Gedanken in der Bibliothek

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Antal Szerb, 1901 in Budapest geboren, wuchs in einer zum Katholizismus konvertierten jüdischen Familie auf. Nachdem er an der dortigen Universität ungarische, deutsche und englische Philologie studiert hatte (1924 Promotion, später Privatdozentur), hielt er sich zu Forschungs­ zwecken längere Zeit in Frankreich, Italien und England auf. Trotz Taufe, einer streng christlichen Lebensweise und des Besuchs eines kirchlichen Gymnasiums wurde Szerb nach dem zweiten ungarischen Judengesetz von 1939 als Jude eingestuft und musste den Gelben Stern tragen. 1943 zog man ihn ein erstes, ein Jahr später ein zweites Mal zum Arbeitsdienst ein. Im Januar 1945, geschwächt und entkräftet von den Strapazen dieser Einsätze, wurde er von ungarischen Militär­ wachen mit den Kolben ihrer Gewehre erschlagen. Neben mehreren literaturgeschichtlichen Werken schuf Szerb ein umfangreiches episches und essayistisches Œuvre und gehört bis heute zu den vielgelesenen Autoren Ungarns.

I S B N 978-3-7965-2715-9

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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Gedanken in der Bibliothek Antal Szerb

«Alles fing an … oder vielmehr, es fing eigentlich überhaupt nie an, denn ich las und schrieb schon immer, fast vom Augenblick meiner Geburt an (ich war die bebrillte Art von Kleinkind) …» Kein Wunder also, dass sich der ungarische Literaturwissenschaftler und Romancier Antal Szerb (1901–1945) mit Vorliebe in der Bibliothek aufhielt, wo er auch die meisten seiner Texte zu Papier brachte. Doch Szerb verstand sich keineswegs als «Bewohner des Elfenbeinturms»: Literatur war für ihn weit mehr als nur Studienobjekt, sondern absolut unverzichtbares Lebenselement, das er, geprägt von einer ganz persönlichen Sichtweise, mit viel ästhetischem und psychologischem Einfühlungsvermögen, einer beispiellosen Sensibilität für Nuancen sowie tiefer Humanität zu fassen suchte. Gute Literatur soll – so Szerbs Credo – in exemplarischer Weise die Ewigkeit ­repräsentieren, ihre Geltung von gesamtmenschlicher, überhistorischer Relevanz sein. Szerbs Begriff der Weltliteratur umfasst daher nur das, was er für das Beste hielt, d. h. ausschließlich jene Werke, die über die Jahrhunderte und alle Landesgrenzen hinweg Bestand hatten. So wuchs über die Jahre ein reicher Schatz an literarisch-literaturhistorischen Porträts, aus dem der Komparatist András Horn, emeritierter Professor für Literaturtheorie an der Universität Basel, für die vorliegende Ausgabe sieben ausgewählt und erstmals ins Deutsche übertragen hat: Stefan George – Baldassare Castiglione – Henrik Ibsen – William Blake – Jean-Jacques Rousseau – Miguel de Cervantes – Nikolaj Gogol.

Antal Szerb

Gedanken in der Bibliothek

Essays über die

Literaturen Europas





Antal Szerb Gedanken in der Bibliothek Essays über die Literaturen Europas Ausgewählt und übertragen von András Horn

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel, und die Freiwillige Akademische Gesellschaft, Basel

Die hier versammelten Essays stammen aus Antal Szerbs 1946 im Verlag Révai Kiadó in Budapest erschienenen Buch Gondolatok a könyvtárban. [Gedanken in der Bibliothek]. Die vorliegenden Übersetzungen basieren auf der erweiterten zweiten, mit einem Vorwort von Miklós Szabolcsi versehenen Auflage, die 1971 im Verlag Magvetö Könyvkiadó in Budapest veröffentlicht wurde. Abbildung auf dem Umschlag: Allgemeine Lesegesellschaft (ALG), Basel (Foto: Ursula Stolzenburg, © 2011 art-verwandt, Basel)

© 1946–2011 Szerb Antal örököse Für die deutsche Ausgabe: © 2011 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des vorliegenden Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Dani Berner, Schwabe Umschlaggestaltung: Thomas Lutz, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2715-9 www.schwabe.ch


Inhalt Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan George [1926] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Hofmann (Baldassare Castiglione) [1927] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ibsen [1928] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 William Blake [1928] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Präromantik (Jean-Jacques Rousseau) [1929] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Dulcinea (Miguel de Cervantes) [1936] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Gogol [1944] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185


Antal Szerb (1901–1945)


