Kanon und Kanonisierung

Page 1

TeNor 2 Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

, 6 % 1

Kanon und Kanonisierung

Der Begriff des Kanons ist in den letzten Jahren zu einem Schlßsselbegriff der Kulturwissenschaften geworden. Er bezeichnet hochverbindliche Formen kultureller Selbstvergewisserung, die im Medium der Schriftlichkeit besondere Prägnanz erfahren. Ein Kanon kann nicht fortgeschrieben und in seiner Gestalt verändert werden, eine kanonische Sammlung nicht durch neue Elemente ergänzt werden. Als Text in seiner Endgestalt kommt dem Kanon normative Kraft und Autorität zu. Er steht geradezu fßr die exemplarische Verdichtung des Verhältnisses von Text und Normativität.

TeNor – Text und Normativität 2

Kanon und Kanonisierung Ein Schlßsselbegriff der Kulturwissenschaften im interdisziplinären Dialog

Herausgegeben von KarĂŠnina Kollmar-Paulenz, Nikolaus Linder, Michele Luminati, Wolfgang W. MĂźller und Enno Rudolph




tenor – text und nor m ativ ität

2

her ausgegeben von Michele Luminati, wolfga ng W. müller und enno rudolph

Schwabe V er l ag Basel


k anon und k anonisierung ein schlüsselbegr iff der kulturw issensch a ften im inter disziplinä r en di a log

her ausgegeben von k a r énina kollm a r-paulenz, nikol aus linder, Michele Luminati, wolfga ng W. müller und enno rudolph

Schwabe V er l ag Basel


Publiziert mit Unterstützung der Universität Luzern

Umschlag: Ausschnitt (bearbeitet) aus Rembrandt: Aristoteles vor der Büste des Homer, 1653 Metropolitan Museum of Art, New York

© 2011 by Schwabe AG, Verlag, Basel Lektorat: Erika Regös, Wolfgang Rother, Angela Zoller, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2763-0 www.schwabe.ch


Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Karl Heinz Bohrer: Kanon und Invention Das griechische Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Massimo Mori: Kant – Text und Kanon der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Paolo Becchi: Hegel und das Problem des Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Jani Kirov: Ius quasi muro vallatum Die Kodifizierung des Rechts in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Hans Vorländer: Verfassungen leben nicht vom Text allein Wie die normative Kraft von Verfassungen erzeugt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Daniela Demko: Die normative Verfasstheit und Kanonisierung des Völkerstrafrechts .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Peter Hofmann: Canon actionis. Handlung und Text nach der liturgischen Norm des Ersten Hochgebetes (Canon Romanus) . . . . . . . . . . . . . 143 Max Deeg: Von Sammlern und Schreibern. Kodifizierung und Kanonisierung in den asiatischen religiösen Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Angelika Malinar: Vier Veden und der ‘fünfte Veda’ Über Kanonbildung im Hinduismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Reinhold Bernhardt: Die Krise des protestantischen Schriftprinzips .. . . . . . 212


6 Inhalt Christoph Dohmen: Mehr als ein Kanon. Die Bibel als Grundlage unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Thomas Steinfeld: A Stairway to Heaven Über Entstehung und Überlieferung kanonischer Werke unter den Voraussetzungen populärer Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Autorinnen und Autoren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Personenregister .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281


Vorwort Seit 2010 erscheint im Verlag Schwabe die Reihe Text und Normativität, die sich mit Aspekten des Normativen in den Text- und Kulturwissenschaften beschäftigt. Der vorliegende zweite Band versammelt die Beiträge der ­Tagung Kanon und Kanonisierung. Ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften im inter­disziplinären Dialog, die am 16. und 17. September 2010 an der Universität Luzern und in den Räumlichkeiten der Stiftung Bibliothek ­Werner Oechslin (WOB) in Einsiedeln stattfand. Wir danken den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für ihre Beiträge und ihre freundliche Mitarbeit an der Vorbereitung und Drucklegung dieses Bandes. Ein besonderer Dank gilt auch diesmal Werner Oechslin und Anja Buschow Oechslin für ihre Gastfreundschaft in Einsiedeln. Die deutsche Übersetzung des Beitrags von Paolo Becchi wurde von Anna Becchi besorgt, die Durchsicht der Texte übernahmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beteiligten Professuren. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Und nicht zuletzt danken wir auch Erika Regös, Wolfgang R ­ other und Angela Zoller vom Verlag Schwabe für die umsichtige Betreuung der ­Publikation und die allezeit gute Zusammenarbeit. Luzern, im September 2011 Karénina Kollmar-Paulenz Nikolaus Linder Michele Luminati Wolfgang W. Müller Enno Rudolph



