Macht Tugend schön?

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JACOB BURCKHARDT-GESPRÄCHE AU F CAST E L E N 25

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Otfried Höffe

Macht Tugend schön? Über Lebenskunst und Moral

S C H WA B E V E R L A G B A S E L





JACOB BURCKHARDT-GESPRÄCHE AU F CAST E L E N 25

Otfried Höffe

Macht Tugend schön? Über Lebenskunst und Moral

S C H WA B E V E R L A G B A S E L


Die Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen wurden im Rahmen der Römer-Stiftung Dr. René Clavel begründet von Dr. iur. Dr. phil. h.c. Jacob Frey-Clavel. Direktorium: Prof. Dr. Gottfried Boehm · Prof. Dr. Andreas Cesana Prof. Dr. Joachim Latacz · Prof. Dr. Kurt Seelmann

© 2011 Direktorium der Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen, Universität Basel, und Schwabe Verlag Basel Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel ISBN 978-3-7965-2746-3 www.schwabe.ch


Zwei Dinge sind dem Menschen über die Tagesgeschäfte hinaus wesentlich: das eigene Wohl, auch Glück genannt, und die Moral. Denn «glücklich zu sein», schreibt ein begeisterter Schriftsteller: «das ist ja der erste aller unsrer Wünsche, der laut und lebendig aus jeder Ader und Nerve unseres ­Wesens spricht, der uns durch den ganzen Lauf unseres Lebens ­begleitet». Der Autor, Heinrich von Kleist, beruft sich nicht etwa auf seine Zeitgenossen, auch nicht auf die abendlän­ dische Kultur, sondern auf «unser Wesen», also die Natur des Menschen.1 Ihretwegen gibt es ein Ziel, das die Menschen aller Kulturen und Epochen vereint, eben das Glück. Auf der anderen Seite fordert nicht bloß unsre Tradition, sondern die Weisheitsliteratur aller Völker zur Rechtschaffenheit auf und zur Hilfsbereitschaft, kurz: zur Moral. Darin verbirgt sich nun eine Schwierigkeit. Zumindest auf den ersten Blick widersprechen das eigene Wohl und die ­Moral einander. Denn beim Eigenwohl stellt man sich selbst in den Mittelpunkt, wogegen die Moral Einspruch erhebt. Nach Pablo Neruda, überliefert von seinem Schriftsteller­ kollegen Roberto Ampuerto, ist niemand so rücksichtslos wie derjenige, der einzig sein eigenes Glück verfolgt.2 Wir werfen daher einen zweiten Blick und fragen: Muss, wer glücklich sein will, der Moral zuwiderhandeln, und muss, wer die Moral anerkennt, sein Lebensglück aufs Spiel setzen? Oder kann man beides zugleich, glücklich werden und trotzdem im Einklang mit der Moral leben? Und: Ist vielleicht noch eine Steigerung möglich, sogar eine zweifache Steigerung zur vollkommenen Einheit des Menschen? Heinrich von Kleist: Aufsatz, den sichren Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsälen des Lebens – ihn zu genießen!, in: Sämtliche Werke, hg. von C. Grützmacher, München 1982, 867-879. 2 Roberto Ampuerto: Der Fall Neruda, Berlin 2009, 315. 1

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Die erste Steigerung führt zur inneren Gelassenheit und Heiterkeit, die zweite schließlich zu einer Anmut jener Persönlichkeit, zur Anmut in der Lebensführung, bei der die Philosophie von moralischer Schönheit oder Seelenschönheit spricht, bei der entsprechenden Person aber von einer schönen Seele? Meine Überlegungen zu diesen Fragen entwickle ich in sechs Schritten. Als erstes kläre ich die ­Bedeutung der drei Leitbegriffe Glück, Moral und schöne Seele sowie die ihnen zugeordnete Philosophie als Lebenskunst. Dabei beginne ich mit dem dritten Begriff. Es folgen Überlegungen zum Glück im Sinne von Eudaimonie, zur Moral qua Autonomie und zum Verhältnis beider. Und im letzten Abschnitt überlege ich unter der Frage, warum man moralisch sein soll, ob Tugend schön macht. Erste Begriffsklärung Das Verständnis von Schönheit als einer vollkommenen Einheit des Menschen ist uns heute verlorengegangen. Wir kennen es aber aus Friedrich Schillers Kallias-Briefen Über Anmut und Würde (1793). Freilich stammt es nicht von Schiller, sondern blickt auf eine lange Tradition zurück. Im 16. und 17. Jahrhundert verwendet man den Ausdruck, um Einzelgestalten zu preisen, wobei Montaigne die Seelenschönheit gegen eine Schöngeistigkeit (beaux esprits) absetzt, die sich mit sprachlicher Gefälligkeit zufriedengibt.3 Rousseau steigert diese Differenz zum scharfen Gegensatz, wenn er im Vorwort seines Discours sur les Sciences et les Arts (1750) erklärt, er wolle «weder den Schöngeistern noch den Stutzern gefallen» (de plaire ni aux beaux-esprits ni aux

