Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust

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Sara Janner

Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust

Band 184

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Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust

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Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft

I S B N 978-3-7965-2774-6

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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Sara Janner Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust

Sara Janner studierte Geschichte, Philosophie, italienische Literaturwissenschaft, Paläographie und Archivistik in Basel und Florenz und arbeitet seit 1993 als freie Historikerin, Archivarin und Handschriftenbearbeiterin. Sie veröffentlichte verschiedene Arbeiten zur sozialen und religiösen Geschichte Basels sowie zu kulturgeschichtlichen Aspekten der Basler Sammlungen und Archive im 19. Jahrhundert. 2007 promovierte sie mit dieser Arbeit im Fach Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel.

Zur Funktion von Religion und Kirchlichkeit in Politik und Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums im Basel des 19. Jahrhunderts

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Während des 19. Jahrhunderts spielten im Selbstverständnis des Basler Stadtbürgertums Kirche und Religion eine zentrale Rolle. Kirchliche Bindungen strukturierten die Organisation der Stadtbürgerschaft, religiöse Werte und Vorstellungen prägten die Auseinandersetzung mit der wachsenden, nicht zur Bürgergemeinde gehörenden Einwohnerschaft Basels. Die Studie untersucht anhand des Vereins der Freunde Israels die soziale und politische Funktion der missionarischen Tätigkeit des «pietistischen» konservativen Bürgertums und rekonstruiert verschiedene Phasen eines sozialen und politischen Differenzierungsprozesses innerhalb des Stadtbürgertums. Sie gelangt nicht nur zu einem differenzierten Bild des sogenannten «frommen Basel», sondern weist auch nach, wie sehr unser Bild des «alten» Basel heute von der Ende des 19. Jahrhunderts geschaffenen Überlieferungslage und den darauf fussenden historiographischen Traditionen geprägt ist.

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Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft Band 184

Begründet von E. Bonjour, W. Kaegi und F. Staehelin

Weitergeführt von F. Graus, H.R. Guggisberg, H. Haumann, G. Kreis, H. Lüthy, M. Mattmüller, W. Meyer, J. Mooser, M. Schaffner und R. Wecker

Herausgegeben von C. Arni, S. Burghartz, K. von Greyerz, M. Lengwiler, A. von Müller, C. Opitz-Belakhal und F.B. Schenk


Sara Janner

Zwischen Machtanspruch und ­Autoritätsverlust Zur Funktion von Religion und Kirchlichkeit in Politik und Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums im ­Basel des 19. Jahrhunderts

Schwabe Verlag Basel


Die Abbildung auf dem Umschlag zeigt die Rückseite einer vom Verein der Freunde Israels herausgegebenen Broschüre mit Illustration zu Jesaia 2, 2–3: «Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem.»

© 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2774-6 www.schwabe.ch


Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Forschungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Fragestellung und Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Konzepte und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Stadtbürgerschaft, Stadtbürgertum, altes und neues Bürgertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Kirchlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 c) «Herren» und «Handwerker» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 d) «Altgesinnt», konservativ, «liberal» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 e) Pietistisch, Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Kapitel I: Geschichtsbilder und historiographische Traditionen und ihr Abbild in der Überlieferungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Das Archiv des Vereins der Freunde Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Soziale und religiöse Funktion der Selbstdokumentation . . . . . . . . . 40 3. Veränderungen in der Selbstdarstellung religiös-konservativer Kreise im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Überlieferungslage und Geschichtsbild des alten Bürgertums . . . . . 51 5. Das sogenannte «fromme Basel»: Zur Entstehungsgeschichte eines historiographischen Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Kapitel II: Stadtbürgerschaft und altes Bürgertum zwischen 1803 und 1889 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Der Abschliessungsprozess der «altgesinnten» Stadtbürgerschaft auf kommunaler Ebene nach 1803 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Entstehung und Funktion des sogenannten institutionellen «Parallelismus» der kommunalen und kantonalen Behörden nach 1803 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Die Entwicklung der Stadtgemeinde zwischen 1803 und 1847/48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2. Stadtgemeinde, Kantonsregierung und Zünfte zwischen 1803 und 1831 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88


