Magazin für den nicht-heterosexuellen Film Ausgabe siebenundzwanzig · September bis November 2015 · kostenlos
s Komplett misslungenes Leben: Mütter wissen sowas s Status „unbewohnt“: Zwei nackte Männer und ein dritter s Arglos im Ausland: Entjungfert auf dem Art-Déco-Altar s Möglichkeitsräume: Zwinkern und zwinkern und zwinkern s Elektroschock: Die Enge in der Brust und die Weite des Lebens s Exklusiver Schuh: Männer, die in die Gegend stieren s Urlaubstherapie: Lustkillende Grubenlampe s Kontinentaldrift: Interesse am Pissoir s Machtspiel: Gebrauchsanweisung für Klamotten s Koketterie: Inkognito auf der Spitze s Rohsaftverdampfen: Antigones Locken s Leiche im Keller: Alltägliche Rituale s Quartett: Zeitgemäße Dyke-Fashion s Märchengrenze: Riecht noch ein bisschen nach Künstler_innen s Badezimmerfliesen: Zentralperspektive auf sich selbst s Fußmarsch mit Sidekicks: The kid was dead s Andere Sehweisen: „Das Publikum ist so versaut im Hirn!“
»Ein frischer, wilder und komischer Film. Eine der schönsten Überraschungen der diesjährigen Berlinale!« rbb
»Lebenspralles, verspieltes Kino!« perlentaucher
»Ein Film in betörenden Farben …« der tagesspiegel
Ab 12. November im Kino Buch und Regie PETER GREENAWAY mit ELMER BÄCK, LUIS ALBERTI, MAYA ZAPATA, LISA OWEN, STELIO SAVANTE Produktion SUBMARINE, FU WORKS, PALOMA NEGRA FILMS Koproduktion EDITH FILM, POTEMKINO, MOLLYWOOD Produzenten BRUNO FELIX , FEMKE WOLTING, SAN FU MALTHA, CRISTINA VELASCO L. Koproduzenten LIISA PENTTILÄ-ASIKAINEN, PETER DE MAEGD, GUY & WILFRIED VAN BAELEN Kamera REINIER VAN BRUMMELEN NSC Schnitt ELMER LEUPEN NCE Postproduktion GALAXY STUDIOS Kostüme BRENDA GÓMEZ Ausstattung ANA SOLARES Make-Up MARIPAZ ROBLES VFX FLOW Ton RAUL LOCATELLI Herstellungsleitung KARIN S. DE BOER Unterstützt durch NETHERLANDS FILM FUND, THE NETHERLANDS FILM PRODUCTION INCENTIVE OF THE NETHERLANDS FILM FUND, ESTÍMULO FISCAL ART. 226 DE LA LISR (EFICINE), THE FINNISH FILM FUND, ENTERPRISE FLANDERS, SCREEN FLANDERS AND FLANDERS AUDIOVISUAL FUND, TAX SHELTER OF THE FEDERAL GOVERNMENT OF BELGIUM AND TAX SHELTER INVESTORS, MEDIA PROGRAMME OF THE EUROPEAN UNION In Zusammenarbeit mit with ZDF/ARTE, VPRO, YLE Weltvertrieb FILMS BOUTIQUE im Verleih der EDITION SALZGEBER · WWW.SALZGEBER.DE
vorspann
sissy siebenundzwanzig So, wie Herr von Bohlen auf unserem Titelbild, mutmaßlich in Gedanken über sein Leben in Luxus und Verschleuderung sinnierend, in Harmonie mit sich und der Welt die Augen schließt, denkt auch die SISSY über 27 verschwenderische Ausgaben mit nicht-heterosexuellen Kostbarkeiten nach – und schließt nun ein Kapitel. Das Heft, das ihr in euren Händen haltet, wird bis auf weiteres die letzte gedruckte SISSY sein, bevor sie sich selbst eine neue Form gibt. Als wir im März 2009 anfingen, für das queere Kino eine eigene publizistische Bühne zu schaffen, auf der geschwärmt, gefeiert, Interesse erzeugt und manchmal dezent der Kopf geschüttelt werden konnte, war die Idee eines neuen, noch dazu kostenlosen, Printmagazins bereits sehr exotisch. Mit dem großen Erfolg und der großen Nachfrage, die sich bis heute auf über 5.000 Abonnent_innen gesteigert hat, hatten wir dabei nicht gerechnet. Dass sich ein Heft mit derart exotischem Inhalt nicht für alles und jeden als idealer Ort für Anzeigen eignet, war klar – die Finanzierbarkeit somit immer prekär. Wir finden aber auch, dass man nach 6 ¾ Jahren mal etwas anderes machen kann. Was Toby Ashraf (Mitte) bei der Verleihung des Siegfried-Kracauer-Preises (mit Sven von Reden und Andreas Busche) genau, wissen wir noch nicht. Vielleicht geht die SISSY komplett ins Netz und verbindet sich dort (www.sissymag.de) glamourös mit der audiovisuellen Sphäre, vielleicht sogar auf viel direkterem Weg mit dem, was ihr eigentliches Thema ist – Filme. Und/oder sie geht den umgekehrten Weg und wird als verschwenderische Printpublikation dauerhaft in Regalen stehen.
STEPHAN VAVRA / MFG
Da man ein Komma setzen kann, wenn es am schönsten ist, freuen wir uns sehr, dass ein in der SISSY publizierter Text, noch dazu von einem Autoren, der seit der allerersten Ausgabe (damals noch als Tobias Rauscher) dabei ist, den Siegfried-Kracauer-Preis für die beste deutsche Filmkritik des Jahres 2014 erhalten hat: Toby Ashraf für „Tophilia“, seinem Zwiegespräch über „Geron“ von Bruce LaBruce (SISSY 23). Auch wenn die Jury diesen Text von der „Autorität eines Feuilleton-Stücks“ abgrenzen zu müssen glaubte und schmunzelnd bemerkte, hier seien Positionen „nicht mit dem Florett“ (wie im Feuilleton, klar), sondern „mit dem Hackebeil“ verteidigt worden, ist doch eine mit dem Hackebeil bewaffnete SISSY ein schönes vorläufiges Schlussbild.
TITELBILD: EDITIOON SALZGEBER
Vielen Dank an Toby und die vielen anderen Autor_innen und erst recht an die vielen tollen Leser_innen der SISSY für fast sieben verschwenderische Jahre! Kommentare und Fragen gerne an redaktion@salzgeber.de
Titelbild: Arnd Klawitter als „Herr von Bohlen privat“ (p Seite 24) SISSY 27 3
mein dvd -regal
B. RUBY RICH
B. Ruby Rich Filmpublizistin
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Einsam ist es in der Uckermark VON JO CH EN W E R N E R
s Jonas ist ein Frauenheld und ein Stehpinkler, das ist das Erste, was wir, noch während der Vorspann von Nils Bökamps erstem Kinofilm „You and I“ läuft, über ihn erfahren. Der Anrufbeantworter quillt über vor Nachrichten einer verflossenen Eroberung, die sich nach einer vielleicht leidenschaftlichen, jedenfalls aber kurzen Bekanntschaft mit Jonas „bekloppt, bescheuert und blauäugig“ fühlt – auch im weiteren Verlauf des Abends klingelt das Telefon in regelmäßigen Abständen. Jonas ist nämlich auch einer, der in solchen Fällen auf keinen Fall ans Telefon geht. Phillip ist Jonas’ bester Freund – der Berliner Hetero-Aufreißer und der etwas verträumte, oft kindlich-verspielte schwule Engländer haben sich zu einer gemeinsamen Reise verabredet, die für Jonas auch eine Fotoreise sein wird. Mit der verzweifelten Dame vom Vorabend sei es nämlich zwar vorbei, aber immerhin habe sie ihm einen guten Kontakt zu einer kleinen Galerie verschafft, die seine Bilder ausstellen wolle. Vom Tegeler Flughafen aus geht es nun mit einem kleinen Wohnmobil ostwärts, zielstrebig gen Niemandsland. „Einsam ist es in der Uckermark“, liest Phillip in brüchigem Deutsch vor: „Der Landkreis hat mit 150.000 Einwohnern halb so viele Bürger wie der Berliner Stadtteil Neukölln. Gemessen an der UNO -Statistik hat das Gebiet damit den Status ,unbewohnt‘.“ Jonas bestätigt: „Hier wohnt auch keiner.“ Wenn man so will, führt die Reise die beiden scheinbar ungleichen Freunde an einen Nirgendort: „Wenn man auf Wege trifft, fragt man sich, ob sie jemals befahren werden.“ Und wohin sie führen mögen. Nach innen, durch verborgene, aber insgeheim vertraute Seelenlandschaften? In autonome Zonen, die ihnen eine vollkommene Befreiung von all dem verheißen, was beiden von ihren bisherigen Leben auf den Leib geschrieben wurde? In Märchenländereien, die von Aufbruch und Neuerfindung träumen lassen? Diese seltsam frei fließenden Momente, die vor allem die erste Hälfte von „You and I“ prägen, erinnern an ganz andere Filme. Ein wenig an die frühen Arbeiten von Alain Guiraudie, an „Du soleil pour les gueux“ oder „Voici venu les temps“, in denen idiosynkratisch-phantasievoll herbeifabulierte Mythologien wie von selbst aus dem Erdreich der ganz konkret ins Bild gerückten und doch immer im selben Maße entrückten Traumlandschaften Südfrankreichs heraufzusteigen scheinen. Oder auch, um einen Vergleich aus dem jüngeren deutschen queeren Kino zu bemühen, an die seltsame Verschobenheit von „Sleepless Knights“, diesem eigenartigen, kaum greifbaren Hybridfilm von Stefan Butzmühlen und Cristina Diz. Auch wenn die Auflösung dieses flanierenden, den Blick schweifen lassenden Gestus in der Erdung durch den Plot und die Charakterstudie hier stets näher liegt, 6 SISSY 27
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Der Jungstraum vom freien Umherziehen durch unbewohntes Gelände wird für zwei Freunde und ihr geliehenes Wohnmobil zur Realität. Ungeklärtes zwischen ihnen kommt einfach nicht zur Sprache. Bis ein Dritter dazu stößt und Bewegung ins unreflektierte Spiel bringt. In Nils Bökamps erstem Spielfilm geht’s durch den wilden Osten, und drei sind dabei einer zu viel.
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kino YOU AND I
von Nils Bökamp DE 2014, 82 Minuten, deutsch/ polnisch/englische OF, teilweise deutsch untertitelt, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der Gay-Filmnacht
im September, 3 www.Gay-Filmnacht.de
EDITION SALZGEBER
Kinostart: 17. September 2015
hinter jeder Ecke gewissermaßen zu lauern scheint. Das ist ein Ballast, den Nils Bökamps Spielfilmdebüt mit sich trägt, und dieser Ballast holt ihn in der Tat zu häufig auf den Boden nicht immer ganz so interessanter Tatsachen und Vorgänge zurück. Aber es gelingt diesem Ballast niemals so ganz, seine Flügel zu stutzen. Der Plot tritt vorläufig in den Vordergrund, als Jonas und Phillip unterwegs den polnischen Tramper Boris mitnehmen und ihn als eine Art Fremdenführer durch unvertrautes Land engagieren. Nach dem rituell zelebrierten Urinieren auf Relikte des Naziregimes wird die fortwährende Bewegung des Films, der bis dahin wohl zuallererst ein Road Movie war, für ein paar Minuten stillgestellt: Boris bringt die beiden Reisenden in ein verlassenes Ferienhaus, wo der Film in einer paradoxen Dynamik aus Be- und Entschleunigung narrativ erst quasi ins Rollen kommt. Die Konstellation, die die Erzählung von „You and I“ im weiteren Verlauf vorantreiben wird, zeichnet sich in dieser kurzen Sequenz bereits klar und vollständig ab: Phillip beginnt, zunächst vorsichtig und dann in geradezu ungestümer, fast handgreiflich Weise, Boris anzubaggern, worauf dieser zunächst mit körperlicher Aggression reagiert. Und gleichwohl: Die Sequenz endet mit zwei nackten Männern und einem dritten, der sie fotografiert. Eine Art Balztanz, ambivalent zwar, aber von umso stärkerer, noch notdürftig unterdrückter erotischer Spannung zeugend. Überhaupt: der Fotofetisch dieses Films! Bereits in trauter Zweisamkeit, noch bevor Boris ganz beiläufig zwischen zwei Einstellungen zusteigt und die eingespielten freundschaftlichen Rituale zwischen Jonas und Phillip in Frage stellt, scheint es dem heterosexuellen Part des Männergespanns stets wichtiger, den nackten Körper des schwulen Freundes zu fotografieren als die Landschaft, deren magisch-transformativer Charakter sich somit nicht im Plot selbst offenbart, sondern konsequent auf jene Fugensequenzen zwischen den Plot Points begrenzt bleibt, in denen nichts Storyrelevantes geschieht. Auf die Momente also, die böswilligere Rezensenten als Füllszenen kritisieren mögen – aber im Grunde möchte man sich keine stringenter montierte Fassung von „You and I“ vorstellen. Das Fehlen dieser Augenblicke, die ganz ohne den Druck, als irgendetwas funktionieren zu müssen, für sich stehen dürfen, würde den Film ärmer machen. Den Ort seines Showdowns erreicht Nils Bökamps Film dann im letzten Drittel: Offen blitzt die Aggression kurz auf in einem 8 SISSY 27
jungshaften Wettrennen um die besten Zimmer mit Gartenblick in dem luxuriösen Herrenhaus seines Professors, in das Jonas seinen Freund und den inzwischen eher ungebetenen Begleiter mitnimmt. Anders stellt sich die Situation für Phillip dar, dessen Annäherungsversuche gegenüber Boris auf immer weniger Widerwillen stoßen, bis ein angetrunkener Abend im Weinkeller sich schließlich in einer gemeinsamen Nacht fortsetzt. Und doch, so spielerisch auch Phillips Verknalltheit in den jungenhaften Boris anmutet – nicht nur für Jonas, sondern auch für Boris sind im erst subtilen, dann immer offeneren Kampf um Phillips Zuneigung auch Dominanz und Macht mit im immer perfideren Spiel. Mit kaum verhohlenem Triumph in Stimme und Blick verkündet Boris dem eifersüchtigen Jonas am nächsten Morgen beim Frühstück, in der vergangenen Nacht mit Phillip gefickt zu haben. Danach ändert sich alles, muss sich alles ändern. Für einen Augenblick kostet der Film die Spannung des noch nicht Geschehenen noch aus, dann kommt der Moment, auf den im Grunde seit der ersten Begegnung der beiden Freunde am Filmbeginn alles zulief: Phillip steht nackt unter der Dusche. Der angezogene Jonas tritt zu ihm und küsst ihn leidenschaftlich. Dann ein Schnitt. Eine Szene am Esstisch, Phillip teilt Boris mit, es sei besser, wenn er ginge. Dieser bricht in Tränen aus, verlässt Raum und Film. Dann ein Zeitsprung, eine weiße Wand. Dass Jonas eine Fotoausstellung in einer kleinen Galerie vorbereitet, wissen wir bereits seit dem Beginn des Films. Der Eröffnungstag ist nun gekommen. Phillip und Jonas hängen die Fotos auf, es sind die, die während ihrer gemeinsamen Reise entstanden sind. Eine eigene Wand in der Ausstellung gehört Boris, dessen Name in roter Farbe auf die Ziegel gesprüht wird. Er ist nicht anwesend, er wurde im Verlauf von „You and I“ vom Funktionsträger zum Menschen zum Kunstobjekt. Jetzt ist er eine Geschichte, die sich das neu gestiftete Paar erzählen kann. Was aus ihm und seinem gebrochenen Herzen wurde, weiß der Film nicht, es tut jetzt nichts mehr zur Sache. Beinahe so beiläufig, wie er zwischen zwei Einstellungen in den Film eintrat, verschwindet er auch wieder aus ihm. Er ist einer von denen, die zurückbleiben, wenn Liebesgeschichten erzählt werden. Am Ende bleiben von ihm ein paar Fotos an einer Wand, in einer kleinen Berliner Galerie, in einer Geschichte, die nicht seine ist. Ohne es zu wollen oder zu wissen ist Boris zur Kunstfigur geworden, zum Protagonisten in den Geschichten, die von anderen handeln. s
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You’re the top VON NOEM I YOKO MOL IT OR
s „Sag es ihm auf Hühnchen!“ haucht der Paartherapeut begeistert. J.K. war zu stolz, sich von Jona anleiten zu lassen, um mit verbundenen Augen ein Ei auf einem VerkehrsKegel zu platzieren. Als sich Jona dramatisch zum Abmarsch wendet, weil J.K. ihm nicht vertraut, wird dieser weich und macht ihm das Hühnchen. „Bakaak, bakaak“ gackern sie hin und her und alle sind wieder glücklich. Doch das „Closer-to-Closeness“-Wellness-Retreat für Paarurlaub mit kollektiver Beziehungsarbeit wurde von einem gefälschten Pärchen infiltriert. Kat (Tara Karsian) und Samantha (Andrea Grano), seit 10 Jahren beste Freundinnen, fahren hin, um Kats Mutter das nervige Geschenk an ihre SingleTochter heimzuzahlen: „Wir dachten alle, Du seist inzwischen verlobt.“ Betrunken herumlallend werfen Kat und Samantha eine Münze, immerhin gibt es da einen Pool. Die Performance als lesbisches Pärchen geht auf, denn die beiden kennen die Beziehungsmarotten der anderen in und auswendig. Kat vermeidet Intimität, Samantha kann nicht ohne, nur, um am Schluss immer wegzulaufen. Mit lesbischem Halbwissen feilen sie an der Glaubwürdigkeit: „Wenn jemand fragt: Du bist der Top!“, verkündet Samantha der perplexen Kat, die zu Beginn des Films mit Javier Bardem verwechselt wird, Kleid hin oder her: „Das denken die Leute doch eh, wenn sie uns angucken!“ Andrew Putschoegls „ BFF “ (englisches Kürzel für „Best Friends Forever“) folgt den Erzählmustern der Kategorie seichte Komödie und dichtet das Harry-und-Sally-Muster „Männer und Frauen können nicht befreundet sein“ homoerotisch um. Zwischen all den neurotischen, dysfunktionalen Paaren, die zu viel heulen oder beim Sex Dinosaurier-
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Das Beste aus einer geschenkten Paartherapie zu machen, ist nicht so einfach – vor allem, wenn man keinen Partner hat. Also nimmt Kat ihre beste Freundin mit zum idyllischen Therapie-Resort, und sie tun so als ob. Bis sie nicht mehr so tun können als ob. „BFF“ vermeidet jeden SitcomKlamauk, nimmt seine Heldinnen ernst und ist deshalb wirklich witzig.
Geräusche machen, sind Kat und Samantha mit Abstand das sympathischste. Wenn das kein Zeichen ist. Das Drehbuch zum Film stammt von Karsian und Grano selbst, die auch im echten Leben befreundet sind und nach einem Streit darüber witzelten, dass sie Paartherapie brauchen. Ihr Talent für Situationskomik kommt auch auf der Leinwand zum Tragen. Insbesondere Karsian trägt den Film mit ihrer komödiantischen Mimik. Mit subtil gezückter Augenbraue drückt sie eine Mischung aus Unbehagen und Amüsiertheit über die kollektiven Geständnisrituale aus. Ihre tiefe Butch-Stimme macht das heterosexuelle Kokettieren mit Lesbischsein umso lustiger. Karsian und Grano spielen sich die Bälle nur so zu: Kat und Samantha haben die Art von Freundschaft, bei der kleine Gemeinheiten Zeichen von Anerkennung sind. Weil Samantha Kat eine Sozialphobie angedichtet hat, um einen schnellen Krisen-Termin im Retreat zu bekommen, stellt Kat sie in der Vorstellungsrunde als sexsüchtig vor. Die kontert später, indem sie Kat wegen Durchfalls vom Abendessen entschuldigt. Im Doppelbett lernen sie schließlich doch noch neue Seiten aneinander kennen. Da wäre zum Beispiel Samanthas lustkillende Grubenlampe, die sie im Bett zum Lesen aufsetzt. „Die trage ich ja nicht beim Sex!“, verteidigt sie sich. Wer lange genug lügt, glaubt selbst daran, und so häufen sich die Anspielungen auf erotische Inkompabilität bis zur krisenhaften Frage, ob es nach etlichen Paarübungen nicht doch einen Moment von Anziehung gegeben hat. Keine will es zu erst gesagt haben, und der Versuch sich zu küssen wird vom Klempner unter-
brochen, der mit der Saugglocke den Abfluss retten will. Der Trend des therapeutischen „Couples Retreat“ wurde bereits 2009 in der gleichnamigen Komödie von Peter Billingsley parodiert (deutscher Titel: „All Inclusive“). Allerdings wirft der Film im All-hetero-Setting im tropischen „Eden“-Resort mit berechenbaren „Mantra-Yoga-Tantra“-Witzen um sich, nur um am Ende jedes der verwöhnten Paare in die Gewissheit zu retten. Die Paarübungen in „ BFF “ sind da schon lustiger. Anders als die heterosexuellen Pendants des Genres endet der Film schließlich auch nicht in einer Hochzeit, sondern in einer Serie leidenschaftlicher Streits zwischen Kat und Samantha, in denen sie tatsächlich wie ein altes Ehepaar erscheinen. Kat verkündet zum Beispiel erbost, sie gehe jetzt Spazieren, was Samantha ihr als Rückzug in ihre „lesbian man cave“ vorwirft. Vor versammelten Gästen fliegt die Farce schließlich auf, und so müssen sich die beiden reumütig die Vorwürfe von Jona und J.K. anhören, dass sie die Gruppendynamik ruiniert haben, während sie sich panisch die Liebesfrage stellen. Ob Freundinnen die besseren Pärchen sind, ist am Ende eine Frage des Münze-Werfens. s
BFF – BESTE FREUNDINNEN FÜR IMMER
von Andrew Putschoegl US 2015, 90 Minuten, spanische OF mit deutschen UT, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de
IM KINO in der L-Filmnacht im September,
3 www.L-Filmnacht.de
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DU WILLST ES NICHT WISSEN VON GU N T H E R GE LT I NGE R
Die erste Liebe ist etwas Tolles. Aber wie man sie erlebt, ist auch statusabhängig: Ob man seine bürgerliche Familie enttäuschen wird oder seinen illegalen Aufenthalt im Land dadurch noch komplizierter macht, ist eben doch etwas anderes. In Mikel Ruedas zarter Romanze kämpfen zwei Jungs um ihr kleines – und auch ein bisschen verschiedenes – Glück in einem schwulen- und fremdenfeindlichen Europa.