Michel de Montaigne: Essais, III 5, übers. von Hans Stilett, hg. von Hans-Magnus Enzensberger, Frankfurt a.M. 1998, 418-450.

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gens à la mode).4 In seinem Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloise (1761) werden die schönen Seelen (belles âmes) zum Gegenbild der korrumpierten Zivilisation: «Die Natur hat sie geschaffen, eure Einrichtungen verderben sie» (La nature les fit, vos institutions les gâtent).5 Wenige Jahre später nimmt Schillers älterer Dichterkollege Christoph Martin Wieland Rousseaus kulturkritischen Impuls auf. Er propagiert die «wahre Schönheit der Seele» zu einem «Bildungsideal», das «keine Sophisten, keine aufgeblasenen Neulinge» fördert, sondern «mit dem Beystand Gottes, redliche Liebhaber der Wahrheit und Freyheit, Menschen-Freunde und Tugendhaffte Leute».6 Der Gedanke der schönen Seele ist aber noch weit älter: Er geht zwei Jahrtausende, bis zu Platon, zurück und wandert mit unterschiedlichen Bedeutungsschwerpunkten im Rahmen einer der wirkungsmächtigsten Strömungen der Geistes­ geschichte, im Neuplatonismus, über Cicero,7 über Plotin8 und Augustinus9 im Mittelalter10 und dann, wie angedeutet, weit in die Neuzeit, und genießt seitdem in der Literatur einen festen Platz. Der platonische Hintergrund zeigt die generelle Intention an. Die schöne Seele begnügt sich weder mit einer nur ästhetischen Schönheit noch mit bloßer Moral. Sie bedeutet Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les Sciences et les Arts, übers. von Kurt Weigand, Hamburg 1955, 3.  5 Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Heloise. Auf der Grundlage der Übersetzung von 1776, München 1978, 24.  6 Christoph Martin Wieland: Plan von einer neuen Art, von PrivatUnterweisung, in: Gesammelte Schriften, hg. von Fritz Homeyer, Hugo Bieber, Abt. 1, Bd. 4, Berlin 1916, Neudruck 1986, 180, 182.  7 Cicero: Tusculanae disputationes IV 31.  8 Plotin: Enneaden, I 6 [1], 9, 10ff.  9 Augustinus: De vera religione XXXIX 72, 202. 10 Walter Müller: Das Problem der Seelenschönheit im Mittelalter: eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, Bern 1923, 29ff.  4

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eine Ganzheit und umfassende Wertschätzung, eine umfassende und zugleich in sich ruhende Humanität. Nach der Politeia ist die Tugend (aretē) «eine Art Gesundheit (hygieia) und Schönheit (kallos) und Wohlbefinden (euexia) der Seele».11 Und im Symposion spricht Platon von der «schönen, edlen und wohlgebildeten Seele» (psychē kalē kai gennaia kai euphyēs).12 Den Hintergrund bilden zwei oft übergangene Mehrdeutigkeiten. Erstens gibt es für das deutsche Wort «schön» zwei griechische Ausdrücke. To kalon bedeutet die vor allem körperliche Schönheit, aber auch die Vortrefflichkeit einer Sache. Obwohl die Politeia-Stelle kallos verwendet, kommt in philosophischen Texten häufiger to kalon vor. Und ­dieser Ausdruck bezeichnet, zweitens, jede Art von Schätzenswertem und Anziehendem, das, sei es bei dem im heutigen, ästhetischen Sinn Schönen, sei es beim Guten, alle Nutzenerwägung hinter sich lässt. Beim Bewerten bedeutet es das In-sich-Gute, entspricht also dem moralisch Guten. Im Symposium (209e-212c) lässt Platon die Priesterin ­Diotima einen philosophischen Aufstieg schildern, der bei schönen Körpern beginnt und über schöne, sprich: mora­ lische Handlungen und über die (der Seele und der Erkenntnis nach) schönen Gespräche zum plötzlichen Erblicken der Idee, des immer und in jeder Hinsicht Schönen, führt. Die Liebe qua erōs tritt dabei als Antriebskraft zum umfassenden Glück und zur wahren Tugend auf. Meine Titelfrage verstehe ich etwas, aber nicht viel, be­scheidener. Ich verzichte lediglich auf Platons Ideenlehre und auf den Zusammenhang der seelischen mit der ­körperlichen Schönheit. Mit dem Ausdruck des Schönen Platon: Politeia IV 444d-e. Platon: Symposion 209b.

