Die Heimholung

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Ludger Lütkehaus Die Heimholung

Die Heimholung

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Ludger Lütkehaus

Nach Friedrich Nietzsches (1844–1900) geistigem Zusammenbruch im Januar 1889 kümmert sich seine Mutter liebevoll und aufopfernd um den Kranken – aber mitnichten selbstlos … In Die Heimholung erzählt Ludger Lütkehaus von einem abgründigen, zutiefst ambivalenten Beziehungsdrama – und einer Liebesgeschichte …

I S B N 978-3-7965-2728-9

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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783796 527289

Nietzsches Jahre im Wahn Eine Erzählung




Die Umstände von Friedrich Nietzsches (1844–1900) Zusammen­ bruch im Januar 1889 hätten dramatischer kaum sein können: Innerhalb weniger Tage versendet er Dutzende von Briefen, unter­ zeichnet mit «Nietzsche Caesar», «Der Gekreuzigte» oder «Dio­ nysos», in denen er unter anderem seinen Willen verkündet, «den jungen Kaiser füsillieren», «alle Antisemiten» und «Bismarck […] erschießen» oder gar den «Papst ins Gefängniß» werfen zu lassen. Kurz nach diesen sogenannten «Wahnsinnszetteln» verfällt der Philosoph in fortschreitende geistige Umnachtung. Fortan kümmert sich die Mutter liebevoll und aufopfernd um den Kranken – aber mitnichten selbstlos: Denn fast scheint es, als sei dessen Leiden für die Pastorenwitwe eine willkommene Gelegenheit, den an Atheis­ mus und Freigeisterei verloren geglaubten Sohn auf die frommen Pfade des Protestantismus seines Elternhauses zurückzuführen. Aus der Perspektive der Mutter, in der jedoch die Stimme des Sohnes unterschwellig hörbar bleibt, erzählt Die Heimholung von einem abgründigen, zutiefst ambivalenten Beziehungsdrama – und einer Liebesgeschichte.

Ludger Lütkehaus, 1943 geboren, ist Professor für Literatur­ wissenschaft und Mitglied des deutschen P.E.N.­Zentrums. Spä­ testens seit der von ihm besorgten Schopenhauer­Ausgabe, die als erste konsequent auf die Fassungen letzter Hand rekurriert (1988), gilt Lütkehaus weltweit als einer der Schopenhauer­Experten schlechthin. Sein radikales Buch Nichts (EA 1999; 9. Aufl. 2010) hat ihn über die Grenzen seines Faches hinaus bekannt gemacht. In unzähligen Publikationen hat er sich seit 1976 mit Vorliebe den Themenbereichen Literatur, Philosophie und Psychologie des 18. bis 20. Jahrhunderts gewidmet. Neben Schopenhauer haben vor allem Nietzsche, Freud, Fritz Mauthner und Günther Anders großen Einfluss auf sein Denken ausgeübt. Für sein Schaffen wurde Ludger Lütkehaus mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 1979 mit dem Sonderpreis der Scho­ penhauer­Gesellschaft sowie 2009 mit dem Friedrich­Nietzsche­ Preis des Landes Sachsen­Anhalt.


Ludger Lütkehaus

Die Heimholung Nietzsches Jahre im Wahn Eine Erzählung

Schwabe Verlag Basel


Schwabe reflexe 11 © 2011 Schwabe AG, Verlag, Basel Lektorat: David Marc Hoffmann und Dani Berner, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978­3­7965­2728­9 www.schwabe.ch


Inhalt Prolog

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II Der verlorene Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II Der wiedergewonnene Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Epilog

