Grenzen des Zumutbaren

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Inhalt Andreas WĂźrgler, Grenzen des Zumutbaren? Revolution und Okkupation als ­Erfahrung und Erinnerung Eric Godel, La Constitution scandaleuse. La population de Suisse centrale face Ă la RĂŠpublique helvĂŠtique Daniel Schläppi, Grenzen der Gleichheit. Wie und warum die helvetischen ­Regenten vor dem Gemeinbesitz von Korporationen kapitulierten Philippe Oggier, Ăœbergriffe. KĂśrperliche Gewalt franzĂśsischer Besatzungstruppen gegen Berner Zivilpersonen 1798–1803 Danièle Tosato-Rigo, La prĂŠsence militaire française dans une province ÂŤlibĂŠrĂŠeÂť: discours, pratiques, mĂŠmoire AndrĂŠ Holenstein, Rekonstruierte Erinnerung und konservatives Geschichtsdenken. Die Helvetische Revolution in der bernischen Erinnerungskultur des 19. und 20. Jahrhunderts

Der Herausgeber Andreas WĂźrgler ist Privatdozent an der Universität Bern und arbeitet an dem vom Schweizerischen Nationalfonds unterstĂźtzten Projekt ÂŤBitten im Wandel. Um­ brucherfahrungen und Interessenartikulation in der städtischen Gesellschaft Berns (1798–1803)Âť.

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Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

Andreas WĂźrgler (Hrsg.)

Die militärische Besetzung durch fremde Truppen gehĂśrt zu den elementaren Grenz­ erfahrungen der ZivilbevĂślkerungen in Europa zur Zeit der franzĂśsischen Revolutions­ kriege. Dass die Koinzidenz von Revolution und Okkupation als Belastung erfahren wurde, leuchtet unmittelbar ein. Doch wer was als besonders unzumutbar erlebte, ist wenig bekannt. In Fallstudien zu den Reaktionen der schweizerischen ZivilbevĂślkerung auf die Präsenz franzĂśsischer Truppen während der Helvetik zeigen die sechs Beiträge dieses Bandes Ăźberraschende Konstellationen auf. Sie nehmen verschiedene Akteure in den Blick und spĂźren deren ambivalenten Erfahrungen und Reaktionsweisen auf geis­ tige und kĂśrperliche, ideelle und materielle Grenzen des Zumutbaren nach. Wie ungern sich die Menschen an die Zeit der individuellen und kollektiven Ernied­­ rigung erinnerten, zeigt sich unter anderem daran, dass die Zeitgenossen sie gerne ver­ drängten, uminterpretierten oder im Rahmen gezielter Gedächtnispolitik ­glorifizierten. Kritisch setzte sich dagegen David Hess in ÂŤEinquartierung auf dem LandeÂť – der ­Abbildung auf dem Umschlag – mit den Ereignissen um 1798 a­ useinander.

Grenzen des Zumutbaren

Andreas WĂźrgler (Hrsg.)

Grenzen des Zumutbaren Erfahrungen mit der franzÜsischen Okkupation und der Helvetischen Republik (1798–1803)





Grenzen des Zumutbaren Erfahrungen mit der französischen Okkupation und der ­Helvetischen Republik (1798–1803)

herausgegeben von Andreas Würgler

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von: Fondation Johanna Dürmüller-Bol Friedrich-Emil-Welti-Fonds Lotteriefonds des Kantons Bern UniBern Forschungsstiftung

Abbildung auf dem Umschlag: Die polemische Darstellung einer Einquartierungs­ situation auf dem Land deutet die Grenzen des Zumutbaren an: Der Offizier lässt sich die servierten Leckerbissen bei Rotwein schmecken, während der Dragoner mit dem Menu nicht zufrieden ist und kurzerhand die Schüssel zu Boden fallen lässt. Die Hausmutter kann nicht mehr zusehen und weint auf der Bank vor dem Ofen, hinter dem sich die verängstigten Kinder verstecken. Von links eilt der erwachsene Sohn des Hauses – sekundiert vom Hund – mit einem Prügel seiner Schwester zu Hilfe, die gerade versucht, einen zudringlichen Infanteristen mit Faustschlägen abzuwehren. Doch dessen Kamerad zückt bereits gefährlich den Degen. (Bildnachweis: David Hess [1770–1843], Einquartierung auf dem Lande, 1801, kolorierte Radierung, H 28,5 cm2B 39,5 cm, Bernisches Historisches Museum, Inv. 37910 Slg. Eduard von Rodt XI.67)

© 2011 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Deutsches Lektorat: Julia Grütter Binkert, Schwabe Französisches Lektorat: Christiane Hoffmann-Champliaud, Schwabe Umschlaggestaltung: Thomas Lutz, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2729-6 www.schwabe.ch


Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Andreas Würgler Grenzen des Zumutbaren? Revolution und Okkupation als Erfahrung und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Eric Godel La Constitution scandaleuse. La population de Suisse centrale face à la République helvétique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Daniel Schläppi Grenzen der Gleichheit. Wie und warum die helvetischen Regenten vor dem Gemeinbesitz von Korporationen kapitulierten . . . . . . . . . . . . . . . 47 Philippe Oggier Übergriffe. Körperliche Gewalt französischer Besatzungstruppen gegen Berner Zivilpersonen 1798–1803 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Danièle Tosato-Rigo La présence militaire française dans une province «libérée»: discours, pratiques, mémoire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 André Holenstein Rekonstruierte Erinnerung und konservatives Geschichtsdenken. Die Helvetische Revolution in der bernischen Erinnerungskultur des 19. und 20. Jahrhunderts.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Die Autorin und die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121


