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Friedrich Nietzsche und Karl Jaspers sind die unbestritten herausragenden Philosophen der Basler Universität seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Konturen eines Gesamtbildes der Philosophie in Basel zeigen sich allerdings erst dann deutlicher, wenn man den Blick auch auf jene Denker richtet, die zwar eine weit geringere internationale Ausstrahlung hatten, aber – wie Karl Joël, Paul Häberlin, Heinrich Barth, Hans Kunz und Arnold Künzli – durch ihre langjährige Lehrtätigkeit Generationen von Studierenden geprägt haben. Die vorliegende Auswahl «prominenter Denker» orientiert sich einerseits an der allgemeinen philosophiegeschichtlichen Relevanz und der Bedeutung für die Universität; andererseits gilt ein besonderes Augenmerk Autoren, zu denen in jüngster Zeit neue Forschungs- und Editionsinitiativen ergriffen worden sind, wie Gustav Teichmüller, Heinrich Barth und Hans Kunz.
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Philosophie in Basel
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER WISSENSCHAFTEN IN BASEL NEUE FOLGE
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER WISSENSCHAFTEN IN BASEL NEUE FOLGE
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Philosophie in Basel Prominente Denker des 19. und 20. Jahrhunderts
Emil Angehrn, geb. 1946, studierte Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Löwen und Heidelberg. Er ist seit 1991 Professor für Philosophie an der Universität Basel.
Herausgegeben von Emil Angehrn und Wolfgang Rother
Angehrn · Rother
Wolfgang Rother, geb. 1955, studierte Philosophie, Theologie und Germanistik in Marburg, Tübingen und Zürich. Er ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Zürich und Mitherausgeber des Grundrisses der Geschichte der Philosophie sowie mehrerer wissenschaftlicher Buchreihen.
I S B N 978-3-7965-2602-2
Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch
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783796 526022
Schwabe
studien zur geschichte der Wissenschaften i n ba s e l Neue Folge 7
i m au f t r ag d e s r e k to r s d e r u n i v e r s i t ä t ba s e l h e r au s g e g e b e n vo n h a n s - p e t e r m at h y s , wo l f g a n g rot h e r u n d Ru d o l f Wac h t e r
S c h wa b e V e r l ag Ba s e l
Philosophie in Basel P ro m i n e n t e D e n k e r d e s 1 9 . u n d 2 0 . Ja h r h u n d e rt s
H e r au s g e g e b e n vo n e m i l A n g e h r n u n d Wo l f g a n g Rot h e r
S c h wa b e V e r l ag Ba s e l
Publiziert mit Unterstützung der Universität Basel
© 2011 by Schwabe AG Verlag, Basel Lektorat: Angela Zoller, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Papier: Z-Offset W 90g Schrift: Times New Roman PS Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2602-2 www.schwabe.ch
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Emil Angehrn Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heiner Schwenke Gustav Teichmüller – Die Rettung der Person . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Urs Sommer Friedrich Nietzsche als Basler Philosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Rother Karl Joël – Zwischen philosophischer Krisis und neuer Weltkultur .
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Andreas Cesana Paul Häberlin – Der Anspruch des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anton Hügli Karl Jaspers – Philosophischer Glaube und Offenbarungsglaube . . 106 Christian Graf Heinrich Barth – Wirklichkeit und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . 124 Jörg Singer Hans Kunz – Zum Verhältnis von Phänomenologie und Erfahrung . 140 Ueli Mäder Arnold Künzli – Politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Vorwort Jubiläen, zumal einer Universität, die zu den ältesten im deutschen Sprachraum gehört, laden zu historischer Rückschau und Reflexion ein. Diesem Umstand verdankt sich der vorliegende Band, der den Versuch einer geschichtlichen Vergegenwärtigung und kritischen Untersuchung der Philosophie in Basel seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unternimmt. Diese Periode ist aus unterschiedlichen Gründen von besonderem Interesse. Einer der Gründe dürfte in der Umbruchphase zu suchen sein, in der sich die moderne Universität, deren Fundamente im 19. Jahrhundert gelegt wurden, derzeit europaweit befindet. Der aktuelle Reformprozess stellt die Philosophie und die Geisteswissenschaften insgesamt vor komplexe Herausforderungen, deren Bewältigung auf Analysen und Diagnosen angewiesen ist, die vor allem die Entwicklungen in dem hier behandelten Zeitraum in den Blick nehmen. Ein weiterer Grund ist der Stand der Forschung zur Geschichte der Philosophie an der Universität Basel selbst. Es gibt zwar etliche einschlägige Arbeiten zur frühen Neuzeit, aber nur wenige zum 19. und 20. Jahrhundert – wenn man von Nietzsche und Jaspers absieht, die in verschiedener Hinsicht Ausnahmephänomene darstellen. Vielleicht war es gerade die außergewöhnliche Leuchtkraft dieser beiden Denker, die die vielen anderen in Basel wirkenden Philosophen in den Rezeptionsschatten verwiesen und einen Gesamtblick auf die Philosophie an der Universität in neuerer Zeit verstellt hat. Deren Konturen zeigen sich erst dann deutlicher, wenn man ein Augenmerk auf jene Philosophen richtet, die zwar eine weit geringere Ausstrahlung hatten als Nietzsche und Jaspers, die aber die Philosophie in Basel durch ihre langjährige Lehrtätigkeit nachhaltig geprägt haben. Karl Joël wirkte fast vierzig Jahre in Basel, Paul Häberlin mehr als 25 Jahre und Heinrich Barth, der zeit seines Lebens im Schatten seines Bruders Karl stand, genau vierzig Jahre. Hans Kunz lehrte fast dreißig und Arnold Künzli immerhin zwanzig Jahre in Basel.
