit s Kleiderordnung: Zwischen Bauwagenplatz und Szenebar s Geiselhaft: Glauben an Ekstase s Ja, aber: Entspanntes Verhältnis zu Körperbehaarung s Untergrund: Nicht besonders attraktiv s s
vorspann
sissy dreiundzwanzig Herbst ist Kinohochzeit. Das gilt erfreulicherweise auch für das queere Programm, wie man diesem aus allen Nähten platzenden Heft anmerkt (wir mussten sogar auf Rubriken verzichten, um Platz zu schaffen). Das gilt aber auch für die queeren Herbstfestivals, die Queerscope-Gruppe, dessen Leuchtturm, die Lesbisch-Schwulen Filmtage Hamburg, sein 25. Jubiläum feiert und sogar eine große Konferenz zum Thema „Queer Cinema“ organisiert (SISSY wird berichten). Erfreulich ist aber nicht nur die schiere Menge an Events und Filmen, sondern auch die Bandbreite. Mit Pride und Coming In versuchen wieder einmal zwei Produktionen den Sprung in die großen Mainstreamhäuser, einer als geschichtsträchtig-warmherzige britische, der andere als grelle deutsche Orientierungs-Switch-Komödie. Schon wieder gibt es einen neuen Film von Xavier Dolan anzukündigen, der Teddy-Gewinner Der Kreis wird mutmaßlich noch mehr Menschen rühren, Coming-of-Age-Filme aus Ungarn und, von Monika Treut, aus Norddeutschland laufen in den Filmnächten und im eher experimentellen Bereich kann man sich auf Neues von Bruce LaBruce und Julian Hernández freuen, sowie auf den Berlinale-Wettbewerbsteilnehmer Praia do Futuro, eine deutsch-brasilianische MänRegisseurin Monika Treut („Von Mädchen und Pferden“) mit Cornetto nerstudie. Und dann wird vielleicht noch mit dem Samurai ein veritabler queerer Genrefilm um Halloween herum die Mitternachtsschienen erobern, der vorher schon Horrorund Fantasyfans auf den Spezialfestivals begeistert hat.
EDITION SALZGEBER
Kein Grund zur Sorge also? Vielleicht tatsächlich momentan nicht. Also: raus in die Kinos!
TITELBILD: EDITION SALZGEBER
www.queerscope.de www.lsf-hamburg.de www.queerfilm.de www.homochrom.de www.filmfest-perlen.de www.filmtage-karlsruhe.de www.queerstreifen.de www.l-filmnacht.de www.gay-filmnacht.de
Titelbild: Pferdedame Sissi in „Von Mädchen und Pferden“ (Seite 14)
Wenn Sie SISSY kostenlos abonnieren möchten: E-Mail an abo@sissymag.de SISSY 23 3
mein dvd -regal
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SEBASTIAN URZENDOWSKY
Sebastian Urzendowsky, Schauspieler
kino
STOLZ UND VORURTEILE VON M AT T H I A S F R I NGS
Verrückt, aber wahr. 1984 betraten rüstige walisische Minenarbeiter-Frauen Londoner Darkrooms und Schwule und Lesben legten Disco-Songs in walisischen Pubs auf. Beides, um auszumessen, wie weit eine Liebesbeziehung zweier einander völlig fremder Thatcher-Opfer-Gruppen reichen könnte. Sie reichte nicht weit, aber immerhin bis zu „Pride“, dem Film, der dieses Jahr einige Herzen, Lachmuskeln und Zornesfalten über damaliges Unrecht und gelebte Solidarität aktivieren dürfte. Die deftige und kluge Komödie über diese wahre Geschichte erhielt auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes die Queer Palm.
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s Mehrfach gleitet die Kamera die windschnittige, anderthalb Kilometer lange Severn-Brücke entlang, die England mit Wales verbindet, und wir dürfen getrost davon ausgehen, dass diese Einstellung kein Zufall ist. Pride lässt sich nämlich ohne weiteres als ein scheinbar aus der Zeit gefallenes politisches Lehrstück lesen, Agitprop. Denn um einen ganz und gar wundersamen Brückenschlag geht es hier: die politische und finanzielle Unterstützung einer schwullesbischen Londoner Aktionsgruppe für streikende Bergarbeiter in Wales. What? Gleichzeitig hat dieser Film den Mainstream fest im Visier, will Dramedy mit Wohlfühlcharakter sein, ein Crowdpleaser über Schwulenrechte und Gewerkschaftskämpfe, witzig, warmherzig, tauglich für die große Leinwand. What??? Man wäre so gern beim ersten Pitch dieser Filmstory dabei gewesen und hätte in die Gesichter potentieller Produzenten geschaut. Großbritannien 1984: Premierministerin Margaret Thatcher sitzt fest im Sattel und schwingt die Peitsche. Während die Bergarbeiter überall im Land verzweifelt gegen die Schließung ihrer Gruben protestieren, macht die Lady ihrem Spitznamen alle Ehre. Ein volles Jahr lang lehnt sie jedes Einlenken ab. Regelrecht aushungern will (und wird) sie die Streikenden. Schlagendes Detail: Beim Bingo im Bergarbeiterclub stellt eine Dose Corned Beef den Hauptgewinn dar. Thatcher hat Größeres im Sinn: die vollständige Entmachtung der Gewerkschaften. Schnitt. „Gay Pride March“ in London. Ein knappes Dutzend Schwule und Lesben aus dem Umkreis des schwulen Buchladens wundert sich über die vergleichsweise geringe Präsenz der Polizei. Die nämlich schenkt mit Knüppel und Verhaftungen vorübergehend den aufmüpfigen Bergleuten ihre ganze Liebe. Die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gruppen sind schnell ausgemacht. Sie haben dieselben Feinde:
kino PRIDE
von Mattew Warchus GB 2014, 120 Minuten, deutsche SF, englische OmU, Senator, 3 www.senator.de IM KINO in der Gay-Filmnacht
im September, 3 www.Gay-Filmnacht.de
SENATOR FILMVERLEIH
Kinostart: 30. Oktober 2014, 3 www.pride.senator.de
Thatcher-Regierung, Polizei, Boulevardpresse. Also gibt das versprengte Häufchen sich einen Namen (LGSM – Lesbians and Gays Support the Miners) und beginnt tatkräftig Geld für die Streikenden zu sammeln. Die Gewerkschaft allerdings ist not amused – niemand dort will die Knete in Empfang nehmen, zu peinlich, sich von diesen Perversen alimentieren zu lassen. Und so picken die jungen Aktivisten sich aufs Geratewohl ein Kaff in Wales heraus, steigen in ihren klapprigen Transporter und fahren über die Severn-Brücke, um im örtlichen Bergarbeiter-Club höchstpersönlich das Ergebnis ihrer Spendensammlung abzuliefern. Ab hier erzählt Pride seine Geschichte aus zwei Perspektiven. Die Bergarbeiter sind vor Schreck ganz starr – was nur mit diesen Aliens aus London anfangen? Und auch die Homos bekommen langsam Angst vor der eigenen Courage. Die Arbeiterwelt ist ihnen fremd, und sie überlegen schon einmal, ob es nicht angebracht wäre, sich etwas weniger „auffällig“ zu geben, sprich: schwul. Geht natürlich aufs Feinste in die Hose. Wie im richtigen Leben sind es die Frauen, die den Bann brechen. Bei Bier und Bingo kommt man sich näher, schließt erste Freundschaften, besonders nachdem die Tabloids die
„perversen Spendensammler“ an den Pranger stellen, um den Streik zu desavouieren. Doch die unverhofft berühmt-berüchtigten Lesben und Schwulen nutzen klug ihre unerwartete Bekanntheit und werden zum größten Spendeneintreiber landesweit. Erstaunlich, wie differenziert die inneren und äußeren Lebenswelten der so unterschiedlichen Protagonisten skizziert werden: Die ebenso unterschätzte wie unterforderte Hausfrau entdeckt ihr Organisationstalent, die robusten Männer in ihren dunkelgrünen Wollpullovern beginnen zu tanzen, ein eifriger Schwulenaktivist zweifelt an seiner Umtriebigkeit, und der leicht verhuschte Jungschwule erlebt sein Coming-Out erst, als er schon Transparente trägt. Man kann Pride auch als Romantic Comedy lesen, nur dass sich hier nicht zwei Menschen, sondern zwei Gruppen näher kommen. Deshalb muss auch mit Blick auf die Kinokasse keine „publikumswirksame“ Liebesgeschichte aufgepappt werden. Und à propos Aufsexen bleiben hier die Hemden der Homos an – lobenswert, wenn auch in einigen Fällen bedauerlich, aber konsequent: 1984 waren die Homomuskeln noch nicht erfunden. Souverän vermeidet der Film, sich im süffigen Retro zu suhlen oder einem krümeligen Arbeiternaturalismus zu huldigen. Er porträtiert seine Figuren vielfarbig – in jeder Hinsicht. Wie in Mein wunderbarer Waschsalon, Beautiful Thing, Brassed Off oder The Full Monty wohnt man dem kleinen Wunder bei, wie Politik und Humor, Realismus und Kinomagie eine überzeugende Einheit bilden. Regisseur Matthew Warchus kommt vom Theater und von der Oper. Umso erstaunlicher, dass hier kein Kammerspiel zu sehen ist, sondern wirklich Kino. Wo immer möglich weitet sich die Perspektive, zeigt die schöne Waliser Landschaft und das geradstraßige Bergarbeiterdorf mittendrin. Die großen Versammlungsszenen im Miners Club, das glamouröse Benefiz „Pits and Perverts“ sowie die große Abschlussdemo atmen Luft und geizen nicht mit Statisten. Man merkt die Hand des Opernregisseurs und freut sich besonders in den leisen Szenen darüber, dass hier jemand Schauspieler zu führen versteht. Die Mitglieder der Londoner Homogruppe sind durchweg mit frischen jungen Gesichtern besetzt. Aus irgendeinem Grund neigen Schauspieler dazu, bei homosexuellen Charakteren stets ein Pfund draufzulegen. Das kann besonders bei der Darstellung flamboyanter Tunten haarsträubend ärgerlich sein. Nichts davon hier, diese Jungs und Mädels könnten bei jedem Gay Tea Dance aufkreuzen, ohne groß aufzufallen. Filmcharaktere aus der Arbeitswelt landen ebenfalls gerne im proletarischen Klischee. Die Darsteller der Bergarbeiter müssen nicht nur stimmig agieren, sondern
zusätzlich die Bewegung von befremdeter Distanz zu freundschaftlicher Umarmung glaubhaft machen. Warchus verlässt sich hier auf zwei erprobte Schlachtrösser. Imelda Staunton gibt ihre übliche zupackende Alte, spielt aber immer wieder feine Zwischentöne heraus. Der heimliche Star des Films aber ist Bill Nighy. Dieser so vielfältig begabte Schauspieler, der zwischen Komödie, Tragödie, Farce und Drama alles kann, nimmt sich in Gestik und Mimik so gewaltig zurück, dass er im Innern zu brodeln scheint. Und dafür gibt es einen Grund: Wir dürfen ihm beim herzzerreißend lakonischsten Coming-Out der Filmgeschichte zusehen. Die Akzeptanz des unwahrscheinlichen Themas steht und fällt mit dem Buch. Überraschung: Abgesehen von einem Theaterstück ist Stephen Beresford ein unbeschriebenes Blatt. Aber er kann lustig ebenso wie gefühlvoll und ernst. Selbstsicher setzt er seine Spannungsbögen und weiß um das nötige Komödientiming. Er bringt sogar das kleine Kunststück fertig, das Thema Aids (wir schreiben schließlich ’84/’85) auf ganz selbstverständliche Art in die Handlungsstränge einzuflechten, weder als tränenziehenden Kitsch, noch als lästiges Beiwerk. Sicher: Manchmal ist die gereckte Faust ein wenig zu sehr aus Bronze, und nicht alle Gags zünden, aber en gros ist die souveräne Leichtigkeit des Drehbuchs mehr als erstaunlich. Von Maggie Thatcher stammt der schlimme Satz: „There is no such thing as a society.“ Wenn es nur noch Einzelinteressen gibt, versucht folglich jede Gruppierung allein, ihre Pfründen zu sichern – und damit gegen die anderen. Dass Homophobie kein isoliertes Phänomen ist, sondern sich aus den gleichen Quellen wie Sexismus, Rassismus und Fremdenhass speist, gilt den modernen PR-Schwulen mit ihrem inneren Seitenscheitel als peinlich altmodisch. Wer braucht schon Solidarität, wenn eine bessere Steuerklasse winkt? Auch 1985 schon wurden die Fragen zwischen Emanzipation und Integration diskutiert. Ein Jahr nach Streikende schiebt man die LGSM ans hintere Ende des Gay-PrideMarsches ab – es soll schließlich eine Parade und keine politische Kundgebung sein. Just in diesem Moment rollen mehrere Busladungen Bergarbeiter an. Auf ihren Transparenten: Miners support Gay and Lesbian Rights! Hatte ich schon erwähnt, dass die Story des Films nicht erfunden ist? So hat es sich zugetragen, von der ersten Spendendose bis zu den Bergleuten, die mit ihren aufwendig bestickten Traditionsfahnen lachend neben den Homotransparenten laufen. Vielleicht waren die Protagonisten nicht ganz so witzig wie im Film, die Schwulen nicht so hübsch, die Lesben nicht so tatkräftig. Aber es hat sich zugetragen. s SISSY 23 7
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WARUM MÜTTER DIE BESSEREN LESBEN SIND VON NOEM I YOKO MOL IT OR
Die Diven sind Mutterfiguren für queere Herzen. Meistens glänzen sie unter schwuler Regie, doch auch lesbische Erzählungen beschäftigen sich vermehrt mit ihnen. Wie „Tru Love“ zeigt, in dem sich eine flamboyante tatsächliche Mutter experimentierfreudig und ziemlich weit auf die beste lesbische Freundin der Tochter einlässt.
s Sei doch schwul, mein Kind. Diven sind elegant, schlagfertig und von einem Sex-Appeal, vor dem man sich nur verneigen kann. Ganze Filme sind den Grandes Dames gewidmet, wie schon die Titel zeigen: Maman und ich (Guillaume Gallienne, 2013), Alles über meine Mutter (Pedro Almodóvar, 1999), 8 Frauen (François Ozon, 2002). Und auch in Serien wie Queer as Folk und The L-Word finden sich Mutterfiguren, die die Homosexualität ihrer Kinder nicht ablehnen, sondern übertrumpfen. Als Drehbuchautor, Regisseur, Schauspieler und Hauptfigur zugleich will Gallienne in seinem autobiographischen Film Maman und ich so feminin, so graziös, so brüsk sein wie sie, seine Maman, die er auch gleich selbst spielt. Sogar schwul sein würde er für sie, nur weil sie es so erwartet. Denn wäre er es, so bliebe sie die einzige Frau, die er je begehrte. Der schwule Ödipus reibt sich die Augen, denn er darf sie hier behalten: Guillaume entpuppt sich als femininer Hetero. Seine Diva-Ehrfurcht beeinträchtigt es nicht. Im Vergleich zu Galliennes Mutter, die ihm zur alles bestimmenden Über-Mutter gereicht, könnte Michael Novotnys Fag-HagMum Debbie in Queer as Folk fast zu nett wirken mit ihren vielen PFLAG -Buttons. Doch sie benutzt das Wort „Butt Plug“, als wäre es so selbstverständlich wie der Kaffee, den sie in ihrem Diner nachschenkt, und lässt den jungen Justin bei sich zu Hause wohnen, als sein Vater ausflippt, weil er mit dem Schwulsein seines Sohnes nicht klar kommt. Gespielt wird sie von Sharon Gless, Ikone der Cop-Serie Cagney & Lacey, die in den 80ern den lesbischen Subtext schlechthin prägte, von dem Serien wie Rizzoli & Isles heute noch zehren. Als Debbie gibt Gless die 8 SISSY 23
Mutter aller Schwulen, die Kondome zum Frühstück serviert. Sei doch einfach schwul, mein Kind, scheinen Debbie und Maman zu sagen, keine Zeit für große Scham. Völlig schamlos widmet auch Almodóvar den Müttern seine ganze Aufmerksamkeit und filmische Liebe. Alles über meine Mutter (1999) – der Titel spricht von purer Hingabe zu den Madres des Films, seien sie eine schwangere Nonne mit Aids, die mit Sexworker_innen arbeitet (Penelope Cruz als Rosa) oder eine Transfrau mit Sonnenbrille und Trenchcoat, die weder von ihrem gerade verstorbenen Sohn weiß, noch von ihrem Kind mit der Nonne (Toni Cantó als Lola). Oder natürlich Manuela (Cecilia Roth), die Lola sucht, um ihr endlich von ihrem erwachsenen Sohn zu erzählen, der auf der Jagd nach einem Autogram von Huma Rojo, die er so sehr verehrt, von einem Auto überfahren wurde. Die große Schauspielerin Marisa Paredes spielt sich quasi selbst als große Schauspielerin Huma mit roten Haaren und lesbischem Twist. Huma ist ein Bühnenstar, der eine jüngere Liebhaberin hat, der tragische Schlüssel zur Begegnung der anderen Frauen im Film. Was spielt es da für eine Rolle, ob Huma selbst ein Kind hat oder nicht? Sie ist die Diva, die schließlich den Rest der Frauen bei aller Schwere zum Lachen bringt. Einen Penis habe sie schon lange nicht mehr im Mund gehabt, sagt sie und ihre Gefährtinnen schmelzen dahin.
„Maman, qu’est-ce que tu fais!?“ SUZOU ZU GABY IN „8 FRAUEN“
Mama macht es selbst. Auch Ozon lässt die älteren Frauen in atemberaubendem Glanz und abgrundtiefer Macht erscheinen. In
8 Frauen (2002) schmiegt sich Catherine Deneuve als Gaby in ihren Pelz, wie sie es in so vielen ihrer Filme getan hat, doch niemand legt ihn ihr so lustvoll um wie Fanny Ardant als Pierette im roten Kleid. Ozon schmeißt den Subtext aus dem Fenster und lässt die beiden tun, auf was der lesbische Blick schon lange gewartet hatte: Nach einem Streit küssen sich die Schwägerinnen leidenschaftlich. All die vergangenen Animositäten nur ein Ersatz für ein unterdrücktes Begehren, das sich endlich entfesselt. „Mutter, was tust du da?“, entfährt es Gabys Tochter Suzou, als sie die beiden auf dem Wohnzimmerteppich entdeckt. In der Tat, was tut sie da? Das Attraktive an Ozons Antwort ist, dass Gaby als Mutter noch höher in der Riege der Diven aufsteigt, sie hat erwachsene Töchter und tut erst recht, was sie will. Sollen die kleingeistigen Blagen doch damit klar kommen. Während bei Ozon die Mutterfigur alles andere als konservativ ist, ist sie es in Alison Bechdels autobiographischer Graphic Novel Are You My Mother? (wörtlich übersetzt Bist Du meine Mutter?, bei Kiepenheuer & Witsch erschienen als Wer ist hier die Mutter?). Ganz klassisch tut sich die Mutter mit der Sexualität der Tochter schwer. Sie rät der Zeichnerin, ihre lesbischen Comics lieber nicht unter ihrem Namen zu veröffentlichen und sich damit zur Nischen-Autorin zu machen. Und nach Bechdels Theorie redet ihre Mutter so viel, damit sie kein lesbisches Wort dazwischen bekommt, vor allem nicht „Cunnilingus“. Doch in 8 Frauen ist es nicht die Mutter, die aus reiner Spießigkeit oder Anpassungsdrang ihre Tochter zur Heterosexualität erziehen will. Nein, hier echauffiert sich die Tochter über die queeren Eskapaden der
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Maman. Eine ganz andere Erzählung als die der lesbischen Tochter mit schwierigem Verhältnis zur heteronormativen Mutter, die als Über-Ich die sexuelle Orientierung ihrer Nachkommen überwacht. Wenn es nach Ozon und Almodóvar geht, sind Mütter die besseren Lesben.
Überraschungsbesuch von ihrer Mutter Alice (Kate Troter) und bittet ihre lesbische Freundin Tru (MacDonald), ihre Mutter zu „babysitten“.
„…“
Wie Gaby in 8 Frauen schreitet Alice im Pelz durch die Tür, nonchalant, wortgewandt, bemuttert werden muss sie nicht. Tru will sie haben, das merkt ihr bester Freund Gray (Alexander Chapman) sofort. Er ist der perfekte Counterpart zu Alice, mit der er sich auf Anhieb versteht, doch sein Potential als Gegen-Queen bleibt nur angedeutet. Gray ist für die beiden, doch als Suzanne von der angehenden Affäre der Mutter erfährt, wird sie zur paternalistischen Gatekeeperin, die der eigenen Mutter den Umgang mit einer Lesbe verbietet und umgekehrt. „Stay the fuck away from my mother“, beschimpft sie Tru, Alice sei verletzlich und zu alt, „um draußen zu spielen.“ Auf wen ist sie eigentlich so eifersüchtig, auf Ihre Mutter oder auf Tru? Auch Bechdel konkurriert in ihrer Graphic Novel mit der Mutter, wer ist die bessere Autorin, die schärfere Literaturkritikerin? Suzanne und Alice verbeißen sich jedoch in einem ganz anderen Kräftemessen: Wer darf Mutter spielen, lesbisch sein und wessen Lebens- und Liebesglück hat Vorrang? Suzanne ist die neurotische, distanzierte Tochter, bei der es einem kalt den Rücken runter läuft, wenn sie so entrüstet „Mutter“ ruft wie Suzou in 8 Frauen. Fassungslos wandert ihr Blick nach oben in Richtung mütterliches Schlafzimmer, der Freudschen Urszene. Man wartet förmlich darauf, dass der Film die Sabotageversuche der Tochter
HELENA PEABODY ZU PEGGY PEABODY IN „THE L-WORD“
Auch The L-Word brachte bei all seiner soapigen Gefälligkeit eine solche lesbische Diva-Mutter hervor. Holland Taylor spielte als Peggy Peabody nicht nur den Rest des Casts an die Wand; ihr Charakter Peggy, reiche Kunstmäzenin und Mutter von Helena Peabody, die nicht mit ihrem Trust Fund umgehen kann, war auch die bei weitem attraktivste Frauenfigur der Serie. Ihre Selbstsicherheit und Ironie, die nur das Alter hervorbringen kann, lassen die Liebesdramen der anderen Frauen trivial erscheinen. In ihrer Präsenz wirkt auch Helena, die sonst so selbstsichere Reiche, hilflos und verunsichert. Damit Helena lernt, dass man Freundschaft nicht kaufen kann, streicht ihr die Mutter das Geld, steigt zu ihrer alten Liebe Marilyn ins Auto und überlässt die Tochter samt deren hysterischem Freundeskreis ihrem belanglosen Schicksal. Sie schauen ihr sprachlos hinterher, denn es gibt Peggy Peabodys unmissverständlichem Statement nichts hinzuzufügen: Mütter sind die besseren Lesben. Ihre Töchter müssen nur erst mal damit zurecht kommen. Um eine neurotische Mutter-TochterBeziehung mit Rollentausch unter lesbischen Vorzeichen geht es auch in Tru Love (Kate Johnston/Shauna MacDonald, 2013). Anwältin Suzanne (Christina Horne) bekommt
„Motherfucker!“ SUZANNE ZU TRU IN „TRU LOVE“
noch auf die Spitze treibt. Stattdessen geht es hauptsächlich um Tru, eine mit lesbischem Leiden überladene Figur, die Bindungsängste hat. Doch das heimliche Zentrum der Erzählung ist Alice, mit Leichtigkeit gespielt von Kate Troter. Sie ist über die Dramen und Bemutterungsdynamiken ihrer Tochter erhaben, und auch Tru lässt in ihrer Gegenwart das Pokerface fallen. „Gertrude und Alice!“, entfährt es Alice, „Paris!“ Der Vergleich mit den Schriftstellerinnen Gertrude Stein und Alice B. Toklas, den Ikonen des lesbischen Paris der 20er, ist etwas hochgegriffen und überlädt den Film. Gaby und Pierette können da schon eher mithalten. Denn sie würden sich nie die Blöße geben, wie es Alice plötzlich tut, als sie glaubt, von Tru versetzt worden zu sein. Ozon und Almodóvar haben es auf den Punkt gebracht: Diven fallen nicht auseinander. Wenn, dann sie fallen sie übereinander her! s
TRU LOVE
von Kate Johnston, Shauna MacDonald CA 2014, 94 Minuten, englische OF mit deutschen UT, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der L-Filmnacht im
November, 3 www.L-Filmnacht.de
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EINE LIEBE ALS MASS DER ZEIT VON SE BA ST I A N M A R K T
Stephan Haupts Film über die Schweizer Zeitschrift „Der Kreis“, die in den 1940ern bis in die späten 1960er Leser in der ganzen Welt hatte und das Medium einer der wichtigsten europäischen Schwulenbewegungen war, ist keine Geschichtsstunde. Er setzt, als Spielfilmversion einer wahren Geschichte, ganz auf die exemplarische und doch so besondere Liebesgeschichte von Ernst und Röbi, die im Umfeld des Kreises zueinander fanden und es immer noch sind. In kurzen Dokumentaraufnahmen tauchen die beiden selbst im Film ihres Lebens auf – und bereichern die berührende Geschichte um die Dimension der eigenen Erfahrungen. Für Ernst und Röbi und den KREIS gab es (Publikums-)preise auf den Festivals der Welt, angefangen beim Berlinale-Panorama und dem Teddy.