Vorwort

«Grenzen» hiess das Rahmenthema der 2. Schweizerischen Geschichtstage, welche die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG) vom 4. bis 6. Februar 2010 an der Universität Basel organisierte. Das Panel «Grenzen des Zumutbaren» griff das Thema nicht in einer naheliegenden geographischen oder politischen, sondern in einer erfahrungsgeschichtlichen Perspektive auf. Ausgehend vom laufenden, durch den Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekt «Bitten im Wandel. Umbrucherfahrungen und Interessenartikulation in der städtischen Gesellschaft Berns 1798–1803», das sich mit den Erfahrungen der Bevölkerung mit der Helvetischen Republik und der französischen Okkupation beschäftigt, stellte sich die Frage, wann eigentlich die – individuellen und kollektiven – Grenzen des Zumutbaren in solchen Extremsituationen erreicht beziehungsweise überschritten werden. Entgegen möglichen Vermutungen, die auch in der Paneldiskussion aufschienen, geht es dabei aber nicht darum, «die Helvetik schlecht zu machen». Es geht vielmehr darum, anhand von Tiefenbohrungen unterschied­ liche Erfahrungsweisen und Verarbeitungsmodi der Betroffenen im Umgang mit der doppelt neuen Situation zu analysieren. Ziel ist dabei die Rekonstruktion zeitgenössischer Wahrnehmungen und Erfahrungen, die gerade nicht durch (spätere) ideologische oder historiographische Positionierungen verzerrt wurden. Die später rekonstruierten Erinnerungen sollen vielmehr klar unterschieden werden von den zeitgenössischen Erfahrungen. Damit, so bleibt zu hoffen, bietet dieser Band einen konkreten Zugang zum immer noch sehr kontroversen Image der Helvetik in der Historiographie und in der Erinnerungspolitik. Zudem und über die Helvetik hinaus betont er die methodische Fruchtbarkeit von Studien zu alltäglichen Erfahrungen und deren nachträgliche, erinnernde oder verdrängende Verarbeitung auf individueller wie kollektiver Ebene. Danken möchte ich vorab der Autorin und den Autoren, die alle ihre Teilnahme spontan zugesagt und bei der Planung, Drucklegung und Finanzierung des Sammelbandes auf vielfältige Weise mitgeholfen haben. Der SGG danke ich für die Aufnahme meines Panelvorschlages ins reich befrachtete Tagungsprogramm. Zu danken gilt es auch dem Friedrich-Emil-Welti-Fonds (Bern), der Fondation Johanna Dürmüller-Bol (Muri), dem Lotteriefonds des Kan-


tons Bern sowie der UniBern Forschungsstiftung (Bern) für ihre namhaften ­Publikationsbeiträge. Zudem geht mein herzlicher Dank an das Historische Institut der Universität Bern, das nicht nur das Projekt seit seinen Anfängen beherbergt, sondern auch die Publikation dieses Bandes tatkräftig unterstützt hat. Schliesslich möchte ich mich bei Frau Grütter Binkert (Schwabe) für ihre ruhige und kompetente Organisation der Drucklegung bedanken sowie für ihr Interesse an der Thematik des Panels und des Sammelbandes, dem sie mit dem Schwabe Verlag nun eine attraktive Plattform bietet. Bern, den 25./26. Juni 2011

Andreas Würgler


Der Stich aus dem Zürcher Kalender auf das Jahr 1848 thematisiert rückblickend die Ambivalenz der Helvetischen Republik. In der linken Bildhälfte zeigt der freudige Tanz der Menschen um den Freiheitsbaum, geschmückt mit dem Freiheitshut, der Kokarde und Freudenbändern als Insignien der Revolution, die Aufbruchsstimmung und die von Frankreich kräftig geförderte symbolische Darstellung des Neu­ anfangs. Gleichzeitig wird in der rechten Bildhälfte sichtbar, wie eine militärisch eskortierte Kutsche des französischen Kriegskommissars den Staatsschatz – hier aus Zürich, aber genauso aus Bern oder Luzern – abtransportiert. Die Inschrift der Fahne über der Kutsche erhält in diesem Kontext eine satirische Note, wenn sie die militärische Besetzung und Plünderung der Schweiz mit den Parolen «Freiheit und Gleichheit» verbrämt – und die naiven Tänzer und Tänzerinnen diesen Widerspruch auch noch feiern. (Abbildung aus: Holger Böning, Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und ­Republik [1798–1803], Zürich 1998, Bildteil nach S. 176)


Grenzen des Zumutbaren? Revolution und ­Okkupation als Erfahrung und Erinnerung Andreas Würgler

«Es ist der Strohhalm, der dem Kamel den Rücken bricht», sagt man in den trockenen Regionen der Erde, während man in regenreicheren Landstrichen eher vom Tropfen spricht, der «das Fass zum Überlaufen bringt». Beide Redensarten markieren metaphorisch genau jene Grenzen der Belastbarkeit, um die es in diesem Band geht. Allerdings bezieht sich die hier untersuchte Belastbarkeit weder auf Fässer noch auf Kamele, sondern auf Menschen. Auf den ersten Blick scheint es naheliegend, die Grenzen des Zumutbaren aus einer schweizergeschichtlichen Perspektive vor allem in der Epoche von 1798 bis 1803 zu suchen, jener Phase also, die, nach Vorboten 1792 in Genf und im Fürstbistum Basel inklusive Biel, seit 1798 für die ganze Schweiz, als «Fremdherrschaft»1 in die Annalen der nationalen Erinnerung Eingang fand. Diese Periode war geprägt vom militärischen «Franzoseneinfall»,2 von der 1798 «von Frankreich aufoktroyiert[en]»3 Verfassung der Helvetischen Republik und der von Napoleon 1803 «diktierten Mediationsverfassung».4 Was läge näher als diese von 1798 bis 1815 dauernde Phase der, wie sich Richard Feller und Edgar Bonjour ausdrück1 So der Titel des achten Heftes der Schweizer Kriegsgeschichte: Hans Nabholz, Die Schweiz unter Fremdherrschaft, 1798–1813, Bern, 1921. – Dieser Aufsatz entstand im Rahmen meines vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojektes «Bitten im Wandel. Umbrucherfahrung und Interessenartikulation in der städtischen Gesellschaft Berns 1798–1803», bei dem auch Philippe Oggier (vgl. seinen Beitrag in diesem Band) und Simon Seiler als studentische Hilfskräfte bei der Quellenerschliessung und -transkription mitgewirkt haben. 2 Martin Illi, Art. Franzoseneinfall, in: Historisches Lexikon der Schweiz, bisher 10 Bde., Basel 2002–2011, hier Bd. 4, Basel 2005, S. 676–678. Vgl. die elektronische Version unter: www.hls-dhs-dss.ch. 3 Volker Reinhardt, Geschichte der Schweiz, München 2006, S. 85. Vgl. François W ­ alter, Histoire de la Suisse, Bd. 3: Le temps des révolutions (1750–1830), Neuchâtel 2010, S. 77: «L’occupant impose tout bonnement une constitution.» Für die ältere Literatur etwa Edgar Bonjour, Geschichte der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hans Nabholz, Leonhard von Muralt, Richard Feller, Edgar Bonjour, Geschichte der Schweiz, Zürich 1938, S. 318f. 4 Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3, Zürich 1994, S. 123; Reinhardt (wie Anm. 3), S. 90.