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Emil Angehrn und Wolfgang Rother
Es versteht sich von selbst, dass diese Vorstellung «prominenter Denker des 19. und 20. Jahrhunderts» nur eine selektive sein kann. Die Auswahl, die sich auf nicht mehr lebende Philosophen beschränkt, orientiert sich – neben der allgemeinen Bedeutung – einerseits an der Wirksamkeit an der Universität, so dass bedeutende Gelehrte wie Wilhelm Dilthey oder Rudolf Eucken, die nur kurz in Basel weilten, aber ihre philosophische Tätigkeit hauptsächlich anderswo entfalteten, nicht behandelt werden. Andererseits gilt ein Augenmerk Autoren, zu denen in jüngster Zeit neue Forschungsund Editionsinitiativen ergriffen worden sind, wie Gustav Teichmüller, Heinrich Barth und Hans Kunz. Im Ganzen ist das Ziel dieser Vorstellung, ein facettenreiches und zugleich signifikantes Spektrum der Philosophie in Basel zu vergegenwärtigen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine Tagung zurück, die am 24. September 2010 im Rahmen des 550-Jahr-Jubiläums der Universität Basel am Philosophischen Seminar durchgeführt wurde. Die Herausgeber danken der Universitätsleitung für die Unterstützung der Tagung und der Publikation. Ebenso gilt ihr Dank den Referenten, die wesentlich zum Gelingen der Tagung beigetragen und ihre Vorträge für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. Herr Dominik Hunger hat uns freundlicherweise die Photos aus der Portraitsammlung der Universitätsbibliothek Basel überlassen. Gedankt sei schließlich Frau lic. phil. Angela Zoller vom Verlag Schwabe, die den Band kritisch und umsichtig lektoriert und das Personenregister erstellt hat. Basel, im Februar 2011 Emil Angehrn und Wolfgang Rother
Einleitung Emil Angehrn
I. «Philosophie in Basel» – wer diesen Titel hört und ihn auf vergangene Zeiten bezieht, denkt wohl vor allem an zwei Namen: Friedrich Nietzsche und Karl Jaspers. Sie sind die beiden herausragenden Vertreter der Philosophie in Basel, die eine weltweite Ausstrahlung hatten und in die Geschichte der Philosophie eingegangen sind. Dabei sind beide, was ihre institutionelle Zugehörigkeit zur Universität und ihre universitäre Lehre in Basel angeht, Ausnahmegestalten: Während Friedrich Nietzsche mit 25 Jahren nicht als Professor für Philosophie, sondern für Klassische Philologie an die Universität Basel berufen worden ist und in dieser Funktion während eines Jahrzehnts in der Lehre tätig war, ist Karl Jaspers 1948 in einem Alter, in dem Professoren heute emeritiert werden, nämlich mit 65 Jahren, einem Ruf nach Basel gefolgt. Doch haben beide in ihren Basler Jahren eine intensive philosophische Wirksamkeit entfaltet, Nietzsche vor allem in seinen Schriften, Jaspers sowohl in dreizehn Jahren Lehrtätigkeit wie in einem weit angelegten, breit rezipierten Werk. Nietzsche und Jaspers sind die Philosophen, die für Basel stehen und gleichzeitig in die Reihe jener gehören, die Jaspers selbst in einem großen Spätwerk als «Die großen Philosophen»1 behandelt hat. Dabei ist im Rahmen eines Universitätsjubiläums die Feststellung nicht uninteressant, dass beide gleichzeitig Teil besonderer intellektueller Kons1
Karl Jaspers: Die großen Philosophen (München 1957).
