Kampfplatz endloser Streitigkeiten

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Das komplexe Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte ist nicht nur in philosophiehistorischen Darstellungen spätestens seit dem 18. Jahrhundert implizit präsent. Es wird auch in unterschiedlichen Thematisierungen der Frage, wie diese zu schreiben wären, immer wieder explizit verhandelt. Hegels Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie stellt diesbezüglich einen Höhepunkt dar und ist deshalb Ausgangspunkt für die Überlegungen im ersten Teil des Buches. Wie lässt sich das Verhältnis historisch/systematisch auf systematische Weise fassen?, so lautet die Leitfrage, anhand deren verschiedene Ansätze kritisch untersucht werden. Die Wendung aus Kants Kritik der reinen Vernunft von der Philosophie als «Kampfplatz endloser Streitigkeiten» steht als Titel über der Arbeit, weil die Philosophiegeschichte in dieser Perspektive als die in der Zeit entfaltete Faktizität der Vielfalt philosophischer Positionen sichtbar wird. Diese Agonalität zeigt sich nicht nur in philosophischen Kontroversen, sondern auch in konkreten Rezeptionsverhältnissen. – Im zweiten Teil werden einzelne Positionen auf die Frage hin vorgenommen, wie sie mit dieser faktischen Pluralität und mit der Tatsache, dass sich auch deren Thematisierung ihr nicht entziehen kann, umgehen. Am Ende stellt sich die Thematik wie folgt dar: Philosophieren heißt, auf dem Kampfplatz endloser Streitigkeiten zu intervenieren. Intervenieren heißt, sich mit Behauptungen zu behaupten. Jedes behauptende Sich-Behaupten verhält sich in der einen oder anderen Weise zur Geschichte der Philosophie. Die hierbei eingeschlagenen Wege und die Narrationen sind in Abhängigkeit von der Interventionsstrategie zu verstehen. Die Wahrheitsansprüche philosophischer Interventionen können nur im Hinblick auf ihre möglichen Adressaten verhandelt werden und sind auf irreduzible Weise plural. Jürg Berthold, geb. 1963, studierte in Zürich und Bristol Philosophie, Germanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Er promovierte mit einer Arbeit zu Louis Althusser. Das vorliegende Buch ist seine Habilitationsschrift. Er ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Zürich.

I S B N 978-3-7965-2732-6

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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783796 527326

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ZÜRCHER ARBEITEN ZUR PHILOSOPHIE

Jürg Berthold

Kampfplatz endloser Streitigkeiten Studien zur Geschichtlichkeit der Philosophie

Berthold

ZÜRCHER ARBEITEN ZUR PHILOSOPHIE

Kampfplatz

UG_ZaPh_Band_02_Layout 1 04.07.11 10:09 Seite 1

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zĂźrcher arbeiten zur philosophie 2

herausgegeben von wolfgang rother, KATIA SAPORITI, peter schaber und peter schulthess

SCHWABE VERLAG BASEL


Jürg Berthold

K a mpfpl atz e n d l oser Stre it ig kei ten Studien zur Geschichtlichkeit der Philosophie

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Die Arbeit wurde im Frühjahrssemester 2009 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Habilitationsschrift angenommen.

© 2011 by Schwabe AG, Verlag, Basel Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2732-6 www.schwabe.ch


Für Verena



Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. In diese Verlegenheit gerät sie ohne ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesem steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bedingungen. Da sie aber gewahr wird, dass auf diese Art ihr Geschäft jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht sie sich genötigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig scheinen, dass auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse steht. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar abnehmen kann, dass irgendwo verborgene Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Grenze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probierstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik. Immanuel Kant

Beim Philosophieren muss man ins alte Chaos hinabsteigen und sich dabei wohl fühlen. Ludwig Wittgenstein