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Inhalt

a) Die Verklammerung von Zunftzwang und kantonalem ­ W ahlsystem zwischen 1803 und 1814 und deren politische Funktion bis 1831 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) «Die Herren»: Grosskaufleute, Fabrikanten- und ­Unter­nehmerkreise nach 1803 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 c) Angriff und Parade: Johann Jakob Vest-Müllers ­ V erteidigung der Zunftordnung 1822 und 1823 gegen ­Christoph Bernoulli-Paravicini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Die «Liberalen» und die «Dreissiger Wirren» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 a) Städtische Reformbemühungen und die «Liberalen» zwischen 1822 und 1831 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Der Abschliessungsprozess innerhalb der Basler ­Stadtbürgerschaft zwischen 1827 und 1833 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Die Rückwirkungen der «Dreissiger Wirren» auf Politik und Selbstbild der «Liberalen» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d) Der Rückzug des konservativen alten Bürgertums in die kommunale Politik und auf sich selbst nach 1831 . . . . . . . . . . . . . 149 4. Kantonsregierung, Stadtgemeinde und Zünfte nach der Kantonstrennung zwischen 1833 und 1884 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Stadtgemeinde und Kantonsregierung zwischen 1833 und 1878 . . 152 b) Wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung der Zünfte zwischen 1833 und 1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Kapitel III: Kirche, Kirchgemeinden und religiöse Vereine zwischen 1803 und 1889 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Kirchenverständnis und Kirchenpolitik des alten ­Bürgertums zwischen 1803 und 1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Religionspolitik des alten Bürgertums: Zum Umgang mit nichtreformierten religiösen Minderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Konfessionelle Ausgrenzung, Assimilationsdruck und ­Mission ­zwischen 1803 und 1889 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Katholiken in Basel zwischen 1794 und 1884 . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 c) Juden in Basel zwischen 1798 und 1893 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Religiöse Vereine, Gesellschaften und Anstalten in Basel zwischen 1801 und 1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 a) Zur sozialen und politischen Funktion religiöser, von der Stadtbürgerschaft getragener Vereine und Gesellschaften . . . . . . 221 b) Zur quantitativen Entwicklung kirchlicher und ausserkirchlicher Vereine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 226


Inhalt

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c) Die kirchlichen Vereine, Gesellschaften und Anstalten Basels im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 d) Ausserkirchliche Vereine, Gesellschaften und Anstalten zwischen 1801 und 1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 e) Brüdersozietät, Predigerkonferenz und die sogenannten «Exulanten» zwischen 1785 und 1869 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Kapitel IV: Der Verein der Freunde Israels 1830–1894 . . . . . . . . . . . . . 295 1. Personelle und organisatorische Entwicklung des Vereins von 1830 bis zur Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 a) Politisch-religiöser Hintergrund und soziokulturelles ­Umfeld bei der Vereinsgründung 1830/31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Die Judenmission in Basel und am Oberrhein um 1830 . . . . . . . . . 295 Das soziale und religiöse Umfeld der Gründergruppe . . . . . . . . . . 302 Das ursprüngliche Arbeits- und Organisationskonzept . . . . . . . . . 306 b) Arbeitsgebiete, Organisation und Entwicklungsphasen des Vereins zwischen 1831 und 1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Arbeitsgebiete und Entwicklungsphasen zwischen 1831 und 1890 . 322 Organisation des Vereins zwischen 1831 und 1894 . . . . . . . . . . . . . 327 c) Personelle Entwicklung des Vereins zwischen 1831 und 1900 . . . 358 Zusammensetzung und Entwicklung des leitenden M ­ ännerkomitees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Frauen und ihre Funktion im Verein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Stellung und Funktion der angestellten Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . 379 d) Finanzen des Vereins zwischen 1831 und 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Zur Quellenlage: Die Jahresbilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Finanzen und Finanzierung der Vereinstätigkeit zwischen 1831 und 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 2. Geographisches Einzugsgebiet und ­überregionale ­Beziehungsnetze des Vereins zwischen 1830 und der ­Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 a) Strukturierung des geographischen Einzugsgebiets . . . . . . . . . . . . 408 b) Missionsgebiete zwischen 1831 und der Jahrhundert­wende . . . . . 412 c) Beziehungs- und Kommunikationsnetze des Vereins ausserhalb Basels zwischen 1830 und der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . 425 Die Reisetätigkeit von Carl Brenner-Sulger zwischen 1833 und 1838 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Das Korrespondentennetz von Eduard Bernoulli(-Brenner)-Barth ­zwischen 1839 und 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445


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Inhalt

Kontakte und Verbindungen von Friedrich Karl Heman-Blaul zwischen 1874 und 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 d) Konversionswillige Juden und Konvertiten im Beziehungsund Kommunikationsnetz des Vereins zwischen 1830 und der ­Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 3. Das Beziehungs- und Unterstützungsnetz des Vereins in Basel zwischen 1830 und der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 a) Die Entwicklung der «Proselytenpflege» des Vereins in der Stadt Basel zwischen 1830 und der ­Jahrhundertwende . . . . . . . . . 466 b) Das Beziehungs- und Unterstützungsnetz des Vereins in ­Basel zwischen 1830 und 1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 4. Die geschichtstheologische Dimension der Vereinstätigkeit . . . . . . . 497 Kapitel V: Religion und Kirchlichkeit von Stadtbürgerschaft und altem Bürgertum im Basel des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 1. Der soziale, politische und religiöse ­Differenzierungsprozess innerhalb von Stadtbürgerschaft und altem Bürgertum im Spiegel der Entwicklung des Vereins der Freunde Israels . . . . . . . 507 2. Entstehung und Entwicklung der Kirchlichkeit von Stadtbürger­schaft und altem Bürgertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 3. Politische Funktion der Missionstätigkeit des religiös-­ konservativen Stadtbürgertums nach 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 4. Geschichtsbild und Geschichtstheologie des konservativen und religiös-konservativen alten Bürgertums nach 1850 . . . . . . . . . . . . . . 527 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Mitgliederentwicklung der Brüdersozietät Basel Anhang 1: 1782–1915 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Anhang 2: Amtsdauer der Komiteemitglieder und biographische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Anhang 3: Entwicklung von Einnahmen, Ausgaben und ­Umsatz des Vereins 1830–1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Anhang 4: Entwicklung der verschiedenen Einnahmeposten 1832–1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 Anhang 5: Entwicklung verschiedener Ausgabenposten 1832–1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Anhang 6: Herkunft und Umfang der Spendenposten aus Basel im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Anhang 7: Übersicht über die Spenden aus dem Ausland . . . . . . . . . . . 553