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spiele ich also nicht mehr wie bei Platon auf eine Art ­evaluative ‘Welt­formel des Menschen’ an, auf eine theory of everything für Humanität. Gegen eine vorschnelle ­Kritik an Platon ergänze ich freilich, dass unser Philosoph, wie angedeutet, keine statische, sondern eine dynamische ­‘Weltformel’, einen ‘dialek­tischen Aufstieg’, skizziert. Von ihm nimmt er keineswegs an, dass er jedem Menschen oder auch nur vielen gelinge. Ich begnüge mich aber mit der Frage, ob die Tugend jenes rundum gelungene Menschsein ermöglicht, das wir ‘glücklich’, und im Falle der angedeuteten Steigerung zu Heiterkeit und innerer Anmut ‘schön’ nennen. Damit kommen wir zur Frage, was denn die beiden Begriffe ‘glücklich’ und ‘Tugend’ bzw. ‘Moral’ bedeuten. Wir beginnen mit einem Begriff des Glücks, der zum skizzierten Verständnis des Schönen hin offen ist. Versteht man das Glück rein subjektiv als bloßes Wohlbefinden, so stimmt es mit der Moral bestenfalls zufällig überein. Für die Philosophie ­bedeutet es aber seit Anbeginn eudaimonia, also die Qualität eines gelungenen Lebens: dass das eigene Dasein gelingt, dass es rundum glückt. Wo dies geschieht, nennt man das Leben ‘erfüllt’ oder ‘sinnerfüllt’. Der Philosophie geht es nicht um das Glück, das sich wie in einem Narrentanz verhält, also mal davonspringt, dann wiederkehrt, um bald abermals zu entwischen. Auch kommt es nicht auf das Glück an, das einem lediglich widerfährt, auf das Lotto-Glück: den glücklichen Zufall der launischen Fortuna. Ebenso wenig ist ein bloß subjektives Empfinden, das Sich-wohl-Fühlen gemeint. Eudaimōn bedeutet zwar wörtlich von einem guten Geist begünstigt oder beseelt zu sein. Für das entscheidende Glück kommen beide, ein günstiges Geschick und eine behagliche Zufriedenheit, aber bestenfalls im ‘Beiprogramm’ vor. Sie mögen eine Neben­ 9


rolle spielen, jedoch ist nur anderes wesentlich: dass man sein Leben persönlich in die Hand nimmt und dann die Sache seines Lebens gut macht. Der Versuch der Philosophie, dabei mitzuhelfen, nennt sich Lebenskunst. Lange Zeit stand diese Aufgabe im Vordergrund: die Philosophie als eine Lebenskunst, sogar als Kunst, glücklich zu leben. Sie meinte die Kunst zwar nicht in jenem modernen Verständnis, das sich im Geniekult der Spätaufklärung und in der Frühromantik ausbildete. Die Philosophie suchte keinen Beitrag zur Kunst im Sinne von Literatur, Musik und bildenden Künsten. Gemeint ist, was im Lateinischen ars und im Griechischen technē heißt, also Kunst im Sinne von Handwerk oder ärztlicher Kunst, also ein anwendungsorientiertes Expertenwissen, das, fachlich geordnet und in Regeln fassbar, lehr- und lernbar ist. Die ersten drei Elemente, die fachliche Ordnung, die Regelfähigkeit und die Lehr- und Lernbarkeit, treffen allerdings auf eine Lebenskunst nur begrenzt zu. Während die üblichen Kunstfertigkeiten sich auf ein Fach konzentrieren, geht es einer Lebenskunst um das Gegenteil jedes Faches, um ein Un-Fach, nämlich um das Leben als Ganzes und um die dieses Leben führende Gesamtperson, deren Ideal die schöne Seele bildet. Nur Scharlatane preisen dafür genaue Regeln, Rezepte an. Der Philosoph begnügt sich mit Regeln zweiter Stufe, mit gewissen Grundsätzen, die sich in Ratschlägen verdichten lassen. Die Lebenseinstellungen, die ihnen entsprechen, heißen wegen ihres positiven Wertes Tugenden. Noch in einer weiteren Hinsicht unterscheidet sich die ­Lebenskunst von den üblichen Künsten. Fachwissen kann veralten, deutlich sichtbar bei der Heilkunst, die mittlerweile Jahr für Jahr neue Diagnosen und neue Therapien, einschließlich neuer Arzneimittel und neuer Medizintechnik, kennt. Für die Lebenskunst dagegen erweisen sich 10