Inhalt Vorwort ................................................................................................................. 11 Einleitung Historisch/systematisch – Problematisierung einer bequemen Differenz ................................................................................. 17 Erster Teil Das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte ..................................... 49 1. «Ein Kreis von Kreisen» – Hegel als Ausgangspunkt .............................. 51 2. Kontextualisierung von Hegels Philosophie der Philosophiegeschichte ............................................................................ 61 2.1 Heumanns Projekt und Bruckers Durchführung .............................. 62 2.2 Kants «philosophische Archäologie» gegen Tiedemanns «relative Vollkommenheit» ..................................................................... 66 2.3 Mit Hegel, gegen Hegel: ohne Hegel zu verfallen ............................. 74 3. Domestizierung der Thematik: Grenzen der ­Typologisierung ............... 89 4. Herausforderungen der Wissenschaftstheorie .......................................... 101 4.1 «Kuhn has won the debate» ................................................................... 107 4.2 «Against Feyerabend» ............................................................................. 115 4.3 Hans Posers Syntheseversuch – Wissenschaftstheorie der Rationalitätslücken ........................................................................... 119 4.4 «Situationsgebundenheit» – Plessners Rätsel ...................................... 123 5. Faktizität der Vielfalt: das Agonale in der Zeit .......................................... 129 5.1 «Ich kenne mich nicht aus» – eine Standortbestimmung .................. 129 5.2 Referieren ................................................................................................. 132 6. Aneignungsstrategien und Erzählungen – drei Fallstudien ..................... 143 6.1 Hegels Descartes ..................................................................................... 144 6.2 Heideggers Hegel .................................................................................... 153 6.3 Tugendhats Heidegger ........................................................................... 162


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Inhalt

Zweiter Teil Wahrheitsansprüche, ­Pluralität der ­Stimmen .................................................. 177 7. «Kampfplatz endloser Streitigkeiten» – Kant als ­Ausgangspunkt .......... 179 8. Strategien der Verkürzung ............................................................................ 193 8.1 Blindheiten: Dogmatismus, Irrationalismus und Philosophie in der 3. Person .................................................................. 196 8.2 Reduktionismen: Diltheys «Weltanschauungslehre» und Bourdieus Kritik des scholastischen Blicks ................................. 214 8.3 Strategie der gruba linia: Moritz Schlicks Innovationsoptimismus ...... 239 8.4 Der Streit um nichts: William James und die Strategie seines Pragmatismus ............................................................... 245 8.5 Paradoxien der Metaphilosophy und ihre Transformation in Philosophiephilosophie ........................................ 253 9. Thematisierungen des Agonalen ................................................................. 263 9.1 Der politische Einsatz: John Rawls’ «burdens of reason» ................ 266 9.2 Skeptizismus jenseits des performativen Selbstwiderspruchs .......... 273 9.3 Aporetische Cluster und Konsistenzbedürfnis: Reschers Überlegungen zu einem «Streit der Systeme» ..................... 281 9.4 Lyotards «différend»: Intervention, Thematisierung, Darstellung ............................................................................................... 296 Schluss – Behauptendes Sich-Behaupten......................................................... 313 Bibliographie......................................................................................................... 321 Personenregister................................................................................................... 341


Vorwort Jean-Luc Godard reflektiert in seinem Film Tout va bien (1972) die ökonomischen Voraussetzungen seines ästhetisch-politischen Unternehmens: Im Vorspann werden die Angaben zu den Mitwirkenden dadurch angeführt, dass die an sie auszustellenden Checks ausgefüllt werden. Auf ähnliche Art und Weise soll dieses Vorwort den Ort aufzeigen, dem sich das vorliegende Buch verdankt: Was üblicherweise als Danksagung an Lehrer, Forschungseinrichtungen, Stiftungen, Förderprogramme etc. auftritt, hat hier die Funktion, die Bedingungen einer Produktionssituation offen zu legen, die nicht anders als privilegiert bezeichnet werden kann. Man muss nicht an den von Heidegger erinnerten Zusammenhang zwischen Denken und Danken anknüpfen, um die Notwendigkeit einer solchen confession einzusehen. «Unpersönliche Bekenntnisse» dieser Art, um eine Wendung Pierre Bourdieus aufzugreifen,1 sind meiner Auffassung nach für das Selbstverständnis der Philosophie zentral. Es sind die Effekte einer vierfachen, zum Teil ökonomischen Privilegierung, die die Produktionsbedingungen bestimmten. Zuerst ist zu nennen eine umfassende Verschontheit. Wenig von all dem, was die Menschen in ihrer Fragilität ebenso zur Philosophie getrieben, wie von ihr abgehalten hat, hat die Entstehung der Arbeit gestört: Weder die Zeitläufte einer über die Individuen hinwegrollenden Geschichte noch Naturkatastrophen waren zu bestehen. Zwar war all das medial auch in der eigenen Gegenwart immer ‘präsent’, aber eben nur in seiner Abwesenheit, weshalb sich nur aus diesen Anführungsstrichen heraus die Möglichkeit des eigenen Schreibens zu ergeben schien. Wenn Jean-Luc Nancy über eine ganze Seite hinweg in einer schier endlosen Wortkaskade die für ihn aktuellen Krisenherde aufzählt, dann ist das nicht nur ein Hinweis auf den Gegenstandsbereich, den eine Theorie des Politischen, wie