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Emil Angehrn
tellation waren, die Basel in ihrer Zeit zu einem Brennpunkt des Geisteslebens haben werden lassen. Im ersten Fall wird die Konstellation durch die vier «unzeitgemäßen Denker»2 Jacob Burckhardt, Johann Jakob Bachofen, Friedrich Nietzsche, Franz Overbeck und den Künstler Arnold Böcklin gebildet, während in der zweiten Phase Karl Barth, Karl Jaspers, Adolf Portmann und Edgar Salin zur Ausstrahlung der Universität beitrugen. Es waren Knotenpunkte der intellektuellen Regsamkeit, die unterschiedliche Denkbereiche und Forschungsrichtungen vereinigten und an denen die Philosophie prominenten Anteil hatte. Nun sind nicht diese bekannten Autoren und Epochen das Thema des vorliegenden Bandes. Zu ihnen setzt der Band insofern einen Gegenakzent, als er neben den genannten andere Personen ins Licht rückt, die zu ihrer Zeit zu den namhaften Vertretern der Philosophie gehört und eine große Wirksamkeit an der Universität entfaltet haben. Zu einigen dieser Philosophen – so zu Paul Häberlin, Heinrich Barth und Hans Kunz – haben sich nach deren Tod Vereinigungen ehemaliger Schüler gebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Erbe ihres Lehrers zu bewahren und nicht zuletzt sein Werk editorisch zu betreuen.3 Diese Bemühungen sind ein Zeugnis der Bedeutung der Lehrtätigkeit dieser Philosophen für ihre jeweilige Hörergeneration, aber auch der eher geringen Rezeption und Nachwirkung in einem über den direkten Schülerkreis zeitlich und räumlich hinausgehenden Rahmen. Das Anliegen der Schüler ging auch dahin, diesem Vergessen entgegenzusteuern und dem Werk ihrer Lehrer die gebührende Aufmerk2
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Lionel Gossman: Basel in der Zeit Jacob Burckhardts. Eine Stadt und vier unzeitgemäße Denker, aus dem Amerikanischen übersetzt von Reinhard Brenneke und Barbara von Reibnitz (Basel 2005). Paul Häberlin-Gesellschaft (1964-2005), Heinrich Barth-Gesellschaft (gegründet 1996), Hans-Kunz-Gesellschaft (gegründet 1999). Auch Nachlass und Editionen von Friedrich Nietzsche und Karl Jaspers sind zu einem großen Teil von Basel aus betreut worden; zu nennen sind namentlich die von Hans Saner und der in Basel domizilierten Karl-Jaspers-Stiftung (gegründet 1974) veranstalteten Ausgaben zu Karl Jaspers sowie die verantwortliche Beteiligung von Basler Wissenschaftlern und Forschergruppen (Karl Pestalozzi, Annemarie Pieper, Martin Stingelin) an der Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Nietzsches. Verwiesen sei auch auf die Edition von Schriften von G. Teichmüller im Schwabe Verlag durch Heiner Schwenke. Genauere Angaben zu Werken und Ausgaben finden sich in den Beiträgen zu den einzelnen Autoren.
Einleitung
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samkeit zu sichern. Es ist durchaus bemerkenswert, dass neben Jaspers und Nietzsche, die seit langem Gegenstand vielfältiger Studien und großer Editionsvorhaben sind, gerade in den letzten Jahrzehnten auch zu Gustav Teichmüller, Paul Häberlin, Heinrich Barth und Hans Kunz zahlreiche neue Ausgaben geplant und realisiert worden sind. Sie halten eine Tradition gegenwärtig, die einen bedeutsamen, kontinuierlichen Bestandteil der Basler Universitätsgeschichte bildet.