die Ratschläge der Alten als immer noch erstaunlich jung, bei rechter Deutung genau so frisch und überzeugend wie vor vielen Jahrhunderten. Ein Kennzeichen der modernen Wissenschaften, die immer wieder neuen Entdeckungen und Erfindungen, ist der Lebenskunst weitgehend fremd. Einer der Gründe: Die zwei entscheidenden Faktoren, die Herausforderungen des Lebens und die glückstauglichen Antworten, sind wegen des Zusammenhangs mit der conditio humana in ihrem Kern kultur- und epochenunabhängig. Versteht man den Ausdruck ‘philosophisch’ nicht zu eng, auf möglichst wissenschaftliche Aussagen eingeschränkt, so tritt die philosophische Lebenskunst idealtypisch gesehen in drei Grundmustern auf. Das erste Muster gibt die meist lockere Sammlung von Maximen und Reflexionen ab. In ­literarisch brillanter Form präsentieren die europäischen Moralisten, also Autoren von den Sieben Weisen Griechenlands über die Stoa bis hin zu La Rochefoucauld, Lichtenberg, Goethe und Nietzsche, Überlegungen zum guten Leben, einschließlich skeptischer Einwürfe, oder wie bei Adorno Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Fast immer ist der Stil wesentlich. Die großen Moralisten pflegen ihre je eigene, freilich mit der Sache eng verknüpfte Form der Darstellung. Montaignes Essais beispielsweise lieben die brüske Provokation. Ihr entschieden ‘momentanistischer Individualismus’ nimmt das jeweilige Jetzt der Existenz ernst: Jedes Ich ist anders, und das Ich im jewei­ ligen Augenblick ist weder mit dem Ich davor noch mit dem danach identisch. Bei Nietzsche fallen dagegen der ätzende Sarkasmus und eine Schule des Verdachts auf, die sich ­zwischen Pathos und Ironie in der Schwebe hält. Das ­nichteuropäische Gegenstück findet sich in der (Lebens-) Weisheit anderer Kulturen, von Alt-Ägypten und den davon inspirierten Weisheitsbüchern Israels bis hin zu hindui­s11


tischen, buddhistischen, konfuzianischen und daoistischen Texten.13 Das zweite Muster philosophischer Lebenskunst besteht in Visionen eines guten Lebens, vor allem aber guten Zusammenlebens. In den Darstellungen idealer Lebensverhältnisse, den sogenannten Utopien, finden sich sowohl religiöse als auch nichtreligiöse Paradiesvorstellungen, auf philosophischer Seite etwa die gesunde Polis aus Platons Politeia. Unter dem namengebenden Titel Von der besten Staatsverfassung oder der neuen Insel Utopia schreibt das neuzeitliche Vorbild der Humanist Thomas Morus. Die Verfasser von Utopien schicken die Vorstellungskraft auf die Reise; ihre Texte beschreiben voyages imaginaires. Sie befassen sich daher weniger mit dem Glück qua Eudaimonie als mit einem Sehnsuchtsglück. Schließlich gibt es die prinzipienorientierte Lebenskunst, auch praktische Philosophie genannt, der ich mich am stärksten verpflichtet fühle und zu der ich im folgenden einige Überlegungen anstelle, gegliedert in fünf weitere Abschnitte.14 Eudaimonie 1: Besonnenheit Von der Kochkunst über die Klavierkunst bis zur Kunst von Ärzten und Richtern gibt es Kurse, sogar Schulen und Hochschulen; eine (Hoch-)Schule für die Lebenskunst gibt es zu Recht nicht. Wer über wahre Lebenskunst verfügt, über das nicht zum Genießen abgeflachte savoir vivre, der darf zwar ein Maestro, ein Meister der Lebensführung heißen. Dass er Vgl. Otfried Höffe: Lesebuch zur Ethik. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, München 42007. 14 Ausführlicher in Otfried Höffe: Lebenskunst und Moral oder Macht Tugend glücklich? München 2007; dort Auseinandersetzung mit der klassischen und der zeitgenössischen Literatur. 13