s Am Anfang steht die Straße. In einer nächtlichen Nahaufnahme zieht das Stakkato der Fahrbahnbegrenzungsstreifen vorüber. Gefährlich nah über dem Asphalt dringt der Blick des Betrachters aus einem Versteck. „A escondidas“, so der Originaltitel des Films, heißt „heimlich, unbemerkt“. Ibrahim ist illegal von Marokko nach Spanien gekommen, vielleicht mit Hilfe von Schleusern, für die ein Mensch nur das ist, was er für ein Leben in Europa zu zahlen bereit ist. „Du willst es nicht wissen“, wird Ibrahim, Ibra genannt, später seinem Freund und Geliebten Rafa erwidern, als der ihn nach der Geschichte seiner Flucht fragt. Doch wir kennen die Antwort. Subsummiert unter anonymen Zahlen – Dutzende Flüchtlinge in einem gekenterten Boot, Hunderte stürmen den Grenzzaun von Melilla – haben die Medienbilder die Schicksale der Flüchtlinge in uns abgelegt, als Fakten und Kurzmeldungen unschädlich gemacht. Erführen wir die Details jeder einzelnen Flucht, wir würden nach den „Tagesthemen“ die Nacht schlaflos verbringen. Wir wollen es nicht wissen, und Ibra verschont uns und Rafa mit der Wahrheit. Den größten Teil des Films verbringt er in Verstecken, und von einem dieser heimlichen Aufenthaltsorte kommend, steht er am Anfang des Films auf der Straße und trampt nach Bilbao. Am Fahrbahnrand häuft sich Müll, weggeworfene Flaschen, Essensverpackungen, die Überreste des Wohlstands wie verwitternde Mahnmale in Großaufnahme. Vom Regen überrascht flieht Ibra in eine Tankstelle, versucht, ein paar Kekse zu klauen, und wird prompt erwischt. Schon in der ersten Szene entzündet sich allzu deutlich der ethnische Konflikt, verfestigen sich die Vorurteile der Spanier gegenüber den Immigranten. „Wir klauen alle, wir Araber, was?“, bellt Ibras Freund Youssef, der plötzlich auftaucht, die Tankwärterin an und knallt das Münzgeld für die Kekse hin. Er bringt Ibra in das nächste Versteck. In der Wohnung hausen Araber, die Youssef zu Drogendealern ausbildet. Die Kriminalität, nicht die Ingenieurslaufbahn, die Ibra anstrebt, ist seine Zukunft. Youssef selbst will dieses „Scheißland“ so bald wie möglich verlassen, zusammen mit seinem kleinen behinderten Bruder, den er aufopferungsvoll pflegt. Nachts entdeckt Ibra den gelähmten Jungen im Schlafzimmer. Ein anrührendes und verstörendes Bild, das uns die 10 SISSY 27
Härte eines individuellen Lebens vor Augen führt, in einem Film, der dem Zuschauer die Gewalt und den Schmerz der Flüchtlingsschicksale weitestgehend erspart. Ibra selbst flieht vor dem Anblick, flüchtet vor seiner Vergangenheit und der drohenden Zukunft als Krimineller zurück in das Wohnheim für arabische Jugendliche. In der Disko, wo die Bewohner des Heims Mädchen aufreißen wollen, feiert auch Rafas Clique, sechzehnjährige Jungs aus bürgerlichen Familien mit stylischen Frisuren, angeführt vom großmäuligen Javi, der im Testosteronrausch nur von Mösen spricht. Rafa wird von seiner Clique gedrängt, mit der hübschen Marta anzubandeln, die es auf ihn abgesehen hat. Doch am Pissoir interessieren sich seine Blicke eher für Ibra, der plötzlich neben ihm steht. In ihren sich gegenseitig abtastenden Augen steht die Fassungslosigkeit über das eigene Begehren, und dahinter lesen wir jetzt schon die Unmöglichkeit ihrer sich soeben entzündenden Liebe, sehen die Sackgasse, in der sie enden wird, oder vielmehr: die Straße, die ins Nichts führt. Die Annäherung der beiden Jungs wird und muss stets aneinander vorbeizielen, weil der eine Europäer und der andere Araber ist, zwei Königskinder, die nicht zueinander finden können, getrennt von einem großen Wasser. Nur einmal sehen wir es, das Schicksalsmeer, das hier der Atlantik vor der Küste Bilbaos ist; verschwiegen blickt Ibra auf den Horizont. Am Strand schenkt Ibra Rafa sein in der Holzwerkstatt gefertigtes Amulett, zwei ineinandergesteckte Teile, die, so Ibra, man nicht trennen dürfe, und würden sie doch auseinandergerissen, müsse man alles dafür tun, um sie wieder zu vereinen. Immer wieder wird es in Mikel Ruedas Film um die gerichtete Bewegung gehen, das richtige und genaue Zielen – Ibra und Rafa werfen Steine nach einer Dose, spielen Wasserball und kegeln, und wenn sich anfangs ihre Hände beim Raufen noch stürmisch und hilflos auf dem Körper des anderen verlieren, richten sich die Berührungen mit der Zeit immer bedachter hin auf den ersten Kuss, die Vereinigung, die das Ziel ist. Doch gleichzeitig rücken Rafas und Ibras Kontinente weiter auseinander. In der Disko verprügeln Rafas Freunde Sayid, einen Jugendlichen aus dem Heim; ein rassistischer Übergriff, für den sich
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Rafa später bei Ibra entschuldigt. Er büßt dafür mit dem Verstoß aus seiner Clique. Sayid, der Drogendealer, von dem Javi und seine Kumpel ihr Haschisch beziehen, wird von der Polizei gewaltsam aus dem Heim geholt – und abgeschoben. Ibra greift ein und wird selbst unter Verdacht gestellt – seine Chancen auf eine Aufenthaltsgenehmigung verschlechtern sich. „Warum schickt man sie zurück an Orte, wo sie nichts haben?“, fragt Rafa entgeistert die Wohnheimleiterin und erntet einen ratlosen Blick. Die Angst um den Geliebten lastet schwer auf Rafa. Nur der beste Freund Guille sieht die Veränderung seines Verhaltens, zeigt Verständnis und gerät in einen Loyalitätskonflikt mit seiner Clique, die weiterhin mit sexistischen und araberfeindlichen Sprüchen prahlt. Später, als Ibra die Abschiebung droht und Rafa ihn zu verstecken versucht, wird Guille dem abtrünnigen Freund und seinem arabischen Geliebtem widerwillig mit Geld aushelfen. Es ist das schlechte Gewissen Europas, das hier seinen Tribut abführt, um, freigekauft von der Schuld, verdrängen zu können. Den Gefühlsausbruch, in dem sich Rafa und Guille zum Abschied umarmen, kann man melodramatisch überzeichnet finden oder aber als Metapher für die Paranoia lesen, die tief im Bewusstsein des Europäers wurzelt, der um den Verlust seines Wohlstands und seiner Sicherheit fürchtet. Auch Rafa ist nicht frei von dieser Angst. Er weiß für Ibra kein besseres Versteck als ausgerechnet den Partyraum, in dem seine Clique sich regelmäßig trifft – ist es Dummheit oder sind es die bereits im Unterbewusstsein unserer unschuldig verliebten Kinder wirkenden Mechanismen eines Systems, die das Eindringen des Fremden in die geschützte Bastion Europa nicht zulassen? Natürlich werden sie an diesem unmöglichen Ort von Javi und seinem Gefolge erwischt. Der Jahrmarkt mit seiner Unbeschwertheit, wohin beide flüchten, ist nur ein vorübergehendes Glitzern am Horizont, gleich den Verheißungen Europas, die die Afrikaner zu Tausenden übers Meer locken. Im Gewühl wird Ibra von Youssef entdeckt, der ihn an seine illegale Identität und an seine Unbehaustheit erinnert. Denn Youssef selbst ist nun auf der Flucht – zusammen mit dem kleinen Bruder nach Frankreich, als könnte das Leben dort besser sein. Ibra soll ihm folgen, doch noch entscheidet der sich, bei Rafa zu bleiben. Beide verletzen sich
auf ihren verschlungenen Fluchtwegen, doch erst beim gegenseitigen Betasten der Wunde kommt es doch noch zu einem scheuen Kuss, der nur ein Versprechen bleibt, das nicht eingelöst werden darf. Jede tiefere Bindung würde die Wunde weiter aufreißen, den Schmerz des Abschieds ins Unendliche steigern. „Er hat sein Leben hier, du passt da nicht rein!“, ruft Youssef Ibra noch zu, bevor er in der Nacht verschwindet, auf der Migrationsachse weiter Richtung Norden. Mikel Ruedas Coming-of-Age-and-Out-Film verzichtet für die eher konventionelle Erzählung seiner Liebesgeschichte und mit Hinblick auf das Wohlbefinden des harmoniesüchtigen europäischen Durchschnittszuschauers vielleicht bewusst auf die Rohheit und den Realismus eines Flüchtlingsdramas, das seine Geschichte auch hätte sein können – erstaunlich oder aber bezeichnend für einen Film aus dem krisenerschütterten Spanien. Dennoch erhält der Film in solchen Momenten eine größere ästhetische und politische Relevanz. Durch die schönen Bilder des sehnsüchtigen Liebesreigens sickert das Blut der Wunde, glotzt durch die Risse die Fratze des Elends, droht der Tod. Das Weichgezeichnete steht stellvertretend für die Amnesie, in der wir uns eingerichtet haben, um gut und fern vom Geschehen auf den Booten und in den Auffanglagern leben zu können. Denn Ibra muss wieder auf die Straße. Von seinem Versteck aus gesehen, verdämmern die Fahrbahnstreifen langsam im Dunkeln, wo Ibras Geschichte bald nur noch eine ist unter den abertausend Vergessenen. s
DER HEIMLICHE FREUND
von Mikel Rueda ES 2014, 88 Minuten, spanische OF mit deutschen UT, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der Gay-Filmnacht im Oktober,
3 www.Gay-Filmnacht.de
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STROM SCHLÄGE VON TA N I A W IT T E
Im Namen des Vaters, des Sohnes und der heiligen Elektrizität: Einen aufgeladenen Sommer verbringt die schweigsame Anne im Schatten eines Kraftwerks in einem holländischen Kaff, in dem man angestrengt den Konsens sucht. Doch nicht nur bei Anne löst sich allmählich die Spannung – auch sonst kriegt man die ganze Sehnsüchte und Ausbrüche nicht mehr „gepoldert“. „Zomer – Nichts wie raus!“ erzählt vom bittersüßen Erwachsenwerden in der Provinz.
ZOMER – NICHTS WIE RAUS!
von Colette Bothof NL 2014, 95 Minuten, niederländische OF mit deutschen UT, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der L-Filmnacht im Oktober,
3 www.L-Filmnacht.de
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s Die Luft flirrt auf diese schnelle, ungute Art, wie sie das nur unter Strommasten und in der Pubertät tut. Anne (Sigrid ten Napel) ist sechzehn und wächst in einem Wald aus Strommasten auf. Ihr Vater (Steef Cuijpers) nennt das Kraftwerk den „Allmächtigen der Elektrizität“, und wer nicht an den glaubt, der glaubt an die heilige Mutter Maria. So gehört sich das in dem kleinen, isolierten Dorf inmitten der Polderlandschaft der niederländischen Provinz Brabant. Das Elektrizitätswerk sorgt für Arbeit, Wärme und Essen, der Glaube dafür, dass alles einen Sinn zu ergeben scheint. Auch für Anne, die von den anderen „die Stille“ genannt wird, weil sie meist schweigt, wenn sie mit dem Rest der Dorfjugend die langen Wege unter den Strommasten entlang radelt, kilometerlange Felder bis zum Fluss, der sich am Kühlturm entlang schlängelt und deshalb – vielleicht? – verseucht ist. Die Teenager kümmert es nicht, viel wichtiger ist es, im richtigen Moment zu grüßen und in den anderen Momenten angepasst zu sein. Trinken, randalieren, flirten. Ein ganz normaler Sommer am Ende der Pubertät. Normal ist auch, dass der Onkel die Tante prügelt, die dafür bemitleidet und verachtet wird, bis sie einen Schlussstrich zieht. Normal ist ihre besessene Tochter, die Marienstatuen sammelt und ihnen täglich neue Blutstränen in die Augen reibt. Normal ist, dass ein Mädchen, das vom Pferd fällt, dem Bauernknecht gehört und ihren Vergewaltiger dann – schwanger und im Austausch gegen eine Kiste Äpfel – heiratet. Normal ist jugendliche Rotzigkeit, sind Spitznamen, wie sie in weiten Teilen der Niederlande noch gesellschaftlich akzeptiert sind, wie „der Neger“, „der Schieler“ oder „der Scheißmongole“. Normal ist, dass Männer stinken. Sagt zumindest Annes Vater. Ihre Mutter (Willemijn van der Ree) sagt wenig, sie jammert mehr. Seit sie ihr eigenes Dorf gegen das Nachbardorf eingetauscht hat, der Liebe wegen, ist sie unglücklich. Der Elektrosmog sei daran schuld, sagt sie, an ihrem Unglück – daran, dass Annes kleiner Bruder (Pepijn van Putten) behindert ist, und daran, dass in der Erde, im Schatten des riesigen Kühlturms, nichts gedeihe. Ihr Ehemann schenkt ihr zu ihrem Geburtstag einen Haufen Heimaterde, abgegraben an ihrem Geburtsort, einige Kilometer die Straße runter. Als Annes älterem Bruder „De Peer“, („Die Birne“, Martijn Lakemeijer) alles zu eng wird, beschließt er, auszuziehen. Er kommt bis in den Fahrradschuppen. Doch wie so oft ist es die eine, kleine Veränderung, die weitere nach sich zieht. Sagt zumindest Anne, die im Film kaum spricht, aber im Voice-over ihre Version der Geschehnisse schildert. Die größte Veränderung in Annes Sommer ist Lena (Jade Olieberg), die aus der großen Stadt mit ihrer Mutter auf das Land zieht, in das Dorf, in dem man Zugezogene nicht mag, sicher keine gelähmten Künstlerinnen wie Lenas Mutter und sicher keine Lesben wie Lena selbst. Lena ist cool, stylisch, tough. Sie hat störrische Locken und tankt ihr Motorrad an der Tankstelle voll, an der „die Stille“ den Sommer über jobbt. Aus „der Stillen“ wird Anne und Anne ist verliebt. Die Szene, in der sie das Haus von Lenas Mutter beobachtet, in der sich ihr blondes Haar langsam aus dem blonden Getreide schiebt, über die Sichtgrenze, um besser sehen zu können, könnte metaphorischer nicht sein. Denn einer der Lehrsätze, mit denen Kinder in den Niederlanden (und nicht nur dort) aufwachsen, ist folgender: „Wer seinen Kopf aus dem Feld streckt, dem wird er abgeschnitten.“ Symptomatisch für vieles, aber ganz so schlimm kommt es nicht. Annes Liebe zu Lena löst Probleme aus, aber viele dieser Probleme scheinen unabhängig von der Gleichgeschlechtlichkeit der beiden jungen Frauen zu sein. Und bis auf den kurzen Moment der Verunsicherung, in den Anne nach dem ersten Kuss gerät, zeigt auch sie selbst erstaunlich wenig Verwirrung ob des Geschehens. Weniger Zweifel als vermutet, weniger innere Zerrissenheit, zum ersten Sex kommt es beinahe unglaubwürdig schnell und hinterfragt wird wenig. Ist das wirklich so in den Niederlanden, die noch immer von ihrem Ruf als progressives, tolerantes Land zehren, den sie sich in den Acht-
zigern des letzten Jahrhunderts aufgebaut haben? Ist das so in einem Dorf, in dem der Katholizismus noch immer die Zügel in der Hand hält, in dem Frauen selbst schuld sind, wenn sie schwanger werden und geschlagen? Kann eine lesbische Liebe zwischen einer blonden Landschönheit und einer Städterin of Color wirklich so relativ unbelastet ablaufen? Die Kids werfen Eier an die Fenster des Hauses, in dem Lena wohnt, aber das ist nur Fremdenhass. Fremd gleich Nichtvon-Hier, fremd gleich anders. Hautfarbenunabhängig und unabhängig von der sexuellen Orientierung, wie es scheint. Zum Anderssein reichen das Nachbardorf und ein anderer Dialekt.
Es geht nicht um ein Coming-Out, sondern um das existenzielle Anderssein im Mikrokosmos Und genau darum geht es in „Zomer“. Es geht nicht um ein ComingOut, sondern um das existenzielle Anderssein im Mikrokosmos, um das Ausbrechen, das Es-nicht-mehr-Aushalten, die Enge in der Brust und die Weite des Lebens, die Verlegenheit der Pubertät und ihre Leichtigkeit. Diese unaufgeregte Zeichnung des Coming-of-AgeSommers, den Anne durchlebt, verleiht der Geschichte etwas Berührendes. Kein Drama, kein Schnickschnack, sondern getragene, klare Bilder in ausgeblichenen Siebziger-Jahre-Farben, wenig Worte und darunter viele, die man besser nicht verstehen will, weil sie derb sind, grob, entlarvend. Die Bildsprache der Regisseurin Colette Bothof („Zwarte Zwanen“) ähnelt der des niederländischen Filmemachers Alex van Warmerdam („De Noorderlingen“, „Abel“) und setzt dabei die Tradition des niederländischen Arthouse konsequent fort. Im Mittelpunkt der Inszenierung steht die Spielkraft der Protagonistinnen und Protagonisten, das Minenspiel, die Energie, die Beklommenheit. Es erstaunt wenig, dass gleich drei der Schauspielerinnen und Schauspieler 2014 für das „Gouden Kalf“, den Preis des Nederlands Film Festival, nominiert waren. Ein wenig bleich bleibt die Figur der Anne. Mag sein, dass das an der Dramaturgie liegt, denn hin und wieder verliert die Regisseurin das Gebot „Show, don’t tell“ aus den Augen, und dann muss Annes Stimme eben doch erzählen, wie es ihr geht, was sie fühlt, vielleicht aus Angst, dass das Zeigen nicht ausreicht. Was dazu führt, dass die Zuschauenden hören, aber nicht fühlen, nachfühlen, mitfühlen. Darüber hinaus zeigt Bothof viel Fingerspitzengefühl. Weder banalisiert, noch romantisiert sie, aber inmitten ihrer wundervollen goldschimmernden Bilder gibt es einen Bruch: Der Realismus, mit der das Dorfleben gezeichnet wird, verliert sich in der Liebesbeziehung zwischen Anne und Lena. Welches junge Liebespaar, eine davon vollkommen unerfahren, tanzt ausgelassen halbnackt im „Heupolder“ und hat danach den ersten Sex, wenn zuvor ein Rudel Halbwüchsiger um sie herumstand, sie beschimpfte und sexistisch erniedrigt hat? Der Film, der sich insgesamt durch eine ausnehmend spannende und detaillierte Beobachtung der dörflichen Szenerie auszeichnet, verliert an dieser Stelle an Glaubwürdigkeit. Vermutlich ist es eine Art Schutz, den Bothof ihren Protagonistinnen angedeihen lassen möchte, ein Ideal, das sie dem Realismus entgegensetzen möchte, und so verständlich das ist: Der Film erhält an dieser fragilen Stelle einen bedauerlichen Riss. Und doch ist der Film stark genug, diesen Riss zu verkraften. Er zeichnet ein Abbild der modernen dörflichen Niederlande, das Abbild einer Jugend auf dem Land, das Abbild eines Sommers. Die gelegentlich zynische, gelegentlich komische Milieustudie beweist typisch niederländischen Humor, glänzt durch die Musik des SingerSongwriters Jacco Gardner, durch kraftvolle Schauspielerinnen und Schauspieler und durch seine bezaubernden und manchmal surrealen Bilder. „Zomer“ ist ein Geschenk. s SISSY 27 13
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Die Abenteuer des Sir Gay im wilden Land der Mexikaner VON F R ITZ G Ö T T L E R
Film ist ein Medium, das viel zu reich ist, um es den Geschichtenerzählern zu überlassen, sagt Peter Greenaway. Kein Wunder, dass Sergej Eisenstein als Verbündeter in der kontrollierten Bilderrauschproduktion sein großes Vorbild ist. Greenaways Spielfilm über Eisenstein ist deshalb auch ein Versuch über visuelle Intelligenz, über das wilde Assoziieren und die Lächerlichkeit von selbstauferlegten Grenzen – an die „Eisenstein in Guanajuato“ nicht zuletzt mit dem Novum rüttelt, den Meisterregisseur als praktizierenden Homosexuellen zu zeigen, der sich beim Filmdreh in Mexiko nicht nur der kulturell codierten Sinnlichkeit, sondern auch seinem attraktiven und hilfreichen mexikanischen Führer lustvoll hingibt. Eine Ohrfeige für Putin, freute sich die westliche Filmpresse. Doch ist Greenaways Annäherung an sein Vorbild viel zu intim und viel zu komplizenhaft, um es zur bloßen Skandalnudel zu machen.
s Eisenstein kotzt, bald nach seiner Ankunft in Mexiko, er beschmutzt dabei seine schwarzen Schuhe, die er eben erstmals von einem Schuhputzer behandeln ließ – eine völlig neue Erfahrung für den jungen Mann aus dem Arbeiter- und Bauernstaat der UdSSR . Es ist kein vorteilhaftes Bild, das er da abgibt, zu Beginn des neuen Films von Peter Greenaway, „Eisenstein in Guanajuato“. Zu viel Alkohol, die schreckliche Hitze, die Überwältigung durch das fremde Land Mexiko, wo sich das Alte und das Neue auf verwirrende Weise überlagern, das Rationale und das Mystische, die Zukunft und die Vergangenheit. Dass er den großen Eisenstein, den vielbewunderten und -geliebten Filmemacher zu einer komischen Figur machte, hat man Greenaway mancherorts übel angekreidet, als sein Film dieses Jahr im Wettbewerb der Berlinale lief, wo er auf viel Missmut, Indignation oder einfach demonstratives Desinteresse stieß.
Zehn Tage, die Eisenstein erschütterten, so hat Greenaway ironisch seinen Film im Untertitel genannt, nach dem Titel, den im Ausland Eisensteins Film „Oktober“ erhalten hatte, der von der Oktoberrevolution in Russland erzählt: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, nach dem Buch von John Reed. Die Erschütterung für Eisenstein ist kulturell, und dann plötzlich auch sexuell. Er will in Mexiko den Film „Que viva México!“ drehen, einen Kinogesang auf das Leben und die Lebendigkeit, die man in diesem Land nur über den Tod findet. Also sucht er in Guanajuato das Museum der Mumien auf und zieht durch den mexikanischen Karneval, das große Fest der Toten. Dem Tod ist der Filmemacher Peter Greenaway von Anfang an mit Besessenheit hinterher. Sein Film „Act of God“, 1980, präsentierte Menschen, die einen Blitzschlag überlebt hatten, und sein ers14 SISSY 27
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Es lebe Mexiko
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ter Spielfilm „The Draughtsman’s Contract“ erzählt von einem Maler, der in naiver Ahnungslosigkeit auf seinen eigenen Tod hinarbeitet und -zeichnet. Im Eisenstein-Film kommt der Tod erst mal sublimiert daher, in den bekannten Formen von Sex und Traum. Der große Künstler wird penetriert, er geht mit einem Mann ins Bett und verliert seine Unschuld.
Carry on Eisenstein Ja, Greenaway kann ein rechter Grobian sein, er profitiert gern vom Ikonoklasmus, und sein Eisenstein erinnert an die wilden BiopicOrgien von Ken Russell – die Analyse modernen Künstlerlebens in Carry-on-Klamottenform. Der russische Filmkünstler Eisenstein ist innerhalb weniger Jahre mit drei Filmen zu einem Darling der Filmkritik und des Publikums geworden: „Streik“, „Panzerkreuzer Potemkin“, „Oktober“. Die Russenfilme machen Furore in aller Welt. Nun darf Eisenstein in diese Welt hinaus, um das Wunder der Sowjetkine matographie zu erklären und womöglich selbst Filme auswärts zu drehen. Die neue Kunst zu lernen und auszuprobieren, die des Tonfilms. Er versucht seine eigene Position zu definieren unter den Denkern und Künstlern, zwischen Cocteau, Chaplin, Buñuel und Joyce. In Berlin besucht er den Dreh zu Sternbergs „Der Blaue Engel“. Sie war ziemlich blöd und dumm, sagt er von Marlene, auf Deutsch. In Berlin und Paris hält er Vorträge, die von Massen besucht werden, und später in Hollywood bietet man ihm diverse Filmprojekte an. Aber die Differenzen sind zu groß, zwischen Eisensteins Konzepten und dem kapitalistischen Studiobetrieb. Also zieht Eisenstein Anfang der Dreißiger los, um einen Film über das Mysterium Mexiko zu drehen, in einem Crowdfunding-Verfahren finanziert vom erfolgreichen Schriftsteller Upton Sinclair. Eisenstein dreht Kilometer Material, aber wird den Film nie fertigstellen. Er muss zurück nach Moskau, das Material bleibt bei Sinclair. Eisenstein dreht in Stalins Sowjetunion „Alexander Newski“ und „Iwan der Schreckliche“. Am 16 SISSY 27
Schluss des Films legt Eisenstein Gabeln zu dem berühmten Muster jenes Spiels, das in Alains Resnais’ „L’année dernière à Marienbad“ die Männer spielen. War alles Traum in Guanajuato?