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P. Bourdieu: Meditationen, 45.


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Vorwort

er sie vorzulegen beabsichtigt, zu bewältigen hat. Es ist auch eine Reflexion auf das Verschontsein, das eine solche Theoretisierung erst möglich macht.2 Was die Innenseite dieses Verschontseins, die private Seite dieser Privatheit, betrifft, so habe ich allen zu danken, die in Freundschaft mit mir verbunden sind und durch Anteilnahme, Gespräche (bei weitem nicht nur über die Themen dieser Arbeit) und ihre bloße Präsenz – jetzt ohne Anführungsstriche – die bösen Geister zu vertreiben wussten, die immer wieder auch über diesem Vorhaben schwebten. Sie namentlich und mit ihren je spezifischen Beiträgen aufzuzählen hieße, die Bedeutung, die sie für mich haben, auf diese Leistung zu reduzieren; ich möchte deshalb darauf verzichten. Zwei Ausnahmen sollen diese Regel bestätigen: Jean-Claude Höfliger war mir in der Zeit nicht nur der Abfassung dieser Arbeit, sondern auch in den Jahren davor, in denen ich immer wieder versuchte, die Thematik, die mich beschäftigte, zu fassen, ein wichtiger Gesprächspartner und Freund. Seine Anregungen habe ich immer mit Gewinn einbezogen, und seine brillanten Zusammenfassungen der Kapitel schienen mir oft konziser als die eigene Darstellung. Sebastian Bott hat mir nicht nur das Baden in der kalten Ostsee beigebracht, sondern mich in unzähligen Gesprächen mit seiner intellektuellen Neugier angesteckt. Er hat aber auch grundsätzliche Einwände, die nicht nur mein Projekt, sondern den Anspruch der Philosophie betrafen, vorgebracht und hat angesichts der «Hydra der Empirie» die Armseligkeiten der Theorie betont. Ähnlich wie Goethe, von dem der Ausdruck stammt, erfüllt ihn das Wüten dieses Monstrums wundersamer Weise weder mit herkulischer Hybris noch mit Melancholie, sondern vielmehr mit einer unendlichen Liebe zu den Details. Danken möchte ich ihm, dass er diese Erinnerung an die Dinge und Einzelwesen gegen die Ansprüche des Begriffs immer wieder wach hält. Als zweiter Aspekt der Privilegierung ist jene gewissermaßen alteuropäische Saturiertheit zu nennen, eine Erschlaffung, die in der Schweiz bekanntlich eine besonders akzentuierte Form annimmt. Gewiss ist die Ferne zu jenen Dynamiken, die andere Teile der Welt erfassen, vor allem auch ein Nachteil. Gewiss ist die Windstille, die über unseren Breiten schwebt, von erdrückender Öde, und es fällt schwerer als andernorts, die Winde auszumachen, gegen die – einer Wendung Walter Benjamins zufolge – die Segel des Denkens zu

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Vgl. J.-L. Nancy: singulär plural sein, 10.