II. Man könnte sich fragen, ob es eine Basler Philosophie gibt. Die Antwort auf diese Frage würde vermutlich ebenso negativ ausfallen wie auf die Frage nach einer Schweizer Philosophie. Einige würden sogar in Zweifel ziehen, dass der Philosophie in Basel – abgesehen von den genannten Größen – überhaupt eine nennenswerte Bedeutung zukommt. In seiner großen Untersuchung über Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460-1960 eröffnet Edgar Bonjour die Darstellung der Philosophie in Basel mit folgenden Sätzen: «Die Basler glaubten sich von jeher unbegabt zu rein abstraktem und spekulativem Denken. Auch hielten sie nicht eben viel auf Fachphilosophie und verliehen dieser Auffassung verschiedentlich unverblümten Ausdruck.»4 Basel ist nicht eine der großen Stationen in der Geschichte der europäischen Philosophie. Basel ist nicht Athen oder Jena. Dennoch ist es durchaus von Interesse, sich den Gang dieser Geschichte an der Basler Universität zu vergegenwärtigen und auch nach der besonderen Ausrichtung dieser Geschichte zu fragen. Dazu seien ein paar kurze Bemerkungen sowohl zur institutionellen Verankerung wie zur thematischen Orientierung der Basler Philosophie gemacht. Die Etablierung und Entwicklung des Fachs Philosophie in Basel entspricht in gewisser Weise dem Normalverlauf einer im internationalen Maßstab kleinen oder mittelgroßen Universität. Auch wenn philosophische Bildung seit Gründung der Universität entsprechend der mittelalterlichen Universitätsstruktur zum propädeutischen Studienprogramm der Artisten4
Edgar Bonjour: Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 14601960 (Basel 1960) 709.
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Emil Angehrn
fakultät gehört hatte, ist sie in Basel erst relativ spät als Disziplin institu tionell verankert worden.5 Der im Universitätsgesetz von 1818 vorgesehene Lehrstuhl für «Theoretische und praktische Philosophie nebst Pädagogik» ist nach gescheiterten Berufungsverfahren erst 1830 zum ersten Mal besetzt worden. 1866 erfolgte die Einrichtung eines zweiten Lehrstuhls, an welchem schwerpunktmäßig Logik, Psychologie und Pädagogik gelehrt werden sollte und dessen Inhaber gleichzeitig Leiter des (1873 gegründeten) Pädagogischen Seminars war; diese Stelle wurde durch Beschluss des Großen Rats 1917 als Ordinariat für «Pädagogik und allgemeine philosophische Disziplinen» festgelegt. 1920 wurde das Philosophische Seminar gegründet. Die psychologische Lehre wurde 1951 durch ein neues Extraordinariat erweitert, welches Hans Kunz, ab 1966 mit einem persönlichen Ordinariat betraut, bis 1974 wahrnahm. Erst nach seinem Rücktritt etablierte sich die Psychologie als eigenständiges Fach und wurde 1978 mit einem eigenen Institut versehen. Eine dritte Professur wurde 1971, zuerst als Extraordinariat für Politische Philosophie, eingerichtet, 1991 in ein Ordinariat verwandelt und 1995 der Theoretischen Philosophie zugeordnet. Gegenwärtig umfasst das Philosophische Seminar die drei Professuren für Geschichte der Philosophie, Theoretische Philosophie und Praktische Philosophie. Versucht man im Rückblick eine besondere Ausrichtung der Philosophie in Basel auszumachen, so ist als erstes die genannte enge institutionelle Verbindung mit Pädagogik und Psychologie festzuhalten. Sie steht für eine typische Konstellation der Wissenschaftsgeschichte, in welcher diese Disziplinen sich erst ausdifferenzierten und verselbständigten, wobei dieser Prozess sich in Basel nicht zuletzt aufgrund der Kleinheit der Verhältnisse mit gewisser Verzögerung vollzogen hat. Mehrere der hier tätigen Philosophen haben Pädagogik als Fach mit vertreten, von Paul Häberlin über Kurt Rossmann bis zu Anton Hügli. Bedeutsam ist ebenso die Verbindung zur Psychologie, zum Teil, wie bei Hans Kunz, in profilierter Weise auch zur Psychoanalyse oder, wie bei Karl Jaspers, zur Psychiatrie. Teilweise über5
Einen Abriss der Geschichte der Philosophie an der Universität Basel mit einer Liste der Inhaber/innen der Lehrstühle findet sich auf den Websites des Philosophischen Seminars und der Universitätsgeschichte: http://philsem.unibas.ch/seminar/archiv-geschichte.