Die jungen Matrosen Greenaways Held ist in den zehn eisensteinerschütternden Tagen ein Naiver, ein Argloser im Ausland. Der Finne Elmer Bäck verkörpert ihn, ungelenk, radebrechend, clownesk, mit nicht zu bändigender Mähne. Nicht besonders strapazierfähig, und infantiler und unreifer, als das Original gewesen sein mag. Man mag diese Art despektierlich finden, aber sie entspricht doch dem Denken, das sich in Eisensteins Texten entwickelt. Das in immer neuen, atemraubenden Wendungen hin- und zurückschwenkt zwischen den Sprachen und den Kulturen, zwischen Malerei und Musik, Literatur und Philosophie. Eine gewaltige Lust auf Neues, ein wahrlich revolutionärer Geist. Sein Interesse an Männern ist verbürgt, durch Briefe, an seine Frau Pera Atasheva, und durch die Filme – all die Matrosen im Potemkin, die jungen Revolutionäre im Kampf ums Winterpalais in „Oktober“. „Sir Gay“ hat der junge Eisenstein seine Zeichnungen signiert, ein verklausuliertes „Sergej“. In Guanajuato verliert der schüchterne, unsichere Eisenstein seine Unschuld, auf einem Hotelbett, das wie ein Art-Déco-Altar aufgebaut und erleuchtet ist, in einer langsamen und würdig-grotesken Zeremonie, die sachgerecht durchgeführt wird von seinem Führer in der Stadt, Jorge Palomino y Cañedo, gespielt von Luis Alberti. Der Künstler, der sich auf seinen dunklen Wegen zu sich selbst einem Guide anvertraut, das Dante-und-Vergil-Modell. Die Liebe erscheint in diesem Akt ganz natürlich und kunstvoll zugleich, eine Installation. Señor Prick, behave, sagt Eisenstein fröhlich.
Die Geister des Unrealisierten Ich bin nicht so sicher, sagt er später, dass man sich an die Filmemacher erinnern wird. Der Schatten des Versagens, der Unfruchtbar-
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keit liegt über dem Film. Viktor Schklowski über Eisensteins letzte Wohnung im Jahr 1948, in seiner wunderbaren, wunderlichen Eisenstein-Biografie: „Sergej Michailowitsch kannte seine Wohnung. Das Echo der leeren Zimmer. Er kannte die Welt seiner Einsamkeit … An den Wänden stehen weiße Stellagen mit Büchern. Auf den Brettern Bücher mit sauberen Lesezeichen; man sieht gleich, dass sie säuberlich nach bestimmten Themen geordnet sind. Sie sind die Samen nicht zu Ende geschriebener Drehbücher und die Spuren nicht verwirklichter Filme. Die Wohnung ist voll von deutlichen, traurigen Geistern des Unrealisierten.“ Eisenstein starb mit fünfzig, 1948, aber sein Tod ist schon präsent in Greenaways Film. Der Tod skandiert seine Präsenz durch metallische Schläge. Nochmal Schklowski: „Unter Eisenstein wohnte der Kritiker Ilja Vajsfeld mit seiner Familie. Eisenstein hatte neben dem Heizkörper einen Schraubenschlüssel liegen. Es war abgemacht, dass, wenn Sergej Michailowitsch wieder eine Herzattacke haben würde, er oder Tante Pascha mit dem Schraubenschlüssel gegen die Dampfheizung schlagen sollte. Es würde dann jemand kommen. In der Nacht vom 10. auf den 11. Februar erdröhnten die Heizungsrohre. Man eilte nach oben. Man klopfte, aber es war zu spät. Sergej Michailowitsch hatte nicht den ersten Infarkt gehabt …“
Das Wohlleben des Karnevals Der Tod gibt auch den Schritt vor im „Potemkin“, den Marsch- und den revolutionären Gang. Die Lust und der Tod, in der Auflösung finden sie, auch bei Eisenstein, ihr Ziel. An die außerordentliche Empfindung der Linie als Prozess, der Linie als Weg, erinnert sich Eisenstein in seinem Text „Wie ich zeichnen lernte“. Am Ende von Greenaways Film umschlingen in einer Rückprojektion seine Zeichnungen die handelnden Figuren. Zeichnungen, die sich unter dem Einfluss der alten mexikanischen Kunst erregend abstrahiert haben, Körper, ineinander verschlungen, liebend, mörderisch, bis sie auch organisch eins geworden sind. Und transparent auf den Tod zu. Schon in seinem Film
„Oktober“ hat Eisenstein versucht, die Formen – die das historische Geschehen nicht zu fassen imstande waren – aufzulösen in eine neue visuelle Konzentration, inspiriert von der Technik von Joyces „Ulysses“ und den Traumdeutungen der Psychoanalyse. Bilder sollten das werden, die man in die Tiefe lesen muss, wo sie in ihrer Vielschichtigkeit die progressive Erzählung zerstieben lassen. Das Wohlleben des Karnevals ist grausam, schrieb Schklowski, davon handelt auch Greenaways Film. Es war die Burleske, zu der Eisenstein am Ende seines Denkens und Filmens am liebsten zurückkehren wollte, von der er ausgegangen war, in seiner Liebe zu Méliès und Disney, zum Slapstick. „Man sollte“, schreibt Frieda Grafe, „in Anbetracht von Eisensteins ganzem Werk immer beherzigen, was er mit Hinweis auf die Skizzen von Leonardo da Vinci, untermauert von einem Zitat von Lord Byron, empfahl: den Entwürfen und Versuchen mehr Aufmerksamkeit zu schenken und mehr Glauben als den vollkommenen, unterm Glanz ihrer Perfektion erstarrten Werken.“ Endgültige Perfektion gebührt am Ende nur dem Tod. Einmal wird Eisenstein in der Kunst der Siesta unterwiesen, die sie in Mexiko so gut beherrschen. Die Weiße der Leintücher ist wichtig, sie garantiert die Traumlosigkeit des Schlafes. In solchem Schlaf betrügt man den Tod. s
EISENSTEIN IN GUANAJUATO
von Peter Greenaway NL/MX/FI/BE 2014, 105 Minuten, deutsche Synchronfassung, OmU, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der Gay-Filmnacht im
November, 3 www.Gay-Filmnacht.de Kinostart: 12. November 2015
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WOLF IM SCHAFSPELZ VON A L E X A N DR A SE ITZ
Der Duke of Burgundy ist nicht etwa die einzige männliche Figur im neuen Spielfilm von Peter Strickland, sondern der Name eines Schmetterlings, hamearis lucina, deutsch „Schlüsselblumen-Würfelfalter“. Er ist ein eher nebensächliches Objekt des Interesses zweier zusammen lebender Insektenforscherinnen, deren rigider, durchperfomter Alltag ansonsten von abgründigen Leidenschaften geprägt ist. Ganz grundsätzlich ist in diesem Film nichts so, wie es auf den dritten Blick erscheint.
DUKE OF BURGUNDY
von Peter Strickland UK 2014, 106 Minuten, englische OF mit deutschen UT, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO in der L-Filmnacht im November,
3 www.L-Filmnacht.de
Kinostart: 3. Dezember 2015
s Ach so verführerisch beginnt es. Eine junge Frau, ein plätscherndes Bächlein, ein sonnendurchfluteter Laubwald. Eine Fahrradfahrt übers idyllische Land; Wiesen, Felder, ein heimeliges Städtchen mit stattlichen alten Häusern, friedliche, heile Welt. Immer wieder friert das Bild ein, färbt sich mal blau, mal grün, mal rot, mal gelb, zeigt Credits, gibt erneut Bewegung frei. Die Fahrradfahrerin ist inzwischen vor einem herrschaftlichen Anwesen angekommen. Sie steigt ab, sie ordnet ihre Kleider, sie klopft an die Tür. Erwartungsvolle Stille breitet sich aus. Mit ihren kolorierten Freeze-Frames zitiert die Titelsequenz von Peter Stricklands „Duke of Burgundy“ das Kino der Siebziger Jahre, insbesondere das italienische und insbesondere ein SoftcoreExploitation-Subgenre, das sich mit Lack, Leder, Sado-Maso (so hieß das damals noch) und Lesbianismus halb schaudernd, halb fasziniert beschäftigte. Seinen körperlich konkreten Ausdruck fand das genussvoll ausgemalte, perverse Treiben seinerzeit in der lesbischen Vampirin. Denn der Schwester Graf Draculas war gestattet, was für einen männlichen Vampir nicht vorstellbar war: Sie konnte in Reizwäsche herumlaufen und solcherart das nicht nur dezent erotische, sondern offen sexuelle Potenzial des Bisses in den Hals mit anschließender Überwältigung, Ekstase und Erschöpfung augenscheinlich machen. Cynthia und Evelyn, die Protagonistinnen von „Duke of Burgundy“, sind allerdings keine Vampirinnen. Sie sind Entomologinnen 18 SISSY 27
mit Forschungsschwerpunkt Lepidopterologie, d.h. sie beschäftigen sich mit Insekten, bevorzugt Faltern. Mit nachtaktiven Flatterwesen bekommt man es also auch hier zu tun. Aber die Transformationsphasen, die ein Schmetterling im Laufe seines Lebens durchläuft, dienen Strickland eher als metaphorischer Ausdruck für a) die Schichten seines Films und b) die Ebenen der Beziehung zwischen Cynthia und Evelyn. Doch der Reihe nach. Nachdem Cynthia Evelyn die Tür geöffnet und sie herein gebeten hat, läuft zwischen den beiden ein geradezu klassisches Rollenspiel ab: Evelyn putzt und wäscht, während Cynthia kommandiert und mäkelt. Für ihre (imaginären) Verfehlungen wird Evelyn schließlich von Cynthia bestraft, was auf beiden Seiten zur (sexuellen) Entspannung führt. Soweit, so simpel. Cynthia dominiert die unterwürfige Evelyn, Sadistin trifft Masochistin, alles ist gut. Es dauert allerdings nicht lange, bis Strickland die ersten Stolpersteine legt, die Zuschauerin sich aus der Exploitation-Rezeptionshaltung, in der sie es sich bereits bequem gemacht hatte, unsanft heraus gerissen und gedanklich herausgefordert sieht. Da ist ein Brieflein mit einer Handlungsanweisung – „lass mich mindestens 30 Sekunden, jedoch nicht länger als 5 Minuten vor der Tür warten“ –; da ist Cynthia, die wie unter Zwang große Gläser Wasser in sich hinein schüttet; da ist Evelyn, die aufhört, Stiefel zu putzen, und ungedul-
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dig nach der Terrassentür und dem Auftritt ihrer Herrin schielt, ja, schließlich sogar klopft; da ist das Unbehagen in Cynthias Blick und die Erleichterung, mit der sie sich am Abend ihrer Perücke entledigt. Was zunächst nach Handel aussieht, nach (möglicherweise gekaufter) Dienstleistung, nach sexueller Ausbeutung und Lust an der Grausamkeit – also nach all den billigen Vergnügungen, die Strickland mit seiner stilistischen Bezugnahme auf das Exploitationkino der Siebziger Jahre heraufbeschwört – all dies wird in dem Moment zu einem komplizierten und komplexen Mechanismus, der auf einer ernsthaften und ernst genommenen Liebesbeziehung zwischen den beiden Frauen aufbaut. Es ist dies ein dramaturgisches Verfahren, das Strickland auch in seinen beiden vorangegangenen Filmen – dem 2009 im Wettbewerb der Berlinale uraufgeführten Erstling „Katalin Varga“ und dem 2012 auf zahlreichen Festivals reüssierenden „Berberian Sound Studio“ – angewendet hat. Im einen Fall bedient er sich der Elemente des Rachethrillers, im anderen jener des Giallo, um im kunstvollen Spiel mit den vertrauten Genres und deren sattsam bekannten Regeln etwas durchaus Neues und nicht minder Unterhaltsames zu erarbeiten. Dabei beschränkt er sich nicht einfach auf die schwelgerische Re-Kreation eines überzeugenden Retro-Looks (die ja beispielsweise das analoge Tonstudio in „Berberian Sound Studio“ zu einem Schauwert an sich macht), und auch die ihr Camp-Potenzial
abfeiernde, immer ein wenig überhebliche Haltung gegenüber den Unzulänglichkeiten des gewählten Gegenstandes ist seine Sache nicht. Respektvoll im Umgang mit den je spezifischen stilistischen Ausdrucksformen und visuellen Erzählstrategien geht Strickland dem Genre auf den Grund, er fühlt ihm auf den Zahn, er vertieft und psychologisiert, er erweitert behutsam die Möglichkeiten, indem er ungeahnte Perspektiven eröffnet – und schließlich sprengt er kurzerhand die Grenzen. Ebenso wie der arme Toningenieur Gilderoy in „Berberian Sound Studio“ die Orientierung verliert, irrt bald auch die Zuschauerin von „Duke of Burgundy“ durch ein Spiegelkabinett der Projektionen und Begierden. Wie sich nämlich herausstellt, ist Cynthia nicht wirklich dominant veranlagt, und die Unterwerfungsspiele mit Evelyn sind eigentlich überhaupt nicht ihr Ding, sondern nur deren Wunsch. Und Cynthia spielt eher notgedrungen mit, weil sie Evelyn liebt und weil sie Angst hat, diese könnte sie sonst enttäuscht verlassen. Wer hat in dieser Beziehung nun also die stärkere Position inne? Und wie gehen die beiden Frauen mit ihren unterschiedlichen Interessenslagen und dem damit zusammenhängend immer deutlicher zutage tretenden Machtgefälle um? Was Strickland hier wie nebenbei gelingt, ist das Kunststück, einen gegenwärtigen BDSM-Diskurs in einen altmodisch anmutenden Film einzuschleusen und dabei beides intakt zu lassen: die Tragweite des Konflikts und die Frivolität der Form. Dabei kommt den Schauspielerinnen die zentrale Funktion der Erdung zu. War es also in „Berberian Sound Studio“ Toby Jones, der in der Rolle des Toningenieurs mit seinem herzerweichenden Spiel den Film emotional verankerte, so ist es hier Sidse Babett Knudsen (den meisten wohl als Premierministerin Birgitte Nyborg aus der dänischen Fernsehserie „Borgen“ bekannt), die „Duke of Burgundy“ im Menschlichen verwurzelt. „Ich brauche eine Gebrauchsanweisung für die Hälfte der Klamotten, die Du mir kaufst“, beschwert sie sich einmal bei Evelyn. Zunehmend überfordert kämpft sie sich tapfer in das Schnürmieder, sie stöckelt trotz Rückenschmerzen durch die Zimmer, sie hält sich beim Ausziehen an die Fußboden-Markierungen, damit Evelyns Blick durchs Schlüsselloch befriedigend ausfällt. Doch sichtlich blümerant wird ihr, als die auf SM-Zubehör spezialisierte Zimmersfrau den Erwerb einer „human toilet“ vorschlägt und Evelyns Augen zu leuchten beginnen. Wie viel lieber würde Cynthia, statt mit High Heels und Strapsen auf dem Gesicht ihrer Liebsten zu sitzen, im schlabbrigen Schlafanzug auf dem Sofa mit ihr schmusen. Was tut man nicht alles für die Liebe! Das Dilemma entbehrt nicht einer gewissen Komik, billige Witze aber erlaubt sich Strickland nicht. Der Schalk versteckt sich ebenso im Detail, wie die Schaufensterpuppen im Hörsaal, in dem Cynthia einen ihrer Vorträge hält. Er blitzt auf in den Credits, die neben der Kostümverantwortlichen auch die Zuständige für Unterwäsche nennen sowie das verwendete Parfum. Gelistet werden zudem alle auftretenden Insekten jeweils mit volkstümlichen und wissenschaftlichen Namen sowie die zu Gehör gebrachten Faltergeräusche inklusive technischer Details und äußerer Umstände der jeweiligen Tonaufzeichnung. Und während des gesamten Films huscht kein einziger Mann auch nur sekundenkurz durchs Bild. Was das soll? Das kann Exzentrik sein. Es können aber auch die Koordinaten des Imaginären sein; sie bezeichnen einen filmischen Raum, der weder örtlich noch zeitlich genau festgelegt ist, der vielmehr aus Gerüchen und Geräuschen, Leidenschaften und Sehnsüchten zusammengesetzt ist. Darin wird erzählt von der innigen Zuneigung zweier Frauen, deren differierende Begehren ein gemeinsames Glück erschweren, ja, möglicherweise sogar unmöglich machen. Es ist eine Geschichte voller Mitgefühl, gesättigt mit Melancholie, aufrichtig und genau – und in ihrem ungewöhnlichen Genre-Gewand eine schöne und kostbare Schmuggelware. s SISSY 27 19
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DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER
von Lars Kraume DE 2015, 105 Minuten, deutsche OF, Alamode Film, 3 www.alamodefilm.de IM KINO ab 1. Oktober 2015, 3 www.derstaatgegenfritzbauer.de
AL AMODE FILM
„Der Jude ist schwul“ VON SA SCH A W E ST PH A L
Nicht versöhnt: Lars Kraumes Politthriller „Der Staat gegen Fritz Bauer“ bedient sich Elementen des Melodrams, um das Bild eines deutschen Helden der Nachkriegsgeschichte, der u.a. den Ausschwitz-Prozess ermöglichte, um das eines Opfers zu erweitern, das durch den in der BRD beibehaltenen Paragraphen 175 erpressbar wird.
„Monströse Verbrechen haben die Eigenschaft, sagte Fritz Bauer, daß sie, sobald sie in die Welt treten, für ihre Wiederholung sorgen.“ Alexander Kluge: „,Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter‘ – 48 Geschichten für Fritz Bauer“
„Komm, lass es uns bis auf die Spitze treiben, Solange wir inkognito bleiben“ „Inkognito“ von Julian Maas, Christoph M. Kaiser, Ali Zuckowski
s In der letzten Einstellung, bevor einige Texteinblendungen die Erzählung abschließen, steht der von Burghart Klaußner gespielte Fritz Bauer noch einmal vor der schwarz-weiß gemusterten Tapete in seinem Büro. Die zu Fäusten geballten Hände hat er auf den Schreibtisch aufgestützt, den Kopf ein wenig vorgestreckt blickt er 20 SISSY 27
aus dem Zentrum des Bildes direkt in die Kamera. Er setzt noch einmal ein Zeichen. Die kämpferische Haltung verleiht seinen Worten, mit denen er seinem direkten Untergebenen, dem Oberstaatsanwalt Ulrich Kreidler, entgegentritt, Nachdruck. Es liegt auch eine Drohung in diesem Bekenntnis. Bauer wird nicht aufgeben. Er wird den Weg, den er seit Jahren verfolgt, weitergehen und sich auch von Kreidler nicht aufhalten lassen. Was folgt, ist bekannt. Im Dezember 1963 wird der unter Fritz Bauers Leitung vorbereitete erste Auschwitzprozess vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main eröffnet. Das System des Schweigens und Verdrängens bekommt Risse. Fortan ist es nicht mehr so einfach, die Augen vor den deutschen Verbrechen zu verschließen. Ein später und unter größten Widrigkeiten errungener Erfolg für den hessischen Generalstaatsanwalt, der als Sozialist und Jude 1933 selbst acht
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Monate im KZ gewesen war, und 1936 schließlich nach Dänemark emigrieren konnte. Doch der Weg zu diesem Sieg ist der Stoff eines anderen, weitaus simpler angelegten Films, Giulio Ricciarellis „Im Labyrinth des Schweigens“. Am Ende von Lars Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer“ ist der Generalstaatsanwalt eben kein Sieger. Sein streiterisches Auftreten hat einen hohen Preis, den er gerade erst, während seines Zusammentreffens mit Kreidler, gezahlt hat. Gegen seine innerste Überzeugung musste er dem Oberstaatsanwalt zubilligen, den anstehenden Prozess gegen seinen Vertrauten Karl Angermann mit genau der Härte zu führen, die Kreidler unter Berufung auf den Paragraphen 175 als angemessen erachtet. Er, der sich niemals mehr der Tyrannei beugen wollte, der immer noch darunter leidet, dass er einst im KZ seinen sozialistischen Idealen in einem Brief öffentlich abgeschworen hatte, kann gar nicht anders. Er muss bei der beruflichen und gesellschaftlichen Vernichtung seines Freundes Angermann zusehen, wenn nicht alles vergebens sein soll. Am Paragraphen 175 kann der Einzelne, selbst wenn er Generalstaatsanwalt ist, in den späten 1950er Jahren nur scheitern. Monate zuvor hatte Bauer dem jungen Angermann, der gegen den Schwulenparagraphen, der von den Nationalsozialisten noch einmal verschärft worden war, rebellieren wollte, im Gespräch an das 1957 ergangene Urteil des Bundesgerichtshofs erinnert, demzufolge dieses „Gesetz keine typisch nationalsozialistische Weltanschauung“ repräsentiert. Die Kontinuitäten reichen weit über das Jahr ’33 bis ins Kaiserreich zurück. Dennoch lebt, und das wissen Bauer und der innerlich zerrissene, von seinen Leidenschaften verunsicherte Angermann ganz genau, in der menschenverachtenden Unrechtssprechung auf der Basis dieses Paragraphen das Denken und die Mentalität des Dritten Reichs weiter. „Der Schoß ist fruchtbar noch“, heißt es bei Bertolt Brecht. Bei Kraume muss aber gar nichts groß heraus kriechen. Es ist alles noch da, vielleicht ein wenig überdeckt, aber von einer derart dünnen Schicht demokratischer Erde, dass nichts wirklich verborgen liegt. Die Realität im Wirtschaftswunderland der späten 1950er Jahre, das ist zum einen die weiße Postkarte, die an den „Herrn Dr. jur. F. ISRAEL BAUER“ adressiert ist und auf deren Rückseite nur zwei unterstrichene, mit drei Ausrufezeichen versehene, maschinengeschriebene Worte stehen: „ JUDE VERRECKE!!!“. Aber zumindest prangt auf der Drohpostkarte eine Europa-Briefmarke. Der anonyme Schreiber weiß genau, auf welcher Seite die Bundesrepublik steht und wer schützend die Hand über die neuen, in Wahrheit aber alten Eliten des Landes hält. Nachdem Bauer die Karte gelesen hat, zoomt Kraume extrem schnell auf Klaußner zu. Es ist ein Moment absoluter Klarheit, in dem das Leben ins Taumeln gerät. Der Schock der Erkenntnis sitzt tief, nicht nur bei Bauer, der die deutsche Wirklichkeit nur zu gut kennt. Später gibt es dann noch einmal einen ähnlichen Zoom. Der Generalstaatsanwalt hat sich bereit erklärt, in einer Fernsehshow die Fragen junger Deutscher zu beantworten. Nun kommt die Fernsehkamera fast wie eine Waffe auf ihn zu. Kraumes Zoom verstärkt die Bedrohung, potenziert sie. Wieder einmal wird Bauer bedrängt. Deutschland ist trotz seiner Stellung für ihn weiterhin Feindesland. Und so sind die Glückwünsche und Gratulationen am Tag nach der Fernsehsendung vielleicht sogar noch schlimmer als die Flut der Drohbriefe, die sich nun über ihn ergießt. Jedes Lächeln und jede joviale Geste betont nur Bauers Isolation, seine Einsamkeit. Die „Jude verrecke“-Postkarte ist die eine, die heimliche Seite der bundesrepublikanischen Welt. Der Antisemitismus muss anonym bleiben. Für die homophoben Überzeugungen gilt das allerdings nicht. Das Rumoren, das durch den Gerichtssaal geht, ist kurz davor, sich zum Tumult auszuweiten. Der junge, von Ronald Zehrfeld verkörperte Staatsanwalt Angermann hat etwas Unerhörtes gewagt. Im Prozess gegen den ehemaligen Medizinstudenten Johann Kraus, der
wegen homosexueller Prostitution und wechselseitigem Onanieren vor Gericht steht, hat er eine Strafe von fünf D-Mark gefordert, eben die fünf D-Mark, die Kraus mit diesem verbotenen Akt verdient hat. Ein solch salomonischer Strafmaßvorschlag provoziert das Entsetzen wie den Zorn der anwesenden Zuschauer und Juristen. So etwas lässt sich nicht mit ihrem Empfinden vereinbaren, und in dieser Situation können sie all dem Hass, den sie ansonsten für sich behalten müssen, der sich nur anonym Bahn brechen darf, endlich öffentlich freien Lauf lassen. Der Paragraph 175 gibt ihnen schließlich recht, während die Nürnberger Rassegesetze, die Adenauers Kanzleramtschef und rechte Hand Hans Globke einst mitverfasst und anschließend kommentiert hatte, der Vergangenheit angehören. Der versteckte, aber immer noch allgegenwärtige Hass auf Juden und der offene, bei jeder sich bietenden Gelegenheit hervorbrechende Hass auf Schwule gehören in Lars Kraumes Porträt der 1950er Jahre untrennbar zusammen. Nicht zufällig kommentiert Oberstaatsanwalt Kreidler die Mitteilung, dass Fritz Bauer homosexuell ist, mit dem Satz: „Der Jude ist schwul.“ Angesichts der von einem kaum unterdrückten Lächeln auf den Lippen begleiteten Verachtung, die Sebastian Blombergs Kreidler in diese vier Worte legt, läuft es einem eiskalt über den Rücken. In dieser einen, voller Bedacht hingeworfenen Bemerkung offenbart sich das ganze Ausmaß der Kontinuität vom Dritten Reich in der Bundesrepublik. Und diese widerwärtigen Worte gehören längst nicht der Vergangenheit an. Die Linie zieht sich – davon zeugt Lars Kraumes anderer neuer Film „Familienfest“ – bis in die Gegenwart. In den Politthriller, der von Fritz Bauers Jagd auf Adolf Eichmann und dessen Entführung durch den Mossad erzählt, mischt sich das Melodrama zweier homosexueller Männer. Klaußners Bauer gibt seinem Begehren allem Anschein nicht mehr nach. Der Paragraph 175 und die allgemeine Stimmung in der Bundesrepublik zwingen ihn zu einem Leben in Einsamkeit und Verstellung. Seine Selbstbeherrschung und -kontrolle gehen so weit, dass er selbst eine harmlose Geste Angermanns nicht erträgt. Nachdem der junge Staatsanwalt ihm von der Begegnung mit der Transsexuellen Victoria (Lilith Stangenberg) erzählt, legt er seine Hand auf Bauers Unterarm, der sich diesem Moment der körperlichen Nähe sofort wieder entzieht. Das ist ein unendlich trauriger Augenblick, eines Films von Douglas Sirk würdig. Denn letztlich bleibt Bauer in seiner Situation gar nichts anderes übrig als diese Verleugnung. Angermann, der zögerlich, aber schließlich doch voller Hoffnung seinem Verlangen nachgibt, vertraut dem Versprechen, das in dem Song liegt, den Victoria bei ihren Auftritten in der Schwulen-Bar „kokett“ singt. Zumindest dort, an diesem verwunschenen Ort eines anderen, freieren Lebens, an dem junge Drag Queens und ältere Stützen der Gesellschaft über alle Grenzen hinweg zusammensitzen, sollte er sein dürfen, wer er wirklich ist. Angermann glaubt an das „Inkognito“, das Victoria wieder und wieder in ihrem Sprechgesang hinhaucht. Also treibt er es mit ihr bis auf die Spitze. Doch selbst in diesen scheinbar geschützten Raum reicht die Macht der Männer, die mit allen Mitteln die anderen inkognito Lebenden beschützen: eben jene SS -Männer und Mörder, die nun vom Wiederaufbau profitieren oder, wie Eichmann, im Ausland Zuflucht gefunden haben. Und so geht Angermann in die Falle, die der BKAMann Paul Gebhardt (Jörg Schüttauf) ihm und Bauer gestellt hat. Entrapment auf Deutsch: Um ihre große Liebe Johann Kraus zu retten, arbeitet Victoria mit Gebhardt zusammen. Der eine Augenblick der Ekstase, dem Angermann sich hingibt, macht ihn erpressbar. So wollen der BKA-Mann und sein Verbündeter, der Oberstaatsanwalt Kreidler, ihn dazu bringen, Bauer des Landesverrats zu beschuldigen. Melodram und Politthriller werden eins, und gemeinsam erweisen sich sie als Spiegel eines Landes, das, wie Bauer einmal sagt, noch jede Revolution in Restauration erstickt hat. s SISSY 27 21
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Landschaft der Jugend, der Sehnsucht VON SE BA ST I A N M A R K T
PERIPHER FILMVERLEIH
In einer postindustriellen Landschaft stellen sich Fragen nach der Zukunft unter Jugendlichen, die kurz vor dem Schulabschluss stehen, nochmal dringlicher. Und für eine Schülerin besonders, da sie einen Crush auf ihre neue Lehrerin entwickelt hat. Der atmosphärisch eigenwillige „Limbo“ ist der erste Spielfilm der dffb-Absolventin Anna Sofie Hartmann.