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Prolog

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Anfang Januar 1889 bricht Friedrich Nietzsche auf der Turiner Piazza Carlo Alberto in virulentem Wahnsinn zusammen. Doch die Katastrophe wird für ihn und seine Mutter zugleich zum Beginn eines gemeinsamen Lebens, das den Gottesmörder der Moderne, den seiner christlichen Herkunft entlaufenen «kleinen Pastor» in den Schoß der familiären und religiösen Tradition zurückholt. Sieben Jahre pflegt Franziska Nietzsche ihren Sohn in nie ermüdender Liebe. Die Lebensleistung dieser lange Zeit unterschätzten Frau ist unvergleichlich. Aber sie erlebt mit ihrem Sohn auch ein spätes Glück. Freilich bleibt die Beziehung tief ambivalent. Freunde, Ärzte, Pfleger müssen fürchten, dass der Sohn in einem Tobsuchtsanfall seine Mutter einmal erschlagen oder erwürgen könne. In einer biographischen Erzählung über den umnachteten Nietzsche, die aus der Perspektive der Mutter spricht und zugleich die Stimme des Sohnes unterschwellig hörbar macht, zeichnet «Die Heimholung» das abgründige Beziehungsdrama zwischen Mutter und Sohn Nietzsche nach. Der erste Teil spricht von der Tragödie des verlorenen Sohnes, der nach dem frühen Tod des Vaters durch das geistliche Rollendiktat der Mutter auf den Weg des Spaltungsirreseins gedrängt wird. Der zweite Teil gilt der Heimholung des wiedergewonnenen Sohns im Wahn. Der dritte, epilogische, spricht vom fatalen Triumph der Schwester. Die biographischen Fakten werden durchweg respektiert. Nur gelegentlich ist der Autor abweichende Wege gegangen. Sein Dank gilt der neueren Nietzsche-Forschung und -Edition: Sie hat auf die Urkatastrophe der Nietzsche-Rezeption – das Machwerk der Schwester, das biographisch, philologisch und philosophisch zur Fälschung, politisch zum Faschismus und Antisemitismus, psychologisch zum Ressentiment führte – mit einer 9


Ăźberaus eindrucksvollen Forschungsleistung geantwortet. Es ist ihr Verdienst, dass Werk und Vita des meistgelesenen und meistdiskutierten Philosophen der Gegenwart auch am intensivsten erforscht sind. Freiburg im Breisgau, Herbst 2010

Ludger LĂźtkehaus

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I Der verlorene Sohn



Fast immer war er ihr guter Sohn, ihr innigst geliebtes Herzenskind gewesen – ihr «altes Geschöpf», als das er mit gutmütigem Humor, aber auch tief empfundener Dankbarkeit ihre Briefe in den letzten Jahren beantwortet hatte. Und dann das Unfassliche! Selbst jetzt noch, wo er sich so beruhigt zu haben schien, dass sie aus dem Nachbarabteil nichts mehr von ihm hörte, peinigte sie die Angst, die Schreckensszene könnte sich wiederholen. Auf der Bahnreise von Basel hatte er mehrere Tobsuchtsanfälle bekommen, die zwar nur kurz gedauert hatten, aber fürchterlich anzusehen und anzuhören gewesen waren. Der heftigste Wutausbruch hatte sich gegen niemand anderen als sie, die Mutter, gerichtet. In der Tür des Aborts stehend, war er in wüste Beschimpfungen ausgebrochen, die nur schwer zu vergessen sein würden. Der begleitende Arzt, ein ehemaliger Schüler ihres Sohnes, der seinem alten Lehrer sonst voller Respekt begegnete, und der robuste Wärter hatten nur mit vereinten Kräften einen tätlichen Angriff auf sie unterbinden können. Seither waren sie in getrennten Abteilen gereist, damit er sich beruhigen konnte und sie ihres Lebens sicher war. Sie hatte sich zunächst gar nicht mehr in seine Nähe getraut. Wie furchtbar war es für sie, ihr herzensliebes Kind während der Fahrt nicht mehr selbst pflegen zu dürfen. Erst auf dem Bahnhof in Frankfurt hatte sie es wieder gewagt, seinen lieben Kopf in ihre Hände zu nehmen und seine Stirn abzuküssen. Aber noch danach war er wieder so unruhig und laut geworden, dass sie froh war, den Wärter nicht vor der Zeit zurückgeschickt zu haben. Der junge Arzt hatte das tun wollen, sie aber hatte geradezu flehentlich um das weitere Geleit des Wärters gebeten. Man konnte ja nie wissen, selbst eine Mutter nicht. Wahrscheinlich war die Ursache der Anfälle, dass die Ärzte in Basel dem Kranken bis auf weiteres das gewohnte Beruhigungsmittel vorenthalten hatten, von dem es hieß, dass es die Patienten auch wütend machen konnte, wenn es sie nicht 13