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s Zürich 1956: Ein junger Lehrer steht vor einer Klasse in einer Mädchenschule. Er beginnt den Anfang eines Romans zu rezitieren: „Heute ist meine Mutter gestorben. Oder vielleicht war es gestern, ich weiß es nicht.“ Es ist „Der Fremde“ von Albert Camus, erschienen 1942. Der Lehrer heißt Ernst Ostertag und wird postwendend vom Schuldirektor für seine Lektürevorstellungen gemaßregelt. Der schlägt vor, sich, was die Literaturauswahl belangt, doch besser auf das 19. Jahrhundert zu beschränken. Eine andere junge Lehrerin, die das Gespräch mit anhört, fragt neckisch, ob „Madame Bovary“ vielleicht eine Möglichkeit wäre und erkundigt sich enthusiastisch, ob er bei seinen existentialistischen Lektüren auch schon auf „Le Deuxième Sexe“ von Simone de Beauvoir gestoßen sei. Szenenwechsel. Ein dunkles Hinterzimmer, vielleicht ein Keller, Bücher säumen die Wände, Schreibmaschinengeklapper, ein Mann sitzt an einem Tisch, vor Briefen und Fotografien. Er liest aus einem vor: „Alles, was ich mir vornehme, zerbricht an meiner Veranlagung. Schlaflos wälze ich mich in meinem Bett und warte auf ein Ende.“ Der Lehrer, abermals, wird hereingeführt und beginnt ein zaghaftes Gespräch. Er möchte die Zeitschrift abonnieren, die in diesen Räumen verfertigt wird. Der Mann am Tisch, er ist der Redakteur, mahnt zur Vorsicht. Das Abonnement könne er sich ja überlegen, den Veranstaltungen des Zirkels solle er auf’s Erste noch fern bleiben. Bis er als Lehrer fest angestellt ist zumindest, und „unsereins“ nicht mehr so leicht gekündigt werden kann. Er gibt dem Lehrer noch ein Exemplar der Zeitschrift mit. Sie heißt „Der Kreis / Le Circle“. Es gibt Zeichen von Aufbruch, es gibt Zeichen von Gegenwind. Über den letzten Augenblicken der Szene beginnt eine Stimme aus dem Off: „Ich habe schon mit zwölf gemerkt, dass ich schwul bin. Und eine gewisse Spannung, dass man es herausfinden könnte, dass man schwul ist, die hat’s natürlich immer gegeben. Mit der hat man gelebt, von dem Moment an, als man wusste, dass man schwul ist. (…) Ich habe nie darüber geredet, das ist einfach ein Tabubereich gewesen.“ Zürich 2013: Zwei alte Männer sitzen vor einer Kamera, auf einem Sofa, nah beieinander. Der, der erzählt, heißt Ernst Ostertag, heute ist er 84 Jahre alt. Neben ihm sitzt sein Partner Röbi Rapp, sie sind seit mehr als einem halben Jahrhundert ein Paar. Gemeinsam werden sie einen Film lang ihre Geschichte erzählen, von ihrem Kennenlernen und ihrer Beziehung, von leuchtenden Momenten und düsteren, aus dem sicheren Ort einer geglückten Gegenwart. Stefan Haupts Film Der Kreis spielt in zwei Zeiten: Aus der dokumentarischen Gegenwart eines schwulen Paares, zweier Männer, die seit fast 60 Jahren ihr Leben miteinander verbringen, holt er aus, um eine fiktionalisierte Geschichte zu inszenieren, die Geschichte einer Zeitschrift und einer losen Organisation, einer Gruppe von Menschen, die versuchen, ihr gemeinsames Leben zu gestalten in einer Gesellschaft, die ihnen das nicht immer leicht macht. „Der Kreis“ war eine Zeitschrift, die zwischen 1943 und 1967 in Zürich erschien, eine Zeit lang als einzige reguläre schwule Zeitschrift der Welt. Ihr Programm bestand aus Betrachtungen zum Zeitgeschehen, Berichten und Kommentaren, Kurzgeschichten und Gedichten, vorsichtigen Plädoyers für Emanzipation und zaghafter Erotik. Der Radius ihrer Leserschaft war beachtlich, sie erschien phasenweise dreisprachig und wurde, teilweise illegal, auch im Ausland verbreitet. Ihre Besonderheit lag aber auch darin, dass sich um die Redaktion und unter den Abonnenten ein soziales Netzwerk entwickelte, das ein Kristallisationspunkt einer schwulen Szene wurde, und deren Kernstück die regelmäßig organisierten und vom hauptverantwortlichen Redakteur Karl Meier alias „Rolf“ selbst und aufwendig inszenierten Bälle waren. In der Schweiz war Homosexualität seit 1942 entkriminalisiert, was Zürich eine Zeit lang (im Vergleich zum benachbarten Ausland insbesondere) in den Stand eines schwulen Mekkas versetzte. Die Spannungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen dokumentarischen, lebensgeschichtlichen Interviews und SISSY 23 11
kino DER KREIS
von Stefan Haupt CH 2014, 100 Minuten, deutsche SF, z.T. schweizerdt. OF mit deutschen UT, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der Gay-Filmnacht im
Oktober, 3 www.Gay-Filmnacht.de
EDITION SALZGEBER
Kinostart: 23. Oktober 2014
Spielfilmszenen, die eine Geschichte inszenieren wie imaginieren, macht sich der Film dabei zunutze, um anders von seinem Gegenstand sprechen zu können. Der Kreis erzählt eine schwule Geschichte im doppelten Sinn, als private Geschichte der Liebe zwischen Röbi und Ernst, als gesellschaftliche Geschichte der schwulen Subkultur in Zürich, als Geschichte der Bedingungen mithin, unter denen schwule Privatheit wie Öffentlichkeit möglich ist, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort. Seine spezifische Form, die als Dokudrama nur unzureichend charakterisiert wäre, weiß Der Kreis einzusetzen, um aus der Zeitspanne zwischen erzählter und Erzählzeit eine Geschichte zu lösen, gerade in der Lücke zwischen Imagination und biographischer Erzählung etwas sichtbar werden zu lassen. Das beginnt zuallererst damit, dass der Film die inszenierten Momente konsequenterweise nicht zur bloßen Animation historischer Oberflächen oder der schlichten Illustration historischer Überlieferung einsetzt. Die Referentialisierung von Vergangenheit zielt eher auf die Erfahrung historischer Intimität. Wenn Ostertag etwa zum ersten mal einen der ausschweifenden Maskenbälle besucht, auf dem er auch Röbi Rapp, der als Travestiekünstler oft der Star des Abends war, begegnet, dann spiegelt seine erstaunte Verwunderung ob dieser schwulen Opulenz auch das Glück eines Versteckes, in dem sich niemand verbergen muss. Der Film verbringt die meiste Zeit mit den Anfangsjahren der Beziehung von Ernst und Röbi und den Glanzjahren der Zeitschrift. Er erzählt von den geschützten Räumen, die sich die Männer des „Kreises“ über die Jahre schaffen konnten, wie von den trotz Legalität noch ungeschützten, in denen man doch leben musste. Von den Versuchen, unter 12 SISSY 23
Bedingungen, die das eigentlich nicht zuließen, eine bürgerliche Existenz als schwules Paar zu schaffen, von Promiskuität aus Freiheit und solcher aus Unfreiheit. Er tut dies vor allem anhand seiner Charaktere und den Beziehungen, die sie eingehen, untereinander und zu der Umwelt draußen, zur Familie und an Arbeitsplätzen und in der Konfrontation mit den staatlichen Organen. Von „Rolf“, der zentralen Integrationsfigur, der sich mit nicht enden wollender Energie um seinen „Kreis“ und dessen Menschen kümmert, immer bemüht, die Spielräume, die die politische Situation zulässt, nicht allzu sehr auszureizen. Von Felix, einem anderen Mitstreiter, der als ungeduldiger Linker immer wieder darauf drängt, sich stärker für sein Recht einzusetzen, von Ostertags Rektor, der sein Begehren unterdrückt, wo er nur kann. Von Ernst und Röbi und wie sie sich finden, zwischen den Zeiten. Im Raum zwischen den gealterten Männern, die vor der Kamera sprechen, und den inszenierten Vignetten vergangener Momente wird Geschichte als Gewordenes und Gemachtes erfahrbar. Die repressive Toleranz, die die staatlichen Organe der schwulen Szene entgegenbrachten, fand mit zwei – mutmaßlich von Strichern begangenen – Morden und der einhergehenden medialen Dämonisierung ein jähes Ende. Es folgten bleierne Jahre, die von brutalen Razzien, Erpressungsversuchen und einer polizeilichen Registrierung von Homosexuellen gezeichnet waren. Zu den bestimmenden ästhetischen Entscheidungen des Films zählt auch, die stattgefunden habenden Erniedrigungen, Demütigungen und Misshandlungen durch die Polizei nicht erneut zu imaginieren und ins Bild zu setzen, sondern dort auf die Stimme derjenigen zu hören, denen diese Gewalt widerfahren ist.
Von dem Ende der Zeitschrift, die unter den tektonischen Verschiebungen der 60er Jahre von offeneren und aggressiveren Magazinen immer mehr Leser verlor, erzählt der Film nur noch kurz. Röbi und Ernst machten ihre Beziehung erst spät öffentlich, nachdem Ernsts berufliche Stellung durch ein solches Coming-Out nicht mehr gefährdet war. Eine gemeinsame Wohnung bezogen sie nach dreißig zusammen verbrachten Jahren, 2003 waren sie das erste schwule Paar, das seine Partnerschaft am Standesamt in Zürich eintragen ließ. Karl Meier, der als „Rolf“ den Kreis gegründet hatte und über zweieinhalb Jahrzehnte leitete, starb 1974 nach einer Reihe von Schlaganfällen. In den von Krankheit überschatteten Jahren pflegte ihn sein Freund Alfred Brauchli. Sein Grabstein trägt die Inschrift: „Einer der liebte, stirbt nicht aus der Zeit.“ s --Die Geschichte des „Kreises“ hat Hubert Kennedy 1999 in einem Band niedergeschrieben, der auf Deutsch als „Der Kreis. Eine Zeitschrift und ihr Programm“ veröffentlicht wurde. „Verborgene Liebe. Die Geschichte von Röbi und Ernst“ von Barbara Bosshard erzählt das Leben der beiden. Der Verein schwulengeschichte.ch betreibt unter der gleichnamigen Domain eine Homepage, auf der umfangreiches Material zur schwulen Geschichte der Deutschschweiz versammelt ist, die meisten der Texte hat Ernst Ostertag geschrieben. In Kürze erscheint in der Edition Salzgeber ein Band mit Aktaufnahmen und Originaltexten aus dem „Kreis“.
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TORTUR DE FORCE VON EN R ICO I PP OL IT O
WELTKINO
„Mommy“, der jüngste Film von Xavier Dolan, eroberte die Filmfestspiele von Cannes im Sturm. Wie schon in „Herzensbrecher“ geht es um eine dynamische DreierFigurenkonstellation, auch die Mutter-Sohn-Beziehung in seinem Zentrum ist aus dem Dolan-Repertoire früherer Filme bekannt. Neu ist die rückhaltlose Liebe zu seinen freiheitssuchenden HeldInnen.
s „On ne change pas / On met juste les costumes d’autres sur soi / On ne change pas“ (Wir ändern uns nicht / Wir ziehen einfach die Kostüme der anderen an/ Wir ändern uns nicht), singt Céline Dion, kanadisches Nationalheiligtum, in der vielleicht herzerwärmendsten Szene von Xavier Dolans Mommy. Dolan zeigt in seinem fünften Spielfilm den Alltag und die Beziehung einer allein erziehenden Mutter zu ihrem 15-jährigen Sohn, der an einer ausgeprägten und sich gewaltsam äußernden Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung leidet. Diane „Die“ holte Steve aus der Anstalt ab, nachdem er die Cafeteria dort angezündet hat. Es beginnt einer Tour de Force, die irgendwo zwischen White Trash und Tragödie angesiedelt ist. Dolan unterliegt nie der Versuchung, seine Figuren eindimen sional wirken zu lassen. Er tritt ihnen mit der nötigen Empathie entgegen, was durchaus auch dem Format geschuldet ist, der 1:1 Aspect Ratio, einem Quadratbild. Die gewaltigen Bilder werden so zu porträthaften Instagram-Momenten, die nie banal wirken, sondern das Publikum ganz dicht an die Figuren heranlässt – einer der Gründe, warum dieser Proletenchic funktioniert. Aber auch, weil den Figuren so viel Humor und Stärke immanent ist. Das zeigt sich an der Art, wie Diane zum Beispiel den Entlassungsbescheids ihres Sohnes unterzeichnet, „ D.I.E.“ – und über dem I ein Herz. Das hat so viel Kraft und so viel Komik. Während Diane versucht, einen Job zu finden, der es ihr erlaubt, Steve nicht aus den Augen zu lassen, macht der Sohn sein Ding. Er ist renitent, will frei sein, sich keine Sorgen machen müssen. Die Momente, in denen er das schafft, sind die, wenn Steve auf dem Longboard steht. Dolan inszeniert die Fahrten wie eine Ballettaufführung, die Bewegungen sind grazil, rhythmisch, verletzlich. Und dann führt Xavier Dolan in diese Zweier-Konstellation, die manchmal ins Ödipale abzurutschen droht, eine dritte Figur ein. Die Nachbarin Kyla. Eine Lehrerin, die gerade ein Sabbatical macht und wegen eines Traumas stottert. Sie, die etwas zu Perfekte, trifft auf Diane und Steve nach einem Streit und beginnt, Steve Hausunterricht zu geben. Diane und Kyla freunden sich an, Steve lernt, seine Aggressionen unter Kontrolle zu haben. Es scheint alles gut zu werden. Aber es bleibt ein Unbehagen, das Warten auf die Katastrophe. Xavier Dolans große Kunst liegt nicht nur in der visuellen Ebene, in den schönen Bildern. Es ist auch seine Erzählweise, eine Narration voller Ellipsen, die sich aufs Wesentliche fokussiert und so immer bei den Figuren bleibt. Wie Steves Vater und Dianes Mann gestorben sind, erfahren wir nicht. Auch nicht, welches Trauma Kyla versucht zu überwinden. Dolan streut ein paar Hinweise hier und dort, aber
es geht ihm ganz klar um die Dynamik dieses Trios, wo jede andere Figur, jede weitere Erzählung stört. So wie der Nachbar, der es auf Diane abgesehen hat oder Kylas Mann und deren Tochter. Kyla, Diane und Steve bilden stattdessen eine eigene Familie, die perfekt funktio nieren würde. Wenn nicht auch Kyla und Diane die Freiheit suchen würden. Ihre Abhängigkeit von Steve hindert Diane daran, ihr Leben selbst zu bestimmen. Und Kyla? Sie überwindet zwar mehr oder weniger ihr Stottern, fühlt sich aber in ihrer „richtigen“ Familie wie ein Alien, während sie bei Diane und Steve so sein darf, wie sich möchte. Mit Mommy gewann der 25-jährige Xavier Dolan den Jury-Preis in Cannes, neben Jean-Luc Godard, was insoweit nicht überrascht, weil Dolans Kino auch nie Kompromisse macht, sich nicht an Regeln und Normen hält, sondern transgressiv ist und eine unersättliche Liebe zu Details hat – was sich unter anderem in einem Moment zeigt (Steve auf dem Longboard, Kyla und Die auf dem Fahrrad), in dem Steve wortwörtlich die Bildratio mit den Händen erweitert. Und Dolan lässt seinen Schauspielern Freiheiten, die dann in ihren Performances alles geben, was sie haben. Dass eben Mommy niemals ins Seifenopernhafte oder der Darstellung eines langweiligen Ödipus-Komplexes verfällt, ist auch ihnen zu verdanken. Anne Dorval spielt Diane mit so viel Wärme und Würde, Suzanne Clément gibt ihrer Figur Kyla eine herausragende Sensibilität und Sehnsucht, während AntoineOlivier Pilon die Balance bei Steve zwischen Psychopathen und Kind, zwischen Androgynität und klassischem Männerbild hält. Mommy ist die Geschichte dreier Personen, die jede für sich nach Freiheit und Liebe suchen. Das ist in einem einzigen Moment zusammengefasst, als Steve nach einem Abendessen die CD mit dem Label „Steve+Die 4ever“ einlegt. Es ertönt Céline Dion. Steve steht mit schwarzem Nagellack, im schwarzen Tanktop und blonden zurückgegelten Haare vor Diane und Kyla. Er beginnt zu singen und zu tanzen. Er lädt erst Die ein, mit ihm zu tanzen, dann Kyla. Sie singt: „On ne change pas“. s MOMMY
von Xavier Dolan CA 2014, 134 Minuten, französische OmU, Weltkino, 3 www.weltkino.de IM KINO ab 13. November 2014
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PFERDEKUSS VON TA N I A W IT T E
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Monika Treuts neuer Film ist eine klar und geradlinig erzählte Coming-of-Age-Geschichte, die im deutschen Norden spielt und sich und ihrer jugendlichen Protagonistin Blicke und Welten eröffnet, die ganz auf die visuellen Möglichkeiten des Kinos vertrauen. Aus den komplizierten Produktionsbedingungen des deutschen Förderkinos findet der Film dadurch ebenso leicht heraus wie aus dialogüberfrachteten Geschichten über urbanes lesbisches Leben, wie sie prominent das US -amerikanischen Nischenkino produziert. Dass der Film auf eine kollektive Begeisterung von Mädchen für Pferde anspielt und hierfür ziemlich handfeste Bilder findet, ist dabei seine besonderer Stärke.
s Ganze Generationen präpubertierender Mädchen träumten sich nach Immenhof und Bullerbü. Mädchen, die von schnaubenden Pferden schwärmten, von Lagerfeuern und vom sanften Geruch des Heus. Später dann, während der Pubertät, waren diese „Ferien auf dem Bauernhof“-Geschichten voller Landliebe und Heile-Welt-Szenarien Leinwände für Fantasien von romantischen Begegnungen im Stroh hinter der Stalltür. Vielleicht war Monika Treut eines dieser Mädchen – zumindest widmet sich die Regisseurin dem „Ferien auf“-Genre mit einer Leidenschaft, wie sie nach ihren bahnbrechenden feministischen Frühwerken, die ihren Ruf als Avantgardistin des Queer Cinema zementierten, nicht zu erwarten war. Nach Klassikern wie Die Jungfrauenmaschine (1988), nach Female Misbehaviours (1992) oder Gendernauts (1999) nun also Mädchenträume à la Treut. Pferde, Lesben und üppige Landschaften inbegriffen. Die vielfach ausgezeichnete Regisseurin ist immer für eine Überraschung gut. Im Gegensatz zu ihrem letzten Spielfilm Ghosted, in dem sich Treut mit asiatischen Todeskulten und einer (lesbischen) Liebe zwischen materieller und spiritueller Welt bewegte, zeichnet sich ihr neuer Spielfilm Von Mädchen und Pferden durch überraschende Bodenständigkeit aus. Die Geschichte der 16-jährigen Alex (Ceci Chuh), die ein Praktikum auf einem Reiterhof am schleswig-holsteinischen Rickelsbüller Koog antritt, entrollt sich häppchenweise und niemals ganz. Die Bilder und die sparsamen Dialoge zeichnen das verwaschene Bild einer Jugendlichen, die kifft und sich schneidet – beides Themen, die aus einer durchschnittlichen Pubertät 2014 kaum wegzudenken scheinen. Warum genau Alex auf dem Hof in Holstein landet, bleibt vage. Es sei ihre letzte Chance, erfahren die Zuschauenden, und reimen sich das dahinter stehende „Sonst Jugendknast!“ selbst zusammen. Was genau geschehen ist, spielt auch keine Rolle; wichtig ist, dass Alex’ Adoptivmutter an ein Umdenken ihrer Tochter durch einen Ort ohne Handyempfang, durch harte, körperliche Arbeit und eine reizarme Umgebung glaubt. Und an die Heilkraft von Pferden. Ein Glaube, den sie mit Pferdetrainerin Nina (Vanida Karun) teilt. Thirtysomething Nina gönnt sich auf dem Land eine Auszeit von Hamburg, möglicherweise von einem anderen anstrengenden Job und ein bisschen auch von ihrer Freundin. Vanida Karun verkörpert Nina als unaufgeregten, in sich ruhenden Charakter, feinstofflich und ein wenig spirituell. Vor allem aber mit einer ganz besonderen Liebe zu Pferden. Diese Liebe hat sie an den Hof der Hansens geführt – eben SISSY 23 15
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den Hof, auf dem Alex landet und den Nina leitet … zumindest den Teil, der mit Pferden und Feriengästen zu tun hat. In der toughen und klaren Nina findet Alex zwar keinen Mutterersatz, dafür aber das Role-Model, das sie in ihrer Heimatstadt offensichtlich vermisst hatte. Unter anderem deshalb, weil schon die zweite Frage, die Alex Nina stellt, ein unverkrampftes lesbisches Coming-Out der Pferdewirtin nach sich zieht. Zwischen Longe-Stunden und Stall-Ausmisten entwickelt Alex eine leise Schwärmerei für ihre Vorgesetzte. Als sie Nina allerdings während einer Reitstunde zu küssen versucht, bügelt die sie (zusammenhangslos und kryptisch) mit dem Satz: „Alex, ich bin doch kein Pferd!“ ab. Weitere Annäherungsversuche bleiben aus, nicht aber eine Phase der Eifersucht, als die wohlbehütete Berlinerin Kathy (Alissa Wilms) mitsamt eigenem Pferd auf dem Ferienhof einzieht. Nachdem allerdings geklärt ist, dass Kathy Alex nicht den Rang ablaufen wird und auch mögliches Konfliktpotential bezüglich der Hierarchien von Dienen und Herrschen unthematisiert bleibt, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden Mädchen. Die Beziehung wächst langsam und so authentisch, dass sich Fragen nach ihrer Wahrscheinlichkeit oder beidseitigem potentiellen Standesdünkel erst gar nicht stellen. Das so glaubwürdig zu vermitteln, ist unbedingter Verdienst der herausragenden jungen Schauspielerinnen, denen die sparsamen Dialoge nur wenig Struktur vorgeben. Besonders Ceci Chuh, die Darstellerin der Alex, brilliert mit einer Natürlichkeit, die pubertäres Überkandidelt-Sein und trotzige Unambitioniertheit einschließt. Aber auch Alissa Wilms verschmilzt mit der Rolle der Kathy, und so wirken die sparsamen Dialoge alltagstauglich und die Szenen nur dann hölzern, wenn sie hölzern wirken sollen. Schwäche zeigt Von Mädchen und Pferden (zeigen nicht aber die Schauspielerinnen) in den Szenen, die einer Altherrenfantasie von jungen Mädchen, die ihr Lesbisch-Sein entdecken, entsprungen scheinen. Schlamm-Catchen im Watt gehört dazu, das volle Programm mit lustvoll bematschten Körperteilen und Zooms in Dekolletés, die nicht dem Blickwinkel der Protagonistinnen geschuldet sind. Dazu inszenierte Heu-Schlachten und Hoppe-hoppeReiter auf Karussellpferden. Hier atmet der Film Klischees. Ungeachtet dessen nimmt die Coming-of-Age-Story ihren Lauf. Alex und Kathy wachsen zusammen: Die eine zeigt der anderen, wie man reitet und besorgt ihr einen Ausbildungsplatz, die andere zeigt der einen, wie man sich mit Wodka besinnungslos säuft und dann küsst – und kümmert, wenn die andere semi-komatös im Stroh landet. Es bleibt der Interpretation des Betrachtenden überlassen, ob der Kuss nur ein Kuss oder der Beginn einer Liebe ist. Die Rolle der Pferde in Treuts Spielfilm ist zweischneidig. Einerseits ist die Erotisierung der Tiere, die Metapher sind und Metaebene, zu leicht zu lesen. Das Pferd als feministisches Manifest, als Inbegriff der Weiblichkeit, eines matriarchalen Systems, in dem eine Stute die Herde führt, als abgelutschtes Synonym für Sex. Andererseits 16 SISSY 23
sind die Bilder der Tiere eine Stärke des Filmes, vor allem, wenn sie ohne Menschen gezeigt werden, wenn sie zart und kraftvoll mit der Kamera spielen. Dann funktionieren sie plötzlich, ohne zwangsläufig an Metaphern gebunden zu sein. Auf die Kraft der Bilder zu vertrauen, ist auch das Wagnis der Story. Das liegt neben den beeindruckenden Schauspielerinnen vor allem an der Arbeit der Kamerafrau Birgit Möller, die die Weite der Natur, die Landschaft, die Pferde, die Frauen bis auf die wenigen, oben genannten Ausnahmen, perfekt in Szene setzt. Das Independent-Movie wurde auf den amerikanischen Filmfestivals hoch gelobt, dafür, dass der Film so unaufgeregt sei, so bar jeglicher Stereotype, und er obendrein jeder Erwartungshaltung zuwiderlaufe. Betrachtet man die amerikanischen Mainstreamfilme, verwundert dieses Feedback wenig, ist es doch genau das, woran die US -amerikanische Blockbusterkultur krankt: Ein Mangel an Authentizität und die Zementierung der immer-gleichen Klischees. Davon hebt sich Von Mädchen und Pferden in der Tat wohltuend ab. Der LowBudget-Film, der in 20 Tagen gedreht wurde, ist strikt linear erzählt, traut sich, Dinge unbenannt zu lassen und nimmt sich alle Zeit, dialoglos in langen Bildsequenzen zu schwelgen. Und welche Kraft diese Bildsequenzen haben! Die Weite des Strandes, den Nina und Kathy entlang galoppieren, ein Inbegriff von Freiheit und Sehnsucht. Die Deichlandschaft, die Schafe, die Pferde, die Sonnenauf- oder Sonnenuntergänge, der gleich doppelte Regenbogen, die dramatischen Wolkenformationen am Himmel. Vielleicht aufgeladen mit Bedeutung, vielleicht auch nicht. Beeindruckend, berührend auf jeden Fall. Wer weder Pferden, noch Mädchen etwas abgewinnen kann, wer Actionfilme und auserzählte Stories mag, der wird Monika Treuts neuem Werk vermutlich wenig abgewinnen können. Wer aber Slow Cinema schätzt und Bilderwelten liebt, die sich in Ruhe entblättern, wer großartigen Landschaften verfallen kann und ebenso begabte wie unverkrampfte Schauspielerinnen zu schätzen weiß, der wird von der Welt, die Von Mädchen und Pferden handelt, uneingeschränkt verzaubert sein. s
VON MÄDCHEN UND PFERDEN
von Monika Treut DE 2014, 85 Minuten, deutsche OF, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der L-Filmnacht
im Oktober, 3 www.L-Filmnacht.de Kinostart: 4. Dezember 2014
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Apfelkuchen gegen Ignoranz VON SOPH I E ST ROH M E I E R
Wieder einmal erobern Kurzfilme die L-Filmnacht, ein unverwüstliches Format, das eine derartige Vielzahl von Aspekten des lesbischen Lebens in allen möglichen Tonarten und in Spielfilmlänge zu präsentieren vermag, wie es einer einzigen Regisseurin wohl gar nicht in den Sinn käme. Wir lernen also nicht nur Amanda und Kelly kennen, sondern auch Laura und Daniella, Chloe und Olivia (und Andrea), Miss Finknagle, Muriel und Emannuelle, June und October und gleich zwei Honey Bunnys.