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ein glückliches Leben auch nur für sich, geschweige für andere zu garantieren vermag, erwartet man aber nicht. Bücher zur Lebenskunst haben zwar schon des längeren Konjunktur. Kein vernünftiger, kein lebenskluger Mensch glaubt jedoch, man könne aus ihnen das gute Leben so lernen, wie man aus Kochbüchern das Kochen und aus Schachbüchern das Schachspielen lernt. Für das Fachwissen, das trotzdem möglich ist, sollen zu Anfang zwei Kostproben genügen: Nach Judentum, Christentum und Islam lebten die Menschen am Uranfang an einem schlechthin sinn- und glücks­ erfüllten Ort, im Paradies. Ein großer ‘Kirchenvater’ der Philosophie, Platon, spricht von einer ‘Insel der Seligen’, auf der man allerdings erst nach dem Tod lebe. Gleichwohl beschreibt er für das Diesseits eine Welt, die der ‘Insel der Seligen’ nahekommt. In ihr leben die Bürger, weil frei von Neid und Eifersucht, in Frieden und Eintracht miteinander; sie führen ihr Dasein bei voller Gesundheit und sterben erst in hohem Alter; sie genießen die Freuden der Liebe; dank hinreichender Arbeitsproduktivität ernähren sie sich vergnüglich von Wein und Brot; sie bekränzen sich und lobsingen den Göttern.15 Ein solches Glück lässt sich offensichtlich kaum jemals, geschweige denn sicher und auf Dauer erreichen. Trotzdem sehnt sich der Mensch nach ihm, und aus zwei Gründen ­geschieht es sogar mit Notwendigkeit: Der eine Grund liegt in der Vorstellungskraft, die, an keine Grenzen gebunden, sich ein paradiesisches Leben auszumalen vermag. Freilich könnte man den Glückswert mancher Paradiesvorstellung in Frage stellen. Der Hauptgrund ist aber ein anderer: Der Mensch, der im Alltag Mühsal und Entbehrungen erleidet, sehnt sich nach einem Zustand, in 15

Platon: Politeia II 369b-372c.

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dem das gegenwärtige Elend und darüber hinaus alles an nur denkbaren Sorgen, Mühen und Plagen aufgehoben sind. So sehr man auf dieses Sehnsuchtsglück, ein Märchenund Sonntagsglück, hoffen mag – mit der Leichtigkeit eines Träumers überspringt es alle Beschränkungen der Wirklichkeit und deren Widersprüche. Weil die Phantasie keine Grenzen kennt, vermag sie sich hier auf eine Utopie im wörtlichen Sinn zu richten, auf einen ou-topos, einen Un-Ort. Denn in dieser Welt und bei unserer Gattung homo sapiens gibt es keinen Ort: erstens für ein Leben ohne Güterknappheit, für eine Überflussgesellschaft im strengsten Wortsinn; zweitens für ein Leben, das die im Überfluss vorhandenen Güter wie im Schlaraffenland stets mundgerecht darbietet, ohne jede ‘Arbeit im Schweiße des Angesichts’. Drittens dürfte es kein Kater-Phänomen geben, gemäß dem polnischen Sprichwort: ‘Gott schuf den Wein, der Teufel den Kater.’ Viertens sollten alle Dienstleistungen unbegrenzt und mühelos zur Verfügung stehen. Mangels Streits und Wettstreits sollten fünftens alle Menschen in eitel Liebe und Freundschaft leben, zumindest untereinander, am liebsten auch mit der Tier- und Pflanzenwelt. Sechstens bleibe man selbst und seine Lieben und Freunde von Krankheiten und Unfällen verschont. Siebentens dürfte niemand zu früh sterben, weder nach eigener Ansicht zu früh noch nach Ansicht der An­gehörigen und sonstwie Nahestehenden. Wir können hier abbrechen, denn der entscheidende Punkt dürfte klar geworden sein: Ein höchstes und zugleich dauerhaftes Wohlbefinden, dieses Sehnsuchtsglück, kann auch bei größter Anstrengung von niemandem jemals dauerhaft erreicht werden. Ein immerwährendes Glück dieser Art ist niemandem vergönnt. Die Folge liegt auf der Hand: Wer trotz der Schwierigkeiten lediglich den Sehnsuchtsbegriff des Glücks kennt, verfällt in Resignation. Er denkt mit 14