Kanon und Invention Das griechische Paradigma Karl Heinz Bohrer 1. Das Dilemma: Die politische Verfälschung der Fragestellung 1994 erschien das Buch des amerikanischen Literaturtheoretikers Harold Bloom mit dem für mein Thema einschlägigen Titel The Western Canon. Man kann sagen, dass die Frage nach der Angemessenheit des kulturellen, speziell des literaturwissenschaftlichen Kanons im polemischen Kontext unserer Epoche hier erstmalig formuliert worden ist. Polemischer Kontext hieß damals und in relativ gemäßigtem Sinne noch heute: Der amerikanische Universitätscampus, speziell die literarhistorischen, philosophischen und soziologischen Departments, wurden umgetrieben von einer Polemik gegen die zentrale Stellung der europäisch-humanistischen Tradition im Lehrbetrieb. Angezweifelt wurde die normative Relevanz von Figuren wie Shakespeare, Milton oder Platon im Diskurs des Studiums der englischen Literatur bzw. der Geisteswissenschaften als Eckpfeiler der amerikanischen Universität bzw. der Humanities, wie der englische und amerikanische Terminus lautet. Im Namen von multikulturellen neueren Lerngebieten, die vor allem afroasiatische Traditionen im Auge hatten, wurde dem Kanon des ‘White Anglo-Saxon Protestant’ oder der ‘Dead White Men’ abgesagt. Eine sozialpsychologische Ursache hierfür war gegeben sowohl im Zugang ehrgeiziger neuer Einwandererkinder nichteuropäischer Herkunft als auch im Respekt gegenüber afroamerikanischen Studenten, deren Vergangenheit Sklaverei hieß. Entscheidend dabei war eine bestimmte politische Aktualisierung der gerade Wirkung erzielenden dekonstruktiven Methode Paul De Mans: So wie man bei der Hermeneutik literarischer Texte das einzelne poetische Wort nicht mehr zurückband an eine zentrale Idee oder Bedeutung des Ganzen,


10

Karl Heinz Bohrer

so löste man ebenfalls einen bestimmten literarischen Text aus der Referenz an eine dominante Kanon-Relevanz philosophischer oder ästhetischer Natur. Zum anderen aber ist hier ein zweites Buch, sozusagen der Antidot zu Blooms Western Canon zu nennen, dessen Einfluss auf die multikulturelle Polemik bis heute nicht hoch genug einzuschätzen ist: Edward W. Saids 1978 zuerst erschienenes Werk Orientalismus. Ohne hier auf die methodische und inhaltliche Problematik von Said einzugehen, dessen Werk inzwischen von namhaften Kulturwissenschaftlern scharf kritisiert worden ist (aber nichtsdestotrotz bei seinen Gläubigen den Einfluss vermehren konnte) – ohne also auf diese Debatte einzugehen, ist nur zweierlei kurz zu konstatieren: 1) Saids Angriff auf Begrifflichkeit und Abstraktion des westlichen Denkens und gegen die daraus gewonnene Unterscheidbarkeit zwischen okzidentaler und orientalischer Kultur ist nicht überzeugend. 2) Die historischen Erkenntnisfortschritte des westlichen Denkens und seiner Universitätskultur seit der Renaissance zu leugnen und an die Stelle von deren Repräsentanten ominöse, esoterisch-exotische Referenzen zu setzen, führt notwendigerweise zu einer Art von intellektuellem Obskurantismus. Dies wird aber dadurch verschleiert, dass der Einwand gegen abstrakte Begrifflichkeit bei der Beschreibung von nichteuropäischen Ethnien sich mit dekonstruktiver Methode gegen den immer sich einschleichenden Essentialismus kanonischer Normen stützen lässt. Die Problematisierung, ja Revision des kulturell-politischen Kanons ist vor allem aber durch die Politik der ‘Anerkennung’, d. h. der Favorisierung kultureller Minderheiten seit den neunziger Jahren stabilisiert worden. Die Debatte, die hierüber von Charles Taylor mit prominenten Philosophen und Soziologen, darunter Michael Walzer und Jürgen Habermas, geführt wurde,1 konnte von Harold Bloom noch nicht kommentiert werden. Das lag auch außerhalb seines und auch meines Themas, da es sich bei den Soziologen um eine vornehmlich begriffslogisch-deduktive, nicht ästhetiktheoretisch-phänomenologische Diskussion des Kanons handelt. Inwiefern das normativ am politisch korrekten Dogma, an der ‘Anerkennungspolitik’ orientierte Argument gegen den Kanon das Kanonische von Literatur missversteht, soll aber kurz angedeutet sein: Eine amerikanische Philosophieprofessorin führte, um die Gleichwertigkeit europäischer und nichteuropäischer Traditionen, d. h. die Relativierung des ‘weißen’ kulturellen Kanons zu fordern, im Gespräch

1

Ch. Taylor: Multikulturalismus.