Vorwort

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hissen wären.3 Die Analysen der Gründe für diese Saturiertheit wären in aller Sorgfalt vorzunehmen, da sich im Innern unserer Zone die Effekte der Sättigung keineswegs gleichmäßig verteilen. Man braucht diese Untersuchung im Einzelnen aber hier nicht durchzuführen, um zu verstehen, dass jene Windstille eben auch die Möglichkeit beinhaltet, sich in relativer Ruhe einer Sache zuzuwenden, deren feine Körnung im Mahlstrom der Zeit leicht übertönt wird. Abseits, im Schatten der Verwerfungen, mit denen andere zu kämpfen haben, lassen sich vielleicht Gründe für diese Verwerfungen ausmachen, die, wenn man mitten drin steht, verborgen bleiben müssen. – Eine dritter Aspekt der Privilegierung ergibt sich aus der Sicherheit einer auf Dauer gestellten Anstellung. Gewiss gilt auch hier eine gewisse Ambivalenz. Vorbehaltlos zuzustimmen ist Hegels Klage, wenn er sagt, «dass meine Amtsverhältnisse und andere persönliche Umstände mir nur eine zerstreute Arbeit in einer Wissenschaft gestatten, welche einer unzerstreuten und ungeteilten Anstrengung bedarf und würdig ist.»4 Dennoch ist nicht zu übersehen, dass diese «Amtsverhältnisse» einen in seinem Grad an Freiheit selten da gewesenen Raum ermöglichen, der auch, wenn es der eigene Geist und die Kräfte zulassen, ein Raum der Produktivität sein kann. Hier ist den Vorgesetzten zu danken, insbesondere Dieter Schindler und Martin Zimmermann, die mich nicht nur gewähren ließen und mir einen längeren Urlaub ermöglichten, sondern auch immer wieder besorgt um das Vorankommen waren. – Ein vierter Aspekt ist persönlicher und tatsächlich rein ökonomischer Natur: Durch eine kleinere Erbschaft, die mir von meiner Großmutter mütterlicherseits zufiel, konnte ich mich für eine gewisse Zeit sorgenfrei der Arbeit zuwenden. Ich genoss die Freiheit, niemandem etwas schuldig zu sein – außer der Großmutter, deren bescheidene Lebensweise das Ersparte hervorbrachte, das über die Jahre durch das Wirken des Zinseszins zu einem Buch aufblühte. Auch wenn die Überzeugungen, die darin zum Ausdruck kommen, alles in Frage stellen, woran sie glaubte, denke ich, dass sie sich über diese späte wilde Frucht gefreut hätte. Allerdings war die Lebensweise gerade auch ein Ausdruck jener Überzeugungen, sodass eine weitere Paradoxie die Entstehung dieses Buches bestimmt. Sofern dies die Semantik von «danken» überhaupt zulässt, schulde ich zunächst einigen Autoren meinen besonderen Dank. Auf die Interviewer-Frage, 3 4

Vgl. W. Benjamin: Passagen-Werk, 591, N 9,3 und 9,6. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, 6, 244.


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Vorwort

wie er seine Stellung zu Heidegger beschreiben würde, antwortete Michel Foucault mit folgender Unterscheidung: Es gebe Autoren, über die er nie schreiben würde. Dann gebe es Autoren, über die er arbeite. Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis macht deutlich, welche Autoren in diesem zweiten Sinne für mich bestimmend waren, allen voran Hegel und Kant, die wie Portalfiguren die Zugänge zu den zwei Teilen markieren. Heidegger, so Foucault weiter, gehöre für ihn zu einer dritten Kategorie: «Je crois que c’est important d’avoir un petit nombre d’auteurs avec lesquels on pense, avec lesquels on travaille, mais sur lesquels on n’écrit pas. J’écrirai sur eux peut-être un jour, mais à ce moment-là ils ne seront plus pour moi des instruments de pensée.»5 Im Sinne dieser dritten Kategorie möchte ich drei Autoren nennen: Nietzsche (am meisten jener der Unzeitgemäßen Betrachtung über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben), Wittgenstein (der Philosophischen Untersuchungen) und Derrida (jener von Metaphysique et violence, um einen Text zu nennen, der die Thematik der Historizität explizit entfaltet). Alle drei haben die philosophische Szene zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten als intellektuelle Modeerscheinungen bestimmt; sie zu zitieren war ebenso chic, wie es jetzt nicht mehr nur chic ist, sich auf sie zu beziehen. Diese Seite hat mich nie interessiert, eher im Gegenteil. In allen drei Fällen war die Rezeptionsgeschichte beherrscht durch etwas vom Schlimmsten, was der Philosophie passieren kann: dass sie, Adorno hat das am klarsten ausgesprochen, zu einem Jargon werden kann. Gerade weil es ihre Denkstile mehr als einzelne Thesen waren, die den Grundton und die Ausrichtung der Arbeit bestimmt haben, hoffe ich, dass sie frei ist von den Sterilitäten dieses Jargonhaften. Die Autoren waren durch ihre Auffassungen, was Philosophieren ist, ihren Anspruch, was es heißt zu denken, präsent – auch dort, wo ich diesem Anspruch nicht nachleben konnte. Hans-Jost Frey, Thomas Fries, Kurt Schärer, Jean-Pierre Schobinger waren zu unterschiedlichen Zeiten meine wichtigsten Lehrer. Vom dem vielen, was ich von ihnen gelernt habe, sei nur dies hier genannt: Alle waren sie leidenschaftlich engagiert für ihre Sache, alle waren sie äußerst genaue Leser. Ihre Ermutigung bestand in einem beharrlichen Insistieren auf den Texten, in den wiederholten Aufforderungen zur präziseren Lektüre. Es würde mich freuen, wenn die Spuren dieser Haltung an einzelnen Stellen in diesem Buch sichtbar 5