schlafen ließ. Oder sollte ein anderer, sie wagte es nicht zu denken, ein böser Geist in ihren an sich so guten Sohn gefahren sein, so dass er nicht wiederzuerkennen war? Dabei hatte die Heimreise eigentlich gut begonnen, wenn man die Schwere seiner Erkrankung in Rechnung stellte. Als die erste Nachricht seines Freundes aus Basel, der als Professor der Theologie zweifellos Glauben verdiente, über den Ausbruch seiner Krankheit und seine Einlieferung in die örtliche Irrenanstalt bei ihr eingetroffen war, hatte sie zunächst das reine Entsetzen gepackt. Verzweiflung war über sie gekommen, nach der Sorge und Not, die sie immer bekümmert hatten, wenn er von seinen Irrfahrten und andauernden Erkrankungen geschrieben oder bei seinen gelegentlichen Besuchen in der alten Heimat in Naumburg gesprochen hatte. Manche Freunde, falsche Freunde, hatten ihn schon vor Jahren für irrsinnig erklärt und das Gerücht verbreitet, er lebe in einem Irrenhaus. Welches Ende es noch mit ihm, mit ihnen beiden, nehmen würde – sie wusste es selbst nicht, so sehr sie auch um die Gnade des allbarmherzigen Gottes betete und dessen reichsten Segen für das kommende Jahr auf den Sohn herabflehte. Doch der Allmächtige hatte erst einmal seine gewaltige Hand auf sie beide gelegt. Seine Ratschlüsse waren unerforschlich. Und seinen Geschöpfen oblag es, sich demütig in seinen Willen zu ergeben. Denn was Gott tat, das war immer wohlgetan. Schon der letzte Brief ihres Sohnes – es war der nie von ihm vergessene Weihnachtsbrief gewesen, mit dem er sich über die alljährliche Weihnachtskrise hinwegzuhelfen pflegte, während sie in diesem Jahr zum ersten Mal den Geburtstagsbrief für ihn vergessen hatte – schon dieser letzte Brief war nicht ganz so wie in den früheren Jahren von ihr empfangen worden. Es war wohl noch der vertraute Ton gewesen: Das «alte Geschöpf» hatte seiner «alten Mutter», die ihn ihrerseits gerne scherzhaft ihr «Alterchen» nannte, mitgeteilt, dass auch dieses Jahr wieder das 14


übliche liebe Geschenk von ihm zu erwarten war. Sie lächelte selbst jetzt noch, wenn sie daran dachte, dass sein Geschenk aus vier neuen Zähnen für sie bestanden hatte. Und wie hatte sie sich mit ihm, für ihn gefreut, als er geschrieben hatte, dass er in der oberitalienischen Großstadt, wo er sich den Winter über aufhielt, trotz seiner bescheidenen Verhältnisse von allen wie «ein kleiner Prinz» behandelt werde, von den Kellnern und Köchen, die ihm die besten Bissen zukommen ließen, bis zur Obstverkäuferin auf der Piazza, die nicht eher Ruhe gab, als bis sie ihm die süßesten Trauben zusammengesucht hatte. Ausgerechnet in der letzten Zeit vor dem Ausbruch seiner Krankheit war seine Gesundheit offenbar so ausgezeichnet wie nie gewesen. Wie hatte sie sich gewünscht, ihn einmal dort besuchen und an seinem Glück teilhaben zu können. Denn er war ja wirklich, wenn schon nicht mehr wie einstmals ihr «kleiner Pastor», so doch ihr «kleiner Prinz», ihr «Herzensfritz». Aber als er in demselben Brief von seinem ungeheuren Ruhm, ja, der ehrfürchtigen Verehrung der genialsten Geister und der charmantesten Frauen der Hocharistokratie gesprochen hatte, lauter hochgestellten und einflussreichen Menschen, die ihm weltweit, von Paris bis Wien, von Sankt Petersburg bis New York, zu Füßen lägen, nur nicht die Deutschen, die zu dumm und zu gemein für die Höhe seines Geistes wären, da hatte sie nicht mehr gewusst, wie sie das verstehen sollte. Ließ das noch die gebotene Demut eines rechten Christenmenschen erkennen? Wie ungerecht seine Verachtung für das arme Deutschland und die Deutschen. Wenn sie ehrlich war, hatte sein Weihnachtsbrief sie erschreckt. An Maß und Ziel des Menschenlebens hatte sie ihn erinnern müssen. Und daran, dass er ihr mit seinem harten Urteil über die national und antijüdisch gesinnten Deutschen, zumal über seine Schwester, das Lieschen, die nun schon seit Jahren 15