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ten, «fremde[n] Gewaltherrschaft, durch die das Vaterland vor sich selbst, vor seiner Vergangenheit und vor Europa erniedrigt wurde»,5 insgesamt als «Zumutung» zu beklagen? Für andere ist die Helvetik dagegen «der erste Versuch, die Herrschaft der Demokratie auf dem historischen Boden der Eidgenossenschaft zu begründen» oder ein «Beschleuniger einer nach 1803 wieder gebremsten Modernisierung».6 Auf den zweiten Blick jedoch wird klar, dass die Gründe, etwas als «unzumutbar» zu erfahren, ebenso verschieden sein konnten wie die individuellen Schmerzgrenzen der Belastbarkeit. Im Folgenden sollen daher die Rahmenbedingungen der Erfahrungen der schweizerischen Bevölkerung mit Okkupation und Revolution abgesteckt werden. Dabei geht es insbesondere um die vielfältigen individuellen und kollektiven Formen, auf diese Ver­ änderungen zu reagieren: sie als Zumutungen oder als Chance zu erleben, zu verdrängen oder zu erinnern, zu verteufeln oder zu glorifizieren. Gerade weil die Urteile über diese Epoche bisher so weit auseinanderklaffen, gilt es genau hinzuschauen, worin die Belastung bestand und wo und wann genau der Punkt erreicht wurde, der als Grenze des Zumutbaren erfahren wurde und Reaktionen provozierte. Diese Reaktionen konnten genauso vielfältig sein wie die Gründe, die sie auslösten. Von besonderem Interesse ist dabei, ob die Ursachen des Leidens eher in der Okkupation oder eher in der Revolution begründet waren. Den zweischneidigen Charakter der Helvetik als freudiges und befreiendes Ereignis – symbolisiert im ausgelassenen Tanz um den Freiheitsbaum – und als bedrückende Besatzung – ausgedrückt im Abtransport des Staatsschatzes durch französische Truppen – visualisiert der satirische Stich in der Rückschau aus dem Jahr 1848 in einem Bild.

Erfahrungen Erfahrung zählt zu den Fundamenten der historischen Evidenz.7 Jede Geschichte basiert auf Erfahrungen, so der breit abgestützte Konsens der kul5 Edgar Bonjour, Richard Feller, Geschichtsschreibung der Schweiz, 2 Teile, Basel/Stuttgart 21979, Teil 2, S. 573. 6 Carl Hilty, Oeffentliche Vorlesungen über die Helvetik, Bern 1878, S. 7, und Holger Böning, Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Republik (1798–1803). Die Schweiz auf dem Weg zur bürgerlichen Demokratie, Zürich 1998, S. 303. 7 Joan Scott, The Evidence of Experience, in: James Chandler, Arnold Davison, Harry Harootunian (Hrsg.), Questions of Evidence. Proof, Practice, and Persuasion across Disciplines, Chicago, London 1994, S. 363–387.


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turwissenschaftlichen Forschung.8 Denn, so Reinhart Koselleck, «es gibt keine Geschichte, ohne dass sie durch Erfahrungen und Erwartungen der handelnden oder leidenden Menschen konstituiert worden wäre».9 Die Erfahrung hat sowohl individuelle wie kollektive Komponenten. Alltagssprachlich dominiert die subjektive Komponente des Erfahrungsbegriffs, der sich aus der Selbstevidenz der subjektiven, letztlich nicht erklärbaren Erfahrung speist. Diametral gegenläufig dazu verhält sich der gängige naturwissenschaftliche Erfahrungsbegriff, der mit dem Arrangement des Experiments gerade die subjektiven Wahrnehmungskomponenten herausfiltern will, so dass jede Person jederzeit eine völlig identische «Erfahrung» wiederholen kann. Neuere philosophische, soziologische und geisteswissenschaftliche Positionen (Max Weber, Jürgen Habermas) betonen dagegen, dass alle Erkenntnis an Menschen gebunden ist. Selbst die «reine» experimentelle Erfahrung ist also nie voraussetzungslos, denn soziale und politische, kulturelle und mentale Umstände formen das Repertoire an Wissenselementen, Wahrnehmungsweisen und Werten, welche die zugleich individuellen und kulturell vermittelten Sinngebungen prägen. Erfahrung ist zudem als kommunizierte Deutung von Erlebtem sozial eingebunden in kommunikative Prozesse der Sinnproduktion (Umberto Eco, Pierre Bourdieu).10

Revolution Die Französische Revolution gehört zu den markanten Zäsuren, nach denen die Geschichte in ein Davor und Danach eingeteilt wird. Sie veränderte ganz Europa und damit auch die Eidgenossenschaft. Die Auswirkungen der Entwicklungen in Frankreich manifestierten sich in der Schweiz in der durch französische Truppen militärisch gestützten Beseitigung des Ancien Régime und in der Einführung der Helvetischen Republik. Mit der Helvetischen Verfassung hielt die Moderne Einzug in die Eidgenossenschaft. Das kom  8 Vgl. Paul Münch, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Erfahrung als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München 2001, S. 11–27; André Holenstein, «Gute Policey» und lokale Gesellschaft. Erfahrung als Kategorie im Verwaltungshandeln des 18. Jahrhunderts, in: ebd., S. 433–450.  9 Reinhart Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt am Main 1989, S. 349–375, hier S. 351. 10 Dazu Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden: Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792–1841, Paderborn 2007, S. 56–59.