s Eine große Bandbreite an Themen und Emotionen kommt in der Kurzfilm-Ausgabe der L-Filmnacht zum Vorschein – vom nervenaufreibenden ersten bis zum traurigen letzten Date, vom Kinderwunsch bis zur Suche nach einem Dreier, von Gesprächen mit der buchstäblichen Traumfrau bis zur harten Ankunft in der Realität. Die Sammlung fokussiert sich nicht nur auf das explizit Lesbische: Zwar spielen bei jedem Film frauenliebende Frauen in verschiedensten Altersstufen eine Rolle, Sexualität und Liebe erfüllen aber verschiedene dramaturgische Funktionen und erlauben somit einen Blick auf die Vielschichtigkeit des gegenwärtigen lesbischen Filmschaffens. Verdreht ein Kurzfilm wie Kaffee und Kuchen – samt seiner Kritik an der doch eigentlich völlig absurden Datingkultur – unsere Erwartungshaltung an die romantische Komödie, so findet sich mit Das erste Date zugleich eine ebensolche Komödie in der Sammlung, allerdings mit einem erfrischend screwball-haften Optimismus. Im reizenden Miss Finknagle ergibt sich dem Chaos rätseln Schulkinder über das myste-
riöse Verschwinden und die Selbstfindung einer Schulbibliothekarin. Eine belgische Geschichte wiederum erzählt liebevoll von Beziehung, Kinderwunsch und den medizinisch-bürokratisch-emotionalen Hürden der künstlichen Befruchtung. Besonders beliebt ist auch das gefürchtete Thema des grausamen Lesbian Bed Deaths, für das zwei fickende Hasen in Stop Calling Me Honey Bunny eine kreative Lösung zu finden versuchen. Den wirklichen emotionalen Tumult jedoch liefert der dänische Kurzfilm Chloe mag Olivia mit seiner tragisch aufgeladenen Dreieckskonstellation voll sehnsuchtsvoller Blicke, Roleplay, Lederpeitschen, und – großartigerweise – einem Bärenkostüm: Mit einem geschickt gewählten Titel, der in rätselhafter Weise auf einen Text von Virginia Woolf verweist, handelt Chloe mag Olivia von der vermeintlichen moralischen Verderbnis und der zerstörerischen Gewalt der Polygamie und des BDSM: Olivia bringt eines Nachts die neunzehnjährige Auslandsstudentin Chloe nach Hause – nicht für sich, sondern als Wiedergutmachung für ihre im Finstern lauernde
Verlobte. Chloe ist in Olivia verliebt, Olivia möchte nur ihre Beziehung retten. Es kommt zu emotionalen, erotischen und sprachlichen Ausgrenzungen; schon bald öffnen sich auch die Abgründe des (Mono-)Beziehungslebens: Olivias Verlobte ist eine besitzergreifende Tyrannin, die Chloe mit zuckersüßem Sadismus begegnet; und Olivia ist die hilflos Unterworfene, die sich unbewusst nach einem Ausweg sehnt. Zu diesem Beziehungseiswürfel sagt Regisseurin Mette Kjærgaard: „Wir wollten die typischen Klischee-Handlungen über Lesben vermeiden, stattdessen wollten wir mit dem lesbischen Thema als etwas Universellem umgehen – wir wollten ein Drama kreieren, zu dem jeder Zugang findet, egal welcher Sexualität.“ In gewisser Hinsicht bietet der Film – mit seinem gescheiterten Three-Way – auch eine Darstellung der Lustfeindlichkeit unserer heutigen Gesellschaft, vor allem aber der gegenwärtigen Kino- und Darstellungskultur, in der nicht-monogame, polyphone Sexualität sehr schnell als Symbol einer verdorbenen und zu verwerfenden Zwischenmenschlichkeit gilt. Eine eher ungewöhnliche Dreieckskonstellation bietet Kaffee und Kuchen. Hier dominiert nicht in erster Linie der lesbische Aspekt, sondern eine Americana-Ästhetik und eine unterschwellige Märchenlogik, die an ikonische Güter wie z.B. Twin Peaks erinnert und die romantische Komödie erfrischend parodiert: June trifft sich mit October im Diner, um mit ihr, bei Kaffee und Milkshake, Schluss zu machen. Der völlig hilflosen und entsetzten October kommt eine mysteriöse Kellnerin namens Billy-Jean mit ein paar weisen Worten und – but of course! – Apple Pie zu Hilfe. Dank des entzückenden Zynismus’ ihrer guten Fee lernt October, den Spieß von Romantik und Begehren zu ihrem eigenen Vorteil umzudrehen. Jede auch noch so schlimme Bitterkeit braucht doch einfach nur ein Stück Apfelkuchen als Gegengift. Auf eine ähnliche Art kommt die L-Filmnacht wie ein Stück Apfelkuchen daher, um der an Lesben armen Medienwelt ein wenig auf die Sprünge zu helfen. So verschieden die Kurzfilme in ihrer Art und Handlung auch sein mögen, in jedem dieser Kleinode ist die lesbische Liebe eine Selbstverständlichkeit. Hier haben wir es mit jenen vielfältigen Erfahrungsberichten zu tun, die zu selten eine Repräsentation finden. s
DAS ERSTE DATE von Janella Jacson, US 2012, 7 Minuten · DREAM GIRL von Tulica Singh, US 2012, 6 Minuten · CHLOE MAG OLIVIA von Mette Kjærgaard, DK 2011, 19 Minuten · EINE BELGISCHE GESCHICHTE von Myriam Donasis, FR 2012, 25 Minuten · MISS FINKNAGLE ERGIBT SICH DEM CHAOS von Amy Harrison, US 2013, 9 Minuten · KAFFEE UND KUCHEN von Douglas Horn, US 2014, 15 Minuten · STOP CALLING ME HONEY BUNNY von Gabrielle Zilkha,
CA 2013, 11 Minuten
Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der L-Filmnacht im September, 3 www.L-Filmnacht.de
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VERWEHTE TRÄUME VON M A LT E G ÖBE L
Ausgerechnet eine ziemlich explizit erzählte schwule Jungsgeschichte war Ungarns Beitrag zur letzten Berlinale, zähneknirschend präsentiert von den Vertretern der nunmehr vollkommen rechtsgeschalteten Kulturpolitik. Das demonstrativ heterosexuell auftretende Filmteam warb um Toleranz und Enttabuisierung von Homosexualität. Der Film selbst traut sich, einen Traum zu formulieren, der vor erotischer Sehnsucht nur so platzt: wie sich drei Jungs aus nichts und im Nirgendwo ein Haus bauen, Bienen züchten und aus allem aussteigen wollen, was an Zwang vom sozialen Umfeld gewaltsam ins Spiel gebracht wird. Alles an „Sturmland“ ist so dramatisch, wie sein Titel andeutet.
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s Szabi (András Sütö), ein junger Ungar mit Dreitagebart, traurigen Augen und fescher Föhnfrisur, ist der Star seines Fußball-Teams. Der knorrige Trainer nimmt ihn extra hart ran und raunzt ihm dann ins Ohr: „Du hast so viel drauf wie alle anderen Spieler hier zusammen!“ Szabi ist sich da nicht so sicher. Und der Druck ist zu viel: Ausgerechnet im wichtigsten Spiel des Jahres holzt Szabi seinem Gegenspieler die Beine weg, kassiert eine rote Karte und wird zum Buhmann seines Teams. Dann überwirft sich mit seinem besten Freund, dem schmächtigen Bernard (Sebastian Urzendowsky) – und nimmt Reißaus: heim nach Ungarn, ins halb verfallene Haus seiner Großeltern. Als Sturmland im Februar bei der Berlinale seine Premiere hatte, wirkte der Film aus deutscher Sicht wie ein Kommentar zum Coming-Out von Ex-Profifußballer Thomas Hitzlsperger. Doch tatsächlich war der Eindruck falsch, es geht in dem Film nicht so sehr um Fußball. Fußball ist hier vor allem gesellschaftliche Drohkulisse, verkörpert die Erwartungen der Außenwelt, denen Szabi
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nicht gerecht wird – oder nicht gerecht werden will. Da ist der Macho-Trainer, da ist Szabis Vater, ein Ex-Profi, dessen sehnlichster Wunsch es ist, dass der Sohn in seine Fußstapfen tritt und als Fußballer in Deutschland Erfolg hat. Und da ist das Team der Halbstarken in Ungarn, das Szabi mitten in der Partie zusammenschlägt, weil er schwul ist. Beeindruckende Bilder Sturmland ist also kein Fußball-ComingOut-Drama. Es ist ein Sehnsuchtsdrama über ein Coming-Out unter widrigsten Bedingun gen in der ungarischen Provinz: Szabi repariert das Haus seiner Großeltern mit der Hilfe eines Jugendlichen aus dem Dorf, Áron (Ádám Varga), und bald funkt es zwischen beiden gewaltig. Leider ist das Dorf total homophob, die eigene Mutter verpetzt den Sohn an dessen Kollegen in der Berufsschule. Zu allem Überfluss taucht auch noch Bernard in Ungarn auf und gesteht Szabi seine Liebe. So ist Sturmland auch Eifersuchtsdrama und Dreiecksgeschichte. All das inszeniert der Film in beeindruckenden Bildern. Man merkt, dass Regisseur Ádám Császi auch Maler ist. Er macht aus einem öden Krankenhausgang ein schillerndes Märchenbild, aus der großelterlichen Bruchbude ein verwunschenes Anwesen. Fast alle Kamera-Einstellungen sind so gut komponiert, dass man sie sich als Poster an die Wand hängen möchte. Hinzu kommen die Aktaufnahmen junger Männerkörper, die Császi als homoerotische Häppchen anrichtet: jugendliche Fußballer unter der Dusche, Szabi und Bernard ohne T-Shirt beim Kiffen auf dem Großstadtdach, Szabi und Áron ohne T-Shirt auf dem Dachfirst beim Hausrenovieren, Szabi nackt bei der Katzenwäsche am Bottich, Szabi und Áron beim Baden, Bernard bei der Katzenwäsche, Szabi, Áron und Bernard beim Baden. Ästhetisch ambitioniert drapiert Ádám Császi die jungen Männer in das bruchreife Haus, neben das Mofa, neben den Waschzuber, auf ausgelaugten Ackerboden. Hört sich nach Softporno-Erotik an? Das ist gar nicht mal so falsch, auch wenn man so etwas in einem ungarischen Film zur Zeit nicht erwartet. Den Eindruck unterstützen die hölzernen Dialoge, wobei es davon glücklicherweise gar nicht so viele gibt: Regisseur Császi lässt seine Jungs viel schweigen und durch Blicke sprechen. Ádám Császi in einem Interview mit der Website cineuropa.org: „Ich musste mich auf das konzentrieren, was die Charaktere verbergen und was sie nicht ausdrücken können, viel mehr als auf das, was sie sagen und zeigen.“ Ist besser so. Eine männerbündlerische, entrückte Utopie In den schönsten Momenten wird so das Haus in der ungarischen Provinz zu einem
Rückzugsort. Hier hämmern Szabi und Áron malerisch auf dem Dachfirst, hier züchten sie Bienen und ernten Honig – es ist eine mal männerbündlerische, oft entrückte Utopie. Hier ist kein Platz für das Getöse von Außerhalb, für die aggressiven Dorfjugendlichen, den brüllenden Fußballtrainer, den wütenden Vater Szabis, die jammernde Mutter Árons. Es gibt aber auch die Momente, in denen man als westlicher Zuschauer, der schon jede Menge Coming-Out-Filme gesehen hat, unwohl auf dem Stuhl herumrutscht: wenn die Dialoge misslingen, die Handlung allzu platt ist. Szabi prügelt sich ausgerechnet nackt unter der Dusche mit seinem Kumpel Bernard. In Ungarn dann versucht Áron Szabis Mofa zu klauen, der schlägt ihn k.o. und verfrachtet ihn anschließend in sein Bett, um ihn zu pflegen. Später, beim Haus renovieren, bricht über Szabi das Dach zusammen, und Áron bemuttert ihn zärtlich. Das ist sweet, aber klebrig-sweet. Und als Bernard aus Deutschland anreist und sich mit Áron eifersüchtig anzickt, braucht es nur eine Berührung, und auf einmal knutschen die beiden. Für eine Nacht wird aus der schwierigen Dreier-Konstellation ein DreierIdyll. Noch mehr Klischee in Árons Familie: Er kümmert sich rührend um seine alte Mutter, beichtet ihr auch, dass da etwas zwischen ihm und Szabi ist – und diese plaudert es im Dorf aus, sagt dann ihrem Sohn: „Was ihr tut, ist widerwärtig! Ich kann gut für mich selbst sorgen“ – und er flieht zu Szabi. Na klar, so kann man eine Geschichte erzählen, aber irgendwie hat man das schon zu oft gesehen: Schwule als Opfer, Homosexualität als Drama. Alle haben etwas gegen die schönen, sensiblen jungen Männer, deren kurzes Glück doch zum Scheitern verurteilt ist. Der Hintergrund: Ungarn mit christlichen und national-konservativen Tendenzen Das Vorhersehbare an der Geschichte ist eher verzeihlich, wenn man den Hintergrund von Sturmland bedenkt: In Ungarn regiert seit 2010 die national-konservative Fidesz-Partei, die das gesellschaftliche Klima entscheidend christlich-national, anti-liberal, antisemitisch und homophob prägt. Homosexualität kommt im öffentlichen Diskurs nur selten zur Sprache, das soll der Film ändern. „Ich will, dass die Leute über das Thema Homosexualität reden“, sagt Regisseur Ádám Császi. „Das größte Problem ist, dass LGBTQ -Themen nur sehr selten in unserer Gesellschaft diskutiert werden – als wäre das ein verbotenes Thema.“ Was man vor einem deutschen HomoHintergrund augenrollend als Klischee wahrnimmt, soll die ungarische HeteroGesellschaft dazu einladen, das Schicksal der Figuren mitzufühlen, Empathie erwe-
cken. „Ich will, dass das Publikum meine Charaktere kennen lernt, mit ihnen fühlt und sie dann so akzeptiert, wie sie sind“, sagt Czászi. „Das LGBTQ -Kino muss Öffentlichkeit schaffen und einen Dialog anregen. Das geht nur durch starke, sehr persönliche Erzählungen.“ Laut Wikipedia gibt es nur vier ungarische Filme, die sich überhaupt mit Homosexualität befassen. Zwar fehlt dabei der Film „Férfiakt (2006), aber Sturmland kommt trotzdem eine Pionier-Rolle im ungarischen Kino zu. Wie schwer es ist, das Thema Homosexualität angemessen darzustellen, zeigt der ungarische Blockbuster Coming Out (Winter 2013/14). Trotz des Titels handelt der Film nicht vom Coming-Out einer Lesbe oder eines Schwulen, sondern davon, wie man aus der (bösen) Homosexualität wieder herauskommt: Der offen schwul lebende Radiomoderator Erik will seinen Partner Balázs heiraten. Nach einem Motorradunfall merkt er aber, dass er in Wahrheit auf Frauen steht – und verliebt sich in seine Ärztin Linda. Obwohl mit Coming In gerade ein ähnliches Thema in einem deutschen Film erzählt wird (Seite 28), sehen Kritiker den ungarischen Coming Out als direkten Ausdruck der Doktrin der Fidesz-Regierung: Familie fördern, Geschlechterrollen zementieren, Homosexualität als veränderbar und damit behandelbar darstellen. Die Historikerin Eva Balogh kritisiert in ihrem Blog „Hungarian Spectrum“: „Dieser Film reflektiert die erfundene Welt von Orbáns Ungarn. Sie fälschen Geschichte, sie fälschen Wissenschaft: Alles ist gut, solange die Propagandamaschine der Regierung, unter Mithilfe der Kirchen, die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt.“ Die Publizistin verließ nach dem Scheitern der ungarischen Revolution 1956 ihre Heimat und zählt seitdem zu den stärksten Kritikern der Politik ihrer Heimat – auch und gerade nach dem Ende des Kalten Krieges. Sie rühmt Sturmland in diesem Zusammenhang, weil er die Realität in Ungarn zeige, „die schreckliche Logik zwischen eigener unterdrückter Homosexualität und tödlichem Hass auf Homosexuelle“ (zitiert sie aus einer Rezension der Berliner Zeitung). Vor diesem Hintergrund erscheint Sturmland als Meilenstein des ungarischen Kinos, dem viel Aufmerksamkeit zu wünschen ist. s STURMLAND
von Ádám Császi HU/DE 2014, 105 Minuten, deutsch-ungarisch-englische OF mit deutschen UT, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der Gay-Filmnacht im
November, 3 www.Gay-Filmnacht.de
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PRAIA DO FUTURO
von Karim Aïnouz BR/DE 2013, 106 Minuten, deutsche SF, portugiesische OmU, Real Fiction, 3 www.realfictionfilme.de IM KINO ab 2. Oktober 2014
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TESTOSTERON UND TRAURIGKEIT VON JA N K Ü N EM U N D
REAL FICTION FILMVERLEIH
Karim Aïnouz, der schon in „Madama Satã“ (2002) einen wenig zimperlichen Drag-Kämpfer sich seinen Lebensraum freiboxen ließ, hat mit „Praia do Futuro“ einen Heldenfilm gemacht, in dem Männer ihr Leben in die eigene Hand nehmen und nicht mehr zurückschauen. Der „Hitzlsperger-Effekt“, auf den Berlinale-Chef Kosslick in seinem Wettbewerb hoffte, trat dadurch nicht ein. Kein Wunder – nicht um das Zurückflexen von Homosexualität in den Mainstream geht es hier, sondern darum, ein paar Muskeln anzuspannen.