mit ihrem lieben Mann in der Ferne Südamerikas die ganz Last der deutschen Kolonisierungsaufgaben trug, tiefen Kummer bereitet hatte. Auch sie hatte von der Tochter, die den großen Bruder in demselben Maß zu lieben behauptete, mancherlei zu leiden gehabt. Unerhörterweise hatte sie ihr einmal vorgeworfen, dass sie nur die Mutter für ihre glücklichen und gefeierten, nicht aber für ihre unglücklichen Kinder sei. Und jetzt, in der Stunde der Not, wo sie gebraucht wurde, war es die Tochter, die nicht zur Stelle war! Da sah man, was es mit ihrer angeblich so großen Liebe zum Bruder auf sich hatte. Trotzdem, so hart, wie er über seine Schwester geurteilt hatte, urteilte man als Kinder einer Mutter übereinander nicht. Es hatte ihr Herzeleid bereitet, wie es ein guter Sohn seiner Mutter einfach nicht antun durfte. Hatte er ihr nicht selbst gelobt und einmal sogar wie ein Paar am Altar die Hand darauf gegeben, zusammen mit ihr alles, wirklich alles geduldig zu ertragen? Ihre eigene Liebe und Treue konnte das indessen nicht mindern. Er war ja ihr Ein und Alles. Und sie würde schon beweisen, dass sie am allermeisten die Mutter für ihr unglückliches und krankes, selbst für ihr sündiges Kind war. Sie brannte geradezu darauf, ihn pflegen zu dürfen und ihn wieder gesund zu machen. Kein Opfer würde ihr dafür zu groß sein. Mütter leidender Kinder waren Kreuzträgerinnen. Aber wie bereitwillig würde sie dieses Kreuz tragen! Nach dem ersten Entsetzen über die Hiobspost des Freundes war sie unverzüglich nach Basel gereist, um ihren erkrankten Sohn in Empfang zu nehmen. Die Wiederbegegnung mit ihm im Sprechzimmer der Irrenanstalt in Basel war für sie noch schrecklicher, als von ihr befürchtet. Sie hatte sich eingestehen müssen: Trotz aller schlimmen Andeutungen, die seinen letzten