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plexe und komplizierte föderalistische Bündnisgeflecht wurde ersetzt durch einen klaren, rational organisierten Staatsaufbau. Die einheitliche, zentrale und repräsentative Demokratie löste die vielfältigen kantonalen Systeme ab, die von der Landsgemeindedemokratie bis zur oligarchischen Patrizierrepublik reichten. Die Gewaltenteilung ersetzte die über Jahrhunderte etablierten Ratsregierungen, die zugleich auch als Gesetzgeber und Gerichte agiert hatten. Und schliesslich schickte sich der einheitliche Zentralstaat an, mit korporativen Privilegien und mit kantonalen oder lokalen Eigenheiten und Autonomien radikal Schluss zu machen. Zwar hatte es im 18. Jahrhundert ebenso nach 1789 durchaus auch heftige Kritik an den Zuständen in der Eidgenossenschaft und wiederholte Forderungen nach mehr politischer Partizipation gegeben.11 Doch erfolgreich waren diese Protestbewegungen vor Beginn des Jahres 1798 kaum. Das änderte sich erst, als die französische Armee schon an den Landesgrenzen bereit stand. Jetzt befreiten sich die ehemaligen Untertanengebiete – oder sie wurden von plötzlich reformbereiten Regierungen in die Freiheit entlassen. In kurzer Zeit wandelte sich die Dreizehnörtige Eidgenossenschaft mit ihren Gemeinen Herrschaften in ein Konglomerat von rund 40 unabhängigen politischen Einheiten, von denen die neu entstandenen fast ausnahmslos das politische Vorbild der Landsgemeinde kopierten – also ein traditionelles Modell, das zwar demokratisch im vormodernen Sinne war, aber weder die Gewaltenteilung und die Menschenrechte noch die nationale Einheit und die zentrale Regierung kannte.12 Vor diesem Hintergrund sind einige der Reaktionen auf die importierte Revolution erklärbar. Viele Gemeinden und Individuen empfanden etwa die territorialen Neugliederungen von Kantonen und Distrikten als unzumutbar, weil sie der traditionellen Identität widersprachen oder weil die auf dem Reisbrett geplanten rationalen Grenzziehungen sich in der Praxis als völlig widersinnig erwiesen. Der Ostschweizer Autodidakt, Tagelöhner und Garnhändler Ulrich Bräker etwa kommentierte die Zuteilung seiner «Heimat» Toggenburg, eines Tals, das im Ancien Régime der Fürstabtei

11 Vgl. z.B. Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. 12 Ulrich Im Hof, Ancien Régime, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2, Zürich 1977, S. 675–784, hier S. 779; Andreas Fankhauser, Art. Helvetische Revolution, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 6, Basel 2007, S. 267–270. Zur Demokratie Andreas Suter, Vormoderne und moderne Demokratie in der Schweiz, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 231–354.


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St. ­Gallen, einem Zugewandten Ort der Eidgenossenschaft, angehörte, zum Kanton Säntis mit dem Hauptort Appenzell wie folgt: «[Heute] sind unsere wahlmänner dess gantzen cantons St. Gallen – oder wie einige schreiben der canton Säntis – zu Appenzel versamelt – ist eine wunderliche grille eines fr. ccomissärs der denn armsaligen unzugänglichen fleken Apenzel zum haubtort dess gantzen cantons gemacht hat – und nicht St. Gallen – welches doch in allem betracht verdiente der haubtort zusein.»13

Zahlreiche Gemeinden wandten sich mit Petitionen an die Helvetische Regierung, das Direktorium, oder an das nationale Parlament, den Gesetzgebenden Rat, um ihre Zuteilung zu einem Kanton oder Distrikt beziehungsweise die Festlegung eines Hauptortes zu verändern.14 Dabei ging es nicht nur um praktische Gründe wie die verkehrsmässige Erschliessung des Hauptortes als Sitz der Behörden, es ging auch um Machtverlust und Machtverschiebung. Denn mit der neuen Verfassung wurde die Souveränität der ehemaligen eidgenössischen Orte an die Zentralen Organe der Helvetischen Republik übertragen. Damit war zum Beispiel die Stadt Bern nicht mehr Hauptstadt des grössten Kantons der Eidgenossenschaft, sondern lediglich eine von vielen Städten im Zentralstaat und damit auf die gleiche Stufe gestellt wie etwa die ehemaligen untertänigen Städtchen Burgdorf, Brugg oder Vevey. Zur Hauptstadt der Helvetischen Republik hingegen wurde jetzt die ehemalige bernische Landstadt Aarau. Dort oder später in Luzern versammelten sich Regierung und Parlament. Mit der Regierung wanderten auch alle souveränen Kompetenzen der Stadtrepublik Bern in den Aargau zu den helvetischen Zentralbehörden. Der alte Kanton Bern wurde in vier Teile aufgeteilt: Waadt, Aargau, (Berner) Oberland und (Rest-)Bern. Andere ehemals vollberechtigte Orte der Eidgenossenschaft dagegen wurden zu neuen, grös­ seren Einheiten verschmolzen, wie etwa Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden zusammen mit der Fürstabtei und der Stadt St. Gallen sowie ehemaligen Gemeinen Herrschaften der Eidgenossen zum erwähnten 13 Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, hrsg. von Andreas Bürgi u.a., Bd. 3: Tagebücher 1789–1798, München, Bern 1998, S. 762 (Tagebuch 1798). 14 Dazu Actensammlung aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798–1803) [ASHR], bearb. von Johannes Strickler und Alfred Rufer, 16 Bde., Bde. 1–11, Bern 1886–1911; Bde. 12–16, Freiburg 1940–1966, hier ASHR 7, S. 143–181 (Nr. 39: Gebietseinteilung, Juni bis Oktober 1801); ASHR 8, S. 234–247 (Nr. 31: Gebietseinteilung, Juni bis September 1802). Vgl. François Walter, échec à la départementalisation: les découpages administratifs de la République Helvétique (1798–1803), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 40 (1990), S. 67–85.