Einleitung des Herausgebers Die folgenden Angaben und Gedanken zu Leben und Werk von Antal Szerb (1901–1945) verdanke ich vornehmlich zwei Quellen: einer Monographie und einem späteren englischsprachigen Text von György Poszler1 sowie dem Vorwort von László Kardos zu der von ihm besorgten Sammlung von Szerbs Essays, die erstmals 1946 unter dem Titel Gondolatok a könyvtárban erschienen ist und deren zweiter Auflage von 1971 auch die hier übersetzten Essays entnommen sind. 2 Antal Szerb wurde 1901 in einer katholisierten jüdischen Familie in Budapest geboren. Er wurde getauft (kein Geringerer als die Führungsgestalt der ungarischen «katholischen Renaissance», der Priester und alsbald Bischof Ottokár Prohászka, war sein Taufpate), er wurde im katholischen Geist erzogen, war also in jungen Jahren praktizierender Katholik, besuchte eines der renommiertesten kirchlichen Gymnasien Ungarns, jenes der Piaristen, an dem der bekannte Piarist-Dichter Sándor Sík wirkte, der bald Szerbs geliebter Ungarischlehrer und Mentor (später auch sein Förderer) werden sollte. All dies verhinderte jedoch nicht, dass Szerb unter dem Zweiten ungarischen Judengesetz von 1939 als Jude galt, 1943 ein erstes Mal zum Arbeitsdienst eingezogen wurde, den gelben Stern tragen musste und gegen Ende 1944 im nochmaligen Arbeitsdienst zunächst noch in Budapest Frachtschiffe entladen, später an der ungarischen Westgrenze Gräben zur Abwehr russischer Panzer ausheben musste. Als er im Januar 1945 bereits allzu geschwächt, allzu erschöpft war, weiter schaufeln zu können, wurde er, den György Poszler einen «feinstimmigen Lehrmeister des gebildeten Ungarntums» nennt, von ungarischen Militärwachen mit den Kolben ihrer Gewehre erschlagen. Doch zunächst noch der Erfolg, der Ruhm. Nach dem Studium der ungarischen und der deutschen, später auch der englischen Philologie an der Bu-

1

György Poszler: Szerb Antal, Budapest 1973 und ders.: «The Writer Who Believed in Miracles: Antal Szerb 1901–1945», in: The Hungarian Quarterly, Jg. XLIII (2002), Nr. 167/2, S. 19–28.

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László Kardos: «Elöszó», in: Szerb, Antal: Gondolatok a könyvtárban, Budapest 1946. Meine Übersetzungen entstanden aufgrund der erweiterten, mit einem Vorwort von Miklós Szabolcsi versehenen zweiten Auflage, Budapest 1971 (in der Folge mit Angabe der Seitenzahlen zitiert als Gondolatok a könyvtárban).


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dapester Universität, 1924 Doktorat (später Privatdozentur), mit Hilfe verschiedener Stipendien Monate in Paris und Italien und ein ganzes Jahr in London. 1934 erscheint sein erstes literaturgeschichtliches Hauptwerk, die preisgekrönte zweibändige Ungarische Literaturgeschichte (seit 1975 auch in deutscher Übersetzung verfügbar), 1936 sein zweites: ein Buch über den modernen französischen, englischen, amerikanischen und deutschen Roman mit dem Titel Alltag und Wunder [Hétköznapok és csodák] und 1941 sein drittes: die dreibändige Geschichte der Weltliteratur. Sein Arbeitsleben dauerte nur zwanzig Jahre – erfüllt von Literatur. Zwar kannte er keine endgültigen Lösungen, doch bei einem Gedanken harrte er bis zuletzt aus: beim Glauben an die Unvermeidlichkeit und die – an der menschlichen Vergänglichkeit bemessene – Ewigkeit der Literatur (Poszler). Sein liebster Aufenthaltsort war die Bibliothek, die Literatur war für ihn nicht nur Studienobjekt, sondern Lebenselement. In einer autobiographischen Skizze heißt es: «Alles fing an … oder vielmehr, es fing eigentlich überhaupt nie an, denn ich las und schrieb schon immer, fast vom Augenblick meiner Geburt an (ich war die bebrillte Art von Kleinkind) …» (worin auch seine fast bis zuletzt bewahrte Ironie aufblitzt). Szerb schrieb aber nicht nur Literaturgeschichte(n) und Essays, sondern – vielleicht «als aparte Ausflüge abseits der Hauptlinie» (Kardos) – auch Romane und Novellen, von denen mehrere ins Deutsche übertragen wurden.3 Als Ungar wuchs Szerb in einer weltliterarisch, an der Literatur als solchen interessierten Atmosphäre auf (vielleicht hängt das mit der sprachlichen Isoliertheit der Ungarn zusammen, gehört doch das Ungarische nicht zur indoeuropäischen, sondern zur finnisch-ugrischen Sprachfamilie; ihre Sprache selbst und einige weltliterarisch wohl gültige ungarische Werke verbleiben daher allenfalls am Horizont der sonstigen Welt, wofür sich die Ungarn gerne mit der Erweiterung ihres Horizontes revanchieren). Schon der junge Szerb häufte ein riesiges Wissen in sich an, sowohl in Bezug auf die ungarische als auch auf die Weltliteratur (den ersten hier übersetzten Essay, jenen über Stefan George, schrieb er mit zweiundzwanzig Jahren, publiziert wurde dieser, etwas überarbeitet, allerdings erst, als er fünfundzwanzig war). Zudem 3