Einleitung
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lappend mit diesen Fächerverbindungen, ist als zweites die thematische Ausrichtung auf die menschliche Existenz zu nennen, die viele der in Basel tätig gewesenen Philosophen verbindet. Im Ausgang von unterschiedlichen systematischen Fragen und philosophischen Orientierungen ging es vielen Fachvertretern darum, die existentielle Verfassung des Menschen zu reflektieren und zugleich den Lebensbezug philosophischen Denkens zu erhellen. Es ist eine Linie, die sich von Nietzsche über Jaspers und Heinrich Barth bis zu Annemarie Pieper ziehen lässt und in deren Fortsetzung sich auch das in den letzten Jahren vom Basler Seminar geleitete, gemeinsam mit den Instituten in Bern und Zürich durchgeführte Graduiertenprogramm des Schweizerischen Nationalfonds unter dem Titel «Menschliches Leben» stellt. Damit ist eine Tendenz genannt, die für die Basler Philosophie kennzeichnend geworden ist, ohne dass diese sich darauf reduzieren ließe. Die Vorstellung einiger wichtiger Fachvertreter bringt ganz verschiedene systematische und philosophiehistorische Schwerpunkte in den Blick, die etwas vom Reichtum der an dieser Universität seit zwei Jahrhunderten geleisteten philosophischen Arbeit sehen lassen.
Gustav Teichmüller – Die Rettung der Person Heiner Schwenke
Personalismus gegen die philosophische Eliminierung des Ich «Das Ich ist unrettbar», schrieb der Physiker und Philosoph Ernst Mach im Jahr 1886.1 Heute, über hundert Jahre später, behaupten Gehirnforscher und Neurophilosophen ganz ähnlich, ein Ich oder Selbst, dem Gedanken, Wünsche und Handlungen zuzurechnen sind, sei eine Illusion, ein Kons trukt des Gehirns.2 Die Leugnung eines personalen Selbst findet sich nicht nur bei empirisch orientierten Denkern. In der philosophischen Postmoderne erscholl vor kur zem der Ruf vom Tod des Subjekts.3 Hier ging es weniger um Illusionen des Gehirns als um begriffliche Fiktionen. Auch das war keine neue Position. Vielfach berief man sich dabei auf Friedrich Nietzsche. Dieser bezeich nete – ebenfalls 1886 – das Subjekt als «etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-
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Ernst Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen (Jena 1886) 18 Fn. 12. Siehe z. B. Thomas Metzinger: Niemand sein – Kann man eine naturalistische Per spektive auf die Subjektivität des Mentalen einnehmen?, in: Sibylle Krämer (Hg.): Bewußtsein: philosophische Beiträge (Frankfurt a. M. 1996) 130-154. Metzinger spricht dort S. 153 von einer «unhintergehbaren Ich-Illusion», deren Entstehung «das faszinierendste biologische Phänomen» sei. Allerdings gibt er im selben Atemzug zu, dass diese Ich-Illusion «im Grund gar keine ist, weil sie niemandes Illusion ist.» Siehe auch Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit (Frankfurt a. M. 1994) 292-295, wo das Ich als Konstrukt des Gehirns aufgefasst wird. Siehe etwa die Beiträge in Herta Nagl-Docekal, Helmuth Vetter (Hg.): Tod des Sub jekts? (München 1987).
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Heiner Schwenke
Gestecktes».4 Ein Jahr zuvor verhöhnte er das «Kunststück in der Erfindung des ‘Subjekts’, des ‘Ichs’»,5 welches «nur eine begriffliche Synthesis»6 und «eine perspektivische Illusion»7 sei. Er geißelte die «falsche Versubstanzialisierung des Ich»8 und «unseren Glauben an das ‘Ich’ als an eine Substanz, als an die einzige Realität, nach welcher wir überhaupt den Dingen Realität zusprechen».9 In diesen Zitaten wandte sich Nietzsche allem Anschein nach gegen sei nen früheren Basler Kollegen Gustav Teichmüller und dessen 1882 erschie nenes Buch Die wirkliche und die scheinbare Welt – Neue Grundlegung der Metaphysik.10 Darin entwirft Teichmüller eine neuartige personalistische Metaphysik, die er in der Religionsphilosophie von 1886 und der ein Jahr später verfassten, aber erst postum erschienenen Neuen Grundlegung der Psychologie und Logik11 weiterentwickelte.12 Die im Selbstbewusstsein unmittelbar erlebte Wirklichkeit der eigenen Person gilt ihm als Quelle des Seinsbegriffs.13 Das Ich, das im Wechsel sei ner Gedanken, Gefühle und Handlungen dasselbe bleibt, sei der Prototyp