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Kanton Säntis oder die Innerschweizer Orte Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug zum Kanton Waldstätten.15 Gegen solche Zuordnungen und gegen die neue Verfassung wehrten sich die Innerschweizer Orte besonders heftig. Nachdem der kurze militärische Widerstand gegen die französische Invasion weitgehend von den westlichen Orten Bern, Freiburg und Solothurn allein und selbst von diesen nur halbherzig getragen worden war, mobilisierte der Aufruf zur Annahme der Helvetischen Verfassung den Widerstand der Urkantone, der aber bald zusammenbrach. Auch die geforderte Leistung des Bürgereides auf die neue Verfassung liess da und dort nochmals bewaffnete Aufstände entstehen.16 Insbesondere die Nidwaldner widersetzten sich im September 1798 so erbittert, dass es zu heftigen Gefechten und in deren Gefolge zu eigentlichen Massakern der französischen Truppen an der Zivilbevölkerung kam. Rund fünf Prozent der Bevölkerung fielen in wenigen Tagen den Kämpfen zum Opfer, die mit der Kapitulation der Nidwaldner endeten.17 Sie verteidigten mit äusserster Hartnäckigkeit nicht nur ihre politische Autonomie, sondern auch ihre Religion gegen die ihrer Ansicht nach religionsfeindliche neue Ordnung der als «Höllenbüchlein» diffamierten Verfassung.18 Neben der massiven Ablehnung der Veränderungen, welche die Helvetische Verfassung und die neuen Gebietseinteilungen mit sich brachten, gab es aber auch Zustimmung. In Basel entliess am 20./22. Januar 1798 die Stadt ihre revoltierende Landschaft aus dem Untertanenverhältnis, um sich mit ihr in «brüderlicher Eintracht» als gleichberechtigte zu vereinen. Die Bevölkerung der Basler Landschaft sah fortan die Helvetische Republik trotz all ihrer Mängel als Garant dafür, nicht wieder von der Stadt abhängig zu werden.19 Die Gemeinden in der 1536 von Bern eroberten französischsprachigen Waadt etwa nahmen die neue Helvetische Verfassung am 15. Februar 1798 15 Zwei zeitgenössische Karten abgebildet bei Andreas Würgler, Epilog, in: André Holenstein u.a. (Hrsg.), Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, Bern 2008, S. 558–563, hier S. 560. 16 Andreas Fankhauser, Art. Helvetische Republik, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 6, Basel 2007, S. 258–267; Derck C.E. Engelberts, Lukas Vogel, Christian Moser, Widerstand gegen die Helvetik 1798, 2 Hefte, Au 1998. 17 Historischer Verein Nidwalden (Hrsg.), Nidwalden 1798. Geschichte und Überlieferung, Stans 1998. 18 Eric Godel, Die Zentralschweiz in der Helvetik (1798–1803). Kriegserfahrungen und Religion im Spannungsfeld von Nation und Region, Münster 2009. 19 Dazu Matthias Manz, Die Basler Landschaft in der Helvetik (1798–1803). Über die materiellen Ursachen von Revolution und Konterrevolution, Liestal 1991, Kapitel 2, S. 526–530, bes. S. 529, Zitat S. 73.


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mit deutlicher Mehrheit an und begrüssten die territoriale Umgestaltung, die den neuen französischsprachigen Kanton Léman entstehen liess und als ­Befreiung vom «Joch» der bernischen Herrschaft gefeiert wurde.20 Und im Tessin optierten die ehemaligen Gemeinen Herrschaften zwar nur für die Hel­vetische Republik, weil sie diese für weniger unzumutbar hielten als die Cisalpinische Republik, doch kam es im Schatten dieser «nationalen» Frage auch zur Entmachtung alteingesessener Oligarchien in den Gemeinden.21 Neben landschaftlichen und ländlichen Befreiungserfahrungen, die im Frühling 1798 ebenso auf der Berner22 oder Zürcher Landschaft,23 im Aargau24 und Thurgau25 zu beobachten sind, gibt es auch soziale Gruppen, die für die Versprechen der neuen Ordnung viel Sympathie übrighatten. Die meisten Bauern begrüssten die Aufhebung der Feudallasten und Zehnten, die sie als schwere Bedrückung empfunden hatten. Wo aber die Feudallasten bereits vor längerer Zeit abgelöst worden waren, regte sich – wie etwa im Berner Oberland – Widerstand gegen neue Steuern.26 Auch viele nichtzünftige Handwerker, Tagelöhner und Gesellen erhofften sich von der Gewerbefreiheit und der Abschaffung der zünftigen Privilegien bessere ökonomische Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Sie fingen an, auf eigene Rechnung Brot zu backen, Käse zu verkaufen, Mühlen einzurichten und – besonders beliebt – Pinten, Schenken und Wirtshäuser zu eröffnen.27 In ganz wörtlichem Sinne wurde die Helvetische Republik zur Befreiung für