s Man kann über Praia do Futuro nicht sprechen, ohne bei seiner großartigen Eröffnungssequenz anzufangen. Die kalt glitzernden Synth-Rockabilly-Akkorde von Suicides „Ghost Rider“ krachen von der Leinwand, große Windkrafträder drehen sich irre im strahlenden Sonnenlicht, die Kamera justiert die Schärfe und zwei Motocrossfahrer in leuchtendem Blau, Rot und Orange schießen durch die sandverwehte Landschaft. Vorwärtsbewegung, Höllenlärm und Testosteron. Dann sind sie plötzlich aus ihren Verkleidungen raus, laufen ins wilde Meer, die Kamera verfolgt sie im langsamen Aufwärtsschwenk – unten ist Sand, in der Mitte Wasser, oben der Himmel. Zwei Linien, drei Elemente, zwei Figuren, für die Grenzen nicht zu gelten scheinen. Doch den einen hält’s im Meer fest und der andere muss wieder herausgezogen werden. In leuchtendem Gelb gruppiert sich der Filmtitel um die Horizontlinie herum – er wird von Männern erzählen, die den Schritt von einem Element ins andere wagen. Wir haben es mit Superhelden zu tun. Der deutsche Tourist Konrad, der seinen Freund an den Gegenspieler, das Meer, verliert, ist der Ghost Rider, wie wir ihn von Suicide schon vorgestellt bekommen haben („Ghost Rider motorcycle hero / Hey Baby Baby Baby he’s a-lookin’– so cute / Sneak around-round-round in a blue jump suit“). Ein Mann mit dunkler Vergangenheit (von Afghanistan, Camp Warehouse ist die Rede), über dessen schwarzen Helm mit rotem Mundschutz später die Lichtreflektionen blitzen wie Flammen auf einem Totenkopf. Aus dem Meer gerettet wird er von Donato, dem Aquaman im hautengen roten Top, der, wie sein Bruder Ayrton glaubt, die Raubtiere des Meeres mit seiner Macht kontrollieren kann. Dieser Ayrton, im ersten Teil des Films noch ein Kind und Superheldenfan, hat Wasserangst und wird deshalb kein kleiner Aquaman werden, entwickelt aber eine unmittelbare Faszination für den Ghost Rider Konrad, weswegen er sich selbst Speed Racer nennt, nach dem Vorbild des jugendlichen Anime-Rennfahrers, der einen geheimnisvollen, von der Familie verstoßenen Bruder hat. Ayrtons launiges Spiel, die Protagonisten als männliche Helden nach Comic-Vorbildern zu bezeichnen, nimmt der Film sehr ernst. Er wird eine rein männliche Welt zeigen, von Mut und Feigheit und Superkräften erzählen, weitere Heldensprünge über scheinbar natürliche Begrenzungen hinweg verfolgen, die Welt, die Zukunft als prinzipiell eroberbar zeichnen. Er wird aber auch Bilder für Verwundbarkeiten finden, für das grüne Kryptonit, die Achillesferse, das Lindenblatt. Er weiß, dass Testosteron nur in der Pubertät, aber nicht mehr bei Erwachsenen vor Traurigkeit schützt. Der erste Teil, „Die Umarmung eines Ertrinkenden“, ist Konrad gewidmet, der in Fortaleza, an der brasilianischen Atlantikküste, seinen Freund Heiko verliert und sich in seinen Retter Donato verliebt. Die Leiche ist noch nicht wieder vom Meer zurückgegeben, Konrad muss warten, trauert unter Tauchern und Rettungsschwimmern. Der Film, dessen Blick sich oft auf Unterleibshöhe bewegt, zeichnet die roten hautengen Leibchen der Schwimmer nach, die Taucheranzüge, die an- und ausgezogen werden, als gäbe es nichts zwischen Verkleidung und Nacktheit. Als Donato ihn im Krankenhaus über den Tod seines Freundes aufklärt, zieht sich Konrad das Krankenhemd aus und die Motorradhose an. Eine Einstellung weiter lässt sich Donato von Konrad noch im Auto, auf dem Weg ins Hotel, ficken. Ghost Rider und Aquaman sind nun zusammen, wahlweise nackt oder im Kostüm, sie stehen in der Landschaft, trotzen den Elementen, dem ständig gegen die Küste krachenden Meer, dem ständig die Wandkraft räder antreibenden Wind. Mehr wird über die Beziehung nicht gesagt. Konrad muss zurück nach Deutschland. Ayrton kämpft derweil am Strand gegen Luftmonster und seine Angst, vom großen Bruder verlassen zu werden. SISSY 23 21
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Teil zwei, „Der zweigeteilte Held“, ist Donato gewidmet, der plötzlich in Berlin, auf der Oberbaumbrücke, steht und einsehen muss, dass er sich nicht einfach ausziehen und in die Spree springen kann. Der Aquaman hat das Element gewechselt, er ist Konrad gefolgt und hat Ayrton verlassen. Auch der Film macht einen großen Schritt, weg von der existentialistischen Küstenlandschaft mit ihren salzzerfressenen Hochhäusern, der grellen Sonne und den gefährlichen Böen, hinein in ein graues, kühles, bespielbares Winterberlin, auf dessen leeren nächtlichen Parkplätzen der Ghost Rider seine Runden dreht. Praia do Futuro erzählt nun von der schwulen Beziehung und lässt gleichzeitig formal etwas locker. Wagner Moura und Clemens Schick laufen durch Straßen und improvisieren miteinander im Setting von Konrads weißer Wohnung, in der nur ein knalloranger Starschnitt von einem Motocross-Rad von ihrer Nacktheit ablenkt. So selbstverständlich, wie der Film die beiden Körper aufeinander bezieht, so sinnlich erzählt er Donatos Drama als das eines Kiemenmenschen an Land, der seine Heimat und bisherige Existenz aufgegeben hat und noch in nichts Neuem angekommen ist: Er bekommt Fieber, er hört Urwaldgeräusche in Berliner Wäldern, er sucht die Weite des Meeres und steht zwischen massiven Gebäuderiegeln und nackt zwischen Tisch und Türrahmen in der engen, fremden Wohnung, wo er an Konrads Motorradhelm riecht, wie um sich an seine Superkräfte zu erinnern. Doch in dem Moment, wo sich Deutschland als grünes Kryptonit herausstellt, das den Helden verwundbar macht, entscheidet sich Donato zu bleiben. Im dritten Teil, „Ein Gespenst, das deutsch spricht“, taucht Ayrton in Berlin auf. Speed Racer auf der Suche nach Racer X, dem verschollenen Bruder. Seine mit wütendem Blick und pubertärem Trotz durchmessene Fremdheit ist wunderbar erzählt – im Mehrbettzimmer der Hostels, auf Neuköllner Straßen, auf dem Alexanderplatz, der so weit ist wie das Meer. So, wie Ayrton sich bewegt, sieht man gleich: Er kann Räume erobern. Er schnappt sich Ghost Riders Motorrad, versucht, in einem Club Superheldin Dakota zu verführen, konfrontiert seinen Bruder und zieht bei Konrad ein. Die drei Helden, die sich zwischenzeitlich verloren haben, steigen in ihre Heldenkluft und rasen wieder Richtung Zukunft; der meerlose Strand, die deutsche Küste, ein Ort für Kiemenmenschen, Motorradfahrer und Wasserscheue, wird zum Element, in dem sie miteinander leben können. Die Grenzen von Wasser, Land und Luft verschwimmen im Nebel, von den Rücklich22 SISSY 23
tern der Motorräder zerteilt. Auch wenn in den Arthousefilmen der letzten Jahre der Gebrauch von Bowie-Songs inflationär geworden ist – nichts ist naheliegender, als an dieser Stelle „Heroes“ einzusetzen. Ein Männerfilm, der sich traut, von Superhelden zu erzählen. Das ist nicht nur für die, die Theweleit gelesen haben, in einer Welt kritischer Männlichkeitsdiskurse leben möchten und es gewohnt sind, auf Leinwänden und Bildschirmen verlängerte Pubertäten und Lebensentscheidungsaufschiebern zuzusehen, eine nicht geringe Provokation. Selbst wenn Praia do Futuro am Ende in Ayrton ein Männerbild favorisiert, das um seine Ängste weiß und diese akzeptiert, baut er doch – vollkommen campfrei, von einer großartigen Tanz/Box/SexPerformance zu Christophes „Aline“ einmal abgesehen – ein hypermaskulines Inventar aus Muskeln, Militärs, Motocross, Maschinen und sich penetrierenden Männerkörpern zusammen, für die die scharfgestellte Kamera und das klare Bühnenbild einen ungefilterten Blick bereitstellen. Beide Hauptdarsteller sind aus Actionfilmen bekannt (tatsächlich gab es zum brasilianischen Kinostart Tumulte, weil Wagner Moura, der Star aus Tropa de Elite, in diesem Film von einem Mann gefickt wird). Aber kein Sicherheitsnetz aus GenreErzählmustern steht hier dafür bereit, die Behauptung zu schlucken, dass Konrad, Donato und Ayrton tatsächlich Actionhelden sind. Erklärungen gibt es dafür keine, überhaupt traut sich der Film, alle „Begründungen“ genauso auszusparen wie die „großen“ Momente (mit Ausnahme der Rettungsaktion) und stattdessen Zeit in Ellipsen verschwinden zu lassen: den Abschied von Konrad in Brasilien, das Wiedersehen in Berlin, die Trennung. Schick und Moura sind darüber hinaus Method Actors, sie schleppen die ganze Zeit etwas mit, haben eine Haltung (Moura gibt seiner in Berlin gestrandeten Figur etwas untergründig Komisches, Schicks Körper scheint dagegen die ganze Zeit gespannt, insistierend). Es gibt wenig Notwendigkeit, diese Figuren, wie sie in der Landschaft stehen, wie die Elemente gegen sie angehen (in der einzigen Konfliktszene zwischen Konrad und Donato wird der Regen plötzlich zu Hagel), nicht einfach so zu sehen, wie sie sind. Wie schwul das eigentlich ist mit den klassischen Superhelden, ist oft diskutiert worden, spätestens nach dem Jugendgefährdungsaufschrei des „Comics Code“ (1954), der viele LeserInnen überhaupt erst darauf aufmerksam machte, dass da was laufen könnte zwischen Batman und Robin (wonach grundsätzlich überhaupt nichts Schlüpfriges mehr erlaubt war und die Helden erst recht keinen Sex mehr mit
REAL FICTION FILMVERLEIH (2)
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Frauen hatten). Viel spannender als die Frage, wie jüngere Versuche, homosexuelle Figuren in den Mainstream der klassischen Comics einzubauen (wie beim „Rawhide Kid“ z.B.), dort ankommen, scheint die Überlegung, ob Superhelden, mit ihren Gestaltwandlungen, ihrem Morphing, ihrem Außenseitertum unter den Menschen und ihrer unter Masken und Kostümen verborgenen „wahren Identität“ nicht ein generell queeres Personal sind, das ein vielfältiges Reservoir für Identifikationsträume und das Spiel nicht-straighten Begehrens bietet. Karim Aïnouz jedenfalls traut seinen Figuren zu, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich Freiräume, wenn nötig, selbst zu schaffen, auch wenn das heißt, um die ganze Welt zu reisen, um dann am gefährlichen Praia do Futuro zu sterben (wie Donato über Heiko sagt); oder um sich „am Nordpol in den Arsch ficken zu lassen“ (wie Ayrton über Donato sagt). „Allet wird jut, wenn die Zukunft kommt“, ist das Motto einer Neuköllner Barkeeperin im Film. Jeden Tag verlassen Menschen ihre Heimat, ihre Familien, ihre Freunde, um ihr Leben in die Hand zu nehmen. Manchmal, wie Aïnouz, mit
einem Stipendium – manchmal mit einem Schlauchboot über das Mittelmeer. Nicht wenige sind darunter, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung aus Kontinuitätssystemen herausfallen. Menschen, deren kleinstes Problem der Aufbau einer konsistenten Identität ist, die stattdessen erleben wollen und müssen, wie sich die Bewegung des Körpers in einem neuen Element anfühlt. Eine der vielen Schönheiten dieses Films, in dessen kinetische Energie man sich manchmal hineinfantasieren möchte wie in eine Welt, in der Superkräfte noch funktionieren, enthüllt sich in seinen Erkundungen, was solche Superhelden eigentlich miteinander anstellen, wenn sie sich in einer Welt begegnen, in der sie es – wenn auch kurzzeitig – aushalten. Das ist manchmal so einfach wie naheliegend: einander halten, miteinander schlafen, dem Liebhaber Rührei braten, damit er nach dem Sex wieder zu Kräften kommt (Aquaman fehlt natürlich das Salz). (Die Begegnung mit rosa Kryptonit macht übrigens schwul, wie Superman-Fans wissen.) s
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TANZ DER BLICKE VON LU K A S FOE R ST E R
„Ich bin das Glück dieser Erde“ hieß das letzte, nicht mehr realisierte Projekt von Rainer Werner Fassbinder. Dass Julián Hernández diesen Titel für seinen eigenen neuen Film gewählt hat, der wiederum von einem Filmemacher handelt, deutet schon an, dass sich das Kino des Mexikaners diesmal noch deutlicher mit sich selbst beschäftigt als bisher: Nicht mehr um Männer geht es, die so schön sind, dass man mit ihnen schlafen will – sondern um den Blick auf diese Männer, den man bestimmen und besitzen will.
s Es stand beileibe nicht fest, in welche Richtung Julián Hernández sein nach wie vor junges Werk fortsetzen würde – nach seinen ersten drei Filmen, deren Abfolge man als eine einzige Eskalations- und Expansions-, vielleicht auch, aus einer anderen Perspektive, als eine Fluchtbewegung beschreiben könnte. Mil Nubes – Liebessehnsucht (2003) etablierte zwar bereits den (vorher in zahlreichen Kurzfilmen erprobten) unverwechselbaren Stil des Mexikaners, der auf einem unbedingten Primat des Sinnlich-Audiovisuellen basiert, erzählte aber gleichzeitig in seiner 83 Minuten kurzen Laufzeit eine zwar nur rudimentär ausgestaltete, aber doch relativ geradlinige Liebesgeschichte um zwei junge Männer. Und spielte in einer äußerst diesseitigen Welt, in einem heruntergekommenen Viertel von Mexico City. Broken Sky (2006) entfaltete sich bereits über 140 Minuten und fügte der Anordnung einen dritten Mann hinzu. Gleichzeitig fielen die neorealistischen Aspekte des Vorgängers weg, der Film situierte sich fast durchweg in austauschbaren (aber doch noch lebens24 SISSY 23
weltlich nachfühlbaren) Innenräumen. Die letzte, endgültige Eskalationsstufe war dann Raging Sun, Raging Sky: 191 Minuten lang driftete die Kamera zwischen diversen erotisierbaren Körpern hin und her, die kein Interesse mehr an Zweierbeziehungen hatten; die schon in den Vorgängern spärlichen Dialoge verschwanden fast komplett, in der zweiten Filmhälfte wechselte Hernández in eine mystische Traumwelt. Raging Sun, Raging Sky war einer der beeindruckendsten Filme der letzten Jahre; und doch kann man sich vorstellen, dass er seinen Regisseur vor Probleme gestellt hat. Von Film zu Film hatte er sich weiter gelöst vom kompakten Erzählzusammenhang der Spielfilmform. Von Film zu Film hatten sich seine Filmkörper weiter von narrativen Zusammenhängen, aber auch von der sozialen Wirklichkeit entfernt, bis sie irgendwann nur noch aufeinander und auf die sie begierig umkreisende Kamera bezogen waren. Wohin aber kann man von Raging Sun, Raging Sky aus noch gelangen? Ist es wirklich sinnvoll, ein weiteres Mal zu versuchen, alles größer, länger, schwindelerregender, außerweltli-
cher werden zu lassen? Geht das überhaupt, wenn man die Grenzen des Kinos nicht verlassen möchte? Das ist vielleicht die größte Überraschung des Nachfolgefilms Ich bin das Glück dieser Erde: Dass der Film, zumindest in mancher Hinsicht, einen Schritt zurück ins Kino darstellt, sich den Grenzen und Selbstbeschränkungen des Kinos zu stellen bereit ist. Dafür spricht schon die vergleichsweise überschaubare, gut zweistündige Laufzeit. Und auch die erzählerische Grundkonstellation, die Parallelen zu Broken Sky aufweist: Hernández entwirft eine Dreiecksgeschichte um den Regisseur Emiliano (Hugo Catalan), den Tänzer Octavio (Gerardo del Razo) und den Callboy Jazen (Emilio von Sternerfels). Nicht, dass diese Erzählung besonders komplex wäre: Emiliano lernt zunächst Octavio kennen, nach einer kurzen, intensiven Affäre vertreibt er ihn mit seiner Vorliebe für käufliche Liebe, später lernt er Jazen kennen und droht schon bald, in alte Muster zurückzufallen. Wieder ist das Hauptthema der obsessive, idealisierende Blick auf junge Männer, wieder tritt
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die Erzählung weitgehend zurück hinter ausgedehnte Sequenzen, die nichts anderes tun, als zu beobachten, wie sich zwei (oder mehr) Körper zueinander verhalten, manchmal begleitet von entkörperlichten, poetischen Voice-Over-Stimmen. Neu ist eine explizit reflexive Dimension: Emiliano ist nicht zufällig ein Filmregisseur, also ein Bildproduzent, und vor allem ist er nicht zufällig ein Filmregisseur, der selbst vor allem Bilder von Körpern produziert, die sich zueinander, und, fast noch mehr, zu einem Betrachter verhalten. Der Film, an dem er arbeitet und der, zumindest liegt diese Interpretation nahe, mindestens einmal, für die längste, intensivste Sexszene des Films, in Ich bin das Glück dieser Erde eindringt, handelt von Tänzerinnen und Tänzern (dadurch die vorher schon kaum übersehbare Verbindung des Hernández’schen Kinos zu Tanz und Choreografie explizit machend). Eröffnet wird der Film mit den Ausdrucksbewegungen einer Frau, aber das erotische Interesse wird schnell auf Octavio umgelenkt. Die Einstellung, in der diese Ablenkung sich vollzieht und in der der Film seine libi-
dinöse Struktur offen legt, gehört zu den schönsten, filigransten in Ich bin das Glück dieser Erde. Zunächst greifen mehrere Kreisbewegungen ineinander: Die Kamera umkurvt die Tänzerin, diese sich selbst; und dann sieht man plötzlich, dass es noch ein anderes Kamerateam gibt, das sich ebenfalls – gegenläufig – um die Frau bewegt. Dieser mehrfache Kreisel wird schließlich dezentriert, der Blick abgelenkt auf Octavio, der im Hintergrund gemeinsam mit einem anderen Mann steht. Geschickt unterläuft der Film an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen Subjektive und Objektive. Es ist unklar, ob nur Hernández oder auch Emilio sich von der Tänzerin ablenken lassen. Und weiterhin ist unklar, was aus dieser Ablenkung folgt: Hat da jemand einen neuen Liebhaber gefunden, oder nicht vielleicht doch nur ein neues Filmsujet? Jedenfalls ist schon hier klar, dass die sich anbahnende Beziehung asymmetrisch bleiben wird: Octavio kann den Blick zwar erwidern, aber er verfügt über keine Kamera, über keine Möglichkeit, den Anderen nicht nur im Bett, sondern auch als Bild zu besitzen. Emilio hätte leicht eine schwer erträgliche Figur werden können, eine dieser altbekannten, erotomanischen, schwermütigen Künstlerfiguren, ein überlebensgroß aufgeblasenes Stand-in für einen narzisstischen Autorenfilmer. Ganz einfach zu ertragen ist sein Selbstmitleid tatsächlich nicht – gerettet wird der Film vermutlich dadurch, dass er es nicht auch noch verbal ausformuliert. Aber es geht doch wieder und wieder darum, dass sich Emilio von seinem eigenen Begehren entfremdet, dass sich sein begehrender Blick nicht mehr ohne weiteres in körperliche Sexualität übersetzen lässt: Emilios Blick auf den Fernseher, auf dem er selbst beim Sex mit Octavio zu sehen ist, Emilios Blick auf den Computerbildschirm, auf der Suche nach neuen Affären; und schließlich Emilios Blick durch die Kamera, der Film im Film: Zwei Männer und eine Frau beim Sex, die längste Szene des gesamten Films, auch die erotischste, die einzige, in der das Begehren nicht ein bisschen im Blick stillgestellt wird, sondern immer neu zur Handlung, zum Kontakt, zur Berührung drängt. Aber Emilio kann nicht Teil dieses Bewegungszusammenhangs werden. Dass auch Frauen an dem erotischen Reigen teilhaben, den jeder Film von Hernández für sich darstellt, den sein Kino auch als Ganzes darstellt, ist nicht neu (man denke an die Anfangsszene von Raging Sun, Raging Sky). In Ich bin das Glück dieser Erde sind sie präsenter denn je – in einer anderen Szene machen sich gleich zwei über Octavio her. Die Frauen normalisieren Hernández’ Kino nicht etwa, rücken es nicht näher an irgendeinen Mainstream heran (in der Tat scheint
der neue, anders als die Vorgängerfilme, ziemlich komplett durch die Maschen der Festivalnetzwerke gefallen zu sein). Fast im Gegenteil: Die Frauen sind erst recht nicht von dieser, unserer, der alltäglichen Welt. Außerhalb ihres körperlichen Begehrens (das die Kamera deutlich distanzierter erkundet als das der Männer, fast wie das einer unbekannten Spezies) haben sie nicht die geringste Existenz, nicht einmal in jenem notdürftigen Sinne, in dem der Film den Männern einige Attribute (Regisseur, Tänzer, Callboy) zuweist. Das verweist auf einen Punkt, in dem Ich bin das Glück dieser Erde doch über die Vorgängerfilme hinausgeht: Der neue Film beschreibt und vollzieht einen noch gründlicheren Weltverlust als alle vorherigen. Es gibt zwar einige Szenen in schicken Clubs, in Art Spaces, einmal sogar ein Spaziergang in die Stadt hinaus. Vor allem jedoch spielt der Film in (ebenfalls schick eingerichteten) Apartments, in denen man sich vor der Welt verschließt, Sex auf Betten hat, über denen Fassbinder-Poster oder Weltkarten hängen, abgefuckt in der Badewanne endet, wenn gar nichts mehr geht. Und mag man auch sehnsüchtig zum Fenster hinaus blicken – eine Außenperspektive aufs eigene Begehren gibt es für jemanden wie Emilio nicht mehr. Nur immer neue Spiegelungen, Echos, Projektionen, Wiedergänger. s
ICH BIN DAS GLÜCK DIESER ERDE
von Julián Hernández MX 2013, 122 Minuten, deutsche SF, Pro-Fun Media, 3 www.pro-fun.de
RAGING SUN, RAGING SKY
von Julián Hernández MX 2009, 185 Minuten, deutsche SF, spanische OF mit deutschen UT
IM KINO ab 23. Oktober 2014
AUF DVD bei Pro-Fun Media, 3 www.pro-fun.de
BROKEN SKY – EL CIELO DIVIDIDO
MIL NUBES – LIEBESSEHNSUCHT
AUF DVD bei Pro-Fun Media,
AUF DVD bei Pro-Fun Media, 3 www.pro-fun.de
von Julián Hernández MX 2006, 140 Minuten, deutsche SF, spanische OF mit deutschen UT 3 www.pro-fun.de
von Julián Hernández MX 2002, 80 Minuten, Spanische OF mit deutschen UT
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DRESSED TO THRILL VON T HOM A S GROH
Der Kurzfilm „Cowboy“ von Till Kleinert war bereits ein Vorgeschmack darauf, wie originell es der dffb-Absolvent hinbekommt, deutsche Provinztristesse in exzessives, großspuriges und queeres Horrorkino umschlagen zu lassen. Sein erster Langspielfilm „Der Samurai“ lässt seit der Berlinale-Uraufführung ein Fantasy-affines Publikum zwischen New York und Neuchâtel mit großen Augen zurück. Splatter und Explosionen mag man gewohnt sein – einen schwertschwingenden Serienkiller im Kleid bekommt man dort (und auch sonstwo) nicht alle Tage zu Gesicht.