Das Halsband der Königin, übersetzt von Alexander Lenard, München 2005; In der Bibliothek. Erzählungen, übersetzt von Timea Tankó, ausgewählt von György Poszler, München 2006; Oliver VII. Roman, übersetzt von Ita Szent-Ivanyi, München 2006; Die Pendragon-Legende. Roman, übersetzt von Susanna Grossmann-Vendrey, Nachwort von György Poszler, München 2008; Reise im Mondlicht. Roman, übersetzt von Christina Viragh, Nachwort von Péter Esterházy, München 2009.


Einleitung des Herausgebers

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war er durchtränkt mit Geistesgeschichte (im Sinne einer Untersuchung des Zeitgeistes und seiner Wandlungen), mit Tiefenpsychologie, Literatursoziologie und vergleichender Literaturwissenschaft. Sein Begriff der Weltliteratur war wie jener Goethes nicht breit, umfasste nur die Besten, will heißen: nur jene Werke, die über Jahrhunderte und Landesgrenzen hinweg allen etwas bedeuten. Der Prozess der Weltliteratur werde in Gang gehalten durch die gegenseitige Befruchtung und Lenkung übernational bedeutsamer Schriftsteller und Werke. Dieser gesamteuropäische Blick kennzeichnet auch Szerbs Essays, die als Genre seinem Herzen wohl am nächsten standen. Auch wo sie eigentliche Porträts sind, ist das persönlich jeweils Eigentümliche tendenziell eingefügt in Strömungen der gesamteuropäischen Geschmacks- und Ideengemeinschaft, das kleinere Moment hergeleitet und erklärt aus der universelleren Bewegung (Kardos). Nach Poszlers Charakterisierung eignen Szerbs Essays eine persönliche Sichtweise (ein Grundzug des Essays überhaupt), ästhetisches und psychologisches Einfühlungsvermögen, Sensibilität für Nuancen, tiefe Humanität und reiner Lyrismus. Poszler bezeichnet sie gar allgemein als lyrisch inspirierte Essays. Kardos hebt an ihnen die ideale Verbindung zwischen strenger Methodik und vollständiger Informiertheit einerseits und intuitiver Wesenserfassung und inspiriertem Geschmack andererseits hervor. Darin liegt bereits beschlossen, dass Szerb – in Poszlers Formulierung – «ein Schriftsteller war unter den Gelehrten, ein Gelehrter unter den Schriftstellern». Kardos meint allerdings, diesbezüglich eine gewisse Akzentverschiebung wahrnehmen zu können: In den früheren Essays gebe es viel mehr Wissenschaft als Kunst (siehe etwa den Hofmann-Essay), da belegt Szerb seine Analysen noch vermehrt mit Fußnoten, Quellenangaben. An literarischen Wirkungen in Sachen Geschmack und Ideen interessiere ihn im Sinne der Geistesgeschichte nicht die positive, mechanische Übernahme, sondern die umschaffende, gestaltende Arbeit des Übernehmers. In den späteren Essays komme dagegen ein einnehmend subjektiver Ton auf, hier sei Szerb mehr Künstler als Gelehrter (siehe etwa den Dulcinea-Essay, der in der ersten Person mit einem persönlichen Erlebnis anhebt, aber auch den Essay über Ibsen, in dem Szerb am Anfang über die allgemeine Ibsen-Begeisterung seiner Gymnasialzeit berichtet). Doch ob eher ernsthaft oder eher leserfreundlichunterhaltend, alle Essays seien geprägt dadurch, dass Szerb jeglicher Vagheit und Dunkelheit abhold war.