20 Danièle Tosato-Rigo, Février 1798, le premier «vote» des Vaudois, in: François Flouck u.a. (Hrsg.), De l’ours à la cocarde. Régime bernois et révolution en pays de Vaud (1536–1798), Lausanne 1998, S. 367–380, hier S. 373–378. 21 Sandro Guzzi, Dalla sudditanza all’indipendenza: 1798–1803, in: Raffaello Ceschi (Hrsg.), Storia della Svizzera Italiana. Dal cinquecento al settecento, Bellinzona 2000, S. 551–580 und 697–701, hier S. 557–560. 22 Zum Beispiel stimmte die Gemeinde Worb mit «einhellige[m] Ja» für die «helvetische Staatsverfassung», zit. in: Heinrich Richard Schmidt (Hrsg.), Worber Geschichte, Bern 2005, S. 287. 23 Geschichte des Kantons Zürich 3 (wie Anm. 4), S. 119. 24 Bruno Meier u.a. (Hrsg.), Revolution im Aargau. Umsturz – Aufbruch – Widerstand 1798–1803, Aarau 1997. 25 Beat Gnädinger (Hrsg.), Abbruch – Umbruch – Aufbruch. Zur Helvetik im Thurgau, Frauenfeld 1999. 26 Adrian Schmid, Widerstand gegen die Helvetische Republik im Kanton Oberland – die «Insurrektion» von 1799, in: Berner Zeitschrift 71/1 (2009), S. 3–47. 27 Vgl. zum gesetzlichen Rahmen Bernhard Schaaf, Die Entwicklung der wirtschaft­ lichen Freiheit in der Schweiz während des französischen Zeitalters (Helvetik und Mediation 1798–1813) im Vergleich zu Frankreich vor und während der Revolution, Zürich 2007.


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jene Strafgefangenen, die wegen politischer Delikte unter dem Ancien Régime inhaftiert und im neuen System freigelassen worden waren, wie etwa die Rebellen von Stäfa28 oder einzelne Zensuropfer oder Kriminelle.29 Revolutionäre Republikaner wie etwa die Mitglieder der Gesellschaft der Volksfreunde in Bern blühten im März 1798 richtig auf und entwickelten eine hektische Petitionstätigkeit. Mit ihren Eingaben versuchten sie die Helvetischen Behörden zur konsequenten Umsetzung der Verfassung und zu einer echt republikanischen Aussenpolitik zu ermuntern.30 Für diese Individuen, Gruppen und Landbevölkerungen markierte die Helvetische Verfassung das Ende der Zumutungen. Was bei ihnen die zunächst medial vermittelte Befreiungsbotschaft der Französischen Revolution seit 1789 an Hoffnungen und Vorbildern evoziert und genährt hatte, das schien nun durch die revolutionäre Expansion Frankreichs auch in der Eidgenossenschaft verwirklicht zu werden.

Okkupation Doch die Befreiung präsentierte sich im Frühjahr 1798 auch in der Gestalt einer Besatzungsarmee in der Eidgenossenschaft. Hatte man bisher von der Französischen Revolution schon viel gehört oder gelesen, jetzt konnte man sie aus der Nähe sehen: Sie kam zu Fuss und zu Pferd und hatte Hunger. Für die Eidgenossenschaft war die Besetzung durch fremde Truppen ein unerhörtes Ereignis. Seit Jahrhunderten war sie nicht mehr besetzt, ja nicht einmal mehr belagert worden. Die Bevölkerung verfügte über keinerlei Erfahrungen, wie mit einer solchen Situation, die für viele andere Städte und Landstriche in Europa eine oft erlebte war, umzugehen sei. Okkupation durch eine fremde Armee bedeutete «die geregelte Ausbeutung feindlichen Territoriums», die sich seit dem Dreissigjährigen Krieg in zunehmend verwaltungsmässig organisierten Formen abspielte und bei der sich «Krieg und bürokratische Herrschaftsausübung als Signum mo28 Zu Stäfa: Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 2, Zürich 1996, S. 498. 29 Stadtarchiv Bern [SAB] A245, VI-132 (18.7.1799): Rudolf von Dach, wegen Diebstahls verurteilt zu lebenslänglicher Haft, kam nach 19 Jahren am Tag der Kapitulation Berns (5.3.1798) frei. 30 Vgl. dazu demnächst: Andreas Würgler, Not oder Freiheit? Legitimationsfiguren in Bittschriften während der Helvetischen Republik (1798–1803), in: Silvia Arlettaz u.a. (Hrsg.), Menschenrechte und Moderne Verfassung. Die Schweiz im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert [in Vorbereitung].


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derner Staatsgewalt verschränkten».31 Im Alltag machte sich die Okkupation durch den Verlust der politischen Gestaltungsfreiheit und vor allem durch eine vielfältige Belastung bemerkbar, die mit den Begriffen Kontribution, Requisition, Rekrutierung und Einquartierung beschrieben werden kann. Kontribution bedeutete, dass die Bevölkerung Kriegssteuern in Geld leisten musste, was vor allem die vermögenden Schichten traf. Requisition hiess, dass die fremde Armee Nahrungsmittel, Schlachtvieh, Zug- und Reittiere, aber auch Werkzeuge, Gewerberäume und Rohmaterialien wie etwa Verbandszeug beschlagnahmen konnte. Rekrutierung verwies auf den Umstand, dass die französische Armee im besetzten Gebiet neue Soldaten aushob, was auch in der Schweiz bis 1813 immer wieder geschah. Einquartierung schliesslich bezeichnet das Problem, dass die Besatzungstruppen, da es in Bern und in anderen schweizerischen Städten (zunächst) keine Kasernen gab, in den Privatwohnungen der Bevölkerung untergebracht und verpflegt werden mussten. Die Zivilbevölkerung wurde also auf mannigfache Weise zur Finanzierung der Besatzung herangezogen. Am Beispiel der Stadt Bern, die als militärisches Schwergewicht der alten Eidgenossenschaft und mutmasslicher Kopf des antirevolutionären Lagers galt, lässt sich die Situation konkreter beschreiben. Neben der hohen Kriegskontribution, die wie auch in Zürich, Luzern, Freiburg und Solothurn von den ehemals regierenden Familien entrichtet werden musste, die aber der revolutionsfreundlichen Stadt Basel ebenso erlassen wurde wie die Beschlagnahmung der Staatskasse, wurde die Stadt offensichtlich mit einem besonders grossen Kontingent französischer Truppen belegt.32 In Basel33 dagegen blieb es anfänglich bei Durchmärschen, und auch in Freiburg scheint die Einquartierungslast deutlich geringer ausgefallen zu sein.34 Die Truppen, die von der Zivilbevölkerung zu beherbergen waren, blieben teilweise während mehrerer Wochen in der Stadt stationiert, waren teilweise aber auch nur auf dem Durchmarsch und daher für eine oder wenige Nächte unterzu-