s Ein Dorf in Brandenburg. Öde Wohnhäuser aus grauem Beton mit Vorgarten, keine Gehsteige. Ein Fußballverein, herumlungernde Mofa-Jugendliche, ringsum viel Wald. Tristes Idyll, in dem eine eindeutige Sprache herrscht: „Wir sind hier doch nicht bei der Tuntenparade“, bellt es aus dem ruppigen Fußballtrainer Horvath (Uwe Preuss) heraus. Hier leben? Nein, danke. Jakob (Michel Diercks) ist sichtlich abseits dieser umzäunten Gemeinschaft. Als junger Polizist steht er zwar symbolisch ein für die phallokratische Macht von Recht und Ordnung. Doch im Detail ist das Bild unstimmig: Schon das Gesicht ist zu sanft gezeichnet, um zumindest das Filmklischee vom deutschen Bullen zu erfüllen. Sein Blick ist melancholisch, seine Antworten zögerlich. Ein „echter“, ein „ganzer“ Kerl ist er also gerade nicht. Zwar kommt er von hier, doch das hat nichts zu bedeuten: Als Autorität ist er faktisch nicht anerkannt, eher schon wird er skeptisch beäugt, unter spitzen Bemerkungen höchstens geduldet. Das mag damit zusammenhängen, dass dörfliche Gemeinschaften den öffentlichen 26 SISSY 23
Strukturen ohnehin meist nur zum Schein folgen, während man triftige Angelegenheiten für gewöhnlich unter sich ausmacht. Vielleicht aber auch damit, dass Jakob offenbar noch nie zu den Alpha-Männchen dieses Dorfrudels gezählt hat: „Jakob hat seine Pistole noch niemals abgefeuert“, wird einmal geunkt. Stattdessen kümmert er sich fürsorglich um einen nachts in den Wäldern heulenden Wolf, den die Bevölkerung gerne aus der Welt geschafft sähe: Bonding unter Missverstandenen. Nicht zuletzt ein erster Hinweis darauf, dass es in Der Samurai auch um eine verdrängte Form des Begehrens geht, und einen Brückenschlag zur Bilderwelt des Märchens, in dessen tieferen Schichten der Wolf meist ambivalent, mit deutlicher Angstlust besetzt, figuriert. So wie der Wolf jüngst nach Brandenburg zurückgekehrt ist, so kehrt mit Till Kleinerts an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) entstandener Abschlussarbeit Der Samurai auch der fantastisch-exzessive Film ins hiesige Kino zurück: vorsichtig zwar, ein wenig zögerlich, doch schließlich umso selbstbewusster. Die repressive Atmosphäre entlegener Dörfer zeichnet Kleinert binnen weniger Minuten mit kräftigen, prägnanten Strichen, Martin Hansl mayrs Kamera fängt die Tristesse gut ein. Das im deutschen Kino so präsente Sozialdrama schneidet Der Samurai zwar kurz an, um sich dann aber rasch für Motivik und Mittel des drastischeren Genrekinos zu entscheiden. Und das zum Glück sehr selbstverständlich, sehr selbstbewusst, ganz ohne das auftrumpfende, elend nervende Pathos, mit dem andere Werbetrommelrührer in eigener Sache verkrampft den „Neuen Deutschen Genrefilm“ ausrufen. Spätestens wenn sich die Nacht mit ihren Gefahren und Verlockungen, ihren poetischen Uneindeutigkeiten und Verzauberungen über dieses Nest legt, entrückt sich dieser im Schein der spärlichen Straßenbeleuchtung eigentümlich zu glühen beginnende Film in Richtung Märchen- und Horrorwelt, aus der auch der mysteriöse Samurai entsprungen scheint, der Jakob erst in ein verfallendes Hexenhaus lockt, um ihn dann in ein so brutales wie lüsternes Katzund Maus-Spiel zu verstricken. Eine durch und durch queere Gestalt: Hühnenhaft, viril, körperlich agil, mit blutrot geschminktem Mund, gekleidet in ein weißes Kleid – eine verlockende, tödliche Braut aus nichts als nervös überbordender Männlichkeit. Ein Symbol für den Rausch eines entfesselten Begehrens jenseits heteronormativer Strukturen: Phallisch und weiblich, anziehend und bedrohlich zugleich, insbesondere, wenn er
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seine scharfe Klinge schwingt und Köpfe von Rümpfen schlägt, um das in den Leibern gefangene Begehren wie ekstatisches Feuerwerk im Blutregen freizusetzen: Als ob man Champagnerflaschen köpfen würde, ein ejakulatorisches Spektakel inmitten der dunklen Provinznacht, wo solche Befreiungsschläge dringend not tun, auch wenn fürs Erste nur die aufgeräumten Vorgärten dran glauben müssen. Hinter den geschlossenen Jalousien zittert das Kleinbürgertum bald ängstlich, während allein Jakob sich auf den blutigen Tanz mit dem Samurai einlässt – nur um schließlich sein eigenes, hinter der Fassade des Ordnung wahrenden Polizisten verdrängtes Begehren zu entdecken und freizusetzen. Dass nun ausgerechnet Jakob zu Beginn der Hatz noch ein „Hör mit dem Versteckspiel auf und zeig Dich“ in den Wald, diesen Sehnsuchtsort unbefriedigten Begehrens, hineinruft, ist bewusst gesetzte Ironie, ein verdeckter Aufruf vielleicht auch an alle, die selber in der Provinz sitzen, allein gelassen mit ihrer sexuellen Lust abseits dessen, was heterosexuelle Männer als sanktionsfrei gekennzeichnet haben. Eine Allegorie auf abweichendes sexuelles Begehren also, oder auch auf die Furcht, die man davor empfinden mag, wenn es sich regt und einen verwirrt. Ohne weiteres hätte man aus dem Stoff einen sehr verständnisvollen, pädagogisch wertvollen, nach allen Richtungen ausgewogenen und – jaja, gewiss – natürlich auch gesellschaftskritischen Fernsehfilm fürs Abendprogramm drehen können, sozialdemokratische Sorgenfalte inklusive. Und hätte mit einem solch braven Vorgehen nach Regelbuch ästhetisch und motivisch jenen betulichen Behaglichkeitswünschen des gesellschaftlichen Konsens zugearbeitet, die es ganz besonders zu unterwandern und zu brüskieren gilt. Zum Glück hat Till Kleinert die relative Freiheit, die ein Abschlussfilm noch bietet, zu nutzen gewusst und – eine kühne, tapfere, eines queeren Kino-Samurais sehr würdige Entscheidung – gerade kein Empfehlungsschreiben in Richtung Fernsehspiel gedreht, sondern einen schön ekstatischen, die Lust am Exzess immer wieder zelebrierenden Genrefilm, der dadurch, dass er sich nicht verzweifelt den US -Vorgaben andient, sondern seinen Stoff hier, in der sozialen Wirklichkeit Brandenburgs, ansiedelt, zu punkten versteht. Wenn die Köpfe erst mal rollen, wird das saubere, aufgeräumte, theaterdeutsche Kino hier schön mit Kunstblut eingeschmiert, wie man das sonst nur von den bizarren Sudeleien eines Takashi Miike her kennt. Wie sich der Film dabei nach und nach enthemmt, also ganz buchstäblich ein Coming-Out zelebriert, das ist – trotz kleinerer
Unebenheiten, die aber leicht verzeihlich sind – schon ziemlich toll. Im Grunde ist das schon gar kein Freiheitsdrang mehr, der hier aus den Bildern spricht, sondern ein selbstbewusst insistierendes Pochen darauf, dass solche Stoffe, solche Bilder, eine solche Ästhetik auch hierzulande möglich sein müssen – bis hin zu einem tapferen, jedes FSK-Gremium in Wallung bringenden Bild, in dem ein halberigierter Schwanz in Großaufnahme von der Leinwand auf sein Publikum herab blickt; Das offensichtlichste Indiz für männliches Begehren – gleich in welche Richtung auch immer – gilt in den bürgerlichen Prüfstuben immer noch als Maßstab, um zwischen sauberem Kino und akuter Jugendgefährdung zu unterscheiden, auch wenn nahezu jeder 16-jährige in seinem Leben einen steifen Schwanz schon in Händen gehalten haben dürfte, und wenn es nur der eigene war. In all diesen Strategien der Veruneindeutigung nähert sich Kleinert dem allegorischen Potenzial eines queer gelesenen Horrorkinos, wie es etwa Louis Peitzman in einem Essay für Buzzfeed im vergangenen Jahr perspektiviert hat. Ein nicht geringer Teil der Angstlust am pubertären Slasherfilm – oft als Parabel auf einen neuen Puritanismus gelesen – bestehe demnach nicht zuletzt auch in der darin codierten Angst vor dem eigenen zwar queeren, sich gegenüber sich selbst aber noch nicht eingestandenen Begehren: in der spekulativen Lust an der buchstäblichen Über-Mannung durch eine stark phallisch codierte, monströse – also in seinen Komponenten eben nicht vereindeutigte – Präsenz. Wer sich solcher Allegorien bedient, dreht zwar keine pädagogisch wertvollen Plädoyer-Filme für ein schöneres Miteinander – aber er kriegt dadurch ein Partikel der Realität vieler junger Leute zu fassen, die der Betriebsblindheit eines braven Kinos grundsätzlich unzugänglich bleibt. s
DER SAMURAI
von Till Kleinert DE 2014, 72 Minuten, deutsche OF, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO ab 30. Oktober 2014
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Coming In kino
„Wir sind, glaube ich, soweit“ VON PAU L SCH U L Z
Marco Kreuzpaintners neuer Film „Coming In“ ist ein gewagtes Stück Kino: Der schwule Berlin-Mitte-Starfrisör Tom Herzner verliebt sich in die Neuköllner Normal-Frisörin Heidi, und sie werden, unter Einbezug jedes schwulen Klischees der Welt, glücklich miteinander. Schon nach Veröffentlichung des Trailers witterte die Szene „Umerziehungspropaganda“. Und fragt sich, warum jemand aus den eigenen Reihen dem Multiplex-Mainstream ein solches Schwulenbild zum Heterowerden präsentiert. Darüber und über Kreuzpaintners Liebe zu Fassbinder, seine Freundschaft mit Roland Emmerich und seine Angst vor Katja Riemann musste SISSY mit ihm sprechen.
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s Marco Kreuzpaintner (Sommersturm, Krabat, Trade) sitzt in der Raucherlounge des Hotel de Rome am Berliner Gendarmenmarkt und isst Nüsse. Der Regisseur ist grundentspannt. Er weiß, dass er mit Coming In etwas gedreht hat, was im modernen Homokino Seltenheitswert hat: eine große, teure, glitzernde Farce, in der Deutschlands männliche Schauspielelite (Kostja Ullmann, Ken Duken, Hanno Koffler, August Zirner u.a.) mal so richtig das Handgelenk abknicken darf. Diesen werden einige so hassen wie noch keinen von Kreuzpaintners Filmen, aber der 39-Jährige scheint sich auf die anstehende Kontroverse zu freuen und genau zu wissen, was er da gemacht hat.
EDITION SALZGEBER
SISSY: Warum macht man 2014 einen Film wie „Coming In“?
Marco Kreuzpaintner: Ich fand die Variation des Themas interessant. Ein Coming-Out-Drama habe ich mit Sommersturm ja schon gemacht, warum jetzt also nicht mal den umgekehrten Weg gehen? Die schwule Szene kann inzwischen, hoffe ich, auch über sich selbst lachen. Aus dem Raum, in dem wir uns abkapseln, weil wir so stärker sind, uns eher finden und besser für uns einstehen können, ist ein offeneres Konstrukt geworden, das mehr zulässt. Wir sind an dem Punkt, an dem man die Frage stellen kann, wie weit es mit der Toleranz gegenüber jemandem bestellt ist, der innerhalb dieses Raums glaubt, sich gefunden zu haben, sich aber nochmal ganz neu auf die Suche begibt, in erotischer Hinsicht. Kennst du viele Schwule, die so sind wie die Figuren in „Coming In“? Ich kenne alle diese Figuren. Mein bester Freund aus München und sein Partner sind dem älteren Paar Salvatore und Harry sehr ähnlich, Tom entspricht meiner ersten großen Beziehung … Du warst mit einen Frisör zusammen, der weiße Rollkragenpullover getragen hat? Nein. (grinst) Bestimmte Attribute sind filmische Überhöhungen. Aber die Grundgeschichte stimmt: Dieser Mann hatte, bis er 30 war, ausschließlich Beziehungen mit anderen Männern. Und hat sich dann ganz überraschend in eine Frau verliebt. Was unter uns Freunden totale Konfusion ausgelöst hat. Warum? Weil wir plötzlich nicht mehr wussten, wer er ist. Die Reaktionsmuster waren denen ähnlich, die man von Heterosexuellen kennt, wenn sich jemand als schwul outet: „Das ist bestimmt nur eine Phase“, „Vielleicht war er ja schon immer bi“, und so, völlig unsouverän. Es mussten sofort neue Kategorien gefunden werden, in die man ihn einordnen kann. Dann ist das noch einem weiteren Freund passiert, und ich habe irgendwann auch meine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht. Allerdings nicht allein, sondern mit einem guten Freund zusammen. Und, war es schön? Ja. Ich kann dir allerdings nicht sagen, ob ich mich dabei mehr auf den Typen oder auf die Frau konzentriert habe. Die Situation war geil, aber eine Beziehung mit einer Frau, würde ich, glaube ich, nicht anfangen. Hat das deine Selbstdefinition als „schwuler Mann“ irgendwie beeinf lusst? Nein. Aber ich habe mit so vielen Menschen zu tun, die ihre Sexualität innerhalb der Kategorie „schwul“ so unterschiedlich leben. Stephen Daldry, der Regisseur von Billy Eliot und The Hours ist ein guter Freund von mir. Der sagt: “I call myself a gay man, because everything else would confuse people.” Er ist mit einer Frau verheiratet und hat zwei Kinder, aber lebt hauptsächlich in schwulen Zusammenhängen, was seine Sexualität anbelangt. Was ist an Bisexualität für schwule Männer eigentlich so schwierig? Viele Menschen haben dafür, einfach schwul sein zu können, hart gearbeitet, lange gekämpft und sind von Heteros deswegen oft schlecht behandelt worden. Die Identität ist ja auch eine Errungenschaft. Das gibt man nicht so einfach aus der Hand. SISSY 23 29
WARNER BROS. (2)
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Was machst du mit Heteros, die in „Coming In“ sitzen, sich über „die Tucken“ schlapp lachen und sagen, dass ja jetzt wirklich alles gleich ist, und wir mal auf hören sollten, uns ständig über Sachen zu beschweren, wo wir doch jetzt sogar heiraten dürfen? Ich kann nicht verhindern, dass jemand aus den falschen Gründen lacht, glaube aber, die Betrachtung der Figuren ist ganz liebevoll und der Film nimmt sie alle sehr ernst. Wer findet, wir wären jetzt gleichgestellt genug, den kann man immer mal nach den Menschenrechten für die Mitglieder der Community fragen. Auf der anderen Seite sind wir meiner Meinung nach in Deutschland soweit, auch selbstreflektiert und mit Selbstironie auf uns als Community gucken zu können. Sind die Figuren in „Coming In“ solche Klischees, weil man für eine gute Komödie einfach ein paar Klischees braucht? Vielleicht sind sie das einfach nur, weil meine Freunde alle so klischeehaft sind. Oder auch, 30 SISSY 23
weil viele von uns ein bisschen klischeehafter sind, als wir selber gern wahr haben wollen. Ein Klischee ist einfach nur die Verdichtung auf so was wie einen Archetypus. Und wer behauptet, es gäbe in Deutschland keine Alt-68er, die sich benehmen wie in La Cage aux Folles, der verkennt, glaube ich, die schwule Realität in diesem Land. Lass uns einmal durch Schöneberg oder die Kölner Innenstadt gehen und ich zeige dir in zehn Minuten ein halbes Dutzend solcher Männer. Geht es dir gut damit, dass ein bestimmter Teil der schwulen Szene sagen wird, er komme in „Coming In“ nicht vor? Aber ja. Ich komme in Titanic ja auch nicht vor und hab mir den trotzdem angeschaut. Es gab seit „The Birdcage“ keinen „schwulen Film“ mehr, nicht mal „Brokeback Mountain“, der in den USA mehr als 100 Millionen Dollar eingespielt hat und es gehen weltweit immer weniger Leute ins Kino, wenn Homofilme laufen. Ist das nicht beunruhigend, wenn man eine große, teure, schwule Produktion herausbringt?
Nein, das ist ein Kategorienproblem. Rosa von Praunheim macht schwule Filme, aber so was wie Freier Fall, der ja im letzten Jahr auch sehr erfolgreich war, ist für mich kein „schwuler Film“ mehr. Sondern? Für mich ist da der Konflikt der Frau mindestens so interessant wie der des vielleicht ja schwulen Mannes. Frauen sind eh die interessanteren Figuren, finde ich. Darf ich kurz darauf hinweisen, dass du gerade einen Film mit lauter schwulen Männern und nur einer Frau als Hauptfiguren gemacht hast. Darfst du, aber der Film ist ja jetzt auch fertig. (lächelt) Viele der großen Produktionen mit schwuler Thematik in den letzten zehn Jahren sind von Heteros gemacht. Überrascht dich das? Nicht wirklich. Wenn man sieht, was heute oft als „schwuler Film“ verkauft wird und Erfolg hat – das achttausendste Coming-OutDrama oder „drei hübsche Männer ziehen ihr Hemd aus“ – dann wundert es mich nicht, wenn man sich für einen anderen Ansatz ans Thema vielleicht auch heterosexuelle Unterstützung holt. Es ist ein unglaublicher Kraftakt, im Kino eine Geschichte mit schwuler Hauptfigur zu erzählen, immer noch. Bloß weil in Coming In der Held am Ende mit einer Frau zusammen ist, kommt noch kein Verleiher und schreit „Juhu“. Da wird erst mal die Frage gestellt: „Ein Film mit sechs schwulen Hauptfiguren, geht das überhaupt im deutschen Kino?“ Zeig mir mal eine vergleichbare europäische Produktion aus den letzten Jahren, in der so viele schwule Männer vorkommen. Ist das nicht ein generelles Problem von Minderheiten-Kino? Und was macht Fatih Akin in seinen Minderheiten-Erzählungen dann anders, dass die alle paar Jahre sehr erfolgreich ist? Der erzählt auch seine Geschichten. Aber er erzählt Türken in Deutschland oder anderswo ja auch nicht als perfekte Gutmenschen, sondern die Hauptfigur in Gegen die Wand ist eben ein Trinker, der sich völlig daneben benimmt und die Frau, die er liebt, schlägt. Und Akin erzählt das so, weil er voraussetzt, dass das Publikum versteht, dass er damit nicht sagen will, dass alle Türken so sind, sondern einfach eine Geschichte von zwei Menschen erzählt, die ihn gerade interessieren. Hätte man die Geschichte von „Coming In“ vielleicht auch besser als Drama erzählt? Ach nö. Ich finde den spielerischen Umgang damit und der Community ein Augenzwinkern abzuverlangen viel politischer. Reden wir mal über die Besetzung. Muss man für eine Produktion dieser Größe lauter Stars besetzen? Es wäre gelogen, wenn ich jetzt Nein sagen würde. Film ist in Deutschland inzwischen
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ganz schön industrialisiert, was heißt, du musst bis in die Nebenrollen prominent besetzen. Das geht allen so, egal ob du eine große Produktion machst oder deinen Abschlussfilm an der Filmhochschule. Man kann sich dem verweigern, aber dann ist es fast unmöglich, von deiner Arbeit zu leben. Deutsch ist als Sprache nicht verbreitet genug, der Markt nicht groß genug, als dass du so wie beispielsweise Xavier Dolan arbeiten könntest. Was ich natürlich trotzdem gern machen würde. Warum machst du es dann nicht? Ich habe einige Projekte dieser Art in der Entwicklung, die bislang aber noch nicht fertig finanziert sind. Das Fassbinder-Projekt, das ich gern machen möchte, ist ein ganz straighter Arthouse-Film. Keine Aufrichtung eines so gut wie vergessenen Filmidols, sondern eine Geschichte über einen Suchenden. Hätte Fassbinder „Coming In“ gefallen? So, wie der drauf war, und so, wie ich seine Texte lese, hatte der nie ein Problem mit Genre-Kino. Fassbinder hätte vielleicht in meiner Version gesessen und gelacht, auch wenn Coming In überhaupt kein FassbinderFilm ist, sondern eine sich am Markt orientierende Komödie. Wie viel Markt war denn während der Arbeit an dem Projekt in deinem Kopf, wie sehr ist „Coming In“ auf Erfolg getrimmt? Jeder Regisseur glaubt, während er arbeitet, an Erfolg bei Kritik oder Publikum, oder an beides. Etwas allerdings direkt als Erfolg zu produzieren, geht, glaube ich, gar nicht. Man hofft auf Interesse und bei Coming In vielleicht auf eine kontroverse Diskussion. Wie sehr ist dir nach deinem letzten Film „Krabat“, der sehr verrissen wurde, Kritik eigentlich egal, solange die Leute kommen? Krabat ist kein Film, auf den ich besonders stolz bin, aber mit 1,8 Millionen Zuschauern mein erfolgreichster. Wenigstens das. Die Leute mochten es, das ist doch schön. Du nicht? Sommersturm und Trade, den ich in Amerika gemacht habe, haben viel mehr mit mir zu tun. Krabat ist eine technisch anspruchsvolle Märchenerzählung, in der ich mein Thema nicht richtig gefunden habe. Das mag jetzt sehr ehrlich sein, ist aber einfach so. Warum bist du nach „Trade“ überhaupt aus Amerika zurück nach Deutschland gekommen? Wegen Krabat. Ich dachte, das wäre ein tolles Projekt und ich würde etwas darin finden, was mich ausmacht. Ich habe festgestellt, dass das weniger die Art Film ist, die mir liegt. Roland Emmerich hat dir beim Einstieg in Hollywood geholfen. Gibt es so was wie die schwule Mafia also doch? Ich würde eher Nein sagen. Man arbeitet ja nicht miteinander, weil man schwul ist,
sondern weil es zwischenmenschlich eine gemeinsame Ebene gibt, die viel breiter ist. Hat es also mehr geholfen, dass ihr beide aus Süddeutschland kommt? Vielleicht. Roland wollte immer was machen, was sehr mit ihm zu tun hat. Dann hat er Sommersturm gesehen und fand den gut. Er hat damals zu mir gesagt, das sei der Film, den er immer hätte machen wollen, was ich ein bisschen absurd fand. Ich war damals noch sehr jung und hatte einfach was gemacht, was sich aus meiner Biografie speiste. Das mochte er. Ist „Stonewall“, an dem Roland gerade arbeitet, sein „Sommersturm“? Das ist sein Coming-Out-Drama, ganz bestimmt. Kannst du verstehen, dass Leute Angst haben, Roland Emmerich mit dem Stonewall-Mythos allein zu lassen? Kann ich. Müssen sie aber nicht. Die Bandbreite dessen, was Roland erzählen kann, ist viel größer, als das, was er bisher gedreht hat. Das Stonewall Inn fliegt am Ende nicht in die Luft, keine Sorge. Hab ich nicht. Daraus ergibt sich aber die Frage, warum es kein großes, schwules Unterhaltungskino mehr gibt und ob „Stonewall“ das vielleicht wird. Hat es diese Art Kino denn je gegeben? „La Cage aux Folles“ war ein Welthit, der viele wichtige Fragen gestellt hat, oder? Aber der würde heute vielleicht von der PC-Fraktion in Stücke gerissen werden. Siehst du. Man tappt gedanklich schnell in diese Falle. Bei Fassbinder sagt niemand „Jetzt schauen Sie sich mal den Afroamerikaner an“, sondern, „Seggst den Neger da hinten?“ Und das erzählt dir was über die Figur, bringt dich gegen sie auf oder dazu, für „den Neger“ Partei zu ergreifen. Es gibt ein Spektrum, an dem man sich reiben kann. Das darfst du heute kaum noch. Meinungen und Standpunkte zu haben ist schwerer. Weil es immer eine Fraktion gibt, die sich nicht berücksichtigt fühlt und sich deswegen weigert, sich erst mal inhaltlich auseinanderzusetzen. Es ist aber immer noch ein politischer Akt, bestimmte Geschichten überhaupt zu erzählen. Da darf man keine Angst haben. Die Konsequenz aus der Angst wäre nämlich, diese Geschichten gar nicht erst zu versuchen, oder eben so, dass maximal 90.000 Arthouse-Zuschauer reingehen. Mit so was wie Coming In erreichst du aber vielleicht, dass auch 80 Prozent aller Heteros im Kino heulen, wenn das schwule Paar sich trennt. Und das ist doch schon mal was. Warum spielt das Ganze in Berlin? Weil es zuerst in London spielen sollte. Ich hatte schon mit Orlando Bloom über das Buch gesprochen, aber er ist mir dann wieder abgesprungen. Und das Ganze dauerte mir ohnehin schon viel zu lange. Vier Jahre! Ich bin Regisseur, ich will drehen. Wenn ich rum-
sitze, werde ich kirre. Also hab ich gesagt, eh wir jetzt noch ein Jahr warten, machen wir es in Deutschland. Und da ist Berlin die einzige wirkliche Alternative. Damit das nicht wieder so lange dauert, arbeite ich gerade auch an acht bis zehn Projekten parallel. Was sind denn das für Projekte? Na, der Fassbinder-Film zum Beispiel. Dass Oskar Roehler auch gerade einen macht, stört nicht? Soll er ruhig machen. Mein Fassbinder soll Cannes eröffnen. Sehr bescheiden, ich weiß. (lacht) Rausschmeißer-Frage: Hattest du große Angst vor Katja Riemann, die in „Coming In“ eine Nebenrolle hat? Schon. Aber nicht, weil sie schwierig wäre, das ist sie überhaupt nicht, sondern weil sie so gut ist. Wenn wir in Amerika wären, wäre sie Meryl Streep. Die kann alles, und das flößt dir als Regisseur einen Heidenrespekt ein. Aber es war so schön mit ihr, dass ich ihr längst ein neues Angebot gemacht habe. s
COMING IN
von Marco Kreuzpaintner DE 2014, 100 Minuten, deutsche OF, Warner Bros., 3 www.warnerbros.de IM KINO ab 23. Oktober 2014
SOMMERSTURM
KRABAT
AUF DVD bei Warner Home
AUF DVD bei Twentieth Century Fox, 3 www.fox.de
von Marco Kreuzpaintner DE 2004, 94 Minuten, deutsche OF Video, 3 www.warnerbros.de
von Marco Kreuzpaintner DE 2008, 115 Minuten, deutsche OF
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PRO-FUN MEDIA
TOPHILIA VON T OBY A SH R A F
Von Anfang an sei „Geron“ als ein Film geplant gewesen, der ein anderes und größeres als sein übliches Publikum erreichen sollte, der deshalb vergleichsweise konventioneller und vergleichsweise weniger explizit erzählt sein würde, im Austausch dafür größer budgetiert sei, was wiederum dazu führen sollte, das Team ordentlich zu bezahlen, sagt Bruce LaBruce über seinen neuen Film freimütig in Interviews. „Geron“ (Im Original: „Gerontophilia“) ist also ein Bruce-LaBruce-Film, der wenig von einem Bruce-LaBruceFilm hat. Oder? Unser Autor ist sich uneins und unterhält sich via E-Mail mit seinem inneren Arschloch.