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Zu den einzelnen Essays Stefan George gehört zu den von Szerb hoch geachteten Gestalten, die er, neben den Ungarn János Arany und Mihály Babits, in eine Reihe mit Dante, Goethe, Shakespeare, Michelangelo und Platon stellt. Seine jugendliche Begeisterung für Stefan George zeigt sich nicht nur an den Namen, mit denen er ihn vergleicht, sondern auch daran, dass George der Einzige unter den hier Porträtierten ist, an dem er keinen Makel auszumachen vermag. Szerb will die in Dichtung verwandelte Weltsicht Georges untersuchen, genauer: dessen Ideen-, Geschichts- und Natursicht. In seiner Hauptthese vertritt er hierbei die Ansicht, dass die deutsche Geistesgeschichte mit Stefan George in eine neue Phase eingetreten sei, die zugleich eine Rückkehr zu gewissen Formen des Mittelalters bedeutete. In seinem Castiglione-Essay über die Figur des Höflings unternimmt Szerb den Versuch, einen sozialgeschichtlichen Typus geistesgeschichtlich und psychologisch zu charakterisieren, wobei er die in diesem Typus enthaltenen antiken, die mittelalterlichen und die Elemente der Renaissance einzeln untersucht, um dadurch «der Seele der höfischen Kultur näherzukommen». Wie László Németh in seiner kurzen Rezension über diesen Essay Szerbs Fazit zusammenfasst, lieferte zur Weltanschauung des Hofmanns das Mittelalter die Formen, die Renaissance den Gehalt und die Antike (vornehmlich der Stoizismus) die begründenden Argumente.4 Zum Schluss beantwortet Szerb die Frage, in welchem metaphysischen Klima die Lebensform des Hofmanns überhaupt möglich war. Der Ibsen-Essay hat den Charakter eines literaturgeschichtlichen Porträts, das aufgrund Szerbs eigener Forschung und Konzeption das gesamte Lebenswerk Ibsens summiert. Er versucht, das Veraltete bei Ibsen (das Tendenziöse, die Überbetonung der Symbole, die allzu vollkommene Komposition) vom Bleibenden zu sondern: von den gerade im Pathologischen der Symbole sich bekundenden allgemeinmenschlich-unbewussten Inhalten und von der Lyrizität seiner Dramen, welche besonders in seinen späten Jahren die Sehnsucht nach der versäumten Vollendung des Lebens atmen, wobei Szerb den Grund dieser Lebenshemmnis in der protestantisch-pietistisch geförderten übermäßigen Selbstbewusstheit erblickt.

4

Vgl. László Németh: «Szerb Antal: Az udvari ember», in: Protestáns Szemle, Jg. XXXVII (1928), S. 660.


Einleitung des Herausgebers

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Auch der Essay über William Blake hat den Charakter eines literaturgeschichtlichen Porträts, in dessen Zentrum der Mystiker Blake steht, der mit einem sogenannten «zweiten Gesicht» begabt gewesen sein soll, hinter dem Schein des uns Gegebenen das wahre Wesen aller Dinge schauend. So seien etwa Gewissen und Schuldbewusstsein «im Grunde» Gespenster, deren Stimme, vorab auf dem Gebiet der Liebe, zu missachten sei, denn sie gingen letztlich auf den Gott der Bibel zurück, der das Prinzip des Bösen verkörpere, während Satan jenes des Guten repräsentiere. Szerb führt Blakes Visionen, die sich außer seinen prophetischen Büchern auch in seinen zu Recht berühmten Kupferstichen niederschlugen, auf das Ausströmen menschheitlich gemeinsamer Kindheitsphantasien zurück: Sein verselbständigtes Unbewusstes habe Blake als Geisterdiktat wahrgenommen. Der Essay zur Präromantik, von dem hier nur dessen auf Rousseau bezogener Teil zu lesen ist, zeigt paradigmatisch die Doppelinspiration der Szerb’schen Essays: Geistesgeschichte und Tiefenpsychologie, vor allem in Form der Freud’schen Psychoanalyse. Untersucht wird der präromantische Mensch, den Szerb in Rousseau verkörpert sieht mit dessen antirationalistischer Rebellion im Namen der zivilisatorisch zurückgedämmten Sehnsüchte: Der Wille zur Rückkehr zur Natur meine eigentlich den Willen zur Rückkehr zu unseren Gefühlen, zu unserem wahren Selbst, die Regression in unsere Kindheit, zur Mutter, letztlich zum präindividuellen Sein. Im Dulcinea-Essay fragt sich Szerb, ob Dulcinea del Toboso, die ja in Cervantes’ Roman wahrscheinlich kein einziges Mal «realiter» auftritt, eher zur Wirklichkeit Sancho Panzas oder zur Welt der von Phantasie gespiesenen Wunder, der ambivalenten Manie à la Don Quijote gehöre. Er kommt zum Schluss, dass Dulcinea auf der Grenze dieser beiden Welten throne: Sie existiere nicht einmal, sie «gelte» vielmehr, wie Werte und Wahrheiten gelten. In Gogol sieht Szerb nicht nur den Initiator des meisterhaften russischen Realismus, nicht nur einen Selbstmystifikator, sondern auch jemanden, der gespenstische, dämonische Gestalten erschuf, weil er selbst an den Teufel glaubte und gar meinte, die Dämonie seiner Gestalten sei ihm vom Teufel höchstpersönlich eingegeben worden. Um ihn abzuwehren, glaubte er, er müsse sich erlösen und daher auf alle weltliche Eitelkeit, so auch aufs Schreiben, verzichten. Diese späte religiöse Wende Gogols interpretiert Szerb als den Versuch, in der Religion Heilung zu finden von dem, was er als Schizophrenie ansieht, worauf nicht zuletzt Gogols totale Erlebnisunfähigkeit hinzuweisen scheint: Die toten Seelen ist nicht nur der Titel seines Hauptwerks,