31 Horst Carl, Okkupation, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 382–389, Zitate Sp. 383, 385. 32 Hans Markwalder, Die Stadt Bern 1798–1799. Die Neuorganisation der Gemeinde­ verwaltung, Bern 1927, S. 103, 113; Geschichte des Kantons Zürich 2 (wie Anm. 28), S. 499; Heidi Bossard-Borner, Im Bann der Revolution. Der Kanton Luzern 1798–1831/ 50, Luzern/Stuttgart 1998, S. 85–87. 33 Manz (wie Anm. 19), S. 205. 34 Gemäss der Studie von Jean-Pierre Dorand, La ville de Fribourg de 1798 à 1814: les municipalités sous l’Helvétique et la Médiation, une comparaison avec d’autres VillesEtats de Suisse, Fribourg 2006.


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bringen. Schätzungsweise dürften sich 1798 in Spitzenzeiten bis zu 4000 Offiziere und Soldaten der französischen Armee gleichzeitig in der Stadt aufgehalten haben, die damals gerade mal rund 12 000 Einwohner zählte, also eine Militär- auf drei Zivilpersonen.35 Dabei war das erste Jahr der Besatzung nicht das härteste. Hielten sich 1798 gemäss den Berechnungen von Derck Engelberts36 nie mehr als 35 000 Mann französischer Truppen gleichzeitig in der Helvetischen Republik auf, so stieg diese Zahl im Rahmen des Koalitionskrieges 1799 auf mehr als das Doppelte. Die Belastung war allerdings sehr ungleich verteilt. Die Städte Basel und Bern, die relativ weit vom Kriegsgeschehen entfernt waren, spürten diese Phase nur in Form intensivierter Durchmärsche, während vor allem die Innerschweiz, die Ostschweiz, das Tessin und das Wallis die volle Last der an den Kämpfen teilnehmenden Verbände zu tragen hatten.37 Auch innerhalb der Regionen war die direkte Belastung sehr unterschiedlich. Die Städte und die an den Heerstrassen gelegenen Dörfer erlebten die Einquartierungen direkt und hautnah, während die Dörfer und Regionen abseits der Durchmarschrouten infolge der Umverteilungsverfahren lediglich finanzielle Opfer zu erbringen hatten.38 Und selbst in ein und derselben Stadt divergierten die Erfahrungen mit der Okkupationssituation beträchtlich. Wer die «Oligarchensteuer» genannte Kriegskontribution zu begleichen hatte, mochte darin schon eine ungerechte Behandlung erblicken. Wer zu den Geiseln gehörte, die in französischer Haft in Strassburg ausharren mussten, bis diese Kriegssteuer bezahlt war, erlebte die neue Freiheit als Freiheitsberaubung und insofern als doppelte Zumutung.39 Reichere Bürger waren es auch, die sich der ungelieb35 Zahlen nach Markwalder (wie Anm. 32), S. 111–114. Für Zürich geht man von 3000 Besatzern auf 10 000 Einwohner aus, Geschichte des Kantons Zürich 2 (wie Anm. 28), S. 500. Vgl. zur Waadt den Beitrag von Danièle Tosato-Rigo in diesem Band. 36 Derck C.E. Engelberts, La présence militaire française en Suisse en 1798: sources, données statistiques et judiciaires, in: André Schluchter, Christian Simon (Hrsg.), Souveränitätsfragen – Militärgeschichte, Basel 1995, S. 63–81, hier S. 70. 37 Vgl. die bei Manz (wie Anm. 19), S. 198f., zusammengestellten Zahlen. 38 Für Basel: Manz (wie Anm. 19), S. 200f. Zu Bern vgl. für die Stadt Markwalder (wie Anm. 32), S. 111–114; für eine wenig betroffene Landgemeinde: Schmidt (wie Anm. 22), S. 289; für Luzern Bossard Borner (wie Anm. 32), S. 85–87. 39 Vgl. [Gabriel Albrecht von Erlach], Histoire de mon arrestation en 1798, hrsg. von Fritz von Erlach, Fragment aus dem Tagebuch des Gabriel Albrecht von Erlach 1739–1802, Freiherr zu Spiez, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde (1954), S. 205–214. Zur Kontribution des Patriziates: Beat Junker, Geschichte des Kantons Bern seit 1798, Bd. 1: Helvetik, Mediation, Restauration 1798–1830, Bern 1982, S. 22f.