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30.10.2014, 16:45
Liebes Arschloch! Habe mir gerade den neuen Bruce LaBruce angesehen und bin ziemlich überrascht, aber begeistert. Was ganz anderes diesmal, ne Liebesgeschichte zwischen einem sehr jungen Krankenpfleger und einem ziemlich alten Mann, aber ganz ohne Zombies, ejakulierende Schwänze, Punks oder Genderbending. Mutige Entscheidung von LaBruce, zum ersten Mal einen konventionell-narrativen Film zu drehen, aber es gelingt ihm ganz gut. Das Ganze ist ziemlich berührend inszeniert und hat mich nach dem anfänglichen Schock, dass ich mich auf eine lineare Geschichte einlassen muss, dann doch sehr mitgenommen. Gruß, Toby 30.10.2014, 17:06
Lieber Toby! Das kann jetzt echt nicht dein Ernst sein, oder? Erstens habe ich den Film auch gesehen (und werde jetzt nie wieder einen LaBruce gucken) und zweitens: Wie redest du denn? „… dann doch sehr mitgenommen“?? Reden wir hier über Brokeback Mountain oder Geron? Der Film, um es kurz zu machen, ist eine Frechheit. Sell Out total. Ich erwarte von Bruce LaBruce, dass er verstört, provoziert, queert, Kontroversen lostritt und sich vom Mainstream fernhält. Geron ist für ein
breites Publikum gemacht, gefällig, zahm und damit LaBruces eigenes Grab. Glaubwürdigkeit vollkommen weg. Von dem Parfüm, das er gerade auf den Markt gebracht hat ganz zu schweigen … Gruß, Arschloch 30.10.2014, 17:25
Liebes Arschloch! Argumentieren konntest du noch nie gut. Ausverkauf also? Weshalb ein Regisseur, der seit fast zwanzig Jahren Undergroundund Avantgardefilme dreht, nicht das Recht hat, auch mal Genre zu machen und, anstatt ein Nischenphänomen zu bleiben, jetzt mal ein größeres Publikum anspricht, ist mir vollkommen unklar. Geron ist ein wichtiges Statement, gerade auch innerhalb der schwulen Subkulturen. Es bricht mit Tabus und hält uns den Spiegel vor unsere jungendwahnsinnigen Gesichter. Der Film provoziert, vielleicht nicht so wie bumsende Zombies, aber Gerontophilie ist eben ein reelles Phänomen und kann schlecht in eine Farce verpackt werden, wenn man’s ernst damit meint. Bruce LaBruce will etwas sagen und dafür braucht es eben auch eine bestimmte filmische Form. Zudem: Was ist an einem jungen heterosexuellen Mann, der plötzlich nur noch auf alte Männer steht und ein Coming-Out vor sich hat, nicht queer? Gruß, Toby
kino 30.10.2014, 17:51
Lieber Toby! Oh, gerade hat LaBruce noch Susanne Sachsse in Männerklamotten in den Darkroom des Ficken 3000 gesteckt (Pierrot Lunaire, großartig), zuvor Terroristenpunks einen gekidnappten Banker per Analsex gezwungen, Teil ihrer homosexuellen Intifada zu werden (The Raspberry Reich, großartig), und jetzt – Schocker! – Junge liebt Alten? Was mich am meisten stört, ist die Biederkeit. Als Jake zum Beispiel als Bademeister sein persönliches Initiationserlebnis hat und einen alten Mann durch Mund-zu-Mund-Beatmung rettet, bekommt er eine Erektion – sollen wir jedenfalls glauben. Schauspieler/Modell Pier-Gabriel Lajoie guckt beschämt, hält sich die Hose und rennt weg. Warum zeigt uns das Bruce LaPorno nicht? Warum deutet er die Sexszenen später nur an und lässt uns nicht einmal dabei sein? Das wäre mutig, das wäre revolutionär – alte und junge Körper beim wilden Vögeln. Stattdessen zeichnet er alles weich, man sieht nicht mal Lajoies Schwanz – das ärgert mich am meisten … Gruß, Arschloch 30.10.2014, 18:13
Liebes Arschloch! Um das Schockieren durch Darstellen geht es LaBruce, wie gesagt, meiner Meinung hier gar nicht. Wir müssen die beiden nicht ficken sehen, um zu verstehen, dass sie eine gesellschaftlich unmögliche Liebe füreinander empfinden. Der ganz großartige und natürlich zuckersüße Pier-Gabriel Lajoie ist auch kein Punk oder Pornodarsteller, sondern Model und angehender Schauspieler. Bei den Dreharbeiten war er 18 und da hat man noch was zu verlieren. Sex spielt hier eine ganz andere Rolle als in LaBruces vorherigen Filmen, in denen das Zeigen von Sex, das Ausstellen des Akts, das Zelebrieren des Fickens noch eine besondere Funktion hatte – mal Revolution, mal Ekel, mal Emanzipation oder Anarchie. Geron ist hingegen ein klassisches Coming-of-Age-Drama, das an ein untypisches Coming-Out gekoppelt ist. Es geht um gesellschaftliche Strukturen, um Akzeptanz, um unmögliche Sexualitäten – also gar nicht mal so weit entfernt von LaBruces anderen Filmen. Was würdest du denn sagen – um diese müßige Autorendebatte mal abzukürzen – wenn jemand anderes den Film gemacht hätte? Gruß, Toby
sich messen lassen. Genau wie John Waters, der ja nach seinen wilden Anfängen dann plötzlich meinte, Hairspray drehen zu müssen und (nicht nur) mich genauso enttäuscht hat. Zudem sieht der Film ja auch aus, als ob ihn jemand anderes gemacht hätte. Die ständigen Zeitlupen, das Verweilen im Moment, der tragende Soundtrack, der einen die ganze Zeit an die Hand nimmt, die MutterSohn-Geschichte – ich dachte die ganze Zeit an Xavier Dolan – und, siehe da, dem wird auch im Abspann gedankt. Will sich Bruce LaBruce jetzt verjüngen, in dem er den Nachwuchs kopiert? Gruß, Arschloch 30.10.2014, 19:15
Liebes Arschloch! Ja, sicher – deswegen dreht er einen Film über Liebe zu Alten … Ich finde diese Inszenierungstaktiken übrigens ganz wunderbar, genau wie die gesamte Kameraarbeit von Nicolas Canniccioni. Es gab alles schon mal woanders, also hör auf mit Dolan – lächerlich! Diese Zeitlupen sind ja auch nicht so willkürlich und manieristisch gesetzt wie bei seinem kanadischen Landsmann. Es geht immer um Momente des Erwachsens, des Kontemplativen, um die großen Veränderungen von jemandem, der sich eingestehen muss, nicht „normal“ und auch nicht „normal schwul“ zu sein. Zudem gibt es ja für Arschlöcher wie dich dann doch noch einen LaBruce-Moment – erinnerst du dich an die Albtraumsequenz, in der Lake nachts in das leere Krankenhaus kommt? Gruß, Toby 30.10.2014, 19:24
PS: Ach und noch was: Hast du dir überhaupt
mal über die Figur des Mr. Peabody Gedanken gemacht? Und weißt du überhaupt, wer Walter Borden ist, der ihn darstellt? Walter Borden ist ein offen schwuler, afro-kanadischer Schauspieler und Schriftsteller, der das allererste Stück geschrieben hat, das in der Black-Canadian-Literatur das Thema Homosexualität behandelt. Eine Ikone. Und seine „Race“ spielt im Film überhaupt keine Rolle, sein Alter ja im Endeffekt auch nicht. Und schwule Männer, die schwule Männer spielen, gibt es auch nicht alle Tage. Das machen meistens Heteros und bekommen dafür nen Oscar. Schwule kriegen keine Rollen mehr und sicher keine Preise dafür, dass sie überzeugend Heteros spielen. Aber jetzt drifte ich ab.
30.10.2014, 18:56
Lieber Toby! Gott, wie akademisch – man kann auch jeden Bruce-LaBruce-Film zerreden! Aber zu deiner Frage: Die kann man so eben nicht mehr stellen. Bruce LaBruce ist selbst seine eigene Marke geworden und an der muss er
30.10.2014, 20:35
Lieber Toby! Ich weiß nicht, was Bordens Biografie jetzt mit dem Film zu tun haben soll. Wird Geron dadurch besser? Ich muss auch nicht Wikipedia lesen, bevor ich ins Kino gehe … Und
ob Homos keine Rollen mehr bekommen, weil sie sich geoutet haben, ist mir auch scheißegal. Dann sollen sie’s halt verstecken. Pier-Gabriel Lajoie zeigt sich übrigens auf Facebook nur mit jungen Frauen im Arm, finde ich als Schwuler jetzt auch irgendwie scheiße. Wegen dem bin ich doch ins Kino gegangen. Egal, ich guck’ mir jetzt irgendwas Krasses an, keinen Bock mehr auf diese nervige Diskussion. Gruß, Arschloch 30.10.2014, 20:45
Ach ja, und der Titel ist von Gerontophilia auf Geron geschrumpft, damit niemand verschreckt wird … Was soll das überhaupt heißen – Geron? Macht überhaupt keinen Sinn. 30.10.2014, 21:45
Liebes Arschloch! Ach ja, auf einmal müssen Filmtitel bei Bruce LaBruce für dich Sinn machen, ja? So Titel wie The Bad Breast; or, The Strange Case of Theda Lange oder Otto; or, Up with Dead People meinst du wohl? Diese Diskussion wird mir zu müßig und wenn sie irgendetwas gezeigt hat, dann ja wohl vor allem, dass Bruce LaBruce ein kontroverser, umstrittener Regisseur bliebt, dass er mit einem zärtlichen Film schockieren kann, und dass so bornierte Puristen wie du Forderungen an einen Regisseur stellen, die von einer konservativen Einstellung zeugen – bitte immer ein bisschen vom Gleichen, sonst bin ich kein Fan mehr. Wie unoffen kann man eigentlich sein? Und noch was: Wenn Bruce LaBruce diesen Film so gemacht hat, wie er ihn gemacht hat, um ein größeres Publikum anzusprechen, eine Jugendfreigabe zu bekommen und vielleicht – Aufstand! – auch mal ein bisschen Geld zu verdienen, dann hat er jedes verdammte Recht dazu. Deine dämliche und unreflektierte Erwartung, dass bestimmte Künstler immer unten und arm bleiben müssen, ist neoliberaler Bullshit. Du bist und bleibst eben ein Arschloch. s
GERON
von Bruce LaBruce CA 2013, 83 Minuten, englische OF mit deutschen UT, Pro-Fun Media, 3 www.pro-fun.de IM KINO ab 28. November 2014
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Born Naked dvd
SCHÖNE NEUE LESBENWELT VON M A I K E SCH U LTZ
„Born Naked“ dokumentiert das Leben von frauenliebenden Frauen in den aktuellen urbanen Szenen in Berlin, Madrid und London. Die Regisseurin Andrea Esteban hat ihren Film nach DIYManier in jahrelanger Arbeit unterhaltsam zusammengestellt und ein interessantes Szeneporträt geschaffen, das innerhalb der Grenzen bleibt, die sein eigentliches Thema sind.
s Die US -amerikanische Drag Queen und TV-Entertainerin RuPaul sorgt nicht nur mit ihrer Reality-Show Drag Race für Furore, sie hat auch ein bekanntes Zitat geprägt. Wer davon noch nicht gehört hatte, konnte es in diesem Sommer beim Kreuzberger CSD entdecken, als ein paar vermummte Aktivist_innen ein Hochhausdach am Kotti erklommen, Bengalos entzündeten und dann begleitet von lautem Jubel ein mehrere Meter langes Transparent entrollten. Darauf stand dieser Satz: “We’re all born naked and the rest is drag” (Wir wurden alle nackt geboren und der Rest ist Verkleidung). Was für ein schönes Motto für eine Veranstaltung, die Diversität und die Entgrenzung von Identität feiert. Und ein gut gewählter Titel für einen Dokumentarfilm, der sich genau dies zum Thema macht. Sicher waren auch ein paar der Protagonistinnen aus Andrea Estebans Film an jenem Junitag in der Oranienstraße, spielt er doch unter anderem in der deutschen Hauptstadt: Born Naked – Madrid/ London/Berlin begleitet zwei Spanierinnen im Jahr 2011 durch ihre Heimat und ihre neuen Lebensmittelpunkte. Da ist die Regisseurin selbst, 25, Grafikdesignerin, Hobby-Fußballerin und Gelegenheitskellnerin, seit vier Jahren wohnhaft in London. Und Andreas Freundin Paula , eine 23-jährige Feministin, die seit fünf Jahren in Berlin lebt, wo sie mit einem Stipendium Literaturwissenschaften studiert. Viel mehr Details erfährt man in den kommenden 83 Minuten nicht über die beiden Hauptfiguren, zumindest nicht, wenn man dem Missverständnis aufsitzt, dass es sich bei Andrea Estebans Arbeit um ein autobiografisches Porträt der Protagonistinnen handelt. Vielmehr fungieren die beiden als Reporterinnen, die andere befragen. 34 SISSY 23
Was bedeutet es in der heutigen Zeit, lesbisch zu sein? Und welche Rolle spielt Sexualität überhaupt für die Identität? In Interviews und WG -Diskussionen spüren Andrea und Paula den Klischees und Rollenmustern nach, die sie aufbrechen möchten.
»We’re all born naked and the rest is drag« Wie ein roter Faden führen sie uns durch drei pulsierende Metropolen, in denen sie auf Gleichgesinnte treffen: Lesben, Transsexuelle und Freundinnen aus der queeren Community. Mal reden sie im Park oder auf der elterlichen Couch über ihre Erfahrungen beim Coming-Out, mal geht es in Szenebars oder auf einen anarchistischen Bauwagenplatz. Alle Gesprächspartner haben eines gemeinsam: Sie wollen sich kein Label aufdrücken lassen, sondern selbstbestimmt und frei leben. So lernen wir eine Hausbesetzerin aus Friedrichshain kennen, die erklärt, warum sie nur in ihrem eigenen Haus keine Mauern um sich spürt. Wir begegnen den Organisatorinnen des Londoner Ladyfests und einer Moustache-Partyveranstalterin aus Madrid. Zwei bekannte Trans-Performance-Künstler erzählen im Neuköllner SilverFuture von diskriminierenden Erfahrungen beim Arzt. Die Verlagschefin und „L-Mag“-Herausgeberin Manuela Kay erläutert, wieso ihr das L-Wort so wichtig ist und die Bezeichnung „Butch“ für sie keine Einschränkung bedeutet. Wir sehen ein Fotoshooting mit vertauschten Geschlechterrollen und eine Journalistin, der aufgrund ihrer femini-
EDITION SALZGEBER
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nen Erscheinung nie geglaubt wurde, dass sie Frauen liebt – und die für eine Recherche in sechs Kirchen gebeichtet hat, wo ihre Lebensweise mit Vergewaltigern und Pädophilen gleichgesetzt wurde. Manche dieser Begegnungen sind oberflächlich, anderen Dialogen würde man gerne länger lauschen. Dem der frisch verheirateten Frauen im Südblock etwa, denen die Ehe eigentlich suspekt ist, weil sie einem bürgerlich-heteronormativen Modell folgt – und die im eigenen Familienumfeld dadurch nun tatsächlich ernster genommen werden. Oder der Debatte mit der heterosexuellen Freundin, wohin die Partynacht führen soll: Muss es immer eine schwullesbische Bar sein, grenzt man sich damit nicht eher selbst aus? Eine der berührendsten Szenen des Films ist der Moment, in dem Andrea unter Tränen von ihrer ersten großen Liebe erzählt. Einer heimlichen Beziehung mit einer Schulfreundin, die an der Ablehnung von deren Familie zerbrach. Wir sehen alte Videos und Fotos, erfahren aber nicht, was aus dieser Freundin wurde. Fast immer, wenn es spannend wird, springt die Kamera schon zum nächsten Schauplatz, durchbrochen von Lifestyle-Postkartenmotiven der jeweiligen Stadt und verspielten Elementen wie animierten Zeichnungen, Zeitraffer oder Splitscreen. In dieser rasanten, bunten Collage wird vieles nur angedeutet, auch das eigene Lebensmodell der Hauptfiguren. Führen sie eine Beziehung und ist diese monogam? Und warum haben sie ihr Land verlassen, das ihnen mit Madrid doch eine liberale Szene geboten hätte? Hinzu kommt, dass Born Naked keinerlei Konflikt bietet. Die Vielfalt, die der Film eigentlich zeigen will, kommt darin nicht wirklich
vor: (Fast) alle sind sich einig darüber, wie sie wahrgenommen werden möchten. Sie sind jung, hip, queer, künstlerisch und politisch aktiv. Sie interessieren sich für Gender Studies und wohnen in Vierteln, in denen auch viele andere Homosexuelle wohnen. Und obwohl sie sich darüber bewusst sind, in einer Blase zu leben und diesen Umstand kritisieren, bekommt diese zu keinem Zeitpunkt ernsthafte Risse. Berlin? Besteht offenbar nur aus fotogenen Kiezen in Kreuzberg, Friedrichshain und Neukölln. London? Beschränkt sich auf das alternativ-coole East End – und Madrid auf das Szeneviertel Chueca. Selbst die Städte sind letztlich austauschbar. So ist Born Naked weniger ein Beitrag zur Sichtbarkeit von Lesben, als ein Spiegelvorhalten für all jene, die sich in den urbanen Wohlfühloasen eingerichtet haben. Aber so eine Selbstvergewisserung kann ja auch mal ganz schön sein. s
BORN NAKED – MADRID/LONDON/BERLIN
von Andrea Esteban DE/ES/UK 2012, 74 Minuten, deutschenglisch-spanische OF mit deutschen UT AUF DVD bei der Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de
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EASTERN BOYS
von Robin Campillo FR 2013, 129 Minuten, französische OF mit deutschen UT AUF DVD bei der Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de
IM WESTEN VON SA SCH A W E ST PH A L
Wer glaubt schon noch an Ekstase? Robin Campillos Filmpsychogram „Eastern Boys“ verfolgt einen Bande osteuropäischer Stricher in Paris und einen privilegierten Freier, der sich in einen von ihnen verliebt. Der in diesen Erzählungen übliche Konflikt zwischen Gefühl und Geschäft taucht zwar auf, der Film, ausgezeichnet mit dem Orrizonti-Preis der letztjährigen Filmfestspiele von Venedig, schlägt aber mehrfach unerwartete Haken und wird zu einer Ost-West-Geschichte, die von einer heillosen globalen Zerrissenheit erzählt.
Eastern Boys
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s Ein Bahnhof wie ein Palast. Die imposante Fassade des Pariser Gare du Nord gebietet mit all ihrem Prunk, den aufgereihten Statuen und dem riesigen verglasten Bogen, Ehrfurcht. Verschwendung als Zeichen von Souveränität. Mit seinem Bau feierte sich das Zweite Kaiserreich selbst und demonstrierte allen Ankommenden seine Macht und seinen Reichtum. Es waren andere Zeiten … Zeiten, auf denen sich noch heute einige der Mythen um das alte Europa gründen. Ein idealer Ort für die Gang von osteuropäischen Jugendlichen, die der von Daniil Vorobyev gespielte „Boss“ um sich geschart hat. Keiner von ihnen hält sich legal in Frankreich auf. Aber sie werden geduldet, solange sie nicht zu auffällig werden. Ihre Tage verbringen sie im und um den Gare du Nord. Immer auf der Suche nach Gelegenheiten wie der, die sich Rouslan (Kirill Emelyanov) bietet, als ihn Daniel (Olivier Rabourdin) im Schatten einer der Treppen des Bahnhofs anspricht. Cruising … ein Spiel von Blicken und Bewegungen. Zugleich Versprechen und Jagd. Jede Begegnung ist immer auch ein Geschäft. Vielleicht ist der aus der Ukraine kommende Teenager tatsächlich ein Hustler, vielleicht gibt er sich aber auch nur so. Überleben heißt für ihn anonym bleiben, unter dem Radar leben und doch gesehen werden. Schon vor dem ersten direkten Kontakt zieht Rouslan, der sich im Bahnhof Marek nennt, den zögerlichen Mittfünfziger Daniel in ein
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Es ist die Sicht der allgegenwärtigen Überwachungskameras, die Campillo und Lapoirie in dieser wundervollen Hommage an das Leben auf der Straße aufgreifen. Aber das Treiben, das sie einfangen, ist alles andere als alltäglich und schon gar nicht zufällig. In einer überwältigenden Choreographie von Einstellungen und Bewegungen, von Blicken und Menschen, breiten sie die Psyche der westlichen Gesellschaften aus. Die Sehnsucht nach Übersicht geht Hand in Hand mit einer unbestimmten Paranoia. Wohin der Blick auch geht, immer wieder sind schwerbewaffnete Soldaten, Polizisten oder private Sicherheitskräfte zu sehen. Eine ganze Gesellschaft fühlt sich unsicher. Man will sich schützen und fürchtet das Fremde. Nur sind die Eastern Boys und ihr Boss längst ein Teil des alltäglichen Lebens.
EDITION SALZGEBER
Die Party, auf der ich die Geisel bin
komplexes Netz aus Andeutungen und vagen Hoffnungen. Schließlich wartet er regelrecht auf den Älteren und lockt ihn dann mit provokanten Blicken und spöttischen Fragen mehr und mehr aus der Reserve. Eine fast schon klassische Situation, die an ähnliche Szenen aus den Filmen von André Téchiné, Gaël Morel und Jacques Nolot erinnert. Nur hat sie in Robin Campillos filmischer Ode auf „Sa majesté la rue“ („Ihre Majestät, die Straße“), wie er das erste Kapitel seines sich allen Erwartungen immer wieder entziehenden Porträts einer doppelbödigen Beziehung nennt, noch eine andere, über Rouslan und Daniel hinausweisende Dimension. Cruising als Spiegel der französischen Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert. Campillo, der Eastern Boys inszeniert, geschrieben und geschnitten hat, verdichtet diese zehn Minuten am Gare du Nord zu einem atemberaubenden pas de deux von Misstrauen und Verlangen. Zwei Perspektiven wechseln sich fortwährend ab. Immer wieder blickt Jeanne Lapoiries Kamera von oben, aus ein paar Metern Höhe, auf das Kommen und Gehen im Bahnhof und vor seinem Portal, um dann sogleich wieder in das Geschehen einzutauchen, sich auf Augenhöhe mit den Menschen zu begeben. Im steten Hin und Her prallen Nähe und Distanz, Offenheit und Furcht wieder und wieder aufeinander. Die Welt ist heillos zerrissen, und die Menschen in ihr sind es auch.