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Lebenszeichen zu entnehmen waren, hatte sie keine Ahnung davon gehabt, wie es wirklich um ihn stand. Wie jäh war der Bruch. Gewiss, er war sein ganzes Leben lang krank, sie seit je in unablässiger Sorge um ihn gewesen. Insofern war sein jetziges Irresein nur die letzte Steigerung seiner bisherigen Qualen. Genaugenommen hatte man bei ihm nie zwischen Krankheit und Leben unterscheiden können. Aber nun war der geliebte Sohn plötzlich vor ihren Augen zu einem Irren geworden, der nur noch äußerlich an ihren Herzensfritz erinnerte. Welche Entstellung! Jetzt erst hatte sie das ganze Ausmaß des geschehenen Unglücks wahrgenommen. Doch gerade in dieser Situation war ihr – und ihm – die Gnade des allbarmherzigen Gottes in reichstem Maße zuteilgeworden. Voller Freude über das Wiedersehen hatte ihr Sohn sogleich sein «gutes Mütterchen», seine «liebe Mama» umarmt und abgeküsst, auch wenn er plötzlich ausgerufen hatte, sie habe in ihm den Tyrannen von Turin zu sehen. Nun, derlei Überspanntheiten würden sich legen. Selbst im ersten Schrecken der Wiederbegegnung war sie guter Hoffnung, das Herzenskind, das sie manchmal schon verloren geglaubt hatte, zu sich heimholen zu können, auf dass es gesundete. Zu ihr und zu Gott, ihrer aller Gott, dem Gott ihres früh verstorbenen Mannes, dem Gott ihrer und seiner Väter, sollte er zurückfinden und von seinem Wahn, nicht bloß seiner Erkrankung genesen. In der Anstalt hatte man ihr mitgeteilt, wie es zu dem Zusammenbruch und seinem Transport nach Basel gekommen war. Ein verehrter älterer Kollege, Mentor und Freund ihres Sohnes, hatte von ihm aus Turin einen alarmierenden Brief erhalten, den man ihr zu lesen gegeben hatte, um keinen Zweifel zu lassen, dass man ihn in die Verwahrung der Klinik hatte nehmen müssen. Der Brief war höchst ordentlich und reinlich geschrieben, aber wie schwer war es ihr geworden, seinen Sinn

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auch nur ungefähr zu begreifen. Selbst jetzt rätselte sie noch, wie seine gotteslästerlichen Worte zu verstehen waren. Ihr Sohn hatte in diesem letzten Brief geschrieben, dass er sehr viel lieber Professor in Basel als, sie konnte daran auch jetzt noch nicht ohne Erschrecken denken, Gott wäre. Aber er habe es nicht gewagt, seinen Privategoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Man müsse Opfer bringen, wie und wo man lebe. Das war auch ihr Glaube. Deswegen war sie ja, ohne auch nur einen Moment zu zögern, nach Basel gereist. Doch zu welch sündigen Phantasien hatte er sich nun im Wahn verstiegen: Ihr «altes Geschöpf», das sie zusammen mit ihrem geliebten Mann dank der Gnade des gütigen Gottes zwar nicht eigentlich geschaffen, aber gezeugt und geboren hatte, sah sich in der angemaßten Rolle des Schöpfers der ganzen Welt! Könige und Kaiser hielt er für seine Söhne, jeder große Name in der Geschichte war für ihn der seine! Ihr Sohn hatte von Kindern phantasiert, die von ihm angeblich in die Welt gesetzt worden waren und deswegen nicht nur «in das Reich Gottes», sondern auch «aus Gott» – aus ihm, ihrem Sohn! – kamen; von «lieblichen» Frauen, von denen sie nichts wusste; von einem geplanten Treffen mit dem verehrten älteren Kollegen, bei dem ohne die von ihrem Sohn sonst sehr respektierten Gebote der Höflichkeit das «Negligé des Anzugs Anstandsbedingung» sei. Ein «Glas Veltliner» würde zu dem «Negligé» schon zu beschaffen sein. War das einer seiner schlechten Späße, zu denen er sich vom Himmel verurteilt glaubte, um die Welt während der «nächsten Ewigkeit» zu unterhalten? Aber es hatte auch an Schlimmerem, Bösem, hätte sie fast gesagt, wenn das bei ihrem Herzenskind nicht ausgeschlossen gewesen wäre, nicht gefehlt. Seinen geliebten Parisern wollte er den Begriff eines «anständigen Verbrechers» geben. Wie sollte es so etwas Widersprüchliches überhaupt geben können? Den großen Kaiser Wilhelm, Bismarck und ausnahmslos alle Anti18