Kanon und Invention

11

mit Taylor an, dass ihre Kinder ebenso gerne deutsche oder französische als auch nichteuropäische Märchen läsen und afroamerikanische Kinder durch solche Alternativen in ihrer Identität bestätigt würden. Mit der Option Märchen/Kinder ist aber die Frage nach Möglichkeit oder Notwendigkeit eines literarisch-kulturellen Kanons a priori entstellt, denn das Märchen und seine kindliche Rezeption liegt außerhalb der historischen Gattung, die Kanonbildung überhaupt ermöglicht. Und hier kommt Harold Blooms Erinnerung an die westliche Literatur als Kanon ins Spiel. Denn selbst wenn man den politischen Kanon von kulturellen Kriterien freihielte – so haben wir gesehen – bliebe die Relevanz eines literarisch-kulturellen Kanons davon unberührt. Für ihn würden strikt selbstre­ ferentielle ästhetische Maßstäbe gelten. Was sind Blooms Gesichtspunkte? Er nennt zunächst unverblümt die großen Stationen des literarischen westlichen Kanons, indem er die bedeutenden Namen der europäisch-amerikanischen Lite­ratur nennt: von Shakespeare und Dante über Goethe und Wordsworth bis hin zu Walt Whitman und Tolstoi und schließlich Freud, Proust, James Joyce, Virginia Woolf und Kafka. Es ist zunächst also die normative Kraft des Faktischen, d. h. die Selbstevidenz einer literarischen Reihe, die Autoritätsstempel verlieh. Entscheidend aber für Blooms Begründung des westlichen lite­rarischen Kanons ist, dass er sich abheben will sowohl von dessen konservativen Anwälten, die im Namen moralischer Werte sprechen, als auch von den journalistisch-akademischen Gegnern des Kanons, die ihn im Namen sozialer Veränderungen beseitigen wollen. Blooms Kriterium ist allein ein ästhetisches, das er in Anlehnung an ein Wort des englischen Ästhetikers und Kul­turphysiognomikers Walter Pater Strangeness nennt, d. h. eine uns gleichzeitig befremdende und gleichzeitig extrem anziehende Qualität, die gerade bei großen klassischen Werken – Dantes Göttliche Komödie, Goethes Faust II. Teil oder Joyce’ Ulysses zu Tage trete. Es ist also ein strikt literarischer Kanon ohne Rücksicht auf die oben angedeutete politische Problematisierung.

2. Das theoretische Problem: Nachahmung und Erneuerung Die Priorität aktueller Motive – seien sie politisch oder intellektuell – begünstigt das Verschwinden des gegenwärtigen ästhetischen Kanons. Es hat offenbar etwas zu tun mit historischem Bewusstsein. Der kulturelle Diskurs war im-


12

Karl Heinz Bohrer

mer dann fruchtbar, wenn infolge eines solchen Gedächtnisses die Struktur des Diskurses – nennen wir ihn geistig-politisches Leben oder künstlerische Entwicklung – durch den Wechsel von Affirmation und Negation eines kulturellen Paradigmas gekennzeichnet war. Am Beispiel des für die deutsche und europäische moderne Kulturgeschichte wahrscheinlich wichtigsten Paradigmas, dem klassisch-griechischen, sei dies im Folgenden erklärt. Dabei gehe ich nicht der historischen Frage nach literarischer Kanonbildung überhaupt nach,2 noch der geistesgeschichtlichen Frage nach der Kategorie des Klassischen, deren Teil das griechische Paradigma ist. Es geht vielmehr strikt um die ästhetische und symbolische Struktur eines kulturell verpflichtenden Phantasmas. Nennen wir es nach dem Titel von Friedrich Schillers berühmtem Gedicht Die Götter Griechenlands. Die griechischen Götter haben in der europäischen Literatur, vor allem in der deutschen Geistesgeschichte, bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine dominante Rolle gespielt. Diese Dominanz und ihre kulturpolitischen Implikationen waren auch das Objekt von Edward Saids Kritik am europäischen Orientalismus. Wir sind hier also an einem aktuellen Nerv der Kanondiskussion. Derjenige Denker, der diese Moderne am meisten beeinflusst hat, Friedrich Nietzsche, konzentrierte seine ganze theoretische Phantasie bekanntlich auf einen griechischen Gott, wobei allerdings schon ein Kanonwechsel eintrat: Er tauschte Apollon durch Dionysos aus. Wenn man sich das Paradigma innerhalb des 19. Jahrhunderts näher an­­ sieht, werden zwei Fassungen deutlich: die Fassung seiner klassizistischen Affir­mation im deutschen Idealismus und die Fassung seiner Veränderung durch Nietzsche und dessen moderne Nachfolger, nicht zuletzt in der Literatur der klassischen Moderne, der existentialistischen Philosophie, namentlich Heideggers. Was besagt die Differenz über den Diskurs via Kanon?