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sondern das Bild, das er sich immer mehr von seinen Mitmenschen und von sich selbst machte. Es gelang ihm letztlich nicht, seinen Dämonen zu entkommen. Ob es wohl Zufall ist, dass Antal Szerb diesen Essay gerade im Jahr vor seinem eigenen, brutalen Tod verfasste? Basel, im September 2010

Editorischer Hinweis Ergänzungen des Herausgebers stehen durchwegs in eckigen Klammern.

AndrĂĄs Horn



Stefan George (1868–1933), Fotografie von Jacob Hilsdorf (1910)


Stefan George [1926]1 1. Die künstlerische Laufbahn Stefan Georges (1868–1933) war, wie in unserer Zeit die eines jeden, der den Wörtern neue Bedeutung verleiht, dessen neuer Inhalt alte Formen notwendig auflöst und an ihrer statt neue erschafft: ein Zeichen, dem widersprochen wird. Einige fanden ihn unverständlich, andere wiederum, seine Gestalt in die bequeme Typisierung der Attribute «dekadent», «Ästhet» verhüllend, gingen an ihm vorbei, ohne sein tieferes Wesen zu erkunden, und sie warfen ihm vornehmlich seine Einsamkeit vor, seinen Rückzug vor den Fragen des Alltagslebens, der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Mit der Zeit jedoch fanden die in vornehmer Verschlossenheit geborenen und behüteten Rhythmen die Ohren, die dazu berufen waren, sie zu vernehmen, der anfänglich geschlossene Kreis weitete sich immer mehr aus, und heute zählt George bereits zu denen, die der Selbstvertrauen schenkende Stolz seiner Nation sind. Durch die Gehörlose heilenden Erschütterungen des Weltkriegs wurde vieles, was in Georges Schaffen bis anhin dunkel gewesen war, nunmehr offenkundig, und George ist ein namhafter Faktor im geistigen Wiederaufbau nach dem Krieg. Der vorliegende Essay beabsichtigt nicht, einen erschöpfenden Querschnitt durch Georges Gedankenwelt zu bieten. Durch diese Zeilen hindurch, wenn auch nicht mit letzter Konsequenz, strebt er lediglich auf eine einzige Feststellung zu: dass dank Stefan George die deutsche Geistesgeschichte in eine neue Phase eintrat; und dass dieser Punkt in ihrer Entwicklung zugleich eine Rückkehr bedeutet: die Rückkehr zu gewissen uralten Formen des deutschen Geistes, Lebens und Sehens, die wir zusammenfassend «Mittelalter» zu nennen pflegen. Dass George, bei all seiner Modernität und Zeitrepräsentanz, Blut ist vom Blute der Wolframs, der Walters und der Gottfrieds und dass er den deutschen Weg dort weitergeht, wo Martin Luther von ihm abkam. Seit der Reformation ist er der erste deutsche Dichter, der unabhängig ist vom Lutheranismus und von dessen späten Abkömmlingen, dem Romantismus und der deutschen Philosophie.

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Gondolatok a könyvtárban, S. 72–90. Die folgenden Anmerkungen stammen vom Hrsg.