Aber – und davon erzählen dann die Bilder aus der Menge – Angst und Argwohn sind sowieso nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist ein unterdrücktes und doch nicht zu kontrollierendes Begehren, dem Daniel nachgibt, als er Rouslan folgt und ihm schließlich sogar seine Adresse gibt. Am nächsten Tag soll der Jugendliche, der nach eigener Aussage für 50 Euro „alles macht“, in sein schickes Appartement hoch über der Vorstadt kommen. Nur nimmt das Geschäft, das sie schließen, für Daniel eine unerwartete Wendung. Er bekommt zumindest am nächsten Tag nicht das, was er will, sondern das, was er fürchtet (also auch ersehnt), und muss dafür dann noch deutlich mehr bezahlen. Statt Rouslan kommt die ganze Gang und räumt ihm im Lauf einer Überraschungsparty die Wohnung aus. So endet „Cette fête dont je suis l’otage“ („Die Party, auf der ich die Geisel bin“), das zweite, den Albträumen des Westens gewidmete Kapitel, dem dann noch zwei weitere folgen. Mit jedem neuen Kapitel scheint Robin Campillo Eastern Boys in eine andere Richtung zu lenken. Doch letztlich deckt er mit jeder Wendung nur eine andere Facette ein und derselben Zerrissenheit auf. Die Party, auf der Daniel die Geisel war, kann nicht das Ende sein. Die schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden, aber das Verlangen bleibt. Also kommen Daniel und Rouslan, der plötzlich wieder vor seiner Tür steht, auf ihren ursprünglichen Deal zurück und erneuern ihn … wieder und wieder. „Ce qu’on fabrique ensemble“ – und, „was die beiden zusammen machen“, ist erst einmal Sex, fast schon mechanisch. Der wohlhabende Mann nimmt sich, was er bezahlt hat, und der mittellose Junge lässt es über sich ergehen. Aber jenseits dieser Geschäftsmäßigkeit schwingt in Campillos und Lapoiries kühlen Bildern noch etwas anderes mit. Eine zweite Sehnsucht, die auf die Überwindung dieser Machtverhältnisse zielt. Man verbringt mehr und mehr Zeit miteinander. Aus dem Geschäft im beiderseitigen Interesse wird fast schon eine familiäre Beziehung. Doch die weckt gerade von Daniels Seite neue, ganz andere Begehrlichkeiten, die den Boden für das vierte und letzte Kapitel „Halte Hotel Donjons et Dragons“ („Haltestelle Hotel Zwinger & Drachen“) bereiten. Noch einmal kippt der Film, diesmal in einen Thriller, in dem sich Rouslan vom Boss und damit auch von der dunklen Seite seiner Existenz befreien muss. Beinahe ein Exorzismus, der Ordnung schafft und das Verdrängte wieder dorthin verbannt, wo keine Gefahr mehr von ihm ausgeht. Ein Triumph, der auch ein Verlust ist: Für einen kurzen Augen-Blick kehrt Boss noch einmal in Daniels Wohnung zurück. Nur haben sich die Verhältnisse umgedreht. Nun steht er ganz alleine da, gehetzt und verloren. Vor zwanzig Jahren haben die Pet Shop Boys „Go West“ gesungen und den Song dann noch mit einem hoffnungsfrohen „I Believe in Ecstasy“ gekrönt. Ein Versprechen, das heute niemand mehr einhalten will. s SISSY 23 37
MISSING FILMS
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ZÄHLEN, ERZÄHLEN VON SE BA ST I A N M A R K T
Zwei Filmemacher brechen nach New York auf, um die queere Künstlerszene zu porträtieren, doch die Zwangserkrankung des einen droht das Projekt zunächst zu sabotieren – bis es selbst zum Filmthema wird. Der von Rosa von Praunheim produzierte Dokumentarfilm von Oliver Sechting und Max Taubert wurde beim diesjährigen Max-Ophüls-Preis uraufgeführt. SISSY kann einfach nicht anders, als ihn zu empfehlen …
WIE ICH LERNTE, DIE ZAHLEN ZU LIEBEN
von Oliver Sechting, Max Taubert DE 2014, 88 Minuten, englische OmU AUF DVD ab 20.11. bei Missing Films,
3 www.missingfilms.de
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s A wie Angst. Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben ist ein Film über die Ängste von Co-Regisseur Oliver Sechting, und über seine folgenschweren und zwanghaften Strategien, um mit diesen Ängsten zurechtzukommen. Es ist aber dann auch ein Film über die Ängste als Begleiterscheinungen der Bedeutung, ein moderner Mensch zu sein. B wie Beginnen. Oliver Sechting und Max Taubert wollten ursprünglich zusammen einen Film über die queere Kunstszene in New York machen. Die Dreharbeiten gestalten sich schwierig, weil Sechtings Zwangsgedanken immer schwerer auf die Beziehung drücken und er von den InterviewpartnerInnen zunehmend verlangt, eine Haltung dazu zu entwickeln. C wie City. Dies ist auch ein Film über New York City. Nicht nur, weil es der Ort der Handlung ist, sondern weil es um seine Menschen geht, sein Versprechen von Selbstentwurf und Möglichkeit. D wie Dramatisierung. Wie lassen sich Zwänge und Vorstellungen, die sich ganz nach innen richten, darstellen? Das Erzählproblem löst der Film einerseits, indem er den sozialen Folgen in Beobachtung, Gesprächen und Selbsterklärungen Raum lässt, andererseits durch kleine inszenierte Miniaturen, die Sechtings Vorstellungswelt eine bedrückende Form geben. E wie Erdbeertörtchen, die Oliver Max während der Zusammenarbeit immer wieder als ebenso rührende wie hilflose Geste schenkt. F wie Freundschaft, um die der ältere Sechting und der junge Taubert bei aller Belastung und erzwungener Nähe ringen. Ein Ringen nicht zuletzt auch darüber, wie viel Rücksichtnahme, Zurückstecken und Einfühlung eine Begegnung auf Augenhöhe verträgt. G wie Gelingen. Als der Dreh sich immer mehr vom ursprünglichen Konzept entfernt, stellt sich nicht nur die Frage, ob daraus noch ein Film werden kann, sondern auch, was Gelingen unter diese Bedingungen bedeuten kann. H wie Humor, mit dem Sechting auch noch in den schwierigsten Momenten auf sich selbst blicken kann, wie Taubert auf ihre Beziehung und der Film auf die ganze Situation. I wie Ira Sachs, der in Spannungen, wie er erzählt, bei der Arbeit und beim Drehen eher eine Ressource sieht, in der Möglichkeit, einander herauszufordern. J wie Jonathan Caouette, der mit Tarnation auch versucht hat, einer psychischen Störung eine Form zu geben, und Sechting vom Umgang damit erzählt. K wie Krankheit. Dass das, woran Sechting leidet, im Bereich des Psychiatrischen angesiedelt ist, macht der Film deutlich. Er tut das aber, ohne dabei auf einen Diskurs der Normalität zu verfallen und hält die Übergänge offen, in denen, was verrückt scheint, als Spuren einer vernünftigen Reaktion auf eine unvernünftige Welt lesbar bleiben. L wie Liebe. Was uns in der Welt hält. Gleich zu Beginn treffen die Regisseure Anna Steegman, eine der Protagonistinnen aus Praunheims New-York-Filmen, die den Tod ihres Mannes immer noch schwer verkraften kann.
N wie Neutralisieren. Bei der Konfrontation mit negativen Zahlen, Farben und Eindrücken schafft das Ausgleichen mit positiven Entlastung. Am meisten hilft, das weiß der Juwelierssohn Sechting, das Verschlucken von Brillanten. O wie Offenheit. Je mehr das Ursprüngliche Projekt außer Sichtweite gerät, desto mehr wird das Erleben der Situation zum eigentlichen Gegenstand des Films, von dem beide Regisseure beredte Auskunft geben, einander und sich selbst, in die Kamera. P wie Privileg. Von „A Couple of Queers sitting on a Couch discussing their problems“ spricht der junge Regisseur Yony Leyser und macht den Film dadurch selbstreflexiv. Das sei eine Form von queerem Kino, die er problematisch finde. Q wie Qual, die das permanente Unter-Zwang-Stehen bedeutet, woran der Film keinen Zweifel lässt. R wie Radikalität, des Entschlusses, das eigene Scheitern, im engeren wie im weiteren Sinn, zum Thema zu machen. S wie Sehnsucht, nach Nähe, nach Verbindung zu den Menschen, die einen umgeben, und nach einem Leben ohne Leid. T wie Tom Tykwer, der von seinen eigenen Ritualen und Ticks zu erzählen beginnt, und damit vor allem die Grenze markiert, die Alltags aberglaube, mit dem man leben kann, von Zwängen unterscheidet. U wie Ultra Violet, Factory-Superstar und Künstlerin, die einen einfachen Rat hat, den zu befolgen Sechting sichtlich schwer fällt: damit anzufangen, sich selbst anzunehmen. V wie Verschwinden. Worauf sich alle Ängste und die gegen sie gerichteten inneren wie äußeren Handlungen letzten Endes beziehen, ist das völlige Herausfallen aus der Welt. Das steht am Anfang und am Ende einer Kette fallender Dominosteine, und dass man die Kausalkette zwischen Zwangshandlung und sozialen Distanzen auch umgekehrt sehen kann, weiß Sechting sehr genau, und es hilft ihm wenig. W wie Warum, Woher, Weshalb. In der Mitte des Films erzählt Sechting seine Krankengeschichte und liefert dabei zugleich eine Erzählung, die seine Ticks und Zwangshandlungen als eine gewachsene Strategie erklären. X wie XXL . Irgendwann ist dann alles riesengroß. Die Stadt, die Freundschaft, aber auch die Probleme und das Leid. Y wie Ypsilon, das griechische I, der Buchstabe, der beim Buchstabieren immer die meisten Schwierigkeiten macht, das schwer zu Integrierende, das allen Bemühungen, es in eine geschlossene Erzählung einzubinden, Widerstand entgegensetzt. Z wie Zukunft. Am Ende werden die beiden erfolgreich einen Film gemacht haben und ihre Freundschaft daran nicht zerbrochen sein. Heilung ist für Sechting nicht in Sicht, er muss einen Weg finden, Widersprüche, die sich nicht auflösen lassen, in eine lebbare Form zu integrieren. Noch so ein Moment der Moderne. s
M wie „Magische Zwangsgedanken“. Das ist die Bezeichnung, die Sechting für das hat, was ihn umtreibt. Ein kompliziertes System, in dem Dinge, Farben und insbesondere Zahlen unterschiedliche Bedeutung zukommen, negative wie positive. SISSY 23 39
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DAS ABLÖSEN VON ERFAHRUNGEN
PRO-FUN MEDIA
Eine Entgegnung von André Wendler zum Text „Geile Filmkunst“ von Marco Siedelmann in der letzten SISSY
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GAY SEX IN THE 70IES
von Joseph F. Lovett US 2005, 71 Minuten, englische OF mit deutschen UT AUF DVD bei Pro-Fun Media, 3 www.pro-fun.de
s In der letzten SISSY gab es einen Text von Marco Siedelmann, in dem er zwei Dinge entwickelt: Erstens fordert er dazu auf, die Filme des Golden Age of Gay Porn endlich in ihren cineastischen Qualitäten angemessen zu würdigen. Viele der Filme seien gut verfügbar und würden allein deswegen ignoriert, weil in ihnen Sex und zudem noch schwuler Sex zu sehen sei: „Wer das Kino liebt, aber Angst hat vor steifen Schwänzen und männlicher Geilheit, dem entgeht unweigerlich und – drastisch gesagt – aufgrund von Vorurteilen und unbestimmten Ängsten die Entdeckung eines aufregenden Kapitels der Filmgeschichte.“ Zweitens stellt er, fast im Stile einer Selbstbefragung, Reflexionen darüber an, in welchem Verhältnis seine Faszination an diesen queeren oder schwulen, jedenfalls nicht-heterosexuellen Filmen zu seiner eigenen erklärten heterosexuellen Identität steht. Marcos cineastischen Überlegungen habe ich nichts hinzuzufügen. Anders geht es mir mit den identitätspolitischen Gedanken, die mich lange nicht mehr los ließen. Marco verortet seine Faszination für die Filme nicht in einem ungeklärten Verhältnis zu seiner eigenen Sexualität oder Ähnlichem, sondern er begreift sie als Ausdruck einer allgemeinen Faszination am „Anders Sein“ und insbesondere als Spiegel, in dem ihm einige Bruchstellen seiner Heterosexualität sichtbar werden, die sonst in ihrer üblichen Unsichtbarkeit vorüberziehen. Heteromännern bleibe die emotionale und sexuelle Selbstvergewisserung des schwulen Coming-Outs erspart, weshalb bei ihnen eine „mit sich selbst im Reinen stehende Sexualität eher selten ist“. So sehr ich mich darüber freue, wenn Heterosexualität etwas von ihrer Natürlichkeit verliert und Anstöße kommen, sie zu reflektieren (und der eigenen Identität mehr Aufmerksamkeit zu widmen, statt sie schlicht als gegeben zu affirmieren), bleibt mir doch eine Leerstelle hier, die ich gern benennen möchte. Wenn ich die Filme, von denen Marco hier spricht, sehe, dann sind sie bewegende und bewegte Zeugnisse einer Zeit, die ich selbst nicht erlebt habe. Sie stammen aus dem Jahrzehnt zwischen 1969 und dem Ausbruch von Aids, das insbesondere in die US -amerikanische Schwulengeschichte als ein Jahrzehnt unbändiger Freiheit, Toleranz und Emanzipation eingegangen ist. Sie konfrontieren mich mit Männerkörpern, die es so kaum noch gibt: Es scheint ein entspanntes Verhältnis zu Körperbehaarung zu geben, das nicht in eine spezielle Porno-Nische gesteckt werden muss; die muskulösen Männer haben andere Körperproportionen als heutige Muskelgays; überhaupt sieht man viel mehr schlanke Körper, die offenbar nicht durch die Fitnessindustrie geformt wurden. Diese Filme haben ganz andere Dramaturgien als heutige schwule Pornofilme. Statt sich wie heute von einem sensationellen Höhepunkt zum nächsten zu treiben (noch mehr Boys, noch größere Schwänze, noch mehr Tabubrüche), sind sie oft unheimlich sensibel und sinnlich. Selbst die SMund Lederfilme kommen oft mit einer Sensibilität daher, die mir aus einer ganz anderen Welt zu kommen scheint und die ich nur schwer
in Worte fassen kann. Und natürlich ist es eine Welt vor Aids, in der Sperma nicht fetischisiert werden kann, in der Sex ohne Kondom nicht mit Empörung, besonders gesteigerter Lust, gesundheitlicher Verantwortung, Todesdrohungen usw. aufgeladen werden muss. Kurzum: Diese Filme laden mich dazu ein, sie mit allerlei sentimentalen Projektionen aufzuladen. Ich kann problemlos alles, was mich an meiner schwulen Gegenwart nervt, dort hin projizieren und sie und damit die 70er Jahre zu meinem schwulen Sehnsuchtsort verklären. Ich bin nicht der Erste, der das so liest. In Joseph Lovetts Dokumentarfilm Gay Sex in the 70s (2005) wird diese Erzählung ebenso bedient wie in einigen Standardwerken zum schwulen Film. Kurzum: Dieser Blick auf die 70er Jahre hat offenbar das Selbstverständnis der Schwulen geprägt. Er markiert eine der Strategien, mit der persönlichen, kollektiven und politischen Katastrophe umzugehen, welche Aids seit den 80er Jahren gewesen ist. All die Angst, all die Verzweiflung, der Schmerz und die Trauer, mit welchen ich als junger Schwuler in den 90er Jahren aufwuchs, finden hier Gegenbilder. Schwule meiner Generation haben eher nicht den massenhaften Tod ihrer Freunde und Liebhaber erleiden müssen. Aber für uns hat es nie eine schwule Identität gegeben, die nicht mit einer umfassenden Todesdrohung verbunden gewesen ist. Ich bin sicher nicht der Einzige, für dessen Eltern das Schlimmste am Coming-Out die Gefahr des Aids-Todes des eigenen Sohnes war. Ein positives Selbstbild, ein Konzept von Beziehungen und Sex hat es für Schwule meiner Generation nie jenseits von Aids gegeben. Verständlicherweise tauchen solche Überlegungen in Marcos Text nicht auf, weil sie für die gleiche Generation heterosexueller Männer in keiner vergleichbaren Weise identitätsbestimmend gewesen sein können. Für mich bleibt nur die Frage, ob sich diese spezifisch schwule Erfahrung von den Filmen ablösen lässt? Kann man jenseits des kollektiven Aids-Traumas auf diese Filme blicken? Die Antwort liegt auf der Hand: Ja, man kann. Marco demonstriert es in seinem Text. Mir gefällt an ihm, dass er an den Filmen Identitätsproblematiken erkennt, die mir so vielleicht nicht aufgefallen wären und dass er damit auch mich wieder zu einem reflektierteren Blick auf meinen eigenen Blick auf diese Filme zwingt. Vielleicht ist das überhaupt die ganze Großartigkeit dieser Filme: Sie erlauben uns, miteinander über Identitäten jenseits von „Ich bin so und du bist anders“ ins Gespräch zu kommen. Wir alle können in diesen Filmen ohne Mühe einen historischen Unterschied zu unseren eigenen Identitäten erkennen und begreifen, dass wir nicht sind, was wir sind, sondern dass wir aus historischen Gründen bestimmte Möglichkeiten hatten, zu werden, was wir geworden sind – und dass gleichzeitig andere Möglichkeiten ausgeschlossen bleiben mussten. Es ist dann tatsächlich nicht mehr entscheidend, ob wir uns als schwul, hetero, bi, trans oder sonstwie begreifen, sondern dass wir etwas über die Bedingungen begreifen, unter denen wir so oder so werden konnten. s SISSY 23 41
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Neu auf DVD VON M A IK E SCHULTZ (MS), PAUL SCHULZ (PS) UND JA N KÜNEM UND (JK)
KENNETH ANGER – MAGICK LANTERN CYCLE US/FR 1947–80, Regie: Kenneth Anger, Zweitausendeins
Die hochgelobte Restaurierung der bekanntesten Kurzfilme von Kenneth Anger durch das British Film Institute ist nun endlich auch in einer deutschen DVD -Ausgabe zu bewundern. Der sogenannte Magick Lantern Cycle umfasst zehn Filme, die vom legendären Frühwerk Fireworks (1947) bis zur letzten Version von Lucifer Rising (1980) reicht. Wer also endlich mal einen Einblick in die queere Ursuppe des wirklich und tatsächlich unabhängigen Kinos erhalten möchte oder ein paar Visuals für seine Orgie braucht – besseres Material gibt es dafür nicht. „Glorreich überdrehte, von sprunghaften Schnitten und irgendeiner Traumlogik folgenden Überblendungen bestimmte, durch einen heiß/kalten, wilden schwulen Blick gefilterte Filme, die mit zeitgenössischer Rockmusik oder Klassik der stürmischeren Art unterlegt waren (Anger war immer mehr Wagner als Mozart). Lucifer Rising (das Hauptwerk), Invocation to my Demon Brother, Scorpio Rising, Fireworks, Eaux d’Artifice waren das Eintauchen in ein unbekanntes sexuelles Terrain Vague, mit einem Minibudget rücksichtslos und liebevoll handgemacht inmitten der paranoiden, hysterisierten Kulisse der McCarthy-Hexenjagd auf Kommunistenjunkies, die Hollywood infiltriert haben sollten.“ (Egbert Hörmann in seinem Anger-Porträt in SISSY 20)
BEGEGNUNGEN NACH MITTERNACHT FR 2013, Regie: Yann Gonzalez, Edition Salzgeber
Seltsame Gäste erscheinen zur erotischen Soiree eines jungen Paares und ihrer hedonistischen Haushälterin. „Auf dem Höhepunkt, bevor alles wieder auseinander strebt und der Tag den Traum vertreibt, die Andeutung einer Orgie. Paare und Konstellationen, ständig wechselnd. Polyamourös. Keine Grenzen anerkennend wie der Film selbst auch. Zuvor jedoch erst einmal ein Kaleidoskop der Geschichten und Phantasien. Der 42 SISSY 23
‚Hengst‘ erzählt von einer Verhaftung und einer sadomasochistischen Kommissarin (Béatrice Dalle). Die ‚Schlampe‘ träumt von Männern und von ihrer Mutter. Der ‚Teenager‘ berichtet vom Durchstreifen der Nacht, von flüchtigen Begegnungen, absoluter Freiheit und einem Leben ohne Konventionen. Und der ‚Star‘ beschwört ein Phantomkino herauf, einen Ort, an dem Träume zu Filmen werden, Sehnsüchte Bilder gebären. Für Momente sind sie sich alle ganz nah, erkennen den anderen und damit zugleich auch sich selbst. Begegnungen nach Mitternacht ist ein Film, der perfekt in dieses Phantomkino passen würde. Noch auf 35mm gedreht und selbst in seinen Tricksequenzen weitgehend analog realisiert, den Tag in Nacht verwandelnd, ist Gonzalez’ Erstling selbst eine Art Phantom. Einer Vergangenheit entrissen, die immer schneller im Dunkel einer geschichtslosen Gegenwart zu versinken droht, gleicht er einem Traum. Oder sollte Gonzalez der neue Orpheus sein? Dann hätte er Begegnungen aus einem Totenreich der Kinobilder zurückgebracht, und es wäre an uns, ihn und alles, wofür er steht, am Leben zu erhalten.“ (Sascha Westphal in SISSY 22)
WER HAT ANGST VOR VAGINA WOLF? US 2013, Regie: Anna Margarita Albelo, Pro-Fun Media
Abnehmen. Einen Film drehen. Eine Freundin finden. So sieht die ToDo-Liste von Anna aus, einer 40-jährigen Regisseurin aus Los Angeles. Weil sich Anna nicht nur mit dem Abnehmen schwer tut, haust sie in der Garage einer Freundin und hält sich mit Gelegenheitsauftritten in einer Galerie über Wasser, bei denen sie sich als Vagina kostümiert. Sie trinkt zu viel, raucht Kette, verschnarcht Abgabetermine für wichtige Fördermittel und ist unfähig, engere Bindungen einzugehen – nicht gerade die besten Voraussetzungen für die Erfüllung ihrer guten Vorsätze. Bis Anna Katia trifft und in der jungen Studentin eine Muse gefunden hat, die sie zu einem neuen Drehbuch inspiriert: Einer lesbischen Version von Who’s Afraid of Virginia Woolf. Ein wenig spielt sich die Regisseurin Anna Margarita Albelo wohl auch selbst, so viel Selbstironie steckt in ihrer Tragikomödie über die Selbsterkenntnis einer gescheiterten Träumerin. Für ihr Spielfilmdebüt konnte die Doku-Filmerin zahlreiche bekannte Gesichter gewinnen: Janina Gavankar (The L-Word), Guinevere Turner (Go Fish) und Carrie Preston (True Blood) bilden das Ensemble ihres schwarzhumorigen Films im Film. Ein kurzweiliges Vergnügen, auch wenn das Ende ziemlich vorhersehbar ist. ms
REINE MÄNNERSACHE USA 2014, Regie: Chris Nelson, Universum Film
EASTSIDERS US 2014, Regie: Kit Williamson, GM Films
Michael (Nicholas Brown) und Matty (Hunter Cope) sind beste Freunde und haben ein gemeinsames Ziel: Sie wollen die Highschool nicht als Jungfrauen verlassen. Bis zum Abschlussball muss es passiert sein. Das geht genau so lange gut, bis Matty einfällt: „Ich bin irgendwie schwul“. Was Michael mit: „Aber du bist doch überhaupt nicht muskulös“ beantwortet. Drehbuchautor Alan Yang ist sonst für Gags in Parks and Recreation verantwortlich und hat gleich Megan Mullally und Nick Offermann für feine, kleine Nebenrollen mitgebracht, der Clou an dieser sympathisch überdrehten HighschoolComedy sind allerdings die beiden Hauptdarsteller und die anbetungswürdige Dakota Johnson, die als Mattys beste Freundin soviel Sinn und Verstand mitbringt, dass alles neben ihr verblasst. Ob das hier ein schwuler Film ist, weiß man gar nicht so genau. Es ist eine extrem intelligente Komödie mit einer wunderbaren schwulen Hauptfigur. ps
„I always date Hipsters!“, seufzt ein Bewohner des L.A.-Szeneviertels Silver Lake. Sein Date antwortet: „Wir sehen für dich wohl alle gleich aus.“ Es ist ein ewiges Kreuz mit der Kuscheligkeit der Szene und der Unmöglichkeit, darin wiederum ganz individuell zu sein. Die Webserie Eastsiders dreht sich um ein paar dieser labelgeplagten Menschen im Kreis, weil auch diese sich im Kreis drehen. In der auf Spielfilmüberlänge montierten ersten Staffel kann man sehen, wie schön das im Einzelnen gemacht ist: Man springt zwischen den Zeiten hin und her, von der Trennung zum Kennenlernen und wieder zurück zum Neuanfang, ohne dass sich an den Problemen, Konflikten und (Selbst-) Bildern groß etwas ändert. Wunderbar werden einzelnen Motive zu Drehmomenten der Kreisbildungen, ein aus- und wieder eingepacker Plattenspieler, ein Porträtfoto, das ein Typ von seinem Freund macht und das danach in verschiedenen Kontexten immer
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wieder auftaucht. Ein weiteres Leitmotiv ist das Trinken zu unpassenden Zeiten. Doch nach kurzem Kater ist immer wieder alles wie vorher. „Wir sind nicht die, die wir eigentlich sein sollten“, fällt einer Protagonistin in der letzten Folge auf. Doch Konsequenzen zieht sie daraus nicht. Autor (und Hauptdarsteller) Kit Williamson empfiehlt sich mit seiner klugen Puzzlearbeit für die Writer’s Rooms größer budgetierter Produktionen. Aber auch so ist Eastsiders eine Erfolgsgeschichte – Staffel 2 ist mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne bereits finanziert. jk
EASTERN BOYS FR 2013, Regie: Robin Campillo, Edition Salzgeber
„Vor zwanzig Jahren haben die Pet Shop Boys ‚Go West‘ gesungen und den Song dann noch mit einem hoffnungsfrohen ‚I Believe in Ecstasy‘ gekrönt. Ein Versprechen, das heute niemand mehr einhalten will.“ (p Seite 36)
DIE POETIN BR 2013, Regie: Bruno Barreto, Pro-Fun Media
In den braven 50er Jahren reist die New Yorker Dichterin Elizabeth Bishop nach Brasilien und lernt dort die Architektin Lota kennen, von der sie im Sturm erobert wird und die ihr ein Haus zum Schreiben baut, mit Blick auf den Dschungel. „Vielleicht ist es nicht nur Lotas Zügellosigkeit, sondern gerade das ungetrübte Selbstvertrauen, mit dem Lota ihre
architektonischen Pläne und Werke präsentiert, das bei der einsam wirkenden Elizabeth heiße Leidenschaft entflammt. Elizabeth scheint den Wert ihrer eigenen Arbeiten nicht ermessen zu können, quält sich lange mit Formulierung und Versmaß, bis ein Gedicht endlich steht. Viel zu oft lässt sie sich von ihrem chauvinistischen Freund Robert Lowell kritisieren und maßregeln. Elizabeth, labil in ihrem Selbstwertgefühl und voller Zweifel, die sie regelmäßig in Alkohol ertränkt, äußert hier ebenfalls zaghafte Skrupel: Sie ist sich nicht sicher, ob sie es ihrer Freundin Mary antun kann, ihr die Geliebte auszuspannen. ‚Aber zu was für einem Leben soll das führen‘, gibt Lota zu bedenken, ‚wenn du Freundschaft über Liebe stellst?‘“ (Ingeborg Boxhammer in SISSY 19)
man aber mit fantastischen Schauspielleistungen und einer Geschichte belohnt, die noch lange nachwirkt. ps
GUN HILL ROAD
TIEFE WASSER
USA 2013, Regie: Rashaad Ernesto Green, Edition Salzgeber
PL 2013, Regie: Tomasz Wasilewski, Edition Salzgeber
Enrique (Esai Morales) kommt nach drei Jahren aus dem Knast zurück zu seiner Familie in die Bronx. Aber nichts ist, wie es war. Sein Sohn Michael (Harmony Santana) ist dabei, sie selbst zu werden und heißt jetzt Vanessa, während sich seine Frau längst emotionale Nähe gesucht hat, wo sie sie eben findet. Har mony Santana, deren Transition im Film während der Dreharbeiten von der in ihrem eigenen Leben gespiegelt wurde, zeigt, wie das gehen kann und großartig ist, trans* in Filmen einfach von trans* spielen zu lassen. Gun Hill Road ist harter Tobak und manchmal schwierig auszuhalten, weil er trotz seiner beiden fantastischen Frauenfiguren die Ängste und Nöte des Vaters in den Vordergrund stellt. Dafür wird
Ein Schwimmer, der von den Anforderungen seines Trainers, seiner Mutter und seiner Freundin angetrieben wird, verliebt sich in einen Mann. Es folgt die Geschichte zweier Königskinder, die sich lieb haben, aber im tiefen Wasser nicht zueinander finden. „Kuba, der Leistungsschwimmer mit dem athletischen Kreuz und der badekappentauglichen Kurzhaarfrisur, schafft es trotz hartem Training nicht auf die andere Seite des tiefen Wassers, obwohl er am Ende doch noch die drei verbindenden Zauberworte spricht: Ich liebe dich, während er Michal in hitziger Umarmung an die Wand des Treppenaufgangs presst. Durch die Haustür tritt ein Typ mit Baseballkappe und Kapuzenpulli, den Kuba in einem Ausbruch angestauter Verzweif-
BORN NAKED DE/ES/UK 2012, Regie: Andrea Esteban, Edition Salzgeber
„Mal reden sie im Park oder auf der elterlichen Couch über ihre Erfahrungen beim Coming-Out, mal geht es in Szenebars oder auf einen anarchistischen Bauwagenplatz. Alle Gesprächspartner haben eines gemeinsam: Sie wollen sich kein Label aufdrücken lassen, sondern selbstbestimmt und frei leben.“ (p Seite 34)
PRIDE · KURZFILME · DER KREIS VON MÄDCHEN UND PFERDEN TRU LOVE · STURMLAND WIR SEHEN UNS IM KINO: AACHEN, AUGSBURG, BERLIN, BREMEN, DARMSTADT, DRESDEN, FRANKFURT, FREIBURG, HALLE, HAMBURG, HANNOVER, KARLSRUHE, KIEL, MAGDEBURG, MANNHEIM, MÜNCHEN, MÜNSTER, NÜRNBERG, OLDENBURG, POTSDAM, REGENSBURG, ROSTOCK, SAARBRÜCKEN, STUTTGART.