2.1. Die klassizistische Affirmation des griechischen Paradigmas Sie zeigt die Erfindung eines Kanons, nicht etwa dessen Wiederholung. Denn das griechische Paradigma war ja als Kanon noch nicht wirklich in Kraft getreten. Allerdings war es vorbereitet in der Ästhetik und bildenden Kunst der Renaissance. Schillers ‘Götter’ im gleichnamigen Gedicht, das ist zu betonen,

2

Vgl. U. Schulz-Buschhaus: Kanonbildung.


Kanon und Invention

13

sind nicht mehr bloß gelehrte Namen der zeitgenössischen Altertumswissenschaft. Sie sind auch keineswegs, wie man denken könnte, bloße Allegorien von Schillers geschichtsphilosophischer Wiedergewinnung des griechischen Ideals bzw. einer anschaulichen Sinnlichkeit durch Reflexion (vgl. Über naive und sentimentalische Dichtung). Vielmehr gewinnt der tragische Mythenkreis (Orestes, Tantalos, die Erinnyen oder Orpheus) schon symbolischen Ausdruck im Unterschied zu Anmut und Grazie des gräzisierenden Göttermotivs in der anakreontischen Lyrik und in der Rokokomalerei. Die entscheidenden Götternamen sind nicht bloß aus rhetorischen Gründen, sondern existentiellen mythologisch umschrieben. Dionysos, dessen Karriere noch bevorsteht, tritt nicht mehr als ‘Bakchos’ auf, sondern als der ‘Große Freudenbringer’ schon im Zeichen des Wortes, mit dem Nietzsche ihn versehen wird, umstellt von authentischen dionysischen Anbetern, dem ‘evoi’ der Thyrsos-Schwinger und ‘rasenden Mänaden’. Das ist aber nur der rhetorische Aspekt im Kontext ­eines seit der Renaissance wiederentdeckten und dort schon zum ästhetischen Vorbild gemachten Motivs, ohne dass man schon von der Einsetzung eines ­Kanons sprechen könnte. Wichtiger aber für die Kanonisierung ist der Sprechaktmodus der Anrufung der Götter als Verschwundene, Wiederersehnte. Die deutsche Identitätsphilosophie hat sich an dieser Anrufung beteiligt, Schelling und Hegel jeder auf seine Weise. Schelling sagt in seiner Philosophie der Kunst (1802, § 29): «Die absolute Realität der Götter folgt unmittelbar aus ihrer absoluten Idealität.» Wenn man die «Bilder des Göttlichen» betrachte, würden sie «real». Künstlerisch herausragend ist Goethes existentielle Referenz an das klassische Paradigma in den Römischen Elegien, der Italienischen Reise und vor allem innerhalb des wiedergewonnenen tragischen Mythos in der Iphigenie auf Tauris. Bei all diesen Varianten steht fest: Das klassische Paradigma, so wie es die Generation von 1800 auffasste, war durch Winckelmanns Beschreibung des ‘Apollon von Belvedere’ geprägt worden: das heißt nicht durch die Kenntnis der härteren Form des Gottes in seiner Gestalt am Westgiebel des Zeustempels von Olympia. Die Götter Griechenlands, vor allem Apollon, wurden also zu Erscheinungen des Schönen und Wahren, wie es von der klassizistischen Ästhetik gedacht worden ist, beeinflusst nachdrücklich von der PlatonLektüre, nicht zuletzt des Phaidros, also abermals der Nachahmung eines Paradigmas, aber aktualisiert im Geiste einer neuen Kunstidee und eines neuen Kunstpathos.