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Dies Negative bedeutet nun unüberblickbar Vieles und ist schwer zu vollziehen. Denn sozusagen alles, was deutsch ist, bedeutet im Grunde Lutherisches: angefangen bei der Sprache, dem Neuhochdeutschen, das die Züge Luthers an sich trägt, über die deutsche Wissenschaft, die im Zeichen der lutherischen Kritik in Gang kam, weiter durch die deutsche Philosophie, die sich auf dem lutherischen Prinzip der Freiheit aufbaute, hin zur deutschen Dichtung, die eine Dichtung der lutherischen, nur-individuellen Seele ist, und bis zum deutschen religiösen Leben, das in der lutherischen Heiligkeit des subjektiven Religionserlebnisses zum Ausdruck gelangt, – alles. George ist von all dem so gut wie unberührt, die Sprache formt er beinahe so energisch nach seinem eigenen Bild, wie dies seinerzeit Luther tat, und er geht auf dem Weg des deutschen Geistes an dem Punkt weiter, wo die großen deutschen Mystiker, die katholischen Wegbereiter der Reformation im 14. Jahrhundert abbogen, wo der deutsche Individualismus, der nachher bis zu einem gewissen Grad ganz Europa seinen Stempel aufdrückte, seinen Anfang nahm. George ist kein Individualist (im Sinne des 19. Jahrhunderts). Er behauptet nicht, jedes seiner eigentümlichen und individuellen Erlebnisse repräsentiere etwas Wertvolles, nicht einmal sein tiefstes tue das, sofern es nur-individuell ist, es ist nicht das Ziel, zumindest nicht das Hauptziel seiner Dichtung, wahrer Spiegel seiner Persönlichkeit zu sein. Seine Persönlichkeit sei überindividuell und erlange nur dank ihrem Anteil an objektiven Werten die für ihn überaus wichtige «Weihe», die Sanktion, die als Einziges ihn dazu berechtige, sein Leben zu verewigen: Denn gerade durch diese Teilnahme habe sein Leben aufgehört, nur-individuell, nur-einmalig zu sein, sei vielmehr von allgemeiner Geltung, der Träger ewiger Dinge. Dieses Negative bedeutet zugleich auch etwas Positives: George ist nicht Individualist – der Individualist ist eigentlich ein solcher Teil, der Autonomie erlangt hat und dadurch, sich aus dem Ganzen herausreißend, auch des Bewusstseins vom Ganzen verlustig gegangen ist. Aus diesem Grund ist die deutsche Dichtung eine Dichtung der Einsamkeit: Der autonome Teil, das Ich, sich selbst nicht genügend, sehnt sich ununterbrochen nach dem romantisierten «Anderen», dem Nicht-Ich, das heißt: nach dem Ganzen. Diese Sehnsucht ist der Grundton der neuzeitlichen deutschen Dichtung, dies die Wurzel allen deutschen Sentimentalismus (= des Schmerzes ob der Einsamkeit des Ich), des Romantismus (= der Sehnsucht nach der Synthese mit dem NichtIch) und des Weltschmerzes (= der Bitterkeit wegen der Unmöglichkeit dieser Synthese). George ist demgegenüber nicht einsam (gewisse unvermeidliche Wendepunkte seines Lebens nicht eingerechnet, die fast mit der Regelmäßigkeit von Sonnenfinsternissen wiederkehren); er fühlt sich als Teil


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eines für ihn existierenden, von innen her sehr wohl sichtbaren und erlebbaren Ganzen, des Kosmos, des geordneten, «geschmückten» Weltalls [griechisch kosméo = ordnen, schmücken]; er fühlt, dass er von den gleichen Gesetzen bewegt wird wie die Sterne, und umgekehrt, auch die Sterne werden von seinen Gesetzen bewegt – nicht, als ob sein Mikrokosmos dasjenige wäre, was den Makrokosmos in seinem Bewusstsein aufbaut, wie es die Romantiker glauben, sondern im Gegenteil: Weil der Makrokosmos auch seinen Mikrokosmos in sich einschließt, welcher wie der Makrokosmos einheitlich ist.

2. Der Dichter steht der Welt gegenüber, und er reagiert auf die Dinge, denen er begegnet; diese Reaktion ist die Dichtung. Die Art der Reaktion kann vielfältig sein: Es gibt Dichter, die im Werk ihre durch die Dinge erregten Gefühle festhalten, die emotionalen Lyriker, zum Beispiel Sándor Petöfi;2 es gibt solche, die das gleiche mit ihren die Dinge betreffenden Gedanken tun, die reflektierenden Dichter, zum Beispiel Imre Madách;3 solche, die ihre eigenen, aber gleichwohl den Dingen beigelegten Intentionen festhalten, die pathetischen, zum Beispiel Mihály Vörösmarty.4 Auf dem Gipfel der Dichtung steht jener Dichter, durch den die Dinge selbst zum Sprechen gebracht werden, der Dichter, von dem wir gewöhnlich sagen: Er beschreibt die Dinge, wie sie sind, zum Beispiel János Arany.5 Allein: Die Dinge, so, wie sie sind, werden nur von Gott gesehen, in dem ja von allem Anfang an das Wesen aller Dinge inbegriffen ist; der Mensch sieht die Dinge nur so, wie sie erscheinen, und zwar jeder Einzelne anders, da durch seine Augen die Strahlen je anders gebrochen werden. Den Dingen, wie sie sind, ihrem jeweiligen Wesen gemäß, können wir uns höchstens annähern dank der unverhofften Intuition der Liebe und der von der Liebe geschenkten rätselhaften Clairvoyance. Der große Schöpfer ist gerade aus diesem Grund eigentlich ein Meister der Liebe: Weil seine Liebe größer ist, sieht er die Dinge wahrheitsgetreuer als andere. Der große Dichter kann ob2

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[Sándor Petöfi (1823–1849), ung. Dichter, führende Gestalt der revolutionären Intelligenz der 1840er Jahre.] [Imre Madách (1823–1864), ung. Dichter, Verfasser der repräsentativen ung. dramatischen Dichtung, der Tragödie des Menschen.] [Mihály Vörösmarty (1800–1855), romantischer Dichter, Epiker, Dramatiker der ung. Reformzeit.] [János Arany (1817–1882), Dichter, hervorragender Vertreter der ung. epischen Dichtung.]