M. Foucault: Le retour de la morale, 1522.


Vorwort

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würden; es wäre die adäquateste Form meines Dankes. Jean-Pierre Schobinger, an dessen Lehrstuhl am Philosophischen Seminar der Universität Zürich ich von 1989 bis 1992 als Assistent tätig war und bei dem ich mit einer Arbeit zu Louis Althusser promovierte, hat neben den Exerzitien der Textauslegung, in zweifacher Hinsicht die Arbeit geprägt: Zum einen machte er mich mit der französischen Gegenwartsphilosophie bekannt, und zwar lange, bevor es chic war, und noch länger, bevor es nicht mehr chic war, sich mit ihr zu beschäftigen. Daher rührte mein Interesse für Althusser. Zum anderen war er als Herausgeber der Bände des Ueberweg’schen Grundrisses der Geschichte der P ­ hilosophie zum 17. Jahrhundert, wo ich als Assistent mitarbeitete, in bestimmter Weise mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt. Es bestand eine offensichtliche Spannung zwischen der lebendigen Vergegenwärtigung der Texte in den Seminaren und der Sachlichkeit des «Ueberweg». Aus dieser Zeit stammt nicht nur meine Vorliebe für das 17. Jahrhundert, insbesondere für ­Descartes und Spinoza, sondern auch die Thematik der vorliegenden Arbeit. Dass Jean-­ Pierre Schobinger wegen des frühen Todes nicht mehr sehen konnte, wie aus jener Spannung eine Theorie der Traditionsaneignung wurde, ist schmerzlich. – Thomas Fries muss ich besonders erwähnen, da er im richtigen Moment, beim Skifahren auf dem Piz d’Err, die richtigen Worte fand, um mich von der Notwendigkeit zu überzeugen, mir für das Schreiben der Arbeit endlich eine Zeit frei zu nehmen. Verena Berthold Riede, meiner Frau, hier in einigen Sätzen für das viele, was sie mir und was sie für diese Arbeit bedeutet, zu danken, dazu bin ich nicht in der Lage. Wenn ich ihr dieses Buch deshalb gewidmet habe, dann drückt sich darin ihre Bedeutung ebenso aus wie die Unmöglichkeit, es auf andere, vielleicht bescheidenere Weise zu tun. Ich hoffe, sie kann diese pathetische Geste als Geschenk annehmen. – Hannah und Mara waren zu klein, um die Entstehung der Arbeit inhaltlich mitzuverfolgen oder deren Bedeutung für mich einzuschätzen. Umso größer ist ihr Verzicht gewesen, wenn ich in dieser Zeit weniger Zeit für sie hatte, als mir lieb gewesen ist. Es würde mich freuen, wenn ich ihnen das Gestohlene irgendwann einmal dadurch zurückgeben könnte, dass sie beim Lesen in dem Buch eine andere Seite ihres Vaters entdecken könnten. Besonders danken muss ich Kurt Schärer (UZH), dass er den Wechselcheck, den ich ihm ausstellte, entgegennahm: Als langjähriger Organisator der Ringvorlesung der Privatdozenten lud er mich immer wieder ein, in die-