Sigmund Freud, «die Absicht, daß der Mensch ‘glücklich’ sei, ist im Plan der ‘Schöpfung’ nicht enthalten».16 Bevor die Philosophie dieser Resignation erliegt, sucht sie nach einer Alternative, nach einem realistischeren und zugleich humaneren Begriff. Dabei kommt ihr schon die allgemeinmenschliche Erfahrung zugute. Worauf schon das Sprichwort anspielt ‘Jeder ist seines Glückes Schmied’, gibt es einen Begriff von Glück, auf das man mit guten Erfolgschancen hinarbeiten kann. Selbst im Märchen fällt dem ‘Helden’ das Glück erst nach eigener Anstrengung zu, entweder nach Gefahren, die er zu bestehen, oder nach Entbehrungen, die er zu erleiden hat. Wer das Glück nur als Sehnsuchtsglück kennt, der wird auf Dauer nicht glücklich: nicht als Mensch mit Bedürfnissen, die einander widerstreiten; nicht mit dem Hang des Menschen zur Übersättigung; nicht mit dem ‘neidischen Blick auf die Früchte in Nachbars Garten’; nicht mit der Gefahr, von Freunden verlassen zu werden; nicht mit der weiteren Gefahr, Unglück zu erleiden und gegen Lebens­ ende alt und gebrechlich zu werden. Hier tut sich eine Kluft zwischen Glückserwartung und Glückserfüllung auf. Ihretwegen überlegt sich die philosophische Lebenskunst, wie man die Kluft überwinden könne. Bei kreativer Suche entdeckt sie zwei Strategien: Entweder vermindere man die Nachfrage nach Glückserwartungen, oder man erhöhe das Angebot an Glückserfüllung. Nun lässt sich das Angebot nicht so leicht erhöhen. Daher schlägt die Philosophie in erster Linie die andere Strategie vor, die sie als ersten Ratschlag anbietet: Bevor man die Leistung ­erhöhe, mindere man die Erwartung. Dann ist man fähig, 16

Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Bd. 9, Frankfurt a.M. 1997, 208.

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ein glückliches Leben zu führen, ohne auf der Insel der Seligen zu leben. Man besitzt die Fähigkeit zum Glück – trotz ­bleibender Defizite an Sehnsuchtsglück. Bekanntlich droht dem Menschen generell die Gefahr der Unersättlichkeit. Gegen sie wendet sich die von den ­Griechen bekannte Maxime mēden agan: ‘nichts im Übermaß’. Im Fall der Lebenskunst richtet sie sich gegen die ­Unersättlichkeit der Glückssehnsucht. Das endgültige Heil ist Sache der Gottheit, das endliche Heil Sache des Menschen. Gegen eine vorschnelle Zufriedenheit mit dem Zweitbesten weiß die Philosophie aber, dass das Göttliche in gewisser Weise schon in uns ist, nämlich die Möglichkeit einer Steigerung des Lebens, die bis an den Rand des Sehnsuchtsglücks reicht, zugleich für Seelenschönheit offen ist. Glücklicherweise schließt das zweitbeste Glück das absolut beste nicht aus. Der zweite Ratschlag einer philosophischen Lebenskunst lautet daher: Man gebe die Hoffnung auf das große Glück nicht auf, man halte sich im Werktagsglück für das Sonntagsglück offen! Die Philosophie schlägt also eine Doppelstrategie vor: Man hoffe auf begnadete Augenblicke, sogar auf die große Versöhnung und verstehe trotzdem, mit Entfremdungen zu leben. Greifen wir als Nächstes einen Einzelgesichtspunkt heraus, das verbreitete Verlangen des Menschen nach Lust und dem Vermeiden von Unlust. Wer nichts anderes im Blick hat, den nennt man einen Epikureer, wegen des griechischen Ausdrucks für Lust auch einen Hedonisten. Nun bezweifelt kaum jemand, dass, wer rundum froh und frei von Leid ist, glücklich heißt. Trotzdem fragt der Philosoph nach; er ­beginnt wieder mit einer Begriffsklärung: Häufig denkt man nur an sinnliche Lust und Unlust. ­Tatsächlich steht aufseiten der Unlust die Gesamtheit von 16