semiten wollte er «abschaffen», obwohl doch auch sie seine Söhne sein mussten, wenn jeder Name in der Geschichte der seine war. Und schloss die «Abschaffung» aller Antisemiten nicht seine Schwester und seinen Schwager ein, vielleicht auch sie selbst, die über die Juden wie die meisten dachte? Als einzige Entschuldigung für seine wahnhaften Phantastereien hatte er genannt, dass er im letzten Jahr von den Ärzten «auf eine sehr langwierige Art gekreuzigt» worden sei. Gekreuzigt! Hieß das nicht, dass er nicht nur der Weltschöpfer, sondern der gekreuzigte Gottessohn selbst zu sein glaubte? Welche Verirrung, welche Überhebung! Wenn der allgerechte Gott ihn dafür so strafte, wie er es verdient hätte? Gottlob hatte sie jedoch noch in den gottlosesten Zeilen dieses Briefes ihren guten Sohn wiederfinden können. Von seinem Leiden «an zerrissenen Stiefeln» hatte er gesprochen und von seinem Dank an den Himmel für die alte Welt, «für die die Menschen nicht einfach und still genug gewesen» waren. Und wie hatte es sie gerührt, dass er am Schluss seines Briefes um die weitere Achtung des verehrten Kollegen und aller guten Menschen in Basel gebeten hatte, denen er anders als den Parisern den Begriff eines «anständigen Verbrechers» nicht geben wollte. Da war er doch wieder ihr altes Geschöpf. An guten Freunden hatte es ihm tatsächlich nie gefehlt. Sein bester, treuester, eben jener Professor der Theologie, dem sie ganz und gar vertrauen durfte, hatte sich, nachdem er von dem älteren Kollegen auf das Dringendste aufgefordert worden war, zu ihrem Sohn zu reisen, um ihn womöglich vor seinem Wahn oder zumindest den Folgen seines Wahnes zu retten, sofort nach Turin auf den Weg gemacht. Nach dem – gewiss noch gemilderten – Bericht, den er ihr gegeben hatte, konnte sie sich das ganze Ausmaß des Schrecklichen, Erschreckenden ausmalen. In der Sofaecke kauernd, dann wieder ans Klavier stürzend, tanzend und springend – so hatte er den Freund gefunden. Mein 19


Gott, welcher Verlust an Selbstbeherrschung ausgerechnet bei ihrem Sohn, der stets so untadelig in seinen Formen gewesen war. Unsäglich lästerliche Dinge über sich als Nachfolger des angeblich «toten Gottes» hatte er herausgeschrien, begleitet von den Ausbrüchen eines grenzenlosen Leidens. Aber so wenig er noch wusste, wer er in Wirklichkeit war – den Freund hatte er noch erkannt. Und wohl deswegen war er in einen Tränenstrom ausgebrochen, den sie an diesem Punkt des Berichtes auch nicht hatte unterdrücken können. Zu ihrer großen Erleichterung erfuhr sie allerdings, dass die kindlichste Harmlosigkeit ihn selbst beim lautesten Toben nicht verlassen hatte. Das ließ auch bei einem möglicherweise drohenden weiteren Tobsuchtsanfall, wie sie ihn auf der Bahnreise gerade erlebt hatte, auf einen harmloseren Verlauf hoffen. Die Familie, bei der er wie bei seinem vorangegangenen Aufenthalt in Turin Mieter gewesen war – einfache, aber gute Leute, mit denen er stets bestens ausgekommen war, denn er war ja eigentlich ein Familienmensch –, hatte alle seine Seltsamkeiten geduldig ertragen. Zu ihrer mütterlichen Freude hatte man ihn, den «kleinen Pastor» von ehedem, nun den «kleinen Heiligen» genannt, auch wenn sie an seine neu erworbene Heiligkeit nicht ganz glauben mochte. Nur die Kinder hatten eine gewisse Scheu vor ihm behalten, so sehr er sie immer gerne mit Karamellbonbons erfreute. Dann aber hatte er plötzlich einem römischen Kardinal, ja, dem italienischen König und sogar seiner «Heiligkeit», dem Papst, brieflich seinen Besuch angekündigt. Als Alexander, Caesar und Napoleon hatte er sich ausgegeben und verkündet, dass er seine «Zahlungsfähigkeit» schon beweisen werde. Die Welt hatte er verklärt gesehen und alle Himmel jubilierend, wo er doch von Zuhause her an bescheidenere Verhältnisse gewöhnt war. Aber davon hatte er in seinen maßlosen Phantastereien nichts mehr wissen wollen. Wie in einem fortwährenden Rausch hatte 20


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