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Vorwort

sem Kreis zu sprechen, obwohl ich die venia legendi nicht hatte. Schön, dass der Check nicht ungedeckt blieb. Johannes Fehr (ETH Zürich, Ludwig Fleck-Zentrum am Collegium Helveticum), Thomas Hunkeler (Universität Fribourg), Michael Hampe (ETH Zürich), Neil Roughley (Universität Konstanz), Philip Ursprung (UZH) danke ich für die Einladungen, Gedanken aus dem Umfeld der Arbeit in einem institutionellen Rahmen vorzutragen. Den Zuhörern und Zuhörerinnen der entsprechenden Veranstaltungen gilt mein Dank, für ihre Bereitschaft, sich auf meine Thematik einzulassen, und für den Widerstand der kritischen Einwände. Damit aus einem Typoskript ein Buch wird, braucht es viele Hände: Hans­ peter Siegfried und Sandra Monti gebührt mein Dank für ihre Hilfe bei der Endredaktion, nicht zuletzt auch im Kampf mit einer Word-Datei, die nicht nur wegen meiner mangelnden Kenntnisse, sondern auch als Folge einer sich über viele Jahre und manche Version des Programms erstreckenden Entstehung ihre Tücken hatte. Dem Schwabe Verlage, insbesondere den Herausgebern der Reihe «Zürcher Arbeiten zur Philosophie», danke ich ganz herzlich für die Bereitschaft, das Buch in sein Programm aufzunehmen. Wolfgang ­Rother, in dem der Verlag für mich ein Gesicht bekam, schulde ich den größten Dank: Seine kompetente Betreuung, die Antworten auf meine vielen Fragen und seine guten Ratschläge waren mir eine große Hilfe bei der Fertigstellung der Arbeit.

Zürich, im September 2010


Einleitung Historisch/systematisch – Problematisierung einer bequemen Differenz

Must philosophers disagree? Ferdinand Canning Scott Schiller

Es wird nicht ein Spiel gespielt, sondern mehrere, und, um die Spielmetapher noch weiter auszudehnen, das Problem im wirklichen Leben ist, dass ein Zug des Springers nach B3 immer mit einem Lob Ăźber das [Tennis]Netz beantwortet werden kann. Alasdair MacIntyre

Ich bin durch langes Nachsinnen Ăźber dieses Problem [von Vielheit und Einheit] zu der Ansicht gekommen, dass unter allen philosophischen Problemen dieses das Zentralste ist. William James



Historisch/systematisch – Problematisierung einer bequemen Differenz

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1 Auf den Punkt gebracht. – Die vorliegende Arbeit ist der Versuch, über den Gegensatz ‘historisch’/‘systematisch’ auf ‘systematische’ Weise nachzudenken. Die Anführungszeichen drücken allerdings eine mehrfache Distanzierung aus: Zum einen kann die Einteilung, mit der gängigerweise – zum Teil bis hinein in die Organisation von Studiengängen – unterschiedliche Praktiken des Philosophierens gefasst werden, nicht einfach vorausgesetzt werden. Zum anderen führt die Differenz wie jede Differenz bei der Anwendung auf sich selbst in Schwierigkeiten: Einerseits ist sie selbst historischer Natur, also Ausdruck einer bestimmten historischen Konstellation, in der sich die Philosophie aus vielfältigen Gründen vorfindet. Andererseits erweckt die Differenz den Anschein, systematischer Art, also das Resultat bestimmter Überlegungen zu sein. Ist die Differenz nun selbst historisch, so wird die Emphase, mit der sie ein bestimmtes Verständnis von «systematischer» Philosophie bestärken soll, fragwürdig. Wenn sie dagegen systematischer Natur ist, dann müssten sich die Überlegungen ohne Rückgriff auf die Geschichte der Philosophie formulieren lassen. Es soll die Auffassung vertreten werden, dass diese Differenz – diesseits ihrer heuristischen und rhetorischen Funktionen – zunächst ein Ort ist, an dem sich das eigentümliche Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte zugleich artikuliert und entzieht. Es artikuliert sich, sofern man bereit ist, die Fragen, die sie aufwirft, aufzugreifen; und es entzieht sich, sofern man diese durch die Differenz selbst als beantwortet erachtet. Die vorliegende Arbeit legt Fragen rund um die Thematik der Geschichtlichkeit der Philosophie frei und macht Vorschläge zu ihrer Beantwortung. Beispiele für solche Fragen sind: Welches Licht wirft die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Philosophie der Philosophiegeschichte auf die Frage der Geschichtlichkeit? Wie steht es mit dem Fortschritt in der Philosophie angesichts der Unzulänglichkeit diverser Modelle zur Erklärung für dessen Ausbleiben? Wie lassen sich Aneignungsstrategien an einzelnen Texten nachvollziehen? Wie lässt sich Kants Wendung «Kampfplatz endloser Streitigkeiten» für ein Verständnis der Geschichtlichkeit der Philosophie fruchtbar machen? Schon hier soll drei möglichen Missverständnissen entgegengearbeitet werden: Es wird nicht um historiographische Probleme der Philosophiegeschichtsschreibung gehen; dennoch ist daran festzuhalten, dass sich jedes Philosophieren auf die Geschichte der Philosophie bezieht. Das Anliegen ist