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ten Einquartierung von Soldaten und Offizieren gerne dadurch entledigten, dass sie die zugeteilten Militärpersonen im Wirtshaus oder bei Nachbarn unterbrachten und die dabei entstehenden Kosten übernahmen.40 Auf diese Weise liess sich die Last der Einquartierung auf eine finanzielle reduzieren. Denn Einquartierungen wurden aus vielerlei Gründen als Zumutung erlebt. Das Eindringen fremder Personen in die eigenen vier Wände, das Beherbergen ungebetener Gäste, das gemeinsame Wohnen, Kochen, Essen, Heizen erwies sich mitunter als schwere Belastungsprobe. Ganz unterschiedliche Konstellationen, Details und Vorkommnisse konnten dabei zu dem zitierten Strohhalm werden, der dem Kamel den Rücken brach. War es für die einen die materielle Not, die Sorge darum, auf den angesichts tausender zusätzlicher Münder in der Stadt völlig leergekauften Märkten ausreichend Nahrung für die fremden Soldaten und die eigene Familie zu finden,41 so fürchteten andere primär um die Integrität des Hauses, denn es kam vor, dass die Einquartierten das Mobiliar als Feuerholz nutzten oder sonst beschädigten.42 Wieder andere empfanden es als unzumutbar, ihre Familie in den eigenen vier Wänden den unbekannten Soldaten auszusetzen, während sie ihrer Arbeit ausser Haus nachgehen mussten.43 Solche Szenen stellen die Abbildungen von David Hess auf dem Umschlag und im Beitrag von Philippe Oggier dar. Dagegen empfand Marianne von Jenner-von Haller (1732–1811) die Französische Armee als Beschützer. Nicht nur bewahrte sie der bei ihr einquartierte «sehr nette Offizier» davor, «auch noch Soldaten Einquartierungen gewähren» zu müssen.44 Vielmehr deutete sie die Präsenz der fremden Armee dahingehend, dass «wir in der Stadt von den Franzosen beschützt werden und dass sie uns gegen die wütenden Bauern verteidigen, die nichts anderes im Sinne haben, als uns alle niederzumetzeln und unsere Häuser in Brand zu 40 StAB A240, I-215 (27.4.1798), Vortrag des Quartieramts an die Munizipalität betr. Umgehung der Einquartierung durch verschiedenste der reichsten Bürger. Weitere Fälle: SAB A240, I-306c (4.5.1798); A240, I-552 (25.6.1798); A248, IX-173 (14.5.1800); A249, X-209 (5.8.1800); A249, X-179 (11.8.1800); A249, X-221 (26.8.1800). Zum «schwungvolle[n] Handel mit Einquartierungsbillets» in Basel: Manz (wie Anm. 19), S. 217. 41 [Marianne von Jenner-von Haller], Leidenstage einer besetzten Stadt. Briefe einer Bernerin aus dem Jahre 1798, hrsg. von Erich Gruner, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde (1941), S. 97–122, hier S. 101, 103, 105. 42 SAB XVII-27 (15.1.1803). 43 SAB A252, XIII-35 (8.4.1801), Art. 3. 44 [von Jenner-von Haller] (wie Anm. 41), S. 100. Auf S. 105 wird ein anderer französischer Offizier als «sehr liebenswürdig» beschrieben.


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stecken».45 Unzumutbar fand sie neben den Berner Bauern vor allem die ungehobelten französischen Soldaten und die Helvetische Regierung, vor der sie sich mehr fürchtete als vor dem französischen Direktorium.46 Die Einquartierung bildete auf jeden Fall für die Bevölkerung der Schweiz eines der wichtigsten Themen in der Helvetik. Sogar für die im Vergleich zur Ostschweiz nur mässig vom Kriegsgeschehen betroffene Stadt Bern zeigt sich dies überdeutlich bei der Analyse der Bittgesuche, Beschwerden und Petitionen, die von 1798 bis 1803 an die Munizipalität, die Behörde der Einwohnergemeinde, gerichtet wurden. Von den 1890 Gesuchen dieser Jahre drehten sich 40 Prozent (rund 800 Gesuche) um Probleme der Einquartierung, während die nächsten Schwerpunkte – rund 300 Gesuche im Finanzbereich (Unterstützung, Pensionen, Löhne etc.) und die 200 Gesuche um Niederlassung bzw. Einbürgerung – mit deutlichem Abstand folgten.47 Die meisten Ge­ suche (60 Prozent) wurden von Privatpersonen gestellt, die übrigen von Korporationen (Gesellschaften und Zünfte) oder Institutionen (Kirche, Militär etc.). Während insgesamt rund 15 Prozent der Gesuche von Frauen stammten – ein Wert, der den punktuellen Angaben über den Frauenanteil bei den Bittschriften im Ancien Régime entspricht48 –, machte der Frauenanteil bei den Einquartierungsthemen 23 Prozent aus. Dies ist ein Hinweis darauf, dass mit der Einquartierung vor allem die als weiblich definierte Domäne Haus und Familie betroffen war. Auf der Zeitachse fallen grosse Schwankungen der Gesuchseingänge von Monat zu Monat auf, die wohl die Rhythmen der Truppenbewegungen und der damit verbundenen Einquartierungen spiegeln. Eine Häufung von Monaten mit vielen Gesuchen zeigt sich deutlich im Zeitraum von Juli 1799 bis September 1800. Im Bereich der Bittgesuche zu Einquartierungsfragen fällt auf, dass – jedenfalls auf der Ebene der Munizipalität – der überwiegende Teil der Klagen sich nicht auf das Betragen der einquartierten (französischen) Soldaten bezog, sondern auf das, was man die «Verteilungsgerechtigkeit» nennen 45 [von Jenner-von Haller] (wie Anm. 41), S. 103. 46 [von Jenner-von Haller] (wie Anm. 41), S. 115, 116; Damen aus Patrizierfamilien bevorzugten meist Offiziere gegenüber Soldaten, vgl. SAB A256, XVII-31 (13.7.1802), Frau von Graffenried geb. Tillier bittet um einen Offizier anstelle eines «ungeziemenden» Payeurs. 47 Die Zahlen basieren auf der Auswertung der Regesten zum Bestand «Akten Helvetik», der die Bände A240 bis A258 des Stadtarchivs Bern umfasst. Die Daten erfass­ ten die Mitarbeiter des SNF-Projektes Philippe Oggier und Simon Seiler. 48 Belege bei Andreas Würgler, Voices from Among the «Silent Masses»: Humble Petitions and Social Conflicts in Early Modern Central Europe, in: International Review of Social History 46 (2001), Supplement 9, S. 11–34, hier S. 25f.


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