14

Karl Heinz Bohrer

Die originellste Wiederaufnahme des Namens der griechischen Götter geschah in den Hymnen Hölderlins: In der Elegie Brot und Wein und den Hymnen Wie wenn am Feiertage und Patmos verbindet sich der fast konven­tio­nelle klassizistische Anblick weiß zu denkender Tempelsäulen zu Ehren der olympischen Götter bzw. Dionysos oder Christus mit der Evokation ihres ‘Ereignis-Charakters’ als plötzlich erscheinender Modus des Erhabenen, nicht zuletzt des Erhabenen der Dichtung selbst. Und hierin Nietzsches Dionysoserfindung schon vorausahnend: Nämlich im ‘Jetzt’ des jähen Augenblicks erscheint Dionysos buchstäblich und verkündet die Entzündung des kreativen Moments des Dichters. Und im ‘plötzlichen’ Blick des Pfingstgottes, der gleichzeitig noch immer die Regalien der olympischen Götter an sich trägt, ist die Ambivalenz der göttlichen Sphäre bezeichnet, wie sie die berühmten Eingangsstrophen von Patmos ankündigen: «Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.»3 Entscheidend bleibt in Hinsicht auf die semantische Fassung der Charakter des ‘Ereignisses’, der ‘Situation’, einer Handlung.4 Damit nimmt Hölderlin eine Denkfigur der final säkularisierten Moderne vorweg, die an die Stelle des nicht mehr zuhandenen Göttlichen dessen Substitution durch den Gestus ‘jetzt geschieht es’ setzt. Von Heideggers ontischem Zeichen des ‘Jetzt’ über die surrealistische Plötzlichkeitsrede bis hin zu Lyotards Erhabenheitstheorem wird das ersichtlich. Im Unterschied zur englischen Romantik, namentlich den großen mytho­logisierenden Gedichten von Keats und Shelley, treten die Götternamen bei Hölderlin, aber auch bei Schiller, aus dem Artefakt, in dem sie bei den englischen Dichtern eingeschlossen sind, heraus. Sie gewinnen eine aktuelle Substantialität mit stark religiösem oder philosophisch existentiellem Gestus. Hierin unterscheiden sie sich auch von der nachdrücklich ästhetischen Rezeption mytho­logischer Motive in der modernen Literatur und Kunst (etwa im Falle des so zentralen Orpheus-Motivs). Zur Klärung des Status zwischen Affirmation, Veränderung oder Negation des Paradigmas ist allerdings noch eines zu benennen: Wie sah denn das antike Paradigma selbst aus?

3 4

F. Hölderlin: Sämtliche Werke, I 350. Vgl. E. Kosziszky: Mythenfiguren, 112.


Kanon und Invention

15

2.2. Das griechische Paradigma Wir wissen: Winckelmanns ‘Apollo von Belvedere’ war nicht der Python-Töter des Mythos, die klassizistische Version der Götter entsprach der griechischen Klassik nicht, vor allem nicht den literarischen Örtern ihres Aufenthalts. Wer waren die authentischen Götter für die Griechen? Sehr verkürzt gesagt: Die drei wichtigsten literarischen Örter ihrer Erscheinung sind ­Homer, das attische Drama und Pindar. Es zeigt sich dann, dass die Götter partiell schon so verborgen waren, wie Lucien Goldmann es im Falle der Tragödie Racines annahm. Von Homers Göttern sagte man lange, dass sie launisch, verspielt und zuweilen komisch wie die Menschen ihrer Zeit gewesen seien und dass erst die Götter der Tragödie ein enigmatisches Aussehen angenommen hätten. Aber indem man immer mehr auch die tragischen Züge der Ilias, sozusagen einer Ilias als Vorahnung der Tragödie, erkannte, verdunkelte sich auch das Aussehen der homerischen Götter. In einer zentralen signifikanten Episode zeigt sich das. Gleich im Anfang des ersten Gesangs der Ilias erscheint Apollon, der schöne Lieblingsgott der deutschen Klassizisten, als Erwecker einer Seuche, die das Lager der Griechen verheert. Der Grund war, dass der Priester Apollons, von Agamemnon beleidigt und bedroht, den Gott um Hilfe gegen die Griechen anging. Dessen Reaktion zeigt in den Worten des Epos einen Apollon, der z­ ürnend im Herzen den Bogen im Köcher klingen lässt und dessen klirrende Pfeile das Griechenlager erreichen, während er selbst hinschritt: «der Nacht gleich». Hier haben wir das Bild des düsteren Apollon buchstäblich, des «Fernhintreffenden» der Mythologie. Seine Pfeile geben einen «schrecklichen Klang». Die Ausdrucksdifferenz zu Winckelmanns berühmter Beschreibung könnte nicht größer sein, selbst wenn dessen schöner Erhabenheit ein notwendiger Zug von Unmut beigemischt war. Schon die homerischen Helden können sich nicht auf die Götter verlassen. Es sind täuschende Götter, indem sie die Gestalt von Menschen annehmen. Zuweilen kämpfen sie mit der einen oder anderen Seite. Wenn Achill im 22. Gesang vor seinem Zweikampf mit Hektor den ihn wiederum täuschenden Apollo den «verderblichsten ­aller Götter» nennt. In der Tragödie verschärft sich das Bild beim Übergang von der aristokratischen Schamkultur zur neuen Schuldkultur. Im ersten Teil von Aischylos’ Orestie, dem Drama Agamemnon, nähert sich die trojanische Königstochter