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Einleitung

nicht der Entwurf einer Metaphilosophie; dennoch ist darauf zu insistieren, dass jedes Philosophieren auch eine Darstellung ist, was Philosophie ist. Die Arbeit redet nicht einem Relativismus das Wort; dennoch erscheint die Pluralität der Stimmen, die Wahres sagen, in ihrer Unausweichlichkeit.

2 Um ein Beispiel zu geben. – Herbert Schnädelbach hat streitbar und engagiert zweifach sich eingeschaltet in Diskussionen, die im Kern mit dem Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte zu tun hatten. Die beiden Interventionen, die in unterschiedliche Richtungen weisen, letztlich aber eine innere Verwandtschaft aufweisen, eignen sich – gerade in ihrem Spannungsverhältnis – als Ort, die Thematik und den Einsatz, der mit ihr verbunden ist, exemplarisch auszubreiten. Der erste Einspruch diagnostiziert 1981 eine «ansteckende Krankheit», den «morbus hermeneuticus».1 Schnädelbach nimmt damit Stellung zur «Philologisierung der Philosophie», zu einem von ihm (vor allem «hierzulande») beobachteten Übel, das Philosophieren mit dem Lesen und Auslegen von Texten zu verwechseln. Übel ist diese Krankheit deswegen, weil sie eine «Philosophie der hermeneutischen Ontologie» impliziere, die allerdings leer laufe, ja, sogar recht eigentlich zur «Philosophieverhinderung» werde, wo sie nur die Metatheorie einer Auslegungspraxis sei, in der die Philosophie immer mehr zur Literaturwissenschaft verkomme.2 Wo Philosophie als Geisteswissenschaft auftritt, wird sie philologisiert, und man arbeitet sich 1

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H. Schnädelbach: Morbus hermeneuticus, 279-284. Es werden keine Namen genannt. Dass sich der Einspruch «gegen den Versuch der Heidegger-, Gadamer- und HenrichSchule» richtete, «das historisch-hermeneutische Philosophieverständnis mit philosophischen Argumenten als allein wissenschaftliche durchzusetzen – vor allem durch Berufungspolitik», macht Schnädelbach in seiner zweiten Intervention im Rückblick klar (Gespräch der Philosophie, 334-352, Hervorhebung von mir). Die Vorlesung fand am 18. Juli 2002 statt. – Meine Hervorhebung des Schulbildungsaspektes soll deutlich machen, dass seine Polemik in erster Linie gegen die Praxis einer sterilen Einfriedung der mit diesen Namen verbundenen Innovationsschübe gerichtet ist, auch wenn die «Metatheorie» dieser Praxis primär mit eben jenen Namen und nicht mit jenen der Nachfolger verbunden ist. Ähnliche Vorwürfe erhebt J. Habermas etwa zeitgleich in Der philosophische Diskurs der Moderne, in einem längeren «Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwi-


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