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jektiv genannt werden, insofern er nicht bestrebt ist, seine mit den Dingen verbundenen subjektiven Gedanken und Gefühle wiederzugeben, sondern die Dinge selbst, und zwar – zumindest seiner Intention nach – ihrem Wesen entsprechend, Dinge sind jedoch ihrem Wesen nach objektiv. Zugleich ist er auch subjektiv, da er ein endlicher Mensch ist und da seine Persönlichkeit auch auf seine Sichtweise abfärbt. Diese Doppelheit, objektive Dinge, subjektive Sicht, beschert der Dichtung ihren Zauber: dass sie sowohl von innen her stammt als auch zugleich draußen ist, dass sie vermöge der Magie von Ausdruck und Sprache eine Synthese zwischen Ich und Nicht-Ich bewerkstelligt. Was demnach der große Dichter in seine Gedichte fasst, ist nicht die Welt, noch die kleine Welt des Dichters, sondern diese beiden zusammen: die Weltsicht des Dichters, die sich von jedem anderen Erkenntnisakt dadurch unterscheidet, dass das Subjekt (das sieht), das Objekt (das von ihm gesehen wird) und das Prädikat (dass es sieht) im Werk je schon eins sind: in der vom Dichter gesehenen Welt ist dieser bereits selber enthalten, wodurch die Welt durch ihn eigentlich sich selbst betrachtet. Wir sprechen von Weltsicht, nicht von Weltanschauung, denn Weltanschauung meint heute die mehr oder weniger wohlgeordnete Gesamtheit von Ansichten, Meinungen, Axiomen und nicht jene uralte, originäre Einheit des Sehens, die den Dichter kennzeichnet. Eine Weltanschauung hat jeder Mensch, zumindest sollte er eine haben, eine Weltsicht nur der erwählte Geist, seine Weltsicht zu objektivieren, hinauszuverlegen, zu verewigen, mit einem Wort: zum Weltbild zu machen, dies ist nur dem erwählten Schöpfer gegeben. Im Folgenden wollen wir dementsprechend die in Dichtung verwandelte Weltsicht Georges untersuchen. Wir betrachten nicht Georges Gedanken, Gefühle, Ansichten, Grundsätze, sondern die Dinge, wie George sie sieht. Es ist demnach offenkundig, dass es eigentlich unmöglich sein wird, in Worten, Feststellungen, in Begrifflichem etwas aufzulösen, was eben nicht Begriff, sondern Bild ist, wie es George selbst von seiner Dichtung so schön schreibt: Sie wird den vielen nie und nie durch rede Sie wird den seltnen selten im gebilde.6

Des Dichters Weltsicht bekundet sich in seinem Schaffen auf zweierlei Weise: materiell und formal. Inhaltlich ist, was der Dichter sieht, was – die Welt durch seine Persönlichkeit filtrierend – an Wesentlichem, Wiederzugeben6

[Das sind die beiden letzten Verse aus dem hier folgenden Gedicht «DER TEPPICH» (in: ders.: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin 1908–1934, 18 Bde. [= GAW], Bd. 5, S. 40), offenbar eine Metapher für das (George’sche) Gedicht überhaupt:]


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dem übrig bleibt: eine Frage der dichterischen Auswahl. Formal ist, wie der Dichter sieht, wie sich diese spezifische Sichtweise auch im Wie seiner Dichtung kenntlich macht – da ja Sehen und Erschaffen bei ihm gleichgesetzlich sind: eine Frage der dichterischen Methode. Auch Georges dichterische Methode, das «Wie» bedeutet schon in sich ein Novum gegenüber der Dichtung des 19. bis 20. Jahrhunderts, eine Rückkehr zu einer früheren dichterischen Methode, die zu Georges Zeit aus der deutschen Lyrik bereits am Verschwinden war. Die deutsche Dichtung war seit Goethe eine Dichtung des nur-einmaligen Erlebnisses gewesen, sich dem Grundsatz Goethes anpassend, wonach alle Lyrik Gelegenheitsdichtung sei. Die Methode des Dichters bestehe darin, zu schildern, was ihm der inspirierte Augenblick vorlegt – es kann sein, dass der nächste Augenblick einen entgegengesetzten Erlebnisinhalt haben wird, dann wird er, ohne herumzuwählen, genau das schildern, was ihm der Augenblick vorlegt und so viel ihm der Augenblick vorlegt. Sein Gestus ist dies: Plötzlich macht er die Augen weit auf, dann macht er sie sofort wieder zu, und nun berichtet er von dem, was er soeben gesehen hat. Diese Methode erreichte ihre äußerste Entwicklungsstufe in der impressionistischen Lyrik Ende des 19. Jahrhunderts, wo der Dichter nichts Bleibendes mehr in sich einbegreift und dem Erlebnis gegenüber keine Aktivität mehr an den Tag legt, vielmehr bloßer Spiegel ist, der alles zurückwirft, was an ihm vorbeigeht, ein von Stimmungen Herumgewirbelter, eine von geheimer Hand geschaukelte Wiege, ein im Wind verwehendes Blatt,