Mühsal, Schmerz und Leid, von materieller und vor al­ lem auch seelischer Not. Und die positive Seite, die Lust, umfasst das ganze Spektrum von körperlicher, seelischer, sozialer und geistiger Lust: von der flüchtigen Begierde über die eksta­tische Wollust bis zum beständigen Wohlgefallen; ebenso von vegetativ-bescheidener Lust (‘Die Sonne wärmt mich, und ich atme ohne Beschwerden’) über einen Sonnentag mit lieben Menschen und einem Schoppen Wein; oder vom ­Vergnügen beim Lösen kniffliger (Mathematik-, Schach- oder Philosophie-)Aufgaben über die Lust beim Musizieren, Malen, Lesen oder Gedichte-Schreiben bis zum Freudentaumel ‘Jauchzet! Frohlocket!’ . Es gibt eine gene­ relle ­Lebens- und eine ähnlich generelle Arbeitsfreude; man kennt die kleinere, aber nahrhafte Vollkornbrot- und die größere, aber ungesunde Praliné-Freude. Kurz: die Welt der Freuden ist bunt und reich. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Ansicht ist freilich die Lust kein Ergebnis, das am Ende herausspringt. Sie tritt im Vollzug des Lebens auf, hier weder neben den gewöhnlichen Zielen noch oberhalb von ihnen. Über ein Wiedersehen beispielsweise kann man sich auch dann freuen, wenn man es nicht angestrebt hat. Und bei so elementaren Bedürfnissen wie Hunger und Durst sucht man nicht die Lust, sondern die Nahrung, obwohl das Stillen von Hunger und Durst in der Regel von einem Gefühl der Zufriedenheit, vielleicht sogar Behaglichkeit, begleitet wird. Aus diesem Grund redet man im Streit um das Prinzip Lust häufig aneinander vorbei: Der Verteidiger hat insofern Recht, als die Lust, verstanden als die erlebte Zustimmung zum eigenen Tun, fast immer ein mitlaufendes Ziel oder ein Begleitumstand ist. Der Kritiker darf sich hingegen darauf berufen, dass die Lust häufig nur ein Nebenziel und nicht das Hauptziel bildet. Friedrich Nietzsche kann deshalb sagen: 17


«Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das.»17 Wer sich in einer Tätigkeit verliert, die er voll bejaht, übt sie lustvoll und glücklich aus. So formal verstanden, ist die Lust aber kein Gefühl eigener Art, vielmehr das subjektive Empfinden bei allem Tun und Lassen, in dem man ‘mit Leib und Seele’ aufgeht. Die souveräne Einstellung zur Welt der Lust ist eine Haltung vorbildlichen Menschseins, also eine Haltung, die Tugend heißt. Wie die Lust, so tritt auch die zuständige Tugend in verschiedenen Arten auf. Angesichts körperlicher Lust besteht die Gefahr, den Begierden immer so, wie sie auftreten, nachzugeben, also die Freuden des Essens, Trinkens und der Sexualität momentan zu genießen, ohne Zusammenhänge zu berücksichtigen und Folgen zu bedenken. In extremen Fällen steigert sich die Genußsucht zu einer veritablen Zügellosigkeit, zum Laster. Wie es vom britischen König Heinrich VIII. heißt, riskierte dieser Renaissance-Fürst lieber den Verlust seines halben Reiches, als dass er auf den kleinsten Teil seines Begehrens verzichten wollte. Andere sind dagegen sinnenfeindlich oder halten sich überängstlich zurück; sie werden empfindungsarm, im Extremfall empfindungslos. Die Alternative zu beidem besteht in der Einstellung eines kontrollierenden, daher im praktischen Sinn reflektierten Verhältnisses zur Welt der Lust. Sie heißt sōphrosynē, auf Lateinisch temperantia und zu Deutsch Besonnenheit (nicht Maß). Unser dritter philosophischer Ratschlag: Man entwickle die Tugend der Besonnenheit. Wer sie besitzt, der führt, das versteht sich, kein ‘zum Gähnen langweiliges’ Leben. Wer von Philosophen Lust- und Sinnenfeindlichkeit be17

Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli, M. Montinari, 6. Abt., Bd. 3, 55.