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lung einige Wochen zuvor zusammengeschlagen hat, weil der junge Mann und sein Kumpel ihn als Schwuchtel bezeichnet hatten. Wenn am Ende die Jugendgang aus dem Wohnblock zur Rache im Parkhaus aufmarschiert, hat Wasilewskis Sozialdrama um ein verhindertes Coming-Out längst die Dimension der griechischen Tragödie erreicht, wo es aus der von den übermächtigen Göttern festgelegten Conditio humana kein Entrinnen gibt. Der Tod ist der Preis für den Bruch mit den herrschenden Gesetzen und für den Aufbegehrenden vielleicht die einzige Form der Freiheit.“ (Gunther Geltinger in SISSY 21)
Rusadzes Kino ohne jede Entschuldigung hohe Kunst sein will, die einen lieber erschlägt als unberührt lässt, und das stellenweise auch schafft. Der Kletterer Dmitrij verliebt sich in den geheimnisvollen Andrej, folgt ihm in Gedanken und auch wirklich durch die Berge und Landschaften Georgiens und man kann nie sicher sein, ob er nicht bloß einer im wahrsten Sinne des Wortes fixen Idee von seinem idealen Mann nachrennt. Ein Film wie ein langer, merkwürdig realer Traum. ps
EASY ABBY
Carson Phillips möchte an seiner Schule gern ein Magazin für Kreatives Schreiben herausgeben. Allerdings wollen seine Mitschüler nicht mitmachen. Aber davon lässt sich eine tapfere Sissy nicht beeindrucken. Stattdessen greift Carson zu einem Mittel, das Menschen noch immer auf die Sprünge geholfen hat: Erpressung. Chris Colfer wurde als „Kurt Hummel“ in Glee 2010 über Nacht die berühmteste kleine Sissy der Welt und wir lieben ihn nach wie vor, obwohl die Serie inzwischen ihre besten Tage deutlich hinter sich hat. Einen Golden Globe, einen „New York Times“-Bestseller und ein paar Top-Twenty-Hits hat Colfer schon im Sack. Vielleicht deswegen hat er sich 2013 mit Vom Blitz getroffen seine Traumrolle als Drehbuchautor selbst auf den schmalen Leib geschrieben. Der Film beweist als eine der besseren schwarzen Komödien des Jahres und noch bevor er im nächsten Jahr Noel Coward spielt, dass Colfer viel mehr kann als nur Kurt Hummel. Wir sind hingerissen! Und zwar auch, weil Allison Janney und Rebel Wilson in den weiteren Hauptrollen wie gemacht sind, für diesen Film. ps
US 2012, Regie: Wendy Jo Carlton, Edition Salzgeber
„Recht ziellos driftet Abby durch ihren Alltag in Chicago, der aus Affären, Gelegenheitsjobs, Treffen mit ihren Freundinnen und dem vagen Traum, einmal in Costa Rica zu leben, besteht und sie nie wirklich zur Ruhe kommen lässt. Aus ihrem üblichen Rhythmus kommt sie erst, als sie Danielle kennen lernt, die auf so altmodischen Dingen wie Essen gehen und Reden besteht, bevor sie mit ihr ins Bett geht. ‚Shit! I like you!‘, stellt Abby bald zu ihrer eigenen Überraschung (und wenig charmant) fest, und dass Danielle bald für ein paar Monate nach Italien zieht, ist plötzlich nicht mehr das bequeme Exit-Szenario, das es sonst für sie gewesen wäre. Das klingt nach einer klassischen Romantic Comedy, in der die Heldin im letzten Moment geläutert um ihre wahre Liebe kämpft – doch auf dieses formelhafte Happy End steuert Easy Abby nicht zu. ‚Eigentlich ist es eine Lovestory zwischen Abby und Abby‘, sagt die Regisseurin und Drehbuchautorin Wendy Jo Carlton, die das Konzept zusammen mit ihrer Hauptdarstellerin entwickelte, in einem Online-Interview. Ihr geht’s nicht vorrangig ums Pärchenglück, sondern um Abbys Suche nach ihrem Platz im Leben.“ (Karin Schupp in SISSY 21)
A FOLD IN MY BLANKET GE 2013, Riegie: Zaza Rusadze, Pro-Fun Media
Ein Bilderrausch, der wenig daran interessiert ist, ob der herkömmliche Kinozuschauer ihn versteht oder nachvollziehen kann, und an dem man besonders dann viel Freude hat, wenn man sich einfach mitreißen und wegspülen lässt. Die Kritiker auf der Berlinale 2013 waren von A Fold in My Blanket schwer angetan, weil 44 SISSY 23
VOM BLITZ GETROFFEN US 2013, Regie: Brian Dannelly, Alive
nachruf
DER GROSSVATER VON M ICH A E L K I ENZ L
SISSY erinnert an den Filmemacher Peter de Rome, der am 21.
Juni, kurz vor seinem 90. Geburtstag, verstorben ist. THE EROTIC FILMS OF PETER DE ROME
98 Minuten, englische OF
BFI
AUF DVD als Import
„Underground“ (1972)
s Peter de Rome war als junger Mann nicht besonders attraktiv. Er besaß jedoch Eigenschaften, die sich im New York der frühen 1960er Jahre, als die schwule Infrastruktur noch in den Kinderschuhen steckte, als noch wertvoller erwiesen: Er war gebildet, witzig und vor allem in der Lage, mit seiner charismatischen Art andere Menschen zu verführen. Bewaffnet mit einer Super-8-Kamera, schlenderte der erst kürzlich von England in die USA ausgewanderte de Rome durch die Straßen, sprach Männer an, die ihm gefielen, plauderte mit ihnen und fragte sie, ob er sie filmen dürfe. Am Ende landete er mit seinen Bekanntschaften bei sich zu Hause, wo ein erotischer Dialog zwischen Kamera und Modell entstand, bei dem schließlich der Regisseur sein Arbeitsinstrument zur Seite legen konnte und auf seine Kosten kam. Nicht nur diese ersten, noch recht einfachen filmischen Gehversuche, auch die etwas späteren Kurzfilme – die 1973 von dem Regisseur Jack Deveau als The Erotic Films of Peter de Rome in die schwulen Por-
nokinos gebracht wurden – strahlen eine faszinierende Intimität aus. Ähnlich wie Avery Willard begann de Rome seine Filmlaufbahn in einer Übergangsphase, zwischen den frühen stag films, die Anfang des 20. Jahrhunderts noch heimlich produziert und präsentiert wurden, und dem goldenen Zeitalter schwuler Hardcoreproduktionen, das im Jahr 1972 mit der Legalisierung von Pornografie eingeläutet wurde. Als die ersten Filme des selbst ernannten Grandfather of Gay Porn entstanden, gab es dafür weder einen wirklichen Markt, noch eine Zielgruppe, die berücksichtigt werden musste. De Rome drehte seine Filme in erster Linie für sich selbst, zeigte sie zwar Freunden, dachte aber gar nicht daran, sie einmal zu veröffentlichen. Gerade der betont persönliche und experimentierfreudige Umgang mit dem Medium ist es auch, der sein Frühwerk heute noch auszeichnet. Mit Pornos im herkömmlichen Sinne haben diese Arbeiten wenig zu tun. Sicher, es gibt teilweise nicht-simulierten Sex zu
sehen und Cumshots markieren häufig einen dramaturgischen Höhepunkt, doch letztlich offenbart sich eine sehr nuancenreiche Vorstellung von Sexualität. Oft ist es dabei gar nicht der eigentliche Akt, der im Vordergrund steht, sondern seine genussvoll ausgedehnte Vorbereitung: die langsame Annäherung unter Männern, ihr Flirten und spielerisches Umwerben. Ein Film wie Underground (1972) etwa lebt ganz von seiner prickelnden Ausgangssituation: Ein Geschäftsmann und ein Hippie cruisen in einer U-Bahn während der Rush Hour und ficken schließlich in einem abgelegenen Abteil. Dem Reiz des Verbotenen, den Sex in der Öffentlichkeit immer mit sich bringt und den heute unzählige Amateurvideos im Internet feiern, errichtet Underground ein kleines Monument. Die Freiheit, die sich de Rome nahm, hatte natürlich viel mit dem privaten Rahmen zu tun, in dem die Filme entstanden. Doch auch später, als er für Deveaus „Hand in Hand Films“ zwei kommerzielle Langfilme drehte, blieb er ambitioniert. Der im Pornokino der damaligen Zeit omnipräsenten Working-Class-Roughness setzte der bildungsbürgerlich auftretende Regisseur einen Edgar-Allen-Poe-Fiebertraum entgegen. Der erotische Horrorfilm The Destroying Angel (1976) erzählt von einem Nachwuchspriester, der nach dem Verzehr eines Zauberpilzes mit endlosen sexuellen Möglichkeiten konfrontiert wird. Inszeniert wird dieses Reich der Lüste jedoch so rabenschwarz, als hätte de Rome schon damals geahnt, was auf den Exzess der 1970er Jahre folgen würde. Im Gegensatz zu vielen anderen talentierten Kollegen hat de Rome die AidsEpidemie überlebt. Filme hat er zwar keine mehr gedreht, dafür konnte man sich aber gerade noch in der Dokumentation Peter de Rome: Grandfather of Gay Porn davon überzeugen, wie es dem Regisseur auch mit fast neunzig Jahren noch gelang, seine deutlich jüngeren Gesprächspartner zu verzaubern. Gut zu wissen, dass uns seine Filme auch in Zukunft immer wieder verführen werden. Besonders jetzt, wenn es Peter de Rome selbst nicht mehr kann. s SISSY 23 45
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IMPRESSUM Herausgeber Björn Koll Verlag
Redaktion
Jan Künemund, presse@salzgeber.de
Gestaltung
Johann Peter Werth, werth@salzgeber.de
Autoren
Toby Ashraf, Lukas Foerster, Matthias Frings, Malte Göbel, Thomas Groh, Enrico Ippolito, Michael Kienzl, Jan Künemund, Sebastian Markt, Noemi Yoko Molitor, Paul Schulz, Maike Schultz, Sophie Strohmeier, Sebastian Urzendowsky, André Wendler, Sascha Westphal, Tania Witte
Anzeigen
Jan Nurja, nurja@salzgeber.de Es gilt die Anzeigenpreisliste 01/2014 (www.sissymag.de/media).
SISSY erscheint alle drei Monate, jeweils für den Zeitraum Dezember/ Januar/Februar – März/April/Mai – Juni/Juli/August – September/ Oktober/November. Auflage: 20.000 Exemplare (Druckauflage).
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Möller Druck, Berlin
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Vervielfältigung, Speicherung, Weiterverarbeitung oder Nutzung sowohl der Texte als auch der Bilder zu kommerziellen Zwecken bedürfen einer schriftlichen Genehmigung des Herausgebers.
KINOS 3 AACHEN: APOLLO Pontstr. 141, 0241/9008484 3 AALEN: KINO AM KOCHER Schleifbrückenstr. 15, 07361/5559994 3 ASCHAFFENBURG: CASINO FILMTHEATER Ohmbachsgasse 1, 06021/4510772 3 BAD FÜSSING: FILMGALERIE Sonnenstr. 4, 08531/980555 3 BAMBERG: LICHTSPIEL Untere Königstr. 34, 0951/26785 3 BERLIN: ACUD Veteranenstr. 21, 030/44359498 · ARSENAL Potsdamer Str. 2, 030/26955100 · KINO INTERNATIONAL Karl-MarxAllee 33, 030/24756011 · XENON KINO Kolonnenstr. 5–6, 030/78001530 · CINEMAXX POTSDAMER PLATZ Potsdamer Str. 5, 01805/24636299 · EISZEIT Zeughofstr. 20, 030/6116016 · FSK AM ORANIENPLATZ Segitzdamm 2, 030/6142464 · TILSITER LICHTSPIELE Richard-Sorge-Str. 25a, 030/4268129 · ZUKUNFT Laskerstr. 5, 0176/57861079 3 BOCHUM: ENDSTATION KINO IM BHF. LANGENDREER Wallbaumweg 108, 0234/6871620 3 BONN: KINO IN DER BROTFABRIK Kreuzstr. 16, 0228/478489 3 BRAUNSCHWEIG: C1 CINEMA Lange Str. 60 3 BREMEN: CITY 46 Birkenstr. 1, 0421/44963582 3 DORTMUND: SCHAUBURG Brückstr. 66, 0231/9565606 · SWEETSIXTEEN Immermannstr. 29, 0231/9106623 3 DRESDEN: KID – KINO IM DACH Schandauer Str. 64, 0351/3107373 · THALIA Görlitzer Str. 6, 0351/6524703 3 ERLANGEN: MANHATTAN Güterhallenstr. 4, 09131/22223 3 ESSLINGEN: KOMMUNALES KINO Maille 4–9, 0711/31059510 3 FRANKFURT/MAIN: LESBISCH-SCHWULES KULTURHAUS Klingerstr. 6, 069/293045 · MAL SEH’N Adlerflychtstr. 6, 069/5970845 · ORFEOS ERBEN Hamburger Allee 45, 069/70769100 3 FREIBURG: KOMMUNALES KINO Urachstr. 40, 0761/709033 · KANDELHOF Kandelstr. 27, 0761/283707 3 GÖTTINGEN: KINO LUMIÈRE Geismar Landstr. 19, 0551/484523 3 HALLE: ZAZIE Kleine Ulrichstr. 22, 0345/7792805 · PUSCHKINO Kardinal-Albrecht-Str. 6, 0345/2040568 3 HAMBURG: METROPOLIS KINO Kleine Theaterstr. 10, 040/342353 · B-MOVIE Brigittenstr. 5, 040/4305867 · 3001 Schanzenstr. 75–77, 040/437679 3 HANNOVER: KINO IM KÜNSTLERHAUS Sophienstr. 2, 0511/16845522 · KINO IM SPRENGEL K.-M.Kilian-Weg 2, 0511/703814 · APOLLO Limmerstr. 50, 0511/452438 3 KARLSRUHE: STUDIO 3 Kaiserpassage 6, 0721/9374714 · SCHAUBURG Marienstr. 16, 0721/3500018 3 KASSEL: BALI Rainer-Dierichs-Platz 1, 0561/710550 · FILMLADEN Goethestr. 31, 0561/707650 3 KIEL: DIE PUMPE – KOMMUNALES KINO Haßstr. 22, 0431/2007650 · TRAUM KINO Grasweg 48, 0431/544450 3 KÖLN: FILMPALETTE Lübecker Str. 15, 0221/122112 3 KONSTANZ: ZEBRA KINO Joseph-Belli-Weg 5, 07531/60162 3 LEIPZIG: PASSAGE KINO Hainstr. 19 a, 0341/2173865 · KINOBAR PRAGER FRÜHLING Bernhard-Göring-Str. 152, 0341/3065333 · CINEDING Karl-Heine-Str. 83, 0341/23959474 3 MAGDEBURG: STUDIOKINO Moritzplatz 1, 0391/2564925 MANNHEIM: CINEMA QUADRAT Collinistr. 5, 0621/1223454 · CINEMAXX N7 17, 01805/625466 3 MARBURG: CINEPLEX Biegenstr. 1a, 06421/17300 3 MÜNCHEN: NEUES ARENA FILMTHEATER Hans-Sachs-Str. 7, 089/2603265 · CITY KINO Sonnenstr. 12, 089/591983 · CINEMAXX Isartorplatz 8, 01805/24636299 3 MÜNSTER: CINEMA FILMTHEATER Warendorfer Str. 45–47, 0251/30300 3 NÜRNBERG: KOMMKINO/FILMHAUSKINO Königstr. 93, 0911/2448889 · CASABLANCA Brosamer Str. 12, 0911/454824 3 OFFENBURG: FORUM Hauptstr. 111, 0781/4350 3 OLDENBURG: CINE K Bahnhofstr. 11, 0441/2489646 3 POTSDAM: THALIA ARTHOUSE Rudolf-Breitscheid-Str. 50, 0331/7437020 3 REGENSBURG: WINTERGARTEN Andreasstr. 28, 0941/2980963 3 ROSTOCK: LIWU IN DER FRIEDA Friedrichstr. 23, 0381/4903859 3 SAARBRÜCKEN: KINO ACHTEINHALB Nauwieser Str. 19, 0681/3908880 · KINO IM FILMHAUS Mainzer Str. 8, 0681/372570 3 SCHWEINFURT: KUK – KINO UND KNEIPE Ignaz-Schön-Str. 32, 09721/82358 3 STUTTGART: CINEMAXX AN DER LIEDERHALLE RobertBosch-Platz 1, 01805/24636299 3 TRIER: BROADWAY FILMTHEATER Paulinstr. 18, 0651/96657200 3 WEIMAR: LICHTHAUS Am Kirschberg 4, 03643/777177 3 WEITERSTADT: KOMMUNALES KINO Carl-Ulrich-Str. 9–11 / Bürgerzentrum, 06150/12185
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ISSN 1868-4009
Auch das noch …
JOHANN PETER WERTH
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Nach 23 Ausgaben ziehen wir vom einen Kreuzberg ins andere. Wir freuen uns, dass wir eine standesgemäße Adresse gefunden haben.
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