„wie schwer ist reden über diese räume“ Dante: „Die Göttliche Komödie“, erster Gesang
s I Nakskov ist eine Kleinstadt auf der Insel Lolland im Süden Dänemarks. Anna Sofie Hartmann ist dort aufgewachsen. Man kann davon ausgehen, dass sie sie gut kennt. Eine Werft, in der keine Schiffe mehr gebaut werden. Die langen Rotorblätter von Windturbinen, die dort jetzt hergestellt werden, und die, vertikal im Freien gelagert, immerhin noch eine bizarre Landschaft für jugendliche Projektionen hergeben. All das zeigt der Film. Zuckerrübenfelder, semifunktionale Industriearchitektur, Kleinstadtkneipen und die Leute, die in ihnen trinken, Backsteinhäuser, lange Fahrten über die ausdünnenden Stadtstraßen. Immer wieder, an entscheidenden Stellen, nimmt der Film sich Zeit, nimmt eine Abzweigung im Erzähllauf, widmet sich mit großer Ruhe und Interesse am Detail diesem Ort, der Zuckerproduktion, dem Rübenhacken, Rohsaftverdampfen, den Kontrollanlagen und -räumen, die an ein vage futuristisches Hightech-Labor erinnern. Man möchte das alles sehr genau erzählen, weil der Film es sehr genau damit nimmt. II Sie heißt Antigone und muss ihre Rolle durchhalten bis zum Schluss. Seit der Vorhang aufging, fühlt sie, dass sie sich von uns entfernt. Wir, die sie ruhig und sorglos anschauen und an diesem Abend nicht sterben müssen … Antigone ist das stille, magere Mädchen da drüben. Sie guckt ins Leere. Sie denkt, dass sie gleich Antigone sein wird. Die ersten Worte, die im Film fallen, sprechen Jugendliche, sie sprechen sie nicht in die Kamera, aber in Großaufnahme und so an ihr vorbei, dass man unweigerlich an ihre Anwesenheit denkt. Der abgesetzte kleine Prolog eines Chores löst sich wenig später auf in die Szenerie einer Schulklasse, die ein Stück einübt. Es wird viel diskutiert in dieser Theatergruppe, über Internetpornos und über Tizians Venus 22 SISSY 27
von Urbino, über Geschlechterbilder und wo sie herkommen. Langsam beginnt eine Geschichte: die von Sara, einer Schülerin kurz vorm Abschluss und an der Schwelle zu einem anderen Leben. Sie probiert Haltungen aus in der Theaterklasse, quatscht mit ihrer besten Freundin, lässt sich von ihr Locken drehen, macht sich fertig zum Ausgehen. In den Bildern ihres Alltags, die der Film mit einer Art zärtlichen Distanz schildert, stellt sich die Ahnung einer Anziehung ein, die sie an ihre Lehrerin Karen bindet. Sie ist allein mit dieser unmöglichen Sehnsucht und es gibt für sie zunächst keine Sprache. III Man kann all diese Elemente benennen und identifizieren: Landschaften (post-)industriellen Kleinstadtlebens, Räume adoleszenter Selbstentwürfe und unrealsierten Begehrens, Bilder davon, was es bedeutet, mit einem spezifischen Körper zu leben. Die nicht geringe Kunst von „Limbo“ (von Hartmanns Landsfrau Sofie Steenberger montiert) ist es aber, dass sich all das im Film verbindet, ansteckt und überlagert, bis auch die Bilder industrieller Herstellungsvorgänge eine eindringliche emotionale Wucht bekommen, die man nicht für möglich gehalten hat. IV Es wird noch etwas geschehen in diesem Film, ein spürbarer Eingriff in die Erzählung, zugleich lakonisch und gewaltsam, wie jugendliches Leben eben sein kann. Darüber hier zu sprechen ist schwierig, weil das, was geschieht, gesehen und erfahren werden will und nicht erzählt. Charakteristisch ist es jedenfalls für einen Film, der sich einerseits beschreiben lässt als die Geschichte einer jungen Frau in einer provinziellen Umgebung, die sich in ihre Lehrerin verliebt. Die ästhetischen Entscheidungen, die der Film in dieser Erzählung trifft, sind dabei aber stets doppelte: Sie folgen einem Realismus, den man getrost dokumentarisch nennen kann, und bedienen sich zugleich einer gezielten Künstlichkeit, die nicht theoretisch etwas behauptet, sondern einen vielschichtigen affektiven Raum erzeugt, der erfahrbar macht, was es heißen könnte, das Leben dieser jungen Frau zu leben, an diesem Ort, zu dieser Zeit. Präziser: der es notwendig macht, diesen Erfahrungsraum im Sehen ständig neu zusammenzusetzen. Am Ende ist „Limbo“ vor allem auch das: einer dieser seltenen Filme, von denen man sich, wenn man sie erst einmal kennt, wünscht, dass man sie hätte sehen können, als man so alt war wie die Leute, die er zeigt. Es hätte was geholfen. s
LIMBO
von Anna Sofie Hartmann DE/DK 2014, 80 Minuten, dänische OF mit deutschen UT, Peripher Filmverleih, 3 www.peripherfilm.de IM KINO ab 24. September 2015
PIFFL MEDIEN
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So happy together VON JA N K Ü N EM U N D
In „45 Years“, dem neuen Film von Andrew Haigh („Weekend“, „Looking“), gerät der gemeinsame Lebensabend eines Paars in eine unvermutete Krise, die so grundsätzliche Formen annimmt, das sich 45 Jahre Ehe plötzlich wie eine Lüge anfühlen. Der überaus präzise gearbeitete Film mag seine Figuren viel zu sehr, um eine Kritik an der Institution selbst anzubringen, aber die schleichend fortschreitende existentielle Verunsicherung ist großartig inszeniert. Charlotte Rampling und Tom Courtenay erhielten auf der Berlinale die beiden Darstellerpreise.
s Am Anfang, im Schwarz, das Geräusch eines Diaprojektors: Man hört, wie ein Bild auf das andere folgt, in gleichmäßiger, mechanischer Frequenz. Der Film setzt einen Rhythmus; gleich ist klar: Es gibt kein Anhalten mehr. Unerbittlich wird dieser Film uns, Bild für Bild, auf den letzten Moment der Geschichte von Kate und Geoff zuführen, auf sein eigenes letztes Bild, von dem aus alles neu zu lesen sein wird: 45 Jahre Ehe, jedes eingeübte Ritual, alle Gewissheiten, all die Lieblingssongs, das ganze Leben, alles – die Dynamik gleichmäßigen Fortschreitens, in die uns der Rhythmus dieses Films einwiegt, geht am Ende ins Nichts, war immer schon Leerlauf.
„45 Years“ von Andrew Haigh erzählt sechs Tage aus der Beziehung von Kate und Geoff, bis zur Party, die ihr 45. Ehejubiläum zum Anlass hat. Der gleichmäßige Rhythmus wird dabei auch auf der Bildebene weiter geführt: Jeder erzählte Tag beginnt mit einer Landschaftsaufnahme, Norfolk, in der Nähe der Broads, der Kanäle, die diese graugrün-braune Landschaft durchziehen. Graugrün-braun wiederum ist auch die Kleidung der pensionierten Lehrerin, die jeden Tag mit einem Hundespaziergang beginnt, bevor sie im Haus auf ihren ebenfalls grau-grünbraun gekleideten Ehemann trifft, um mit ihm den weiteren Tag zu planen: Ausflüge in die Stadt, Besorgungen, Reparaturen im Badezimmer, Mittag- oder Abendessen mit den gleichalten Freunden. Charlotte Rampling und Tom Courtenay, Stars des britischen Autorenkinos mit schillernden Filmografien, deuten dieses grau-grün-braune 45-jährige Ehepaar-Sein in faszinierendem Understatement an: Gesten, die passen, Gegenstände, die ohne Hinzusehen berührt werden, Blicke, die sich nur dann intensivieren, wenn einer von beiden etwas Unvorhergesehenes sagt, Dialoge, die ein eingeübtes Interesse aneinander zeigen. Weich, auf vorteilhaftem 35mm, sind die Körper in die gleichfarbigen Landschaften und Innenräume gesetzt. Gegen dieses festgestellte Bei-Sich-Sein zweier Menschen klackert aber der Diaprojektor an, setzt Bild nach Bild, verspricht eine Entwicklung. Und tatsächlich wird Kate schon am vierten von den sechs Tagen nicht mehr morgens mit dem Hund durch die grau-grün-braune Landschaft laufen, wird nicht jeder Tag wie der andere sein. Denn zwischenzeitlich wird außerhalb der Bilder etwas freigelegt, dessen Resonanz die alltäglichen Rituale in den Bildern durcheinander bringt: Die wohlkonservierte Leiche einer früheren Geliebten von Geoff wird in einem
Gletscher in den französischen Alpen gefunden, für die Kate vielleicht nur ein Ersatz, eine zweite Wahl war. Und in den Bildern, in den Landschaften, in den Zimmern, in denen Geoff und Kate über ihre Ehe nachdenken, sind plötzlich Gespenster, Geheimnisse, Gerüche, es spukt, der Wind rüttelt an den Fenstern und Türen, der Hund wittert und bellt. Der Dachboden, der den Diaprojektor und die verblichenen Bilder der toten Geliebten birgt, bringt ans Licht, was bisher eingefroren war. Unaufhaltsam, Bild für Bild, entgleist diese Beziehung. Andrew Haigh dreht nicht den ersten Spielfilm über das Zusammensein zweier Menschen. In seinem ersten, „Greek Pete“, versuchen zwei Stricher, einander Halt zu geben. Einer von ihnen glaubt an die große Liebe. Im zweiten, „Weekend“, verlieben sich zwei Männer und haben für diese Liebe nur ein Wochenende. Einer von ihnen glaubt an die große Liebe. In „45 Years“ nun verteidigt eine Frau ihre Idee der großen Liebe gegen das Gespenst eines 45-jährigen Geheimnisses, das alles infrage stellt. Und es kommt vielleicht nicht von ungefähr, dass Haigh zum ersten Mal von einer heterosexuellen Beziehung erzählt, deren Fallhöhe eine andere ist. All das, was Normalität versprach, worüber nie nachgedacht werden musste, was gesellschaftlich vorgezeichnet war, steht plötzlich auf dem Spiel: Rituale werden schal, zum gemeinsamen Lebensweg hätte es Alternativen und Abzweigungen gegeben, und selbst die heteronormativen Schnulzen der Jugend lassen sich mit ihren sprechenden Titeln plötzlich anders lesen: „Nowbody Knows“, „Young Girl“, „Tell It Like It Is“, „I Only Want To Be With You“, „Happy Together“, „Smoke Gets In Your Eyes“. Im Schlussakkord des letzten Songs läuft der Film auf eine kleine Geste hinaus, in der alles zerbricht. Im grau-grün-braunen Ballsaal stehen Kate und Geoff plötzlich in einem isolieren blauen Strahl, gesprenkelt von Reflexen der Discokugel. Der unaufhaltsame Rhythmus des Films kommt zu einem Halt. Eine Großaufnahme von Charlotte Ramplings Gesicht, im weichen 35mm-Abbild, ohne verklärendes Licht und Make-up. Widersprüchlich, fast unlesbar legt dieses Gesicht Schichten von Emotionen frei. Der Blick einer Frau, die ins Nichts fällt. Nächstes Bild. s 45 YEARS
von Andrew Haigh UK 2015, 93 Minuten, deutsche SF, Piffl Medien, 3 www.piffl-medien.de IM KINO ab 10. September 2015,
3 www.45-years.de
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DAS TANTIGE VON PAU L SCH U L Z
s Arndt von Bohlen und Halbach war, als er am 8. Mai 1986, einem sonnigen Donnerstag, starb, 48 Jahre alt und längst eine deutsche Legende. Diese beginnt am 24. Januar 1938. Seine Mutter Anneliese ist, als ihr einziger Sohn geboren wird, 29 Jahre alt und die Frau eines der reichsten Männer Europas: Alfried Krupp von Bohlen und Halbach. Der ist gerade dabei, noch reicher zu werden, indem er in den eigenen Fabriken Kanonen und anderes Kriegsgerät fertigen lässt, mit denen Hitlers Armeen in den folgenden sechs Jahren Millionen Menschen quer durch ganz Europa abschlachten. Weil einen mehrfacher versuchter Völkermord schon beschäftigen kann und Alfried und seine Mittäter in den Nürnberger Prozessen nach Kriegsende zu langen Haftstrafen verurteilt werden, wächst Arndt so gut wie ohne Vater auf. Das tut ihm nicht gut. Oder vielleicht doch, man weiß das nicht so genau. Seine Mutter Anneliese hält jedenfalls immer zu ihrem zarten Kind mit den großen Augen. Auch wenn sie relativ früh gewusst haben wird, dass Arndt zum Völkermord wohl zeitlebens die Durchsetzungskraft fehlen wird. Mütter wissen sowas. Obwohl sein Vater nach ein paar Jahren wieder aus dem Gefängnis kommt, weil „das Land ihn braucht“, wie er sagt, wird Arndt in den Internaten, auf die ihn seine Mutter schickt, „Kriegsverbrechersohn“ genannt. Zu Recht, aber sowas ist traumatisch für ein Kind, besonders, wenn er so ist wie Arndt: bisschen weich, bisschen verträumt, bisschen anders als die anderen Jungs. Da er aber ja nun auch der einzige Sohn ist, wird er, soviel dynastisches Denken muss sein, über ein Betriebswirtschaftsstudium und Praktika in den unterschiedlichen Zweigen der väterlichen Firma auf deren Übernahme vorbereitet. Bis Papa sein Kind dabei kennenlernt und wohl noch einmal genau überlegt, ob in Zeiten des überaus schwierigen Osthandels und massiver Rezession einer wie sein Sohn die Firma übernehmen sollte. Oder, wie Arndts väterlicher Intimfeind Berthold Beitz es später zusammenfasst, „Arndts Veranlag …, also sein Charakter“ habe dem Vorhaben schon irgendwie im Weg gestanden. „Mir hat das nie jemand zugetraut“, weiß auch das Kind. Am 16. September 1966, ein knappes Jahr vor dem Tod seines Vaters, verzichtete Arndt von Bohlen und Halbach auf sein Erbe. Das waren, je nachdem, wie man es berechnet, immerhin zwischen 2,5 und 3,5 Milliarden D-Mark. Ein geschäftlicher Schachzug, der die Familie von der vernichtenden Steuerlast erlöst, die sich durch den Erbvorgang noch erhöht hätte. Und ein sagenumwobener Deal, der Berthold Beitz, dem Kopf dahinter, einen Platz in der deutschen 24 SISSY 27
EDITION SALZGEBER
André Schäfer erzählt in „Herr von Bohlen privat“ die Legende vom letzten Krupp, dem schwulen Paradiesvogel in einer grauen Dynastie und liebsten Hassobjekt der deutschen Nachkriegskrawallpresse: Arndt von Bohlen und Halbach. Mit sachten Tricks und großartigem doppelten Boden, als Spiel- und Dokumentarfilm gleichermaßen, und mit einem Hauptdarsteller, der aus den von-Bohlen-Originalzitaten einen ganz eigenen Text macht: „Der letzte Krupp tanzte aus der Reihe – aber wenigstens tanzte mal einer.“
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Wirtschaftsgeschichte sichert, weil er und ein paar andere kruppstahlharte Männer mit der „Alfried Krupp von Bohlen und HalbachStiftung“ die größte gemeinnützige Organisation der relativ jungen Bundesrepublik ins Leben rufen. Arndt ist nun „der reichste Frührentner Deutschlands“. So steht es jedenfalls in den Klatschblättern von München bis Hamburg. Deren LeserInnen nicht verstehen, wie man seine Apanage von zwei Millionen Mark jährlich überhaupt ausgeben kann. „Ich finde, das geht ganz einfach“, sagt der Milliardärssohn, der sich mit Aussagen wie: „Arbeit? Das hat mir gerade noch gefehlt!“, nicht gerade beliebt macht in einem Wirtschaftswunderland, das sich zeitgleich mit der Studentenbewegung und seinen wütenden Kindern in der RAF auseinandersetzen muss. Obwohl er sich gern schminkt und mit jungen „Bürschchen“ umgibt, heiratet Arndt am 14. Februar 1969 auf Schloss Blühnbach Henriette („Hetti“) von Auersperg, die Tochter von Alois von Auersperg und Henriette Larisch von Mönnich. Die Ehe bleibt, wenig überraschend, kinderlos. Statt Nachwuchs bekommt Hetti 250.000 Mark im Jahr. Arndt ist bis zu seinem Tod ein Star des europäischen und internationalen Jet Sets, über den fast so viel geschrieben wird wie über seinen Freund Gunther Sachs, kauft sich Freunde und Begleiter, hält sich Maler und versteckt sich in der Küche seines Lieblingsrestaurants in München vor Berthold Beitz, wenn der ihn wegen geschäftlicher Belange dringend sprechen will. Am 8. Mai 1986 stirbt Arndt, während Deutschland den Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus begeht, im Münchner Klinikum Großhadern an Mund26 SISSY 27
bodenkrebs, von dem viele sagen, er sei erst durch seine zahllosen Schönheitsoperationen ausgelöst worden. Am Ende seines Lebens sah er ein bisschen aus wie Michael Jackson und hatte entschieden, sich lieber in vergitterten Räumen auf Schloss Blühnbach von der Welt zurückzuziehen als hässlich vor sie zu treten. „Wie der Mann mit der eisernen Maske“. Seine Mutter Anneliese überlebt den Sohn um zwölf Jahre und muss mit ansehen, wie nach seinem Tod jahrelang um die Steuerschulden ihres Kindes gestritten wird, bis sich Roman Herzog einschaltet und sie sich mit Hetti und dem Freistaat Bayern einigen können. Verkannt, verraten, verleumdet. Wie man sieht: Das Leben von Arndt von Bohlen und Halbach gibt einen herrlichen Filmstoff ab. Das hat auch André Schäfer erkannt, der mit „Herr von Bohlen privat“ jetzt genau diesen Film vorlegt und dabei alles richtig macht. Denn er kleidet seine Hauptfigur nicht in die schlecht sitzenden Gewänder einer großen fiktionalen Spielfilmoperette, sondern hat einen Hauptdarsteller, den wunderbaren Arnd Klawitter, der auf der Suche nach „dem Tantigen“ seiner Figur, Zitate aus Interviews von sich gebend, zu den Originalschauplätzen der wahren Handlung fährt und dort spazieren geht, Drinks mixt, seinen Lidstrich nachzieht, Partys feiert und mit seinem jungen Begleiter (Arne Gottschling) schäkert. Auf Schlössern und Booten, auf Friedhöfen und in lumpigen Partykellern. Unterbrochen von Interviews mit denen, die Arndt mochten: unter anderen seinem Buchhalter, Michael Graeter, dem berühmtesten Klatschjournalisten der BRD, seinem Haus- und
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Hofmaler und dem Ehepaar, das sein Lieblingsrestaurant in München führte. Eingestreut sind seltene Originalaufnahmen mit den Protagonisten: Beitz kommt genauso zu Wort wie Arndt selbst und dessen Vater. Das Ergebnis ist, je nachdem aus welchem Blickwinkel man es betrachtet, die herrlich verklatschte Geschichte eines Unglücksraben, eine Moritat darüber, welche Werte sich nach dem Tod von sechs Millionen Juden im Nachkriegsdeutschland durchgesetzt haben, oder ein sehr unterhaltsamer Horrorfilm über ein komplett misslungenes Leben. Vielleicht auch all das zusammen. Denn man weiß ja: alles wahr. Man weiß auch: Schlimm ist das. Man kichert und gruselt sich und bestaunt, jedenfalls wenn man dort nicht aufgewachsen ist, wie unfassbar dämlich die Münchner Schickeria immer noch ist, schon, weil ihre Vertreter auch in den Interviews hier nicht von ihrer kaum verhohlenen Bewunderung ablassen können für einen, der sich gern „Baron“ nennen ließ, aber nichts Stählernes hatte und dessen Leben grausig gewesen sein muss, aber wohl genau das sein sollte. Die vor Unglück schreiende Leere in der High Society der 1970er und 80er ist, obwohl es die Macher nicht offensichtlich darauf anlegen, ohrenbetäubend laut. Der moralische Muff und die immanente Homophobie, die hinter all den Aussagen lauern, die hier eigentlich wohl liebevoll gemeint sind, verschlagen einem schier den Atem. Wie hier jemand Zeit seines Lebens versucht, einen Platz in der Welt zu finden, aber da nie ankommt, das ist in seiner offensichtlichen Folgerichtigkeit schrecklich.
Das Aufeinandertreffen eines industriellen Schwerverbrechers, der stolz ein Interview über seine riesige Firma gibt, während sein Elfenkind im Hintergrund hilflos und verstört an einem kleinen Maschinenteil dreht, ist ein Bild shakespearschen Ausmaßes, das Schäfer hier in einer Originalaufnahme zeigt, ohne es weiter kommentieren zu müssen, und das einem alles erzählt, was man über den Umgang mit Homosexualität in der damaligen Zeit wissen muss. Dem Regisseur gelingt es mit sachter Hand und durch eine sehr gelungene Montage, zu zeigen, wie es gewesen sein muss, Arndt von Bohlen und Halbach zu sein, wie es sich angefühlt hat, für ihn und für andere. Etwas Besseres kann man über einen Dokumentarfilm nicht sagen. s
HERR VON BOHLEN PRIVAT
von André Schäfer DE 2015, 90 Minuten, deutsche OF, Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de IM KINO ab 19. November 2015
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Die Gnade des Verschwindens VON JA N K Ü N EM U N D
David Hockney ist einer der erfolgreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Randall Wright hat eine Filmbiografie über ihn angefertigt, die Hockneys Leben im wahrsten Sinne des Wortes festzuhalten versucht. Für den Maler waren Hollywoodfilme in seiner Jugend Erweiterungen eines zu klein empfundenen Raums – ob er sich „Hockney“ im Kino angesehen hätte?
s Der vanishing point, der Fluchtpunkt, sei für Hockney geradezu ein heiliges Konzept gewesen, sagt Kurator Charlie Scheips. Allerdings, das ist die Pointe, nicht aus der Perspektive des Betrachters, dessen Blick auf einen Fluchtpunkt zulaufe – sondern für Hockney sei der Mensch selbst der Fluchtpunkt, auf den die Welt zulaufe. In dieser Vorstellung eines Betrachters, der so aus dem Bild verschwinde, steckt die Ablehnung eines konstruierenden Blicks, der der Welt eine feste Form gibt. Hockneys PolaroidCollagen, die nach der emotionalen Zerreißprobe seiner Trennung mit Peter Schlesinger entstanden sind, splitten entsprechend die vereinheitlichende Perspektive auf; das Gesamtbild besteht aus lauter Details, die aus verschiedenen Blickwinkeln, in tageslichtabhängig verschiedenen Helligkeiten, festgehalten sind und somit nicht mehr fotorealistisch auf einen Blick zurückzuführen sind. Der Standort und das Verschwinden, das Festhalten und die Auflösung sind zentrale Themen im Leben und im Werk David Hockneys. Man könnte das ernstnehmen, wenn man das Porträt eines Künstlers unternehmen will, der in den klaustrophobisch gestaffelten Mietskasernen von Bradford aufgewachsen ist, dessen Begehren kriminalisiert wurde, bis er 30 Jahre alt war, der sich in den 1970ern biografisch aus allen vorgegebenen Mustern gelöst hat, dessen neue Muster aber knapp zehn Jahre später durch Aids wieder zerbrachen – kurz: der eine typische nichtheterosexuelle Bewegung durch das 20. Jahrhundert machte und somit seine Schwierigkeit mit der geordneten Zentralperspektive auf sein Leben haben dürfte. „Hockney“, von Randall Wright im Auftrag von BFI und BBC Arts hergestellt, versucht aber genau das. Er erzählt ein Leben zwischen Kindheit und Alter, mit den Stationen Familie, Kunsthochschule, erster NewYork-Besuch, Umzug nach L.A., Coming-Out, Erfolg, Beziehung, Freundschaften, Aids, Tod der Mutter, Alter. Die Erzählform dieses 28 SISSY 27
ARSENAL FILMVERLEIH (3)
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Lebens fühlt sich klassisch und bekannt an, sie ordnet die verstreuten Details auf einer großen Linie, die veranschaulichen will, wie jemand wurde wie er ist. Wie die Kunst das Leben transformiert hat. Wie große Werke aus Inspirationen entstanden. Das ist alles so banal, dass es fast wehtut, es hier aufzuschreiben. Weil es ein Normativismus ist, der eine queere Figur nicht fassen kann, ohne ihr Gewalt anzutun. Abgesehen von der oft wirren Montage, die Dinge zusammenbringt, die die eigene Ordnungsprinzipien nicht erfüllen, sieht die Gewalt der Erzählung z.B. so aus: Man findet ein Familienmitglied, das sowas sagt wie: „David hat als Kind schon gezeichnet.“ Dann Schulfreunde, die sowas sagen wie: „Der Klecks, den er auf unserem Teppich gemacht hat, war bald schon Millionen wert.“ Kommilitonen, die sowas sagen wie: „David hat sich in den 1950ern schon getraut, Moleskinhosen, Melone und rosagestreifte Anzüge zu tragen.“ Auch, dass ein Film über einen schwulen Künstler, dessen Fluchtpunkt Los Angeles erotisch motiviert war (Surfer!), mit Bildern der Eltern beginnt und endet, einen zentralen Hockney-Ordnungsvorschlag wie: „Freunde sind der einzige Faden, der sich durch mein Leben zieht“, einfach ignoriert und ihn mit Bildern von Hunden illustriert, aufgenommen auf einem Strandspaziergang mit Mama. Es dürfte bei Hockney wahrscheinlich eher um die Freunde gegangen sein, von denen in den 1990ern Aids-bedingt nur noch ein Drittel am Leben waren und sowas kann eine geordnete Lebenserzählung schon mal auseinander reißen. Aber das nur am Rande (wo es der Film auch anlegt). Die große Harmonisierungsleistung des Films, der alles in seine Heteronarration des geordneten Künstlerlebens, das auf den Fluchtpunkt Erfolg zuläuft, einfügen möchte, betrifft alle Gestaltungsebenen. Ein jazziger Soundtrack passt auf alle Lebensphasen, stummes Archivmaterial, sogar Hockneys Bilder, werden mit einem pseudo
realistischen Soundtrack überklebt, der eine häusliche Szene mit einem Telefonklingeln synchronisiert und eine Trümmerlandschaft mit Bombenexplosionen. Homosexualität wird ab Minute 30 in den Film integriert, weil der Film erzählt, dass Hockney Homosexualität mit 30 Jahren erfolgreich in sein Leben integriert hat. Fast verschämt, im Nachspann, versucht Randall Wright einmal die Polaroidcollagen durch SplitscreenExperimente nachzudrehen, das ist aber nicht ernst gemeint und hat mit dem Rest des Films nichts zu tun. Hockney sagt: „Landscape“. Und irgendwo muht eine Kuh. Es gibt einen berühmten anderen Film mit und über Hockney, der seine Aufgabenstellung etwas anders wählt. „A Bigger Splash“ (1973), Jack Hazans großartiger Hybrid aus Spiel- und Dokumentarfilm, der mitlaufend nebenbei gesammeltes Material aus der Trennungsphase von Hockney und Peter Schlesinger dramatisiert und gleichzeitig in Traumsequenzen, assoziativen Zusammenführungen, Durchdringungen von Malerei und Filmbild bedeutungsunsicher und flexibel macht, schafft es tatsächlich, flüchtende Linien einer Lebensphase in einem provisorischen Brennpunkt einzufangen. Wie nebenbei wird der mal absichtslose, mal provozierende Kamerablick hier zum Fluchtpunkt, in dem Hockneys Welt zu diesem Zeitpunkt zusammenläuft. Auch Wright verwendet aus „A Bigger Splash“ Szenen für seine Künstlerbiografie. Die damals Aufsehen erregenden Bilder vom berühmten Maler Hockney, der sich auszieht, bevor er unter die Dusche geht (mit einem unverschämten Genital-Close-up), wird 1:1 übernommen, um dann – kein Scherz – das Thema der Inneneinrichtungen der Hockney-Häuser anhand der Badezimmerfliesen zu thematisieren. Auch die Faszination des Malers für die instabilen Wasseroberflächen der Pools in Los Angeles ist in beiden Hockney-Filmen Thema. Hockney schwärmt von den ineinan-
derfließenden Formen, den Verfremdungen der Körper im Wasser, den Sonnenreflektionen in den Kanten der Wellen. Sieben Tage habe er gebraucht, um einen „Splash“ zu malen – das Gegenteil eines fotografischen „Klicks“. Die Herausforderung, etwas aufzuzeichnen, das sich auf der Flucht befindet, wurde zum eigentlichen Thema in Jack Hazans „A Bigger Splash“. In Randall Wrights Film laufen die Schlusstitel sehr stabil und gut lesbar über das monochrome Blau eines zwar gefüllten, aber nicht in Bewegung versetzten Pools. s
HOCKNEY
von Randall Wright UK/US 2014, 113 Minuten, englische OF mit deutschen UT, Arsenal FIlmverleih, 3 www.arsenalfilm.de IM KINO ab 13. Oktober 2015
A BIGGER SPLASH
von Jack Hazan UK 1973, 105 Minuten, englische OF mit deutschen UT, AUF DVD bei der Edition Salzgeber,
3 www.salzgeber.de
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Hetero. Sexuelle Männer sehen. VON A N DR É W EN DL E R
Heterosexuell lebende Männer verlieben sich in andere Männer. Filme darüber versprechen Dramen, Ausbrüche, Selbstfindung, Bewegung. Geschichten werden woanders enden als sie begonnen haben. Zwei aktuelle Filme setzen ein A und ein B und machen sich auf den Weg.
„Unter der Haut“
s Einen ansehen. Sich fragen, wer er eigentlich ist. Im Kino machen wir das die ganze Zeit. Irgendwann geben uns Filme erste Einstellungen von ihren Helden und oft ist damit unsere Einstellungen ihnen gegenüber gesetzt. Zum Beispiel so: Ein Auto wird gepackt, Kinder schleppen Spielzeug hinein, eine Frau fragt einen Mann etwas Beiläufiges, er streichelt im Vorbeigehen einem der Kinder über den Kopf. Dann wissen wir: Familie, unspektakuläre Zufriedenheit, Mittelstand, Jahresurlaub. Anders in diesen Filmen. Die ersten Einstellungen auf die Hauptfiguren von „In the Grayscale“ sind optische Verwirrspiele. Ein Mann, ein Bett, ein kleiner Raum voller Gerümpel. Schmutzige Glasscheiben, halb erblindete Spiegel, schiefe Rahmen, spiegelnde Fenster. Kein Blick zeigt etwas deutlich, sondern die Einstellungen zeigen, dass sie etwas nicht gut zeigen können. Und dann schaut der Held knapp an der Kamera vorbei, tut, was im Film verboten ist, schaut uns fast an, während wir ihn anschauen. Halb nackt ist er dabei, der schöne, schlanke, ins Bett gehende, aufstehende, schlafende, erwachende Bruno. „Unter der Haut“ etabliert vollends ein neues Blickregime. Einzug in eine neue Wohnung. Durch halb offen stehende Türen und Fenster Blicke auf die Landschaft, die ankommende neue Familie. Es ist noch gar nichts gesetzt: Die Orte für den Spiegel, den stummen Diener, das Ehebett muss erst noch gefunden und damit die möglichen Blickachsen überhaupt erst etabliert werden. Dazu 30 SISSY 27
die Freude der Familie, die sich für das neue Haus entschieden hat und jetzt sehenden Auges in das neue Leben eintritt, das hier auf sie wartet. Der Held muss seinen Raum verteidigen, denn er ist knapp: Ihm bleibt nur der Viertelmeter unter dem Bett, in dem er seine Gitarre verstaut und den er gegen Eindringlinge schützen muss. Wie auch immer die erste Begegnung mit Filmhelden genau aussieht, wir wissen als Beobachter_innen dieser Konstellationen, dass sie nicht von Dauer sein können. Wir gehen ins Kino, weil wir eine Handlung sehen wollen und das heißt: Veränderung. Etwas ereignet sich, jemand erscheint oder verschwindet, es wird anders. Wir wollen am Ende eines Films nicht das gleiche sehen wie am Anfang. Die Blicke auf unsere Liebhaber_innen, unsere Familie und unsere Freunde außerhalb des Kinos sind vielleicht andere: Mit Fürsorge blicken wir auf unsere Kinder und hoffen, dass sie gesund bleiben; mit Beunruhigung sehen wir unseren Eltern beim Altern zu; unsere Lover verabschieden wir mit der Zuversicht, dass sie zurückkommen werden. Beziehungen, Familien, Wohn- und Hausgemeinschaften sind die äußeren Zeichen dieser auf Stabilitäten zielenden inneren Ordnungen. Die beiden Filme gehen mit diesen Räumen ganz unterschiedlich um. „In the Grayscale“ geht hinaus aus den Zimmern häuslicher Ordnung und versucht sich am Großen, der Stadt als Ganzer. Der Architekt Bruno soll für seine Stadt eine prägende Sehenswürdigkeit bauen, eine Struktur, die
für das Ganze steht, um die herum sich alles ordnen kann. Er unternimmt dazu Exkursionen mit einem Stadtführer, der ihn ganz aus seiner inneren Ordnung herausführt. Das Chaos und die Vielfalt der großen, halb unbekannten Stadt wird sein eigenes Chaos. Lange hat er keine Ahnung, was für ein Gebäude er errichten soll, bis er sich dazu erschließt, eine historische Brücke wieder zu errichten, vielleicht um das andere Ufer besser erreichen zu können. „Unter der Haut“ hingegen ist ein häusliches Drama. Es spielt fast ausschließlich im Urort heterosexueller Familien: dem Elternschlafzimmer. Hierhin kehren die Eheleute nachts zurück, hierhin kriecht die jüngste Tochter, wenn sie nachts nicht schlafen kann, dieser Raum wird umgestaltet, wenn die Familienordnung nicht mehr zu halten ist. Beide Filme machen lange Expeditionen durch diese Ordnungen und Ortungen. Und genau das unterscheidet sie von einem Coming-Out-Film mit Sechzehnjährigen. Wenn erwachsene Männer, Familienväter zumal, plötzlich schwul werden, dann schlagen sie eben nicht nur einen alternativen Pfad ein, sondern sie müssen eine umfassende Ordnung, in der Begehren, Lebensumstände, ökonomische Verhältnisse und soziale Räume aufeinander bezogen waren, aktiv verlassen, umgestalten, vielleicht sogar ein Stück weit zerstören. Und weil beide Filme damit jeweils ganz andere Ausgangslagen annehmen, sind auch die Ergebnisse vollkommen unterschiedlich. Franks Frau, um die es in „Unter der Haut“ mindestens
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„In the Grayscale“
so ausführlich geht, wie um ihn, denkt eine Zeit lang, sie könnte Franks Anziehung zu Männern integrieren. Sie schlägt ihm sogar einen Dreier mit einem anderen Mann vor. Und sie fragt sich natürlich irgendwann das Unausweichliche: War das schon so, als wir geheiratet haben? Auch auf diese Frage wird sie keine Antwort bekommen. Frank ist von ihrer Fragerei genervt: Jetzt ist eben alles anders. Da werden etliche Verbindungslinien gekappt und die neue Situation ist so radikal anders, dass selbst ein Schwimmbassin im Schlafzimmer plötzlich denkbar ist. Bei Bruno scheint der Weg aus der Ehe einer Grabung nach etwas zu gleichen, das lange, vielleicht sogar immer schon, da gewesen ist. So wie die Lösung für sein Architekturproblem in den unterirdischen Überbleibseln eines verschwundenen Bauwerkes liegt, sucht er nach einer Konstellation für sich selbst, die alles im richtigen Licht erscheinen lassen könnte. Beide Filmen zeigen sehr deutlich, dass es zu wenig ist, zu sagen: Einer ist schwul, eine ist heterosexuell, einer ist verheiratet. Vermutlich sind die beiden Männer am Ende schwul, aber ihr Schwulsein hat mit meinem kaum etwas zu tun. Für mich war eine heterosexuelle Beziehung niemals eine Option, ich war schwul, so lang ich denken kann. Die Vorstellung einer eigenen heterosexuellen Familie ist für mich etwas, das ich ohne innere Beteiligung nur von außen sehe. Für Frank und Bruno wird es immer dazu gehören, dass ihre Kinder in ihnen auch die mutwilligen Zerstörer der Familie sehen, dass
ihre Frauen sich fragen, ob ihre Ehe jahrelang nur Betrug war. Der Schwule mit Kind und Familie ist eben ein anderer Schwuler als der fröhliche Gay Party Bachelor. Was so einfach klingt, wird in diesen Filmen in seiner ganzen emotionalen und lebenspraktischen Komplexität gezeigt. Schulterzuckend könnte ich mich von diesen Filmen abwenden; sie betreffen mich nicht. Gerade in ihrer Konfrontation mit einem schwulen Leben, das für mich außer Reichweite liegt, sind sie aber lehrreich, und man muss wohl sogar politische Konsequenzen aus ihnen ziehen. In einer Zeit, in der politische Forderungen für schwules Leben kaum einmal über den altbekannten Ruf nach der ehelichen Gleichstellung hinausreichen, kann man hier nämlich sehen, dass die Bedürfnisse und Umstände individueller, komplizierter und unvorhersehbarer sind. Vielleicht brauchen wir weniger die Debatte über diese oder jene Struktur oder Lebensform, als eine offene und unterstützende Plattform, auf der sämtliche Menschen ihre ureigenen Konzepte ausprobieren und herausfinden können, wie sie leben wollen. Dann wäre das Entweder-Oder, vor das Bruno von seinem Lover gestellt wird, vielleicht auch so überflüssig, wie Franks Totalverweigerung seiner Familie gegenüber. Dann gäbe es die Möglichkeit Hybride zu produzieren, in denen man ein bisschen schwul, ein bisschen Vater, ein bisschen Ehemann, ein bisschen whatever ist, anstatt sich einen dieser Schuhe exklusiv anzuziehen. So wie Frank und Bruno manchmal einfach nur in die Gegend stie-
ren, Antworten verweigern, mit den Schultern zucken oder verschwinden, müsste man dann aber auch mit unbeantworteten Fragen, insistierenden Problemen und unlösbaren Verwicklungen leben können, statt immer alles in saubere Identitätsschubladen und verständliche Strukturen zu übersetzen. Vielleicht klingt das wie utopische Träumerei und idealistischer Mumpitz, aber was soll es: Ich gehe ins Kino, um mich genau solchen Träumereien hinzugeben und zu sehen, was dabei herauskommt, wenn Veränderung kei ne Option, sondern eine kinematografische Pflichtübung ist. s
IN THE GRAYSCALE
von Claudio Marcone CL 2015, 97 Minuten, spanische OF mit deutschen UT, Pro-Fun Media, 3 www.pro-fun.de IM KINO ab 29. Oktober 2015
UNTER DER HAUT
von Claudia Lorenz CH 2015, 93 Minuten, schweizerdeutsche OF mit deutschen UT, Pro-Fun Media, 3 www.pro-fun.de IM KINO ab 19. November 2015
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SONY PICTURES HOME ENTERTAINMENT
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Der Moment SCHRIFTSTELLER SEHEN FILME: FABIAN HISCHMANN
Da der Trubel um Fabian Hischmanns Debütroman „Am Ende schmeißen wir mit Gold“ nun etwas abgeebbt ist, hat er endlich Zeit, den lange verabredeten Moment seiner queeren Filmgeschichte beizusteuern. Darin geht es, wie auch im Roman, um die Weigerung, Kindheit und Jugend und all das Ungefestigte und Ambivalente darin als abgeschlossen zu betrachten.
s Mein Moment ist ein Repeat. Ich weiß nicht mehr, wann ich „Stand by Me“ zum ersten Mal gesehen habe. Und auch nicht wie oft. Ich schaue ihn wieder und wieder. Zufällig im Fernsehen (dann muss Ostern oder Weihnachten sein, und ich zu Besuch bei meinen Eltern, weil ich selbst kein Gerät besitze) oder an müden Stadtabenden ohne Ausgehdrang auf 13 Zoll und Matratze. Die Adaption von Stephen Kings Shortstory „Die Leiche“ ist zeitlos. Oder eben dauernd. Ist ja ein Ding von vielen Coming-of-Age-Stoffen, als ob man ewig oder nie erwachsen würde. Mal ehrlich, wer ist schon 17 und wird 18 und ist fertig? Die Charaktere im Film von 1986 – da war ich drei, Coming of Pampers, und Zeit noch kein Faktor – sind Ende der 50er zwölf Jahre alt und Mini-Stereotypen mit Tiefgang. Da sind der schmächtige Gordie, der Schriftsteller werden möchte und den Unfalltod seines großen Bruders, des Football-Talents und „besseren“ Sohns, nur schwer verkraftet, und sein bester Freund Chris (River Phoenix), der gerechte Rebell aus schwierigen Familienverhältnissen, sowie die Sidekicks Teddy, der Durchgeknallte, nebst Vern, dem treunaiven Dicken. 32 SISSY 27
Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach Ray Brower, einem vermissten Jungen. Sie träumen davon, Helden zu werden, und bergen allein dadurch, dass sie von Anfang an miteinander lachen und weinen können, so viel mehr Identifikationspotenzial, sind für mich näher dran am Helden, als es blockbusternde „Fantastic Four“ oder „Avengers“ je sein könnten. Natürlich zanken die Vier auf ihrer Wanderung durch das sommerliche Oregon auch und beleidigen ab und an die Mutter des jeweils anderen. Dabei bleiben sie aber stets auf Augenhöhe und werden schnell versöhnlich. Nie fällt das Wort „Schwuchtel“ – okay, gegen Ende des Films sagt Kiefer Sutherland, der den Schmalspurgangster Ace mimt, zu Chris „little faggot“, aber das ist, verglichen mit dem, was sein zukünftiges Alter Ego Jack Bauer in der Serie „24“ Menschen antun wird, irgendwie süß. Noch besser ist, dass Chris nicht mit einem „faggot yourself“ kontert – das in „Jungsfilmen“ ja oft inflationär rausgeballert wird. Jungs sind hart, klaro. Schön, dass Stephen King und Rob Reiner, der Regisseur, da nicht mitmachen wollten. Und so gibt es viele Szenen, die mir auch heute, draußen ist Nacht, stockt die Hitze zwischen den Häusern und meine Nachbarn in Neukölln unterhalten sich sehr laut via Fenster über die Katzenpisse im Treppenhaus, wieder Freude machen.
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Meine liebsten passieren in der letzten Viertelstunde des Films. Die Freunde finden die Leiche und der Erzähler, der alte Gordie, sagt aus dem Off: „None of us could breathe. Somewhere under those bushes was the rest of Ray Brower. The train had knocked Ray out of his Keds, just like it had knocked the life out of his body. The kid wasn’t sick. The kid wasn’t sleeping. The kid was dead.“ Am Ziel angekommen wird Gordie tieftraurig und fragt sich, warum sein Bruder Denny sterben musste. Chris versucht, ihn zu trösten. gordie: chris: chris: chris: gordie: chris: gordie: chris: gordie: chris: gordie: chris: gordie:
„Why did he have to die, Chris? Why did Denny have to die? Why?“ „I don’t know.“ „It should have been me.“ „Don’t say that.“ „It should have been me.“ „Don’t say that, man!“ „I’m no good. My dad said it. I’m no good.“ „He doesn’t know you.“ „He hates me.“ „He doesn’t hate you.“ „He hates me.“ „No. He just doesn’t know you.“ „He hates me, my dad hates me. Oh god.“
Gordie bricht weinend zusammen und Chris nimmt ihn in den Arm und zieht ihn an sich. chris:
„You’re gonna be a great writer someday. You might even write about us guys, if you ever get hard-up for material.“
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Am Schluss, sie sind wieder zuhause, verabschieden die beiden sich LÖWENHERZ_sissy27_103x138.indd so voneinander: chris: gordie: chris: gordie: chris:
„I’m never gonna get out of this town, am I, Gordie?“ „You can do anything you want, man.“ „Sure (er lächelt und streckt Gordie die Faust hin). Give me some skin!“ „I’ll see you.“ „Not if I see you first.“
Manche sind mit zwölf das, was andere nie sein werden: Emphatische Sense-Fiction-Helden. s
STAND BY ME – DAS GEHEIMNIS EINES SOMMERS
von Rob Reiner US 1986, 85 Minuten, deutsche SF, englische OmU
AM ENDE SCHMEISSEN WIR MIT GOLD
von Fabian Hischmann Roman, 256 Seiten, Berlin Verlag, 3 www.berlinverlag.de
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KLEINE FISCHE VON ST E PH A N I E K U H N EN
EDITION SALZGEBER
Zwei sehr unterschiedliche Frauen verlieben sich so nach und nach ineinander – und ihrem großen Freundinnenkreis geht das alles viel zu langsam. Liebevoll ironisch nennen sie es den „lesbischen ,Gandhi‘“ – und das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was Rose Troche in ihrem klassischen, aber hierzulande lange nicht zu sehenden Erstling „Go Fish“ macht. Denn der ist schnell geschnitten, sexy, turbulent, experimentell und sehr witzig, ohne RomCom, Dramödie oder sonst eins dieser tausendfach variierten L-Film-Genres zu sein. SISSY über den ersten lesbischen Indie-Hit und den ersten lesbischen Teddy-Gewinner überhaupt.
s Twentysomething Max hat ein Problem: Sie sieht umwerfend aus und hatte trotzdem seit über zehn Monaten keinen Sex. Das liegt an ihren übersteigerten Erwartungen an eine zukünftige Partnerin, meinen ihre Freundinnen. Und tatsächlich benimmt sich Max wie eine oberflächliche Tussi, als sie in einem Lesbencafé das erste Mal die unscheinbare Ely trifft. Diese hat eine lange HippieMatte, ist älter, schlaksig und extrem schüchtern. Doch Kia, Max’s Mitbewohnerin, und ihre Lebensgefährtin Evy geben den Plan, die beiden unterschiedlichen Frauen zu verkuppeln, so leicht nicht auf. Ein gemeinsamer Kinobesuch wird eingefädelt, nach dem Max bei Ely auf dem WG -Sofa landet. Beide Frauen kommen sich näher, sie küssen sich – und dann ruft Elys Fernbeziehung an. Ende von Date. Doch Elys Mitbewohnerin, die notorische Aufreißerin Daria, weiß Rat: Ely muss sich verändern und die Komfortzone ihrer nur noch formal existierenden Beziehung verlassen. Und Max muss ihre Einstellung dringend überprüfen. Ely bekommt einen Make-over und ein neues Lebensgefühl. Bei einer von Kira, Evy und Daria arrangierten Hausparty treffen die beiden wieder aufeinander und erhalten eine zweite Chance. Nach 21 Jahren wirkt die Komödie „Go Fish“ heute noch so frisch und unverblümt lesbisch, dass sie mehr als nur ein Klassiker des Independent-Films ist. Das Debüt von „The L-Word“-Autorin und -Produzentin Rose Troche, das sie zusammen mit ihrer damaligen Partnerin, Drehbuchautorin und Schauspielerin Guinevere Turner („Preaching to the Perverted“, „The L-Word“, „The Watermelon Woman“), geschrieben und produziert hat, ist eine Liebeserklärung an das Lesbischsein, an die Freundinnenschaften, an die Solidarität untereinander, an den gemeinsamen Wunsch, andere Lebensformen zu entwickeln, als sich für die für Frauen vorgezeichneten Normen passend zu machen. Gleichzeitig ist „Go Fish“ eine hochkomplexe Auseinandersetzung mit lesbischer Kultur, bevor diese den LGBT-Prioritätsthemen um Coming-Outs, Familienkonzepte, Liebe oder Reibungsprobleme mit einem feindlichen „Außen“ untergeordnet wurde. Zeitlos faszinierend an „Go Fish“ ist vor allem, wie mit einem Minimalbudget, grobkörniger Schwarz-Weiß-Ästhetik und experimenteller Montage unterschiedliche Performanzen lesbischer Identität miteinander verwoben und die unterschiedlichen Politiken von Selbstbehauptung visualisiert werden. Angesichts der Übermacht von Spielfilmen, die von Lesbischsein als angeborenem Wesenskern ausgehen, der einer gesellschaftlichen Anerkennung bedarf, erzählt „Go Fish“ von Identität als fortlaufender Handlung, in der Liebe im kon-
ventionellen Sinn nur ein Aspekt unter vielen ist, und auch diese fällt nicht schicksalshaft vom Himmel, sondern wird in freien Entscheidungen hergestellt. So müssen die beiden aneinander interessierten Frauen erst bestimmte Prozesse getrennt voneinander durchlaufen, um sich ineinander zu verlieben. Diese werden mitgetragen von ihren Freundinnen, die in permanenter Auseinandersetzung mit Liebe, Sex und Beziehungsformen untrennbarer Teil der filmischen Erzählung sind. Wie ein Quartett – daher der Titel nach dem Kartenspiel „Go Fish“ – diskutieren das Paar Kira und Evy und Daria plus Affäre die jeweiligen Entwicklungen zwischen Ely und Max und schmieden Pläne, wie sie unterstützend die beiden zu Beginn so unterschiedlichen Lesben zusammen bringen können. Dabei geht es weit mehr als nur um ein Matchmaking, das auf eine festgelegte Beziehungsform zielt. Tatsächlich wollen die Freundinnen eine sichere Umgebung herstellen, um beiden die Möglichkeit zu geben, selbst über die Art ihrer zukünftigen Beziehung zu entscheiden. Der Chor der Freundinnen ist bereits selbst so angelegt, dass nicht etwa zwei klassische Paarbeziehungen sich austauschen und „Glück“ als normatives Erleben definieren, sondern zum „Team Max-Ely“ auch die jeweilige Affäre namentlich eingeführt wird und gleichberechtigt mitdenkt. Nicht nur das macht „Go Fish“ auch zu einem feministischen Film, der grundsätzlich die „Natürlichkeit“ von Beziehungsorganisation in Frage stellt. Vor dem Hintergrund der weltweiten Debatten um die Gleichstellung der Ehe von homosexuellen mit heterosexuellen Paaren wirkt die eindringliche, traumhafte Sequenz des Filmes, in der alle Hauptfiguren in Hochzeitskleider schlüpfen, während die angehende Schriftstellerin Max aus dem Off eine wütende Antirede hält, vielleicht auf den ersten Blick wie eine radikale Laune von 1994. Wer sich aber heute noch wundert, warum vor allem feministische Lesben die stärksten Ehe-Gegnerinnen aus nicht homophober Perspektive sind, sollte an dieser Stelle gut zuhören und in Betracht ziehen, dass Frauen traditionell durch diese staatlich privilegierten Institution mehr verlieren als gewinnen. Denn „Go Fish“ ist gänzlich ein „Gay Liberation“-Film, der in seiner Thematisierung von Alltags-Rassismus, struktureller Homophobie, lesbischer Unterrepräsentation und sozialer Benachteiligung gegen eine einfache Anpassung an „Gay Rights“ argumentiert, weil er keine Handlungsspielräume für ein selbstbestimmtes Leben von Lesben darin sieht. Ein prominentes Argument der Homo-Ehe-Befürworter_innen ist, dass das öffentlich bezeugte Ja-Wort das größte und wertvollste Bekenntnis zur eigenen Homosexualität sei. „Go Fish“ unterlief diese SISSY 27 35
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GO FISH
von Rose Troche US 1994, 83 Minuten, deutsche Synchronfassung, englische OF mit deutschen UT
EDITION SALZGEBER
AUF DVD ab 29. September bei der Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de
Strategie schon, bevor dieser romantische Liebesdiskurs begann, als Kampagnenthema die Herzen und Einstellungen von Heteros mittels größtmöglicher Identifikation zu bewegen. Zahlreiche Bekenntnisoptionen zum Lesbischsein ziehen sich wie ein roter Faden ungewöhnlich vielschichtig durch den gesamten Film. Zum einen werden die verschiedenen Lesbengender wie Butch und Femme visualisiert, ohne dogmatisch Begehren zu definieren. Öffentlich lesbare Codes wie zeitgemäße Dyke-Fashion – Doc Martens, Baggy Pants, umgedrehte Basecaps und geringelte Oberteile – oder Frisuren zeigen ein stolzes Bekenntnis zum Lesbischsein und eine selbstbewusste Reaktion auf die Gendernormierungen von Frauenkörpern durch die Mehrheitsgesellschaft. Drei Szenen illustrieren die Kämpfe um Selbstdefinition nahezu archetypisch. Um wieder als sexuelle Person sichtbar zu werden und am Community-Leben teilzunehmen, lässt sich Ely die Haare von undefiniert lang auf klare Kante kurz schneiden. Dies geschieht nicht etwa in einem Frisiersalon, sondern durch eine befreundete Friseurin in einer häuslichen Umgebung. Was wie ein Mode-Statement scheint, ist vielerorts immer noch ein Politikum: Friseursalons sind für viele Frauen ein Ort, an dem ihre Entscheidungen über ihre Frisur offen in Frage gestellt werden. Auch heute noch gibt es ein unterschiedliches Bezahlsystem für Frauen und Männer und Frisuren sind gegendert. Aktuell findet sich die Frisurfrage für Lesben immer wieder – auch durch andere Lesben – in der Verächtlichmachung von „Kurzhaarlesben“. Eine Kurzhaarfrisur ist keine „Vermännlichung“, sie ist eine frei gewählte Selbstpräsentation. Dass Ely in ihrer Neuerfindung ihres Selbst „butch“ als Kategorie wählt, ist ein Teil dessen, aber nicht kausal bedingt. „Go Fish“ zeigt auch Femmes mit kurzen Haaren. Dem diskriminierenden Bild der Lesbe, die sich nicht zu kleiden vermag, begegnet der Film mit einer Schnittfolge, in der sich die Hauptfiguren für die große Party zurechtmachen. Liebevoller hat bisher kein Lesbenfilm dargestellt, wie sorgfältig einzelne Kleidungsstücke gewählt und fast schon ritualhaft angezogen werden. 36 SISSY 27
Den Autorinnen von „Go Fish“ ist hoch anzurechnen, dass sie es gewagt haben, eine urbane lesbische Community nicht nur als ein befreites Lesbenparadies ohne Brüche und Konflikte darzustellen. An der Figur der sexuell sehr aktiven Daria wird eindringlich die Grenze der heilen Welt gezeigt, die ebenfalls Normen formuliert. Eines Nachts läuft Daria nach einem Sex-Date mit einem Mann allein durch die Straßen und wird von einer wütenden Gruppe von Lesben gekidnappt und mit dem Rücken zur Wand gestellt. Ihre lesbische Identität wird ihr aberkannt, sie wird beschuldigt, die Gemeinschaft zu verunreinigen, ihr Recht auf Privatsphäre wird von den Anklägerinnen grob verletzt. Zum Schluss der Szene wird deutlich, dass sich dieses Gericht nur in Darias Kopf abgespielt hat, sie aber Angst vor dem Urteil anderer Lesben hat und Sanktionierungen befürchtet. In der Gesamterzählung von „Go Fish“ mag diese Sequenz vielleicht eine untergeordnete Rolle spielen, doch ist es eine der wichtigsten Episoden und eine ehrliche Selbstkritik: Bekenntnisse sind nicht einforderbar, und eine Gruppe, die zu homogen wird, entwickelt eine eigene Normativität und ist anfällig für totalitäre Strukturen. In der Kritik wurde dem Spielfilm immer wieder vorgeworfen, zu collageartig mit zu vielen Themen die Romanze überfrachtet zu haben. Dies lässt sich auch damit erklären, dass „Go Fish“ ursprünglich als Kurzfilm angelegt war. Retrospektiv betrachtet ist er ein Schlüsselwerk und Dokument der US-amerikanischen Lesben-Community der 90er Jahre, das heute noch wichtige Fragen nach Selbstbestimmung und Identität stellt. Und nicht nur das, „Go Fish“ ist auch ein Rohentwurf der Serie „The L-Word“, die Rose Troche und Guinevere Turner maßgeblich geprägt haben. Viele Charaktere und Begebenheiten tauchen mainstreamkompatibel wieder auf oder werden in der Tiefe ausgeleuchtet. Und auch die Schauspielerinnen von Max und Ely dürfen 2010 noch einmal in dem Lesben-Thriller „The Owls“ von Cheryl Dunye („The Watermelon Woman“) und Sarah Schulman („Mommy is Coming“) ein Paar spielen. Mit „Go Fish“ wurde Lesbenfilmgeschichte geschrieben, die immer noch ein Work in Progress ist. s
EDITION SALZGEBER
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Szenebar. Innen. VON T OBY A SH R A F
Wieviel Szene lässt die Gentrifizierung in trendigen Großstädten noch zu? Wohin zieht sie sich zurück? Der französische Filmemacher Etienne Faure hat als New-YorkStipendiat die Bar Bizarre entdeckt, die als Fortführung der legendären Manhattaner Beat-Kneipe aktuell in Brooklyn betrieben wird. Er inszeniert dort die jugendliche und hübsch anzuschauende Kunstfigur Maurice, die von der Straße in die bunte und anrüchige Nachtwelt purzelt und allen für kurze Zeit den Kopf verdreht. Im Panorama der diesjährigen Berlinale stellte man „Bizarre“ als „filmisch verzaubernde Trance“ vor. SISSY fühlte sich in ein Märchen versetzt.
BIZARRE
von Etienne Faure FR/US 2015, 89 Minuten, englische OF mit deutschen UT AUF DVD ab 11. November bei der Edition Salzgeber, 3 www.salzgeber.de
s Ausgerechnet Brooklyn. Das Märchenhafte der Erzählung von „Bizarre“ drückt sich bereits im Schauplatz aus, den Maurice, Franzose, vielleicht auch Frankokanadier, aus dem Nichts und offensichtlich heimat- und arbeitslos, betritt. Er soll Englisch sprechen, weil es der Regisseur so will, hören wir ihn aus dem Off sagen. Ein Dokumentarfilm? Nein, eine falsche Fährte, die bis zum Ende nicht aufgelöst wird. Ein Märchen deshalb, weil es wohl nirgendwo auf der Welt in den letzten Jahren so schnell so schwierig geworden ist, bezahlbaren Wohnraum und realistische Überlebenschancen zu finden wie dort, wohin es Maurice plötzlich verschlägt. Zwischen Myrtle und Bushwick Avenue im Südosten New Yorks, wo die Luft immer mehr nach Gentrifizierung riecht, aber auch noch ein bisschen nach den Künstler_innen, die einst hierher zogen, liegt auf der kleinen Jefferson Street die Bar „Bushwick Bizarre“, die es nicht nur im Film, sondern auch im echten Leben gibt. Betrieben wird sie, jedenfalls im Film, von Kim und Betty, einem ebenso umtriebigen wie undurchsichtigen Frauengespann, das – und hier geht das Märchen weiter – Maurice an einer U-Bahn-Haltestelle anspricht, um ihm nicht nur einen Job, sondern gleich auch noch ein Zimmer im selben Haus zu versprechen. Grund dafür ist wohl vor allem Maurices unschuldiges und unverbrauchtes Aussehen, seine jugendliche Aura aus Unsicherheit und Naivität. Maurice ist von der ersten Einstellung an sexuelle Projektionsfläche für die Home Videos der anderen, ein Dreamboy, in den sich nicht nur jede Filmfigur, sondern selbstverständlich auch die Kamera verliebt. In immer wiederkehrenden Schnittfolgen sehen wir Maurice in Rückenansicht durch die Straßen laufen, scheinbar ziellos, dabei aber immer erfolgreicher in seiner Entwicklung zum Dreh- und Angelpunkt des kleinen Kosmos, der ihn zufällig vereinnahmt hat. Betty und Kim sehen in Maurice scheinbar zunächst einen Schützling, der bei ihnen im Bett liegen, nicht aber mit ihnen schlafen soll, und wenig später betritt der androgyne Luka die Bildfläche, der sich in Maurice verliebt und eines Abends von der Bar mit in sein Zimmer kommt. Maurice selbst schleppt später seinen Boxpartner Charlie an, der sich sowohl von Luka, als auch von Kim und Betty verführen lässt. Während im oberen Teil des Hauses in der Jefferson Street also das Theater der Leidenschaften und Eifersüchte seinen Lauf nimmt, tobt im „Bushwick Bizarre“ nachts der Karneval der Körper. In einer Mischung aus Burlesque, Polit-Theater, Tanz-Performances, Rockmusik und Freak-Shows entfaltet sich für Maurice und das Publikum auf der Bühne eine vollkommen andere Welt der Zügellosigkeit. Hier kommt der Film wieder in der vorgefundenen (und dabei umso deutlicher inszenierten) Realität an und überführt dabei die erotischen, oft ekstatischen und manchmal verstörenden Darbietungen seiner Performer_innen zurück ins Märchenhafte. Wenn sich im Halbdunkel des Clubs zu später Stunde die dicken, behinderten, bemalten und kostümierten Körper den Zuschauenden offenbaren, ziehen sie damit vor allem Maurice in eine Zwischenwelt, die alle (Geschlechter-)Normen zu sprengen scheint. Das „Bushwick Bizarre“ öffnete im Januar 2013 seine Pforten, nachdem das baufällige Haus ursprünglich von einem anderen Regisseur als Etienne Faure für ein Filmprojekt ins Auge gefasst wurde (Jean-Stéphane Sauvaire ist mittlerweile Besitzer der Bar und hat im Film einen Kurzauftritt). Was der Film uns zeigt, ist ein lange tot geglaubtes New Yorker Nachtleben, das an die Off-Szenen der 1960er erinnert und in seiner sexuellen Anarchie schmerzhaft vor Augen führt, welchen dramatischen Wandlungsprozessen die Stadt und ihre sexuellen Subkulturen in den letzten Jahrzehnten unterworfen waren. Wenn Maurice, dieser unwirklich wirkendende Gestrandete, am Ende des Films seine Reise fortsetzt, wissen wir zwar nicht mehr, wo die Grenzen zwischen Märchen und Wirklichkeit, Fantasie und Albtraum wirklich verlaufen sind. Wir werden aber im Wissen zurückgelassen, dass es Menschen und Filme gibt, die ihren Traum einer Enklave der Überlebenskünstler nach wie vor verteidigen, sogar in Brooklyn. s SISSY 27 37
CAPELIGHT PICTURES
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Another teenager by Gregg Araki VON DEN N IS V ET T E R
Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass man die ersten Filme von Gregg Araki als „New Queer Cinema“ bezeichnete. Postpunk-Jugenddramen folgten, dann der abgründige „Mysterious Skin“, und wenig scheint sich dabei an der markanten Handschrift des Filmemachers geändert zu haben, auch wenn seine Schauspieler bekannter wurden und seine Budgets größer. Angesichts der Direct-to-DVD Veröffentlichung seines aktuellsten Films „Wie ein weißer Vogel im Schneesturm“ hier ein Versuch über die Queerness seiner plakativen Figuren, bei denen man, sobald man an den schönen Oberflächen kratzt, nur auf weitere Oberflächen stößt.
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s Kat sitzt im Flugzeug, reist von der Uni in Berkeley zurück nach Hause, guckt verträumt aus dem Fenster, zwischen Erinnerungen und den großen Gefühlsfragen ihres jungen Lebens umherschwelgend. Es läuft „Kat’s Mix“ von Kassette, The Cure dudeln aus ihren Kopfhörern: „I’ve been looking so long at these pictures of you that I almost believe that they’re real. I’ve been living so long with my pictures of you that I almost believe that the pictures are all I can feel.“ Das Flugzeug und The Cure tragen uns ins Jahr 1991, nachdem die ersten Hälfte von Gregg Arakis „Like a White Bird in a Blizzard“ an uns ein wenig entrückt und unmerklich und unwirklich vorbeigezogen sind. Was Araki erzählt, entfaltet sich verschachtelt und nicht selten unentschlossen, überspült durch einen manchmal lebendigen, aber unermüdlich pathetischen Voice-over. Kat, alias Shailene Woodley – oder Shailene Woodley alias Kat – ist die Stimme des Films, bietet Ankerpunkt für Arakis musikalische und emotionale Tableaus. Wenn Musik gespielt wird, ist zumeist sie es, die sie initiiert und dabei illustriert ein jeder Song ihr angeschlagenes Seelenleben. Ein Teenie von einer bockigen Traurigkeit, gefangen in der sonnengetränkten Wohlstandsmüdigkeit einer verunglückten Kleinfamilie. Kat ist ein bisschen Schablone, ein bisschen Zeitgeist-Melange zwischen den bemüht herbeikonstruierten späten Achzigern und der HollywoodGegenwart von Woodleys aufblühender Karriere, liefert ein bisschen Identifikation in verstreuten, starken Momenten. „Ich war siebzehn, als meine Mutter verschwand. Gerade als ich anfing, nichts als mein Körper zu sein – Fleisch, Blut und aufgeregte Hormone – da trat sie aus ihrem heraus und ließ ihn zurück.“ Verträumt, ein bisschen traurig, ein bisschen anregend eröffnet sie den Film und gleichermaßen eröffnet sich ein Film in ihr. Durch Kats Stimme und ihre Erinnerungsbilder lernen wir gleich zu Beginn Eva Green kennen: als spurlos verschwundene Mutter Eve,
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die eines Tages aus Verzweiflung über ihr belangloses Leben das Haus verlässt – ohne Nachricht, ohne Spur. Kein Lebenszeichen von ihr ist in den Räumen der Geschichte erkennbar, nur Erinnerungen an Hoffnungen, Spannungen und Enttäuschungen. Green reißt den filmischen Raum an sich, wann immer sie ihn betritt: als Dämon, psychologischer Imperativ und melodramatischer Pastiche, als Kats Antithese und Fixpunkt einer kindlich-emotionalen Sehnsucht. Eve ist Utopie und Zusammenbruch, eine Frau zwischen Rollenbildern, die sich selbst irgendwann nicht mehr erkennt und darüber wahnsinnig wird. Araki adaptiert sie eng an Laura Kasischkes feministischer Romanvorlage als Frau zwischen den Generationen, hüllt sie in die perfekten Oberflächen von „Jackie O., Elisabeth Taylor and the Hitchcock women“. An ihrer Seite stellt uns Kats Stimme Christopher Meloni vor, als Ehemann und Vater Brock, der brav ins Büro geht und seiner Frau in der südkalifornischen Vorstadt kein anregendes Leben bieten kann. Nicht, dass er nicht will! Er weiß einfach nicht wie. Ein gutmütiger Klotz, versöhnlich und langweilig zu Hause, charmant und begehrenswert im Umgang mit seinen Kolleginnen. Später im Film von einer sonderbaren Strenge, die Abgründigkeit sein will. Melonis Physis ist massig und dabei hinter weißen Hemden, braven Hosen und Schnauzer gleichermaßen kaum greifbar.
Phantome Phantome, gehüllt in inszenierte Oberflächen, manchmal puppenhaft vor der perfekten Kulisse des amerikanischen Einfamilienhauses. Fast nie sind wir im Freien. „Variety“ schimpft über Arakis Sitcom-Sets und gesteht dem Regisseur gleichermaßen eine Autorenhandschrift zu, die in ihrer Stringenz mit kaum einem amerikanischen Regisseur der Gegenwart vergleichbar ist. In der Tat, Arakis Filme performen sich unentwegt selbst und damit die Sensibilität eines Regisseurs, der einst zentral war für das Selbstbewusstsein des New Queer Cinema. „The Living End“ (1992), ein wütender Film über zwei schwule, HIVpositive Rebellen und ihren Ausbruch aus der Gesellschaft, brachte Araki die Aufmerksamkeit der internationalen Festivalszene. Für das Magazin „Bomb“ umriss er damals eine ästhetische Logik, die in ihrer Problematik seine Arbeiten bis heute auszuzeichnen scheint: Auf der These aufbauend, dass Männer vor allem visuell stimuliert werden, schreibt er homosexuellen Männern und heterosexuellen Frauen die Obsession zu, sich als Reaktion permanent visuelle Reize anzueignen. Basierend auf dieser Logik inszeniert Araki seine Figuren immer wieder mit einer sexualisierten Dringlichkeit, die alle anderen Deutungssysteme letztlich überlagert. Nationalität, Physiognomie, Klasse, Alter: In Arakis ästhetischer Logik werden Stereotype und Differenzen zum stilisierten Fetisch und verlieren in ihrer Fetischisierung gleichermaßen ihre Autorität. Ein konstruierter, sexualisierter Blick offenbart sich in Arakis Teenagerfilmen als Filtersystem, das betont und gleichermaßen ad absurdum führt. Fast unentwegt richten sich seine Blicke nach Codes des Begehrens aus, sind darin sowohl Stimulation und Simulation als auch zunehmend apolitische Provokation. Beinahe alle Filme des kalifornischen Indieregisseurs, zuletzt insbesondere „Kaboom“ (2010), sind bevölkert von Teenies und Kindsköpfen, die in ihren fiebrig übersteigerten, bald apokalyptischen Konflikten auch als Abziehbilder erscheinen, als popkulturelle Sammelsurien, als penetranter Ausdruck und Fetisch einer Autorenperspektive. Sie performen füreinander, für die Kamera, für eine desillusionierte Gegenwart, sind selbstreferenziell bis zur Selbstverliebtheit und darin gerne verklärt und stereotyp. In Arakis TeenageApocalypse-Trilogie („Totally Fucked Up“, „The Doom Generation“, „Nowhere“) erreichen sie dabei eine derart rohe, originäre Wut und emotionale Überzeichnung, dass aber dann doch etwas hängenbleibt. Die plakativen Bildwelten und der musikalische Postpunk-PopCharme der Filme, Arakis plakativer Umgang mit Dialog und Schauspiel sind kaum verkennbar. Was er versucht, scheint dabei oftmals nur halb zu gelingen. Seine Ensembles wirken stets ein wenig dane-
ben, überkomponiert, dysfunktional. Jeder spielt für sich, für einen Typ, spürbare Chemie gibt es selten. Shiloh Fernandez erscheint in „Like a White Bird in a Blizzard“ als stumpfer Nachbarsjunge und Love-Interest von Kat. Araki beschreibt ihn im Gespräch mit out.com als perfekt für die Rolle, als idealen „Jungen von nebenan“, der dabei stets ein wenig „daneben“ erscheint: „Ganz offensichtlich hat er massig Sex-Appeal, aber seine Ausstrahlung wirkt dabei in ihrer sehr direkten Art auch schräg.“ Und Arakis Filme umreißen letztlich genau diesen Ton: In ihrer Überdeutlichkeit wirken sie oftmals unerwartet, sonderbar, ungreifbar. Sie spielen mit Camp als gemeinsamer Perspektive von Figuren und Zuschauern, fordern und verkörpern eine ironische Sensibilität, die quer liest, queer liest: „To perceive Camp in objects and persons is to understand Being-as-Playing-a-Role. It is the farthest extension, in sensibility, of the metaphor of life as theater” (Susan Sontag). Arakis Filme zwinkern und zwinkern und zwinkern. Ganz im Sinne Sontags sind sie belebt durch die Möglichkeitsräume zwischen überdeutlicher Intention, Überhöhung und Unbeholfenheit in Spiel und Inszenierung. Glyn Davis sortiert Arakis Arbeiten interessant anhand einer Unterscheidung von Gay Camp und Queer Camp. Gay Camp, Versatzstücke schwuler Kultur, die Hollywood bereitwillig als Stereotype ausschlachtet. Queer Camp dagegen: ein Eckpunkt des New Queer Cinema. Ein Begriff von Camp, der sich nicht anpassen will. Ein System von ästhetischen Codes, die sich in ihrer Exzentrik einem breiten Verständnis verweigern. Hier sieht sie Araki. Dessen erste Filme kosteten jeweils um die 5.000 Dollar, es spielten ausschließlich Laien. Sein neuer Film ist mit Eva Green und Shailene Woodley besetzt, doch noch immer erlaubt Arakis teils missglückte, teils hypnotische Inszenierung keine Erfahrung ohne Kanten, kein Spiel ohne Bruch und Doppeldeutigkeit. Zu viele Versatzstücke konkurrieren hier um Aufmerksamkeit. In einem Psychodrama, das auch Melodram sein will und Sex-Thriller und Coming-of-Age-Geschichte, das strukturell auf die ernsten Töne seines hervorragenden „Mysterious Skin“ (2004) verweist, platziert er an der Seite seiner Protagonistin dennoch Mark Indelicato und Gabourey Sidibeh als völlig abgedroschene Sidekicks und legt seinen Figuren Dialoge in den Mund, an denen man sich in brutale Rage ärgern könnte. Psychologische Fragen klärt zu allem Überfluss eine regelmäßige Therapiesitzung. Unerträglich und selbst in der schematischen Unerträglichkeit einer Therapiesitzung als PlotWerkzeug nochmals auf aufdringlichste Art kommentiert: „Dr. Thaler kam mir vor wie ein Schauspielerin, die eine Therapeutin spielt. Und während der Sitzungen fühlte ich mich wie eine Schauspielerin, die sich selbst spielt. Eine schlechte Schauspielerin, eine, die ihren Job richtig scheiße macht.“ Einfach. Zauberhaft. Arakis Filme muss man manchmal wirklich lieben wollen. Wer das will und wer nicht, ist dabei aber eben die interessante Frage. s
WIE EIN WEISSER VOGEL IM SCHNEESTURM
von Gregg Araki US 2014, 91 Minuten, deutsche Synchronfassung, englische OF mit deutschen UT AUF DVD bei Capelight Pictures, 3 www.capelight.de
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nachruf
WIR SCHEISSEN AUF DEN MAINSTREAM I N T E RV I EW: JA N GY M PE L · T R A NSK R I P T ION: JA N K Ü N EM U N D
Im Februar 2012 führte Jan Gympel für die SISSY ein Gespräch mit Peter Kern. Es sollte um DVD -Neuveröffentlichungen seiner Filme gehen und um die Premiere von „Glaube, Liebe, Tod“ auf der laufenden Berlinale. Unser Autor hatte von Anfang an keine Chance. Und Kern im O-Ton macht sehr deutlich, warum wir ihn zukünftig sehr vermissen werden. Denn am 26. August diesen Jahres ist Peter Kern gestorben. „Die doofen Englein werden schon ganz bald bereuen, dass sie dich so früh zu sich geholt haben.“ (Axel Ranisch)
SISSY: Wie läuft es denn mit dem neuen Film? Wie waren die Reaktio-
nen, waren es angenehme Erfahrungen in den letzten Tagen? Peter Kern: Das ist aber eine langweilige Frage. SISSY: Seit „Blutsfreundschaft“, das war der letzte Film, den ich von Ihnen gesehen habe, sind schon wieder drei weitere entstanden. Die Produktivität von Peter Kern beeindruckt mich. Können wir dazu was sagen? Kern: Die Produktivität beeindruckt Sie, ja? Und was soll ich dazu sagen? SISSY: Na, woher kommt das? Sie machen drei Filme in einem Jahr, andere Leute machen in drei Jahren einen Film. Kern: Ja, aber man kann nicht sagen, warum man Durchfall kriegt. Wahrscheinlich habe ich was Schlechtes gegessen und mache deshalb so viele Filme. Das kann ich nicht beantworten. Ich mache die Filme aus einem Bedürfnis heraus, weil ich all das, was ich sehe, beobachte, empfinde, auch visuell umsetze. Und ich eben diese zwei Formen von Kino habe: Das ist der kleine Film, der direkt auf politische und ökonomische Zustände reagieren kann – sonst kann das ja kaum ein Film – und die anderen, die großen Filme, die zwei, drei Millionen kosten, da muss man warten, bis die finanziert sind, das dauert dann zwei, drei, vier Jahre. SISSY: Das scheint ja auch zu funktionieren, dass zwischendurch mal so Filme entstehen … Kern: … aus dem Nichts heraus, wo geschnorrt wird, wo es kleine Förderungen gibt… ich kann sehr gut die Leute, das Team, motivieren, die wissen genau, wenn sie bei einem kleinen Film mitmachen, der politisch wichtig ist, dass sie dann auch beim großen Film dabei sein werden, wo sie dann viel Geld verdienen. SISSY: Andere gehen ja nicht diesen Weg … Kern: Aber andere interessieren mich nicht. Andere gibt es nicht. SISSY: Ich sehe es aber im Vergleich, dass … Kern: Mich interessieren Vergleiche nicht, das ist ein Armutszeugnis, Regisseure zu vergleichen, das gibt es nicht, das ist nicht gestattet. Ich kann mich nur mit einem Thema beschäftigen, mit einer Form. Sie brauchen Schubladen, ich brauche die Schubladen nicht. Ich habe den Atem. SISSY: Für mich wäre aber so eine Schublade wichtig wie der Außenseiterstatus … Kern: Sehen Sie, Sie kommen hier mit Klischees daher, da machen Sie mich schon gleich wahnsinnig. Was heißt denn „Außenseiterstatus“?
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Sie sind ein Außenseiter, so wie Sie ausschauen, ein typischer Außenseiter, Sie haben einen Bart, eine Knollennase, einen weiten Haaransatz. Also was ist denn ein Außenseiter? Schlingensief hat sich Zeit seines Lebens geärgert, mit welchen Attributen die Presse ankommt, „enfant terrible“, „in keine Schublade passend“, „Außenseiter“ … Der „gewichtige Peter Kern“, weil ich ja nun mal fett bin, aber das geht mir alles am Arsch vorbei, ich bin kein Außenseiter. Mein Außenseitertum ist Mainstream! SISSY: Aber ich meinte das jetzt auch bezogen darauf, dass Sie ja viele Filme drehen, diese dann aber, zumindest in Deutschland, nicht regulär zu sehen sind, also mit Verleih und pipapo, es laufen auch nur selten von Ihnen Filme im Fernsehen. Kern: Also erstens einmal beobachten Sie schlecht, ich kann nichts für Ihre schlechte Recherche. Zweitens: Alle meine Filme, die ich gemacht habe, sind ins Kino gekommen. Klar, dass sich die Kinosituation verhärtet, darüber haben wir ja oft diskutiert, über Quoten für deutsche und österreichische Filme. Den ganzen Mist, der in Amerika floppt, kriegen ja wir Deutsche und Österreicher zu sehen. Wir haben verloren, denn die Amerikaner haben sich die Multiplexe gebaut und schmeißen unsere Filme heraus. Es gibt nur noch einige wenige Programmkinos und die spielen eigentlich auch nicht mehr unsere Ware. Also hat es nichts zu tun mit den Filmen selber … SISSY: … das habe ich ja auch nicht behauptet! Kern: … sondern mit einer neuen Mittelmäßigkeit, dass die Leute nur mehr auf Sehweisen getrimmt sind nach Vorabendprogramm, und dass man was anderes einfach nicht mehr sehen will. Leute, die außergewöhnliche Filme, außergewöhnliche Themen machen, haben das Problem, dass dieses Publikum so versaut ist im Hirn, dass es nicht mehr bereit ist, andere Sehweisen zu akzeptieren. Die Werbung hat gesiegt! Alle Filme sind nach der Werbung ausgerichtet, und so sind auch unsere Filmchen … aber das interessiert mich eigentlich alles nicht, ob sie den Film sehen oder nicht, irgendwann gibt es ja eine DVD oder ich verschenke sie dann im Internet, was auch immer. Wenn die Blödheit voran geht, geht sie voran, da ist jeder selber schuld. SISSY: Aber Sie möchten doch schon, dass Ihre Filme gesehen werden, sie sollen doch auch was bewirken … Kern: Es ist natürlich schön, wenn man merkt, aha, da hat einer verstanden, was man gemacht hat, da kann einer Bezüge herstellen – dann kriegt man E-Mails, dass man jemandem fürs Leben neue Inhalte gegeben hat, das ist natürlich schön, ja. Aber letztendlich: An der eigenen Einsamkeit verändert es nichts. SISSY: Aber ob die Filme Erfolg haben, das hat ja leider Auswirkungen darauf, ob man wieder Geld für neue Filme bekommt … Kern: Allein, bis so ein Film zustande kommt, sind es schon 68 Menschen, die da mitreden. Die Ihnen Freiheiten nehmen, Geschichten zu erzählen. Die Ihnen die ganzen Spitzen wegnehmen. Die den Film dezimieren. Die ihn in das Mittelmaß des gesellschaftlich Möglichen bringen. Und dem verweigere ich mich. Ich bin ein Anarchist! Wahrscheinlich der letzte, den es gibt. Ich übe den Ungehorsam und deshalb muss ich meine Filme selber finanzieren und schauen, die Leute überzeugen. Ich bin nicht kaufbar von einer verlogenen Gesellschaft, die nur darauf aus ist, ihre eigene Selbstbefriedigung in der Oberfläche zu sehen. Ich gehe in die Tiefe, und ich formuliere das Verbrechen auf meine Art und Weise. SISSY: Jetzt würde ich nochmal gerne auf die Außenseiter kommen, obwohl Sie den Begriff ja schon zurückgewiesen haben. Ich finde, es gibt ein deutliches Interesse an Außenseitern in Ihren Filmen; gesellschaftliche Außenseiter spielen häufig eine bedeutende Rolle. Liegt es daran, dass sie für Sie interessanter sind als die voll Integrierten, die im Strom mitschwimmen oder es zumindest versuchen, derweil es ihnen nicht gestattet wird … Kern: Sehen Sie, dieses Vokabular habe ich gar nicht. Wer bestimmt denn, wer Außenseiter ist?
nachruf SISSY: Na, aber es sind doch häufig Figuren, die nicht das sind, was man so Mitte der Gesellschaft nennt, um solche Floskeln jetzt mal anzubringen … Kern: Nein, das kommt auf Ihr kleinkariertes Leben an. Wenn man so ein kleinkariertes Leben führt wie Sie, dann mag das für Sie ein Außenseiter sein, wenn man aber ein offener Mensch ist, der diese Einteilung gar nicht hat, der nicht sagt: Das ist ein Jude, ein Moslem, ein kleiner Verbrecher … Viele Außenseiter ergeben eine Gesellschaft und für mich existiert nur die Gesellschaft. Ich teile sie nicht ein, ich stecke sie in keine Schublade, ich etikettiere sie nicht, das machen Sie, als Journalist. Weil Sie nicht anders können, weil Ihnen die Worte, die Beschreibungen, die menschliche Größe dazu fehlt. Für mich gibt es keine Außenseiter. Jeder Mensch, den Sie als Außenseiter beschreiben, ist für mich ein „Innenseiter“. Für mich gibt es nur Menschen mit verschiedenartigen Konstellationen und Problemen. SISSY: Dahinter steckt dann aber der Gedanke, dass das alle Menschen betrifft. Wenn man z.B. den Familienvater in „Gossenkind“ anschaut, der nach außen hin Mainstream ist, Mitte der Gesellschaft, bürgerliches Leben, aber dann eben in Wahrheit doch nicht. (Pause) Kern: Was ist die Frage? SISSY: Ob mein Eindruck richtig ist. Kern: Aber das ist überhaupt kein Außenseiter, sondern das, was überall in unseren Familien passiert. Sie wissen es nur noch nicht. Der Mann ist verheiratet, Frau und Kinder, aber trotzdem steht er auf Jungs. Der ist weder Außenseiter noch Mainstream. Das ist ein Mensch mit Gefühlen. Die Gesellschaft sucht sich Außenseiter, um eben Schwerpunkte zu finden, um diese Außenseiter zu zertrümmern. Alles drängt in die Mitte, und die Mitte ist ein aufgeweichter Schwamm. Ich bin für die Menschen, die Individualismus leben, die in den Ecken stehen, die versuche ich ans Licht zu zerren. Wir scheißen auf den Mainstream! Mainstream ist das, was versucht zu leben, sonst nichts. SISSY: Das ist aber das, was ich mit dem Begriff, den Sie nicht mögen, bezeichnet hätte. Kern: Rechtfertigen Sie sich doch nicht immer, stellen Sie doch einfach Fragen! Sonst interview ich nämlich gleich Sie, das schaut dann anders aus. SISSY: (lacht) Darf ich, da wir das Interview ja machen für ein Blatt mit einem schwulen Schwerpunkt, fragen: Soll man da auch irgendwelche Zusammenhänge entdecken, ist das wieder eine völlig blödsinnige Frage, für Sie müßig zu beantworten, aber würden die Filme anders aussehen, wenn Peter Kern nicht schwul wäre? Kern Ich bin homosexuell, aber mich interessiert nicht, darüber Filme zu machen. Schwule sind in einem Ghetto, in einer Außenseitersituation, weil sie selbst immer davon reden. Für mich ist das Thema gegessen. Weil ich den Mensch als Gesamtes sehe und seine Sexualität auch. Ich brauche keine Zeitschrift für Homosexuelle. Ich finde, der „Stern“ ist die homosexuellste Zeitschrift, die es überhaupt gibt. Sie sollte mehr homosexuelle Themen bringen, das ist was anderes, aber dass ich jetzt wieder so Nischenzeitschriften machen muss, wo dann nur die Homosexuellen über ihre Kultur lesen, das ist ja eine rückschrittliche Entwicklung. Seit 40 Jahren mache ich Filme über Homosexuelle, mich interessiert das nicht mehr. SISSY: Aber es tauchen doch mehr schwule Figuren in Ihren Filmen auf als bei anderen Regisseuren? Kern: Ja, wahrscheinlich weil ich sie mehr wahrnehme und verstehe als andere Regisseure. SISSY: Ich kenne z.B. den Fall einer Literaturagentin, die zu einem Autor sagt, wenn das Buch sich um Schwule dreht, ist das schlecht, kannst du nicht was über ein Heteropaar schreiben, das können wir besser verkaufen … Kern: Diese Frau müsste man veröffentlichen, den Satz müsste man veröffentlichen, ganz groß in die Bildzeitung schreiben. Wieso haben solche Leute überhaupt eine Berechtigung, auf Kultur Einfluss zu
nehmen? Die muss man denunzieren. Das ist Faschismus, sie schließt eine Gruppe von Menschen in einer Gesellschaft als nicht attraktiv aus. SISSY: Aber ich fürchte, das ist kein Einzelfall. Entweder ist es noch so, oder es ist wieder so, dass gesagt wird: Können wir nicht verkaufen, mach was anderes … Kern: Aber Sie erzählen mir lauter Sachen, die mich einen Scheißdreck interessieren. Das ist doch alles schon abgelaufen! Unterhalten Sie sich doch mit Herrn Petzold oder mit Herrn Dingsdabumsscheißkugel, diese Themen betreffen mich nicht mehr, Sie können nicht einem Anarchisten mit Themen aus dem Altertum kommen. SISSY: Aber wenn Sie so anarchistisch sind und Sie so viele Probleme haben, für ihre Arbeit Geld zu bekommen … Kern: Ich habe überhaupt keine Probleme, Geld zu bekommen, ich bekomme genug Geld und setze es richtig ein. SISSY: Mir ist aufgefallen, dass sich viele Prominente dazu bereit erklären, mitzumachen. Man könnte auch so sagen … Kern: Also, Sie haben einen Stil, mit mir zu reden … Ich kenne das Wort „prominent“ gar nicht, es ist eine Frechheit, in meiner Gegenwart das Wort „prominent“ überhaupt in den Mund zu nehmen. Ich weiß nicht, was das ist, erklären Sie mir, was ist prominent? SISSY: Leute, die bekannter sind als andere. Kern: Ein schwachsinniger Satz. Wie weiß ich denn, dass einer interessanter ist als der andere? Es kommt doch darauf an, in welcher Welt Sie sich bewegen. Sie sind voll mit Bildzeitung, mit Oberflächlichkeit, und machen mit mir ein Interview? Da sind Sie der falsche Mann, so kann man mit mir nicht reden. Für mich gibt es nur gute und schlechte Schauspieler. Und Schauspieler, die eine Leidenschaft haben und die eine Geschichte rüberbringen wollen. Ein schlechter Mundgeruch, der ist prominent. Sie können Jodler im Musikantenstadel interviewen, aber mich nicht. Ihre Fragen sind so daneben … SISSY: Aber ich finde, Sie geben mir tolle Antworten! Sie finden vielleicht meine Fragen dumm, aber ich finde Ihre Antworten sehr interessant. Kern: Vielleicht ist das ja Raffinesse, mich dort hin zu bringen … SISSY: Ach, überschätzen Sie mich mal nicht. Sie dürfen nicht meine Fragen überschätzen, Ihre Antworten sind ja viel wichtiger. Darf ich Sie noch etwas zu Schlingensief fragen? Zu ihrer engen Verbindung, künstlerisch, politisch … Kern: Es ist schade, dass er nicht mehr da ist. Aber das jetzt hier nochmal aufbauen? Fragen Sie mich nicht nach der Vergangenheit, nach gelebtem, totem Leben. Fragen Sie mich nach der Zukunft. Es bleibt nichts, alles weg. Man vermisst einen Menschen so sehr, wie schön, wie bereichernd das Leben war, was habe ich gelacht, was war ich beglückt – das habe ich heute nicht mehr. All die wirklich interessanten Menschen, die etwas bewegt haben, die was Eigenes auf die Welt gebracht haben, wie eben Schlingensief, Schroeter, Fassbinder, sind alle weg. Alle meine Freunde sind weg. Es ist ein Wunder, dass ich noch dasitze. Und ich muss das jetzt alles alleine ausbaden, diesen ganzen Schwachsinn mir noch anschauen und über die Vergangenheit reden. Sie sind tot, ich vermisse sie, und aus. SISSY: Und es kommt nichts nach? Kern: Ja, wo denn? Es kommen Journalisten wie Sie nach, die wieder nach der Vergangenheit fragen. SISSY: Also zur Zukunft: Was kommt denn als nächstes? Kern: Nichts mehr. SISSY: Aber es kommt doch bestimmt wieder ein Film? Kern: Nicht für SISSY. Und der Herr Künemund, der kriegt noch was zu hören von mir. Ich habe ihm so ein schönes Bild gegeben, wo ich nackt daliege, mit DVDs an den gefährlichen Stellen, daran entziehe ich ihm die Rechte. SISSY: Das wäre aber schade. Kern: Das liegt an Ihnen. Hätten Sie ein besseres Interview geführt … (lacht laut auf ) Ach komm, jetzt hören wir aber auf! s SISSY 27 41
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Neu auf DVD VON PAUL SCHULZ (PS) UND JA N KÜNEMUND (JK)
DIE WOLKEN VON SILS MARIA FR/CH/DE 2014, Regie: Olivier Assayas, Eurovideo
Die erste Ebene dieses an Ebenen reichen Films bildet ein fiktives Theaterstück, das davon handelt, wie eine junge Frau ihre ältere Vorgesetzte verführt und in den Selbstmord treibt. Die zweite Ebene betrifft die Schauspielerin Maria, die in der Hauptrolle der Verführerin vor 20 Jahren zum Star wurde und nun dazu überredet wird, die Rolle der Älteren zu übernehmen – u.a. von ihrer eigenen Assistentin Val, die sowohl eine herausfordernde wie stabilisierende Präsenz bewahrt, wie sich schon im ersten Bild zeigt, wo sie in einem schlingernden Zugabteil mit zwei Smartphones gleichzeitig jongliert. Die Folie des Theaterstücks und seiner lesbischen Dynamik passt nur so halb auf Maria und Val – die Neubesetzung der jungen Verführerin soll eigentlich eine Schauspielerin übernehmen, die als Lindsay-Lohan-Variante, Paparazzi-Opfer und Pop-Phänomen eine komplett andere Herausforderung für Maria wäre als ihre klug übersetzende Assistentin, mit der sie den alten Text probt. Die dritte Ebene des Films betrifft das Casting: Juliette Binoche, Kristen Stewart und Chloë Grace Moretz personifizieren völlig verschiedene Kinoweiblichkeiten, und klug lässt Assayas sie in verschiedenen Sprachen
um Bestätigung, Zärtlichkeiten und Herausforderungen ringen. Die Konzeption der Figuren bleibt dabei völlig in der Schwebe, der Film lässt sie zwischen Hotelzimmern, statischen Bergmassiven, zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten und in verschiedenen Rollen changieren, blendet Einsamkeiten und Irrwege sanft in Schwarz aus, arbeitet Schönheiten in den weiblichen Dynamiken heraus. Überhaupt: Frauen unter dem kritischen Blick einer männlich geprägten Öffentlichkeit hat man so facettenreich auch noch nicht als Filmthema gesehen. Subtil formt sich dabei immer wieder eine ganz freie Bewegung durch eine aufmerksamkeitsgierige Welt wie eben die Wolken von Sils Maria immer wieder eine Formation bilden, die sich frei durch das Massiv der Berge bewegt. jk
ES WAR EINMAL EINE PRINZESSIN AU/DE/SN/NO 2011–15, Edition Salzgeber
„Es war einmal eine Prinzessin“ versammelt fünf märchenhaft schöne Kurzfilme, in denen kleine Mädchen andere kleine und größere Mädchen küssen und dabei viel lernen. „Die Maid und die Prinzessin“ ist der schönste davon: Die zehnjährige Emmy küsst, obwohl sie eigentlich einen Jungen einfangen soll, lieber ihre Freundin Alice, bekommt dar-
aufhin von ihren Eltern eine Standpauke und dann von einer magischen Vereinigung das passende Märchenbuch, um sich besser zu fühlen, besonders, weil ihre Geschichte von genau der richtigen Person mit genau dem richtigen Zungenschlag neu erzählt wird. Neben den beiden wirklich guten deutschen Beiträgen „M wie Martha“ und „Stella“ sticht „Die andere Frau“ hier deswegen hervor, weil eine Geschichte aus Senegal erzählt wird, in der eine Mitfünfzigerin entdeckt, dass es auch für sie von Vorteil ist, dass ihr Mann sich eine zweite Frau ins Haus holt. Wunderbar. ps
VON MÄDCHEN UND PFERDEN DE 2014, Regie: Monika Treut, Edition Salzgeber
Eine klar und geradlinig erzählte Coming-of-AgeGeschichte, die im deutschen Norden spielt und sich und ihrer jugendlichen Protagonistin Blicke und Welten eröffnet, die ganz auf die visuellen Möglichkeiten des Kinos vertrauen. Aus den komplizierten Produktionsbedingungen des deutschen Förderkinos findet der Film dadurch ebenso leicht heraus wie aus dialogüberfrachteten Geschichten über urbanes lesbisches Leben, wie sie prominent das US-amerikanischen Nischenkino produziert. Dass der Film auf eine kollektive Begeisterung von Mädchen für Pferde anspielt
YOU AND I BFF – BESTE FREUNDINNEN FÜR IMMER DER HEIMLICHE FREUND ZOMER – NICHTS WIE RAUS! EISENSTEIN IN GUANAJUATO DUKE OF BURGUNDY WIR SEHEN UNS IM KINO: AACHEN, AUGSBURG, BERLIN, BREMEN, DRESDEN, FRANKFURT, FREIBURG, HALLE, HAMBURG, HANAU, HANNOVER, KARLSRUHE, KIEL, MAGDEBURG, MANNHEIM, MÜNCHEN, MÜNSTER, NÜRNBERG, OLDENBURG, POTSDAM, REGENSBURG, SAARBRÜCKEN, STUTTGART.
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und hierfür ziemlich handfeste Bilder findet, ist dabei sein besonderer Trumpf. „Wer weder Pferden noch Mädchen etwas abgewinnen kann, wer Actionfilme und auserzählte Stories mag, der wird Monika Treuts neuem Werk vermutlich wenig abgewinnen können. Wer aber Slow Cinema schätzt und Bilderwelten liebt, die sich in Ruhe entblättern, wer großartigen Landschaften verfallen kann und ebenso begabte wie unverkrampfte Schauspielerinnen zu schätzen weiß, der wird von der Welt, die ,Von Mädchen und Pfersen‘ handelt, uneingeschränkt verzaubert sein.“ (Tania Witte in SISSY 23)
STELLA CADENTE ES 2014, Regie: Luis Miñarro, Edition Salzgeber
Ein macht- und sinnlos agierender spanischer König, der wenig Spuren in der Geschichte hinterlassen hat, gibt sich mit seinem überschaubaren Hofstaat trägen erotischen Fantasien hin, während das Land im Chaos versinkt. „Nur wer politisch nichts mehr zu melden hat, kann entspannt vor reliefverzierten Wänden im Lehnstuhl lümmeln, am reich gedeckten Esstisch einschlummern, von der Überfülle des Aufgetischten erschlagen (während ein Huhn frech über die Speisen stolziert), sich an der sinnfreien Schönheit überdimensionierter Broschen erfreuen, oder auch, ganz besonders gern, sich mit geöffnetem Samtbademantel zu Ihrer Majestät ins überaus flauschige, mit rotem Samt und allerlei Verschnörkelungen veredelte Bett legen. Das Zentrum des Films ist nicht etwa der Thron, oder wenigstens irgendein Geschäfts- oder Empfangszimmer, sondern eben dieses königliche
Bett, in dem sich die Figuren in wechselnden Konstellationen miteinander vergnügen – oder wenigstens: sich aneinander kuscheln, einander von den erotischen Abenteuern erzählen, die sie in irgendwelchen Winkeln des Schlosses oder des (fast noch aufregenderen) Schlossparks erlebt haben. Mit Männern, mit Frauen, mit Bäumen, mit Lebensmitteln. (…) Erst in unwahrscheinlich brillant gleißendem Kerzenlicht kommt die ornamentale und völlig nutzlose Schönheit der Gemächer, auch der Kleider richtig zur Geltung. Und selbst die wenigen Außenszenen haben durch das übervital strahlende Grün der Bäume etwas Außerweltliches. Wobei es eine ganze Weile dauert, bis sich in den lange Zeit eher sanft perversen Fluss der Bilder auch echte Surrealismen, Traumszenen, Geisterfiguren mischen. Die sind dann auch stets schnell wieder verschwunden, ohne allzu viele Spuren zu hinterlassen. Derart große inszenatorische Gesten wirken eh ein wenig fehl am Platz in einem Film, der viel stärker ist, solange er sich darauf beschränkt, eine alles durchdringende Atmosphäre der imperialen Mattheit zu kultivieren, in der die zweckfreien Sumpfblumen des Begehrens nur umso schillernder blühen können.“ (Lukas Foerster in SISSY 26)
STILL ALICE US 2014, Regie: R. Glatzer & W. Westmoreland, Polyband
Der letzte Film von Richard Glatzer, erneut in Zusammenarbeit mit deinem Partner Wash Westmoreland entstanden, ist zwar ein ziemlich heteronormativer Tearjerker, in dem eine kranke Frau für ihre Kernfamilie zum Problem wird, aber wunderbarerweise hat er
Julianne Moore endlich den Oscar eingebracht. „Moore spielt eine Linguistin, die eine frühe Alzheimer-Diagnose bekommt und immer weniger und weniger wird, bis sie am Ende nur noch in der Stille ihrer Augen Alice ist. Eine Meisterleistung. Glatzer litt an ALS, was Moore in ihrer Oscar-Dankesrede genauso selbstverständlich erwähnte wie die langjährige Liebe und Beziehung der beiden Männer hinter dem Film.“ (Paul Schulz in SISSY 25).
APPROPRIATE BEHAVIOR – EINFACH UNGEZOGEN US 2014, Regie: Desiree Akhavan, Pro-Fun Media
Autorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin Desiree Akhavan gilt als großes neues KomikerinnenTalent und wird oft mit Lena Dunham verglichen. Ihr erster Spielfilm erzählt ziemlich autobiografisch von Shirin, einer chaotischen Brooklynerin, die gerade eine Trennung von Maxine verarbeitet, sich aber nicht als lesbisch outen möchte und auch sonst nicht so recht weiß. „Mit Maxine und Shirin treffen eine Menge Unterschiede aufeinander, die sich auflösen, solange sie offen für einander und sich körperlich nah sind. Verletzend und entfremdend dagegen sprießen ihre Meinungsverschiedenheiten aus dem Boden, sobald die Stimmung kippt. Wenn das von Maxine zu ernstgenommene Rollenvorspiel Steuerberatung doch nicht zum gewünschten Sex führt oder Shirin die Freunde von Maxine nicht mag, aus der LGBTQ -Szene überhaupt nur Dragqueens toll findet. Sie nerven sich, sie haben keinen Sex, ruinöse Zeitverschwendung, nur eine Phase, no homo … und doch versucht Shirin alles, um Maxine zurückzubekommen.
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Selbst vor allzu oft gebrauchten Floskeln macht sie im Gespräch mit ihrer besten Freundin Crystal in Cafés oder per Walk’n’Talk nicht halt: ‚Ich brauche meine Freundin zurück! Ich bin innerlich tot. Nichts macht mir Spaß.‘ Das klingt alles sehr dramatisch, ist in dem Fall auch überdramatisiert gemeint. Aber der Film wird eher vom Wechselspiel zwischen Komik und Tragik getragen. Vergleichbar etwa mit Noah Baumbachs ‚Frances Ha‘ oder Gillian Robespierres ‚Obvious Child‘, die ebenfalls in Brooklyn spielen, oder Woody Allens ‚Der Stadtneurotiker‘, den Akhavan selbst gern als Vorbild nennt.“ (Aileen Pinkert in SISSY 26)
SPIEL DOCH MIT DEN JUNGS! SE/AU/DE/DK/US 2012–14, Edition Salzgeber
I Heart Boy Photographs by Jessica Yatrofsky October 16, 2015
Es gibt nichts auf der Welt, was so verwirrt ist wie Jungs zwischen 12 und 16. Das gilt auch für alle Protagonisten der sieben Kurzfilme auf „Spiel doch mit den Jungs!“. In den sehr verschiedenen Shorties wird vom pragmatisch-praktischen ersten Mal zweier Heteros („Boygame“) bis zum Bully-Terror alles aufgeboten, was die Pubertät für Queerlinge so anzubieten hat. Ein Favorit: „Dik“, in dem ein Sechsjähriger mit einer hübschen Kinderzeichnung und drei Rechtschreibfehlern in neun Minuten voll smartem Witz die Beziehung seiner Eltern zum Explodieren bringt. Und „Jackpot!“, ein bisschen magisch-pornografischer Realismus im New Jersey des Jahres 1994, der ohne Internet, aber mit Pornoheften und ohne Mobiltelefon, aber mit Selbstbewusstsein, seinen Protagonisten mit blutigen Schrammen und glücklich offener Hose zurücklässt. Christin Freitags „Jetzt Jetzt Jetzt“ lohnt den Kauf allein, weil hier in 36 Minuten erklärt wird, wie man sich gekonnt für die Seinen einsetzt, auch wenn man noch gar nicht weiß, dass die das sind. Wunderbarer kleiner Streifen. ps
FÜR IMMER DEIN Galerie Koll and Friends Motzstraße 23, Berlin-Schöneberg
BE/CA 2014, Regie: David Lambert, Edition Salzgeber
David Lambert letzter Film „Jenseits der Mauern” war ein großartiges Werk über eine komplizierte Beziehung und auch sein neuer „Für immer dein“ beschäftigt sich mit den emotionalen Abhängigkeiten zweier Männer, wenn auch auf völlig anderer Grundlage. Denn die Ungleichheit wird hier sofort offensichtlich. Henry (Jean-Michel Balthazar) ist der dicke Bäcker in einem kleinen, belgi44 SISSY 27
schen Dorf und oft einsam. Das ändert sich, als er den jungen argentinischen Sexworker Lucas (Nahuel Perez Biscayart) im Internet aufgabelt und ihm ein Flugticket schickt. Lucas landet mitten in der belgischen Provinz und stellt nicht nur Henrys Leben auf den Kopf, sondern verliebt sich auch. Leider nicht in Henry, sondern in eine junge, alleinerziehende Mutter. Balthazar und besonders Biscayart können etwas, das in Lamberts Filmen sehr nötig ist: spielen. Heißt hier: schweigen und dabei Bände sprechen, einem still das Herz brechen, weil sie ihre Figuren so mit Leben füllen, komplexe Gedanken über materielle und emotionale Abhängigkeiten mit nur einem Augenaufschlag verdeutlichen. So richtig glücklich ist hier erstmal eigentlich niemand. Außer dem Publikum, weil der Film so gut ist. ps
WIE EIN WEISSER VOGEL IM SCHNEESTURM US 2014, Regie: Gregg Araki, capelight pictures
Sommer 1988. Die 17-jährige Kat ist zum ersten Mal verliebt und genießt die gemeinsame Zeit mit ihrem Freund Phil. Als ihre exzentrische Mutter Eve verschwindet, ist Kat nicht weiter beunruhigt im Gegenteil: Ohne Eves ständige Eifersucht auf ihre Tochter und deren Jugend ist das Leben sogar einfacher. „Sein neuer Film ist mit Eva Green und Shailene Woodley besetzt, doch noch immer erlaubt Arakis teils missglückte, teils hypnotische Inszenierung keine Erfahrung ohne Kanten, kein Spiel ohne Bruch und Doppeldeutigkeit. Zu viele Versatzstücke konkurrieren hier um Aufmerksamkeit.“ (p Seite 38)
KINK – THE 51ST SHADE OF GREY US 2014, Regie: Christina Voros, Alive
Was kommt dabei raus, wenn James Franco als Produzent einer erfahrenen Doku-Filmerin den Auftrag gibt, herauszufinden, was sich hinter dem Phänomen kink.com, dem größter Online-Produzenten für BDSM-Pornografie verbirgt? Eine feministisch-queere Filmreportage feinster Güte und voller sinnvoll eingesetzter Erektionen. All das, was Franco in seinem komplett misslungenen „Interior: Leather Bar“ falsch gemacht hat, gelingt hier vollständig: Die Protagonist_innen werden ernst genommen, das Publikum versteht, was sie antreibt und an BDSM-Sex fasziniert, das Humorlevel stimmt, obwohl niemand auf die Idee käme, die Beteiligten anzustaunen oder be-
frisch ausgepack t
fremdlich zu finden, und jede Art von Sex wird gezeigt, ohne sie auszustellen. Die intellektuell lustvollen Räume hinter Kink-Sex werden als der große Abenteuerspielplatz für Erwachsene gezeigt, als den diejenigen, die ihn praktizieren, ihn betrachten. Und Voros lässt dem Publikum Raum, um sich seine eigenen Gedanken zu machen. Dass hier schwuler gleichberechtigt neben lesbischem, heterosexuellem und die Geschlechtergrenzen komplett überwindendem Sex steht, muss für Kenner der Szene nicht erwähnt werden, ist für alle anderen aber doppelt schön. ps
THE SURFACE US 2015, Regie: Michael J. Saul, Pro-Fun Media
Um „The Surface“ wirklich genießen zu können, sollte man eine Vorliebe für junge, dünne, männliche, langhaarige Ex-Models haben. Denn Harry Hains, der die Hauptrolle spielt, ist genau das, aber kein wirklich guter Schauspieler. Was ein bisschen schade ist, denn die Geschichte, die Regisseur Michael J. Saul hier zu erzählen versucht, könnte, in talentierteren Händen, sehr spannend sein: Die Waise Evan (Hains) lebt mit dem älteren, wohlhabenden Chris, bis er auf einem Flohmarkt eine Super-8-Kamera kauft und, als er ins Haus des ehemaligen Besitzers zurückkehrt, um das dazugehörige Schnittgerät zu bekommen, dessen Sohn Peter kennenlernt. Auch der ist deutlich älter als er. Bald tauscht Evan seine Beziehung mit Chris gegen eine mit Peter. Bis er lernt, dass einem das Erwachsenwerden niemand abnehmen kann. „The Surface“ ist ein Film über Bilder und wie sie in Köpfen entstehen, versucht selbst möglichst viele schöne davon zu schaffen und ist dabei mehr oder minder erfolgreich. Die Schauwerte sind jedenfalls beachtlich, auch wenn sie selbst manchmal sehr an der Oberfläche bleiben, von deren Durchbrechen hier eigentlich erzählt werden soll. ps
THE IMITATION GAME – EIN STRENG GEHEIMES LEBEN UK/US 2014, Regie: Morten Tyldum, Universum
Ein sozialphobischer, latent autistischer und irgendwie an Männern interessiertes Rechengenie knackt den Code der Nazis und wird zum Kriegsheld, bis er über eine Männergeschichte in gesetzliche Ungnade fällt. Reabilitations-Biopic mit Benedict Cumberbatch als Alan Turing. „,The Imitation Game‘ ist ein sehr guter Film. Das liegt daran, das
Drehbuchautor Graham Moore und Regisseur Morten Tyldum, der bislang nur mit dem Actionreißer ‚Headhunters‘ positiv aufgefallen war, Turing in dem Biopic das sein lassen, was er für die meisten Menschen Zeit seines Lebens und weit über seinen Tod hinaus blieb: ein Rätsel. Das spiegelt sich sowohl in der Struktur des Films wieder, die eine Geschichte aus Turings Kindheit, die Verfolgung wegen seiner Sexualität und die Story von Enigma neben-, hinterund übereinander laufen lässt und durch Rückblenden und Zeitsprünge miteinander verknotet, wie auch in seinen Hauptfiguren. Benedict Cumberbatch lässt sich nicht dazu verleiten, seinen Part als affektierten Sonderling anzulegen, sondern macht Turing zu einem Menschen, der weiß, dass er das, was er wirklich denkt und fühlt, nicht vermitteln kann, weil seine Gedanken und Sehnsüchte von seinen Mitmenschen einfach nicht verstanden werden würden, egal, wie sehr er sich bemüht.“ (Paul Schulz in SISSY 24)
GARDENIA – BEVOR DER LETZTE VORHANG FÄLLT DE/BE 2014, Regie: Thomas Wallner, Indigo
Wer die magische Kraft, die Alain Platels und Frank Van Laeckes Show „Gardenia“ hatte, auf ihrer zweijährigen Welttournee nicht live erleben durfte, kann das jetzt mit dem Dokumentarfilm über deren Darsteller_innen von Thomas Wallner nachholen, zumindest teilweise. Denn wo die Show ihre Trans*Darsteller_innen in ihrer Kulisse aus Sehnsucht, Licht und Bewegung beließ, zeigt uns der Film auch ihr Leben jenseits der Bühne: unglückliche Liebe, Einsamkeit, eine Schublade voller kleiner Hotelseifen und verstaubter Träume. Das kann den Genuss an den Showausschnitten schmälern – oder viel reicher machen, weil man begreift, woher die Ausstrahlung und Kraft kommen, die die Altvorderen auf der Bühne zeigen, es ihre Charaktere vertieft und bereichert. Die vierte Wand wird hier kraftvoll durchbrochen, so dass der Vorhang gar nicht fallen kann, denn das Leben dieser Menschen ist auch, als die Show vorbei ist, nicht zu Ende, was das Publikum mindestens so hoffnungsvoll zurück lässt wie seinerzeit im Theater. ps
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I Heart Girl Photographs by Jessica Yatrofsky October 16, 2015 Galerie Koll and Friends Motzstraße 23, Berlin-Schöneberg
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IMPRESSUM Herausgeber Björn Koll Verlag
Redaktion
Jan Künemund, presse@salzgeber.de
Gestaltung
Johann Peter Werth, werth@salzgeber.de
Autoren
Toby Ashraf, Gunther Geltinger, Fritz Göttler, Jan Gympel, Fabian Hischmann, Jan Künemund, Stephanie Kuhnen, Sebastian Markt, Noemi Yoko Molitor, B. Ruby Rich, Paul Schulz, Alexandra Seitz, Dennis Vetter, André Wendler, Jochen Werner, Sascha Westphal, Tania Witte.
Lektorat
Christian Weber
Anzeigen
Jan Nurja, nurja@salzgeber.de Es gilt die Anzeigenpreisliste 01/2015 (www.sissymag.de/media).
SISSY erschien alle drei Monate, jeweils für den Zeitraum Dezember/ Januar/Februar – März/April/Mai – Juni/Juli/August – September/ Oktober/November. Auflage: 20.000 Exemplare (Druckauflage).
Druck
Möller Druck, Berlin
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Vervielfältigung, Speicherung, Weiterverarbeitung oder Nutzung sowohl der Texte als auch der Bilder zu kommerziellen Zwecken bedürfen einer schriftlichen Genehmigung des Herausgebers.
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ISSN 1868-4009
Auch das noch …
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Zur letzten SISSY erreichte uns ein Lob per Fax – vom legendären Kay Wörsching, in dessen Bistro die Münchner Schickeria feiert(e) – so auch hin und wieder Arndt von Bohlen, mit „Jünglingen im Gefolge“, wie die „tz“ investigativ herausfand.
Manchmal ist anonym und schnell richtig gut: beim HIV-Test zum Beispiel. Wer Sex hat und Erfahrungen sammelt, sollte sich regelmäßig testen lassen. Auf unserer Seite findest du rund 300 HIV-Teststellen in ganz Deutschland – und bestimmt auch ein paar in deiner Nähe. Wir sagen dir, zu welchen Uhrzeiten du dich dort testen lassen kannst und ob Kosten entstehen. Noch mehr Infos und Videos rund um HIV und den HIV-Test findest du auf www.testhelden.info.
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