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fürchtet, wird von einem hochspekulativen Denker, von Baruch de Spinoza, eines Besseren belehrt. In seinem System der Philosophie, Ethik genannt, lesen wir: «Der [im Lebenswandel] Weise, sage ich, erquickt und erfreut sich an mäßiger und angenehmer Speise und Trank, sowie an Geruch und Lieblichkeit grünender Pflanzen, an Kleiderschmuck, Musik und Kampfspielen, Theater und anderen dergleichen, welche ein jeder ohne irgendeines anderen Schaden genießen kann.»18 Die Lebenserfahrung steuert nähere Ratschläge bei, etwa: Suche nicht bloß unmittelbaren Genuss, sondern lasse dich, wo erforderlich, auf Verzichte und auf Anstrengungen ein! Dieser Rat folgt dem Sprichwort: ‘Vor den Preis haben die Götter den Schweiß gesetzt.’ Ein weiterer Ratschlag der Besonnenheit: Bringe in Zeiten der Mühe und des Leids die Erinnerung vergangener Freuden als mühe- und leidmindernden Trost ein! Zusätzlich besinne man sich auf den hohen Lustwert der Vorfreude: Stelle dir manchen künftigen Genuss schon ­gegenwärtig vor und zögere trotzdem den Genuss, um die Vorfreude zu verlängern, hinaus! Ferner rät die Besonnenheit: Lerne die Fähigkeit zur Vorfreude oder bewahre sie, auch wenn du weißt, dass nicht alle ‘Blütenträume’ des Lebens sich erfüllen! Auch darf man von einem Sokrates lernen, der besonnen ist, indem er von den vielen Dingen, die es gibt, vieles nicht braucht.19 Und ein zu diesem Thema letzter Rat sagt: Lasse dich nicht von Groll oder gar Hass gefangen nehmen! Zur Lebenskunst gehört fraglos die Fähigkeit, sich auch von Dingen, die einem angetan worden sind, zu lösen. Obwohl die Herausforderung der Besonnenheit, vor allem das Immer-mehr-Wollen, eine allgemeinmenschliche Spinoza: Ethica, Buch IV, Lehrsatz 45, Anm. Vgl. Platon: Gorgias 491d-e.

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­ efahr darstellt, gibt es auch zeitspezifische Aufgaben: Man G lasse sich nicht auf jedes Konsum- oder Medienangebot ein. Oder: Man gehe mit einer der knappsten Ressourcen, der Wochen- und der Lebenszeit, haushälterisch um. Schließlich reicht für die heutige, in der Bevölkerungszahl und den ProKopf-Ansprüchen enorm gewachsene Weltgesellschaft die nur persönliche Besonnenheit nicht aus. Es braucht auch jene globale und kollektive Besonnenheit, die sowohl den ungehemmten Raubbau an der Natur als auch die Überforderung unserer Staatshaushalte endlich bremst. Eudaimonie 2: Heiterkeit Keine Glücksethik darf so lebensfern sein, dass sie die Möglichkeit böser Widerfahrnisse leugnet. Auch ein rundum tugendhafter Mensch tut sich dort schwer, wo er Unglück und Leid zum Opfer fällt. Wer das Gegenteil erwartet, dass die Tugend vor allen Gefahren des Lebens schützt, wer daher das Glück für eine pure Eigenleistung hält, erliegt einer Allmachtsphantasie. Er glaubt, jede auch noch so große Schwierigkeit mit einer so souveränen Leichtigkeit zu bezwingen, die man ‘triumphieren’ nennen darf: Man triumphiert über die Welt, über das Schicksal und all seine Widrigkeiten; man triumphiert über sich, über seine Sorgen, Ängste und Schwächen; nicht zuletzt triumphiert man über die Mitmenschen, sofern sie durch Missgunst und Eifersucht das Leben erschweren. Diese Hybris, diesen Größenwahn, teilt die Philosophie nicht. Ob so wichtige Dinge wie ein Studium, eine Freundschaft oder eine Partnerschaft gelingen, hängt bei aller eigenen Anstrengung auch von einem Quentchen glücklicher Umstände ab. Für das Leben insgesamt sieht es nicht anders aus. Woran die wörtliche Bedeutung des eudaimōn erinnert: 20


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