16

Karl Heinz Bohrer

und prophetisch begabte Priesterin Kassandra, die Agamemnon als Kriegsbeute von Troja mitgeführt hatte, dem Mordhaus der Atriden voller Erschrecken. Sie ahnt, was im Innern des Hauses vor sich gehen wird: nämlich die Ermordung Agamemnons und ihren eigenen Tod unter der Axt Klytämnestras. Diese prophetische Angst wird eingeleitet durch den dreifach wiederholten Schrei: «Apollon! Apollon!» (V. 1071). Beim dritten Schrei ruft sie: «Apollon! Apollon! Wächter der Wege du, Verderber mir! Verderbst du mich jetzt gänzlich doch zum zweiten Mal» (V. 1089). Aischylos’ Wortwahl «Verderber» spielt mit dem Gleichklang des Worts ‘Apollon’ mit dem griechischen Verb ‘apóllymi’ für ‘verderben’. Entscheidend ist, dass Kassandra ihren Tod als eine Rache Apollons versteht, dem, so der Mythos, sie einst die von ihm gewünschte Liebschaft in Aussicht stellte, aber nicht einging, weshalb er sie zunächst mit der furchtbaren Gabe der Prophetie bestrafte – das erste Verderben, auf das Kassandra anspielt. Als anderes Beispiel des Böses im Schilde führenden Gottes drängt sich die Figur des Dionysos in Euripides’ fünfzig Jahre später geschriebener Tragödie Die Bakchen auf. Auch hier handelt es sich um ein Täuschungsmanöver, das im Unterschied zu den homerischen Beispielen mit aller theatralischen Methodik und Rhetorik entfaltet ist. An der verführerischen, tödlichen Bosheit des Gottes gibt es keinen Zweifel, wenngleich des Dichters Haltung ihm gegenüber ambivalent bleibt: Wie der Apollo, den Kassandra anruft, die Aura des Schreckens verbreitet, so auch der Dionysos gegenüber Pentheus. Die Chöre in Aischylos’ und in Sophokles’ Tragödien huldigen zwar der Allmacht des Zeus, der ohnehin eine Ausnahmestellung unter den olympischen Göttern einnimmt, aber auch er bleibt unergründlich. Ohne hier auf Stellenjagd zu gehen und den einen oder anderen vertrauensvolleren Blick auf die Götter der Tragödie, auf die ihnen zugeschriebene Gerechtigkeit vor allem, zu werfen, ist das Urteil begründet, das sagt, die Götter der attischen Tragödie, nicht zuletzt die Götter des Sophokles, bleiben fern, ihre Entscheidungen unbegreiflich. Die tragischen Helden erleiden ihre Katastrophe, ohne dass es zu einer Aufhebung der Angst im Vertrauen auf ein göttliches Walten käme, weshalb man von einer Religion der Angst gesprochen hat. Und Apollon, der harmonische Beziehungsgott des Klassizismus, ist – wie wir schon ­sahen – auch ein Ausdruck davon. Diesem Befund stehen die Hymnen des konservativen, sein Adelspublikum ansprechenden Pindar gegenüber. Vor allem der Beginn der ersten Pythischen Ode redet von einem Apollo, der nach dem Herzen des deutschen Klassizis-


Kanon und Invention

17

mus gewesen sein muss: nämlich von der «goldenen Leier Apollons» und von «veilchenlockigen Musen wahrhaft rechtmäßigem Besitz». Dies ist das alternative Bild des Paradigmas des Klassizismus: Pindar war deshalb der griechische Lieblingsdichter der deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Hölderlin hat die Erste Pythische Ode übersetzt. Unabhängig von der Frage, in welcher Weise und ob überhaupt die Griechen der klassischen Epoche noch an ihre Mythen, d. h. an ihre Götter glaubten, lässt sich nach dem Gesagten festhalten, dass der idealistische Klassizismus, sei es Schillers Götter Griechenlands, Hölderlins Erhabenheitsrede, Hegels und Schellings Symbolik oder auch Goethes Existentialien, objektiv keine einfache Nachahmung des authentisch klassischen Musters war, das sie als solches partiell nicht wahrnahmen, wie sehr sie es subjektiv auch suchten. Es war vielmehr eine einseitige Anempfindung, wobei verschiedene Einflüsse tätig wurden. Winckelmanns Beschreibung des Apollon von Belvedere und Pindars Evokation des Apollon mit der goldenen Leier stellen jedenfalls Eckpfeiler der klassizistischen Vorstellung dar. Dagegen blieb der homerische und tragische Apollo, der «Fernhintreffende», der Python-Töter, der «Nachtgleiche», der «Verderber», der Vergewaltiger außer Sichtweite. Das ist umso bemerkenswerter, als die Lektüre des Homer und der griechischen Tragiker, wie wir feststellten, zumal seit den Übersetzungen der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts, zum obligatorischen Studium jener literarischen Generation geworden war. Mehr noch: Die Grausamkeit des mythischen Apollo und seiner Schwester Artemis war auch aus den vielgelesenen Metamorphosen Ovids, namentlich die Häutung des Marsyas oder die Zerreißung des Aktaion bekannt. Das bedeutet aber, dass sich die Affirmation eines Ideals selbst schon als eine Innovation herausstellt, deren Charakter und Impuls wir am Ende zu benennen haben.