DER TEPPICH Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze Und blaue sicheln weisse sterne zieren Und queren sie in dem erstarrten tanze. Und kahle linien ziehn in reich-gestickten Und teil um teil ist wirr und gegenwendig Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten … Da eines abends wird das werk lebendig. Da regen schauernd sich die toten äste Die wesen eng von strich und kreis umspannet Und treten klar vor die geknüpften quäste Die lösung bringend über die ihr sannet! Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede Gewohnte Stunde: ist kein schatz der gilde. Sie wird den vielen nie und nie durch rede Sie wird den seltnen selten im gebilde.


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um Verlaines charakteristischen Vergleich aufzugreifen. Diese dichterische Methode ist eine natürliche Konsequenz des lutheranisch-individualistischen Weltbildes: Die Kirche individuierte sich zu Gläubigen, so fing der Prozess an, dann die Gesellschaft zu Individuen, die Individuen zu Erlebnissen, dann der Raum zu Punkten, zu Momenten die Zeit – was kann der Dichter sonst tun, als den Punkt und den Augenblick wiederzugeben? Der Ausdruck der in Atomen wahrgenommenen und erlebten Welt kann nur eine Atomdichtung sein. Hinzu kommt noch der moderne Determinismus: Der Dichter glaubt nicht einmal, er könnte Herr werden der über ihn hinweghuschenden Erlebnisse, Augenblicke, er wird zum Sklaven seiner Sicht, seine Methode die Passivität. George ist kein Dichter der nur-einmaligen Erlebnisse. Er verdichtet ein Bleibendes, man könnte fast sagen, ein a priori gegebenes Erleben – die Bilder wechseln ab, wie die Dinge an ihm vorbeiziehen, doch der Fundus, in dem die Bilder erscheinen, bleibt stets der gleiche. Sein Standpunkt den Dingen gegenüber ist ebenfalls keine determinierte Attitüde, nicht jene des Sklaven: Vielmehr ist er von der Art, wie jener des Feldherrn, der seine Truppen an sich vorbeimarschieren lässt, in gedrängten Reihen, einen im Voraus festgelegten Plan befolgend. Auch er liefert uns den Inhalt von Augenblicken (denn Lyrik kann zeitlich nur mit Augenblicken arbeiten, die Kontinuität verlangt bereits Episches), doch diese Augenblicke sind nicht nur-einmalig, unvermittelt-unerwartet, von unberechenbarem Inhalt, wie der impressionistische, der relative Augenblick; für diesen Standpunkt aktualisieren das Erlebnis und der Augenblick nur das, was potentiell in ihm schon von vornherein da war und ständig da ist. Das Augenblickserlebnis steht nicht für sich selbst, vielmehr ist es bloßer Teil im Erleben des Ganzen, wie auch seine Person bloß Teil ist im ganzen Kosmos. Diese Konstanz nennt Gundolf sehr treffend «Dauerblick». Diese Methode bekundet sich natürlich nicht nur in der Attitüde gegenüber dem Erlebnis, sondern auch in der Form von Georges Gedichten: gleichermaßen im Rhythmus, im Aufbau, in der Vergleichs- und Bildtechnik. Denn gerade die dichterische Form lässt uns das Wie der dichterischen Weltsicht verstehen und die Welt durch seine Sicht wahrnehmen. Die Konstanz erscheint in Georges Bildern als Plastizität. Georges Bilder und Vergleiche sind ruhig, stehen still, sichtbar in ihrem ganzen Umfang, gleichsam aus Holz geschnitzt. Auch dies ist ein ziemlich alleinstehendes Phänomen in der deutschen Lyrik. Der junge Goethe, mit dem vielleicht der deutsche Individualismus zum ersten Mal zu Dichtung gerann, löste die eindimensionalen Bilder der hergebrachten Dichtung auf: Er vermischte die Eindrücke mehrerer Sinnesgebiete in einem einzigen Bild, und an die Stelle von


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