Inhalt

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Bibliographie der zitierten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Verzeichnis der Abbildungen, Grafiken und Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . 583 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587



Dank

Durch Dr. Ina Willi-Plein erfuhr ich 1993 von der Existenz des Archivs des Vereins der Freunde Israels, und Dr. Thomas Willi-Plein, der damalige Leiter der Stiftung für Kirche und Judentum, unterstützte mich in meinen Bemühungen, das historische Vereinsarchiv für die wissenschaftliche Forschung zu sichern und öffentlich zugänglich zu machen. Während der Erschliessung dieses Vereinsarchivs entstanden die Fragestellungen, die der vorliegenden Studie zu Grunde liegen. Der Stiftungsrat der Stiftung für Kirche und Judentum ermöglichte meine Forschungen, indem er mir uneingeschränkten Zugang zum Archiv erlaubte. Prof. Dr. Josef Mooser übernahm die wissenschaftliche Betreuung im Jahre 1998 und beobachtete mit viel Interesse die Fortschritte der Arbeit bis zu meiner Promotion im Jahre 2007. Ich möchte ihm an dieser Stelle für das Verständnis und die Geduld danken, mit denen er mich durch ­einige schwierige Jahre begleitet hat. Mehrere Augenoperationen und die nach 2001 eingeschränkte Arbeitsfähigkeit erschwerten Fortsetzung und Abschluss meiner wissenschaftlichen Arbeit. Ohne die finanzielle Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft, der Max Geldner-Stiftung und der Dr. H. A. Vögelin-Bienz-Stiftung wäre es mir nicht möglich gewesen, die finanziellen Schwierigkeiten dieser Jahre zu meistern und meine wissenschaftlichen Forschungen zu einem glücklichen Abschluss zu bringen. Den Verwaltern der Stiftungen und den Professoren Andreas S­taehelin (†) und Josef Mooser, die als Gutachter meine Gesuche 1996, 1998 und 2004 unterstützten, sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Wichtige wissenschaftliche Anregungen und Hinweise verdanke ich Dr. Ueli Barth, Dr. Susanne Bennewitz, Dr. Franz Egger, Dr. Dieter Gembicki, Dr. Daniel Gerson, Dr. Katja Guth-Dreyfus, Dr. Hans Hauzenberger, Dr. Robert Labhardt, Dr. René Lorenceau, Dr. Nikolaus Meier, Dr. Friedrich Meyer-Wilhelm, Prof. Jon Miller, Dr. Michael Raith (†), Dr. Hans Reichrath (†), Dr. Dorothea Roth (†), Prof. Dr. Martin Sallmann, PD Dr. Claudius Sieber-Lehmann, Prof. Dr. Christian Simon, Dr. Ulrike Sill und Prof. Dr. Andreas Staehelin (†). Mein besonderer Dank gilt Dr. Heidrun Homburg, die mir die Forschungen von Gisela Mettele noch vor Drucklegung zugänglich machte, sowie Prof. Andreas Gestrich und Prof. Lutz Raffael, die mir die Präsentation meines Forschungsprojekts an der Universität Trier und die Teilnahme an einem Forschungskolloquium in Halle und


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Dank

somit Zugang zu internationalen Diskussionen ermöglichten. Den Küchentischgesprächen an der Gotthardstrasse verdanke ich unzählige Anregungen und produktive Ablenkungen. Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeitern der verschiedenen Archive, Bibliotheken und Sammlungen: Cécile Affolter, Andreas Barth, Daniel Kress und Dieter Leu vom Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt; Hartmut Haas und Volker Schulz, Vorsteher der Brüdersozietät Basel, die mir in sehr liberaler Weise das Zentralarchiv der schweizerischen Sozietäten und die Archivbibliothek zugänglich machten und den Kontakt zum Unitätsarchiv in Herrnhut vermittelten; Dr. Rüdiger Kröger, Leiter des Unitätsarchivs; Ruedi Buess, Barbara Frey, Waltraut Haas und Paul Jenkins, die mich bei meinen Recherchen in Archiv und Bibliothek der Basler Mission unterstützten, sowie Dr. Franz Gschwind und Dominik