3. Die moderne Invention: Dionysos und die Folgen Diese Spannung von Paradigma-Affirmation und Paradigma-Bruch wird nun im Falle von Nietzsches Reaktion auf das Motiv der griechischen Götter besonders vielsprechend, ja wir können daraus eine Formel zur Rolle des ­Kanons in der Moderne gewinnen. Jetzt erst tritt die Frage nach der Kanonnachfolge auf. Bekanntlich hat Nietzsche in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der


18

Karl Heinz Bohrer

Musik den klassizistischen Kanon, das Paradigma der olympischen Götter in Gestalt des Apollon, schon dadurch gebrochen, dass er an dessen Stelle Dionysos als die eigentlich die Tragödie bestimmende Gottheit setzte. Allerdings – und das ist entscheidend für das Verhältnis von Invention und dem zum K ­ anon gewordenen Paradigma – verschwindet bei ihm Apollon keineswegs! Er bleibt erhalten und zwar in seiner eminent idealistischen Erscheinungsform: also ebenfalls nicht als der Gewalttätige, Düstere, Fernhintreffende, sondern ausschließlich als der Lichtgott, der den ‘schönen Schein der inneren Phantasie’ repräsentiert, so wie ihn Pindar und die platonische Tradition ­sahen. Zu dieser klassizistischen, von Nietzsche in seiner Selbstkritik benannten Ausgangsdisposition einer kulturkritischen Idee kommt, dass er erkennbare theoretische Impulse von der idealistischen Ästhetik überhaupt nahm. Das gilt schon für das dualistische Schema des Gegensatzes von Apoll und Dio­nysos selbst, dem ja, ganz in idealistischer Denktradition, ein neues Kunstideal entsprechen sollte. Das zeigt sich besonders aber auch in verschiedenen Übernahmen von Kategorien der Ästhetik Friedrich Schillers: expressis verbis die von Nietzsche selbst betonte Anlehnung an Schillers im Vorwort zu seiner Tragödie Die Braut von Messina vorgenommene Deutung des Chors der griechischen Tragödie als ein ideales Forum jenseits eines Realitätsbezugs.5 Ich erwähne noch die Spuren von Schillers Ästhetik, denen man weitere hinzufügen könnte, etwa die Emphasis auf der Vorstellung der ‘Freude’, dem schon genannten Begriff des ‘Scheins’, ja die Idee von einer Ästhetisierung des Daseins überhaupt,6 um die idealistischen Rahmenbedingungen des Bezugs der Tragödien-Schrift auf die griechischen Götter zu unterstreichen. Darin drückt sich Nietzsches generell leitende klassizistische Ansicht von der «innersten Abhängigkeit jeder Kunst von den Griechen» aus.7 Nietzsches Horizont ließe sich auch charakterisieren mit dem kritischen Satz der englischen Literaturwissenschaftlerin Eliza Marian Butler von 1935: The tyranny of Greece over Germany. Nun liegt es nahe, unsere Frage nach der Invention, der Veränderung des ­Kanons, einfach im Verweis auf die Erfindung der Figur des Dionysos zu beantworten. Genauer gesagt: mit dem Hinweis auf die ihm zugeschriebenen spezifischen Eigenschaften des Schreckens, des Modus der Plötzlichkeit 7 5 6

F. Nietzsche: Sämtliche Werke, I 54. Vgl. V. Gerhardt: Von der ästhetischen Metaphysik, 376-377. F. Nietzsche: Sämtliche Werke, I 97.