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Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente [= NF] 1886, 7 [60]. NF-1885, 2 [193]. NF-1885, 1 [87]. NF-1885, 2 [91]. NF-1887, 10 [73]. NF-1886, 7 [63]. Vgl. auch Edith Düsing: Wie das Ich zur Fabel ward – Nietzsches Dekonstruktion des idealistischen Subjektbegriffs, in: Perspektiven der Philoso phie 27 (2001) 155-196. Breslau 1882 [= WSW]. Breslau 1889 [= NGPL]. Teichmüller ist vermutlich einer der ersten Philosophen, der seine Philosophie vom Menschen als Personalismus bezeichnete (siehe NGPL 157). Siehe WSW 73: «In dem Selbstbewusstsein haben wir […] daher die einzige und letzte Quelle unseres Begriffs vom Sein, und alle Anwendungen, die wir in so man nigfaltiger Weise von diesem Begriffe machen, müssen als abgeleitete auf diese Quelle zurückgeführt werden. Denn wie sollten wir von irgend einem Dinge, von einem Thier, einer historischen Person, einem durch Analyse gefundenen Elemente, selbst von Gott und wovon es auch sei, sagen können, dass es sei, gewesen sei oder sein werde, wenn wir nicht schon wüssten, was ‘sein’ bedeute? Und wie sollten wir dies wissen, wenn wir nicht uns selbst kennen gelernt und den Begriff des Seins daraus geschöpft hätten? Wir schliessen auf das Sein aller andern Dinge; unseres eigenen Seins allein sind wir uns unmittelbar bewusst und grade dieses Wissen von
Gustav Teichmüller – Die Rettung der Person
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der Substanz.14 Wenn wir anderen Wesen Substanzialität und Sein zuspre chen, dann geschehe dies nach dem Vorbild des eigenen Ich.15 Mit Leibniz teilt Teichmüller die Auffassung, die wirkliche Welt bestehe aus einer Vielzahl seelischer Entitäten. Die materielle Welt hingegen sei ein bloßes Konstrukt des Geistes. Die Einwirkung des einen seelischen Wesens auf das andere rufe die sinnlichen Empfindungen hervor.16 Der Glaube an wirkliche materielle Dinge außerhalb des Bewusstseins komme durch Zu sammenfassung und Projektion von Empfindungskomplexen zustande, de nen aber kein Gegenstand in der Wirklichkeit entspreche.17 Zeit und Raum mit ihrem Vorher und Nachher, Rechts und Links seien unvermeidliche per spektivische Illusionen des standortgebundenen, beschränkten menschli chen Bewusstseins, die aber für ein unbeschränktes Bewusstsein, wie man es für Gott annehme, nicht bestünden.18 Es ist allgemein anerkannt, dass Nietzsche durch Teichmüllers Perspektivismus inspiriert wurde.19 Er über
uns selbst und von unseren Thätigkeiten und ihrem Inhalt ist alles, was wir unter Sein verstehen, und es giebt keine andere Quelle der Erkenntniss für diesen Begriff.» 14 Siehe NGPL IV, 116, 147, 171-174. 15 Siehe WSW 129-141. 16 Gustav Teichmüller: Ueber die Unsterblichkeit der Seele (Leipzig 1874) 103. 17 Siehe WSW 333, 340, 345-347. Teichmüllers Konzeption der materiellen Welt ent spricht bis in die Terminologie hinein dem Halluzinationskonzept des 19. Jahrhun derts. Wilhelm Griesinger (1817-1868) definierte in seinem Standardwerk Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten: «Unter Hallucinationen versteht man subjective Sinnesbilder, welche aber nach aussen projicirt werden und da durch scheinbare Objectivität und Realität bekommen» (Stuttgart: Adolph Krabbe 31871) 85. Wenn man für «Halluzinationen» «raumzeitliche Dinge» einsetzt, könnte diese Definition auch von Teichmüller stammen. In einem damals verbreiteten psy chologischen Lehrbuch werden die «Aussendinge» sogar explizit als «Halluzina tionen» bezeichnet, die durch «Projektion» und «Personifikation» der Empfindun gen oder Anschauungen zustande kommen (Wilhelm Fridolin Volkmann: Grundriss der Psychologie – vom Standpunkte des philosophischen Realismus und nach ge netischer Methode [Halle 1856] 170, 227, 231, 233). 18 Dieser Perspektivismus findet sich bereits in Gustav Teichmüller: Darwinismus und Philosophie (Dorpat 1877) 40-50; siehe auch WSW 219-220. 19 Dazu zuerst Herman Nohl: Eine historische Quelle zu Nietzsches Perspektivismus: G. Teichmüller, Die wirkliche und die scheinbare Welt, in: Zeitschrift für Philoso phie und philosophische Kritik 149 (1913) 106-115.
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Heiner Schwenke
drehte ihn aber in seiner Kritik am Ich als perspektivischer Illusion zu ei nem absurden Perspektivismus ohne Betrachter.20 Für Teichmüller waren die philosophischen Leugnungen des Ich kein Zu fall. Das Ich, das für ihn nicht nur Subjekt des Denkens, sondern auch der Gefühle und Handlungen ist, und das er mit Person und menschlicher Seele vielfach gleichsetzt, habe in den klassischen philosophischen Systemen keinen Platz gehabt. Seine Diagnose lautet Selbstvergessenheit. Die tradi tionellen philosophischen Systeme hätten sich nur mit den Inhalten des Be wusstseins beschäftigt und diese durch Projektion zur Realität erklärt, da rüber aber das Ich vergessen, das diese Inhalte denkt.21 Materialistische und empiristische Ansätze projizierten «unsere Anschauungsbilder und sich da ran anschliessende Erkenntnisse nach Aussen und glaubten an eine sinnli che Natur, an sinnenfällige Objecte oder Substanzen».22 Der Idealismus hingegen projiziere unsere Begriffe nach außen und lasse diese als die ei gentliche Substanz und Realität auftreten.23 Damit sind auch ungefähr die beiden Lager der Ich-Leugnung genannt, die ich eingangs mit Mach und der aktuellen Neurophilosophie einerseits und der Postmoderne und Nietz sche andererseits bezeichnet habe. Beide Seiten können nach Teichmüller das Ich nicht finden, weil sie es im Bereich der sinnlichen bzw. abstrakten Bewusstseinsinhalte, des ideellen Seins, wie er sagt, suchen. Die Empiriker suchten es vergeblich im Gehirn, den Idealisten verschwinde es im Allge mein-Begrifflichen. Ein Ich müsse aber gedacht werden, da Bewusstseins inhalte nicht für sich alleine existieren könnten.24 Teichmüller ist der Ansicht, sein Personalismus sei nur für die Philoso phie neu, nicht jedoch für das «natürliche Denken der Menschheit».25 Die 20 21 22 23 24
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Siehe etwa NF 1886, 7 [60]: «Ist es zuletzt nötig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese.» Siehe dazu WSW 346, XVI. WSW XV. WSW XV-XVI. Siehe etwa NGPL 160: «Denn wenn einer auch alle seine Vorstellungen nebst ih rem Inhalt und alle seine Gefühle und seine Empfindungen zusammenbrächte und auf einen Wagen legte, so fehlte immer das Ich dabei, das wie die Pferde vorge spannt werden muss, um alles Genannte erst wirklich zu machen. Lieben und Den ken ist gar nichts; man spanne das Ich vor, so ist’s wirklich, wie ‘ich denke, ich liebe’; […] ohne Ich wird aber nichts genannt oder gedacht.» Siehe WSW 347, 349, 134-135; RPh 540-541.
Gustav Teichmüller – Die Rettung der Person
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Philosophie, so lautet einer seiner Leitsätze, könne überhaupt keine neuen Wahrheiten finden. Sie kläre und systematisiere nur die beim ungeschulten Menschen bereits in unreiner Form, gleichsam als Erz, vorhandenen Vor stellungen.26 Der Prüfstein philosophischer Theorien ist für ihn das «ge wöhnliche Bewusstsein», das sich als eine Folge aus den hypothetisch an genommenen philosophischen Prinzipien ableiten lassen müsse.27
Leben – Werk – Rezeption Teichmüller hatte einen langen Anlauf genommen, um seine «neue Philosophie»28 zu entwickeln. Geboren 1832 in Braunschweig, wurde sein Talent früh entdeckt und gefördert durch den späteren Professor der Theolo gie in Greifswald, Johann Wilhelm Hanne (1813-1889).29 Ab 1852 studierte er in einem faustischen Wissensdrang neben der Philosophie fast das ge samte Spektrum der Geistes- und Naturwissenschaften bei den vorzüglichs ten Lehrern seiner Zeit.30 Noch als Privatdozent hörte er beim berühmten 26
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Siehe WSW 347. Das natürliche Denken der Menschen manifestiere sich, wenn es um ganze Weltauffassungen gehe, vor allem in den Religionen (ebd.). Deshalb schenkt Teichmüller dem philosophischen Gehalt der Religionen eine außerge wöhnliche Aufmerksamkeit, wie seine Religionsphilosophie (Breslau 1886) [= RPh] beweist. Siehe WSW 50-51. Siehe auch H. Schwenke: Zurück zur Wirklichkeit: Bewusst sein und Erkenntnis bei Gustav Teichmüller (Basel 2006) 306-307. Siehe RPh XII-XIII, XXII-XXIII, XXVI-XXVII, XXXI, XXXIV, 74, 208, 214215; NGPL 16-17, 39, 257, 269, 276. Siehe auch den Untertitel der WSW «Neue Grundlegung der Metaphysik» und den Titel «Neue Grundlegung der Psychologie und Logik». Siehe dazu auch H. Schwenke: Wirklichkeit, 221-224. Siehe Wladimir Szyłkarski: Teichmüllers philosophischer Entwicklungsgang. Vor studien zur Lebensgeschichte des Denkers, in: Eranus – Commentationes Societa tis Philosophicae Lituanae 4 (1938) 1–96, hier 16-19. Teichmüller hörte von 1852 bis 1855 in Berlin und während des Sommersemesters 1853 in Tübingen Philosophie bei Friedrich Adolf Trendelenburg und Jakob Fried rich Reiff, Altertumskunde und Klassische Philologie bei August Boeckh und Au gust Meineke, Theologie bei Karl Immanuel Nitzsch, Staatslehre bei Friedrich Ju lius Stahl, Geschichte bei Leopold von Ranke, Physiologie bei Johannes Müller, Chemie bei Eilhard Mitscherlich, Physik und Meteorologie bei Heinrich Wilhelm Dove, Geologie bei Friedrich August Quenstedt und Geographie bei Carl Ritter.
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Heiner Schwenke
Anatomen Jakob Henle,31 unter dessen Anleitung er viele Stunden im Ana tomischen Theatrum in Göttingen sezierte und präparierte, um die ihm empfindlichste Lücke in seinen Kenntnissen auszufüllen, wie er sagte.32 Vom legendären Ägyptologen Heinrich Brugsch ließ er sich einige Jahre später in altägyptischen Sprachen unterrichten, um das Äygptische Toten buch im Original lesen zu können.33 Früh fand Teichmüller seine philosophische Selbstständigkeit. Von sei nem Lehrer Friedrich Adolf Trendelenburg distanzierte er sich innerlich schon zu Studienzeiten. In einem Tagebucheintrag vom März 1855 ist zu lesen: «Trendelenburg ist mir zuwider; er ist bloss Philologe und Historiker und sein grenzenloser Respekt vor Aristoteles ist geradezu lächerlich. Seine Lehre ist mir [...] nux vomica.»34 Außer mit Leibniz habe er mit keiner der modernen Schulen etwas zu schaffen, schrieb er 1860.35 Seine akademische Laufbahn verlief allerdings trotz unvergleichlicher Bildung, scharfer Intelligenz und großer Arbeitskraft nicht geradlinig. Nach dem Tod seines Vaters musste er sein Studium abbrechen, da er sich fortan nicht nur selbst ernähren, sondern auch einen jüngeren Bruder finanziell unterstützen musste.36 Er ging 1855 aus Berlin fort und wurde Hauslehrer beim Preußischen Gesandten Karl von Werther in St. Petersburg, dann am selben Ort Gymnasiallehrer.37 Um möglichst rasch den Doktortitel führen zu können, schrieb er eine kurze lateinische Arbeit über die Nikomachische
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Henle (1809-1885) arbeitete vor allem im Bereich der mikroskopischen Anatomie und Pathologie, entdeckte unter anderem die nach ihm benannte Henle’sche Schleife der Nierenkanälchen. Siehe W. Szyłkarski: Teichmüllers Entwicklungsgang, 71. Brugsch (1827-1894) gilt als einer der Begründer der deutschsprachigen Ägypto logie. Er war 1864 preußischer Konsul zu Kairo, 1868 Professor in Göttingen und 1870-1879 Direktor der Ecole d’Egyptologie in Kairo. Wladimir Szyłkarski: Teichmüller im Verkehr mit seinen Zeitgenossen, in: Archiv für spiritualistische Philosophie 1 (1940) 297-438, hier 407. Nux vomica bedeutet Brechnuss. Die Gewöhnliche Brechnuss, (Strychnos) nux vomica, ist eine aus Süd ostasien stammende Baumart. Der Name ist allerdings irreführend. Weder sind die giftigen Früchte Nüsse, noch führt ihre Einnahme in der Regel zum Erbrechen. W. Szyłkarski: Teichmüllers Entwicklungsgang, 25. Siehe dazu Teichmüllers wissenschaftlichen Nachlass, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel, NL 79, A X 10 k. W. Szyłkarski: Teichmüllers Entwicklungsgang, 40-50.