Kanon und Invention

19

und der Aufhebung des Bewusstseins. Das sind tatsächlich Eigenschaften, die dem klassizistischen Bild des Apollon widersprechen. Was die eigentliche Tragödientheorie anbelangt, wäre diesen dionysischen Bedingungen Nietzsches antiaristotelische These vom Pathos hinzuzufügen: dass Pathos, nicht Handlung die Essenz der Tragödie ausmache. Das Pathos kommt nach Nietzsche durch einen musikalisch-lyrischen Effekt der tragischen Rede zustande, indem sich noch einmal der Hass-Schrei des Lyrikers Archilochos ausdrücke.8 Nun könnte man meinen, die Invention bestünde in einer einfachen Umkehrung des apollinischen Musters. Statt der Lyra des Apollon die Flöte des Dionysos, des Herrn des Marsyas, an dem sich Apollo blutig rächte. Wenn es sich so verhielte, dann bliebe die Invention letztlich noch immer diktiert vom Paradigma. Vielleicht wird sich dies am Ende bestätigen. Aber der Sachverhalt ist komplizierter. Für unsere Frage ist – unabhängig von Wilamowitz’ vernichtendem Urteil – folgendes von besonderem Interesse: Indem Nietzsche das klassizistische Modell zugunsten des Dionysischen zwar nicht zum Verschwinden brachte, es aber für die Tragödie als Kunstform relativierte, hielt er dennoch an einer zentralen Kategorie des Apollinischen fest, die er umdeutete: der des ‘Scheins’. Apollo war schon in Platons Gesetzen der Gott des Lichtscheins, des Lichts und des rechten Maßes genannt worden, aber mitnichten der Gott des schönen Scheins. Die Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes ‘Schein’ ausnutzend, hypostasierte Nietzsche den Gott aber eben dazu. Und: Einmal den Schein als Wort für die äußere Verdeckung eines verborgenen Inneren ausnutzend, verband er ihn mit dem Begriff der Maske, der ‘Maske des Dionysos’, des eigentlichen Bühnenhelden, der hinter der dramatischen Figur stehe. Alle tragischen Helden seien nur ‘Masken des Dionysos’. Das war der antinaturalistischen Pointe der ganzen Tragödien-Schrift geschuldet: Es gehe nämlich nicht um die Darstellung subjektiver Schicksale, sondern um die Darstellung des Mythos selbst. Mit dem Begriff der ‘Maske’ war also eine Kategorie angesagt, die in heimlicher Beziehung zum Zentralbegriff der Tragödien-Schrift, dem des ursprünglich apollinisch kodierten Begriffs des ‘Scheins’ stand. ‘Schein’ hieß in der Tragödien-Schrift nicht bloß der ‘schöne Schein des Apollon’, sondern gleichzeitig die Verhüllung des ‘Untergrunds des Leidens’, den die dionysische Erfahrung

8

Ebd., 43.


20

Karl Heinz Bohrer

aufdeckte. Dieses Verhüllungsbewusstsein hat Nietzsche auf der letzten Seite von Die fröhliche Wissenschaft als ein neues Ethos modifiziert, wenn er schrieb: «Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf zu leben: dazu thut noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehenzubleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olympus des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!»9 Wir sehen: Oberfläche, Falte, Schein, und wir können das Wort ‘Maske’ hinzufügen, sind – aus dem engeren Argumentationskontext der Tragödiendefinition entlassen – zu Begründungsvokabeln der tragischen Weltauffassung geworden. Daran wird nun eine originellere Wendung der dionysischen Veränderung des apollinischen Paradigmas erkennbar: Diesem wird nicht mehr qua Dichotymie symmetrisch widersprochen, sondern die Veränderung wird in das Paradigma selbst verlegt. Nunmehr verwendet Nietzsche den apollinischen Formbegriff selbst, um das dionysische Bewusstsein zu intensivieren bzw. ihm eine heroische Volte abzugewinnen. Theoretisch ist Nietzsche in der Folgezeit, nachdem er die Tragödien-Schrift einer Selbstkritik unterzogen hatte, noch weiter gegangen, indem er die Begriffe von ‘Oberfläche’ und ‘Schein’ zu der Theorie einer der Moderne auferlegten Epigonalität verwandelte. Im Aphorismus von Menschliches, Allzumensch­ liches (1878) namens «Revolution in der Poesie» charakterisiert ­Nietzsche Goethes späten, der Spätzeit der Kunst gedenkenden Stil mit dem gleichen Begriff der ‘Maske’, der in der Tragödien-Schrift zur Kennzeichnung des tragischen Helden und in der Fröhlichen Wissenschaft zur Kennzeichnung des griechischen Abgrundbewusstseins benutzt wurde, nunmehr aber als ästhetische Kategorie von diesen Kontexten abgelöst und als Paradigma eines symbolistischen Stils gegen die naturalistisch-realistischen Tendenzen der Gegenwartskunst gesetzt. Diese Erklärung lautet: «Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Lokalfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht».10 Es gehe darum, «keine neuen Stoffe und Charaktere» zu finden, sondern «die alten, längst gewohnten in immer fortwährender

F. Nietzsche: Sämtliche Werke, III 352. F. Nietzsche: Sämtliche Werke, II 184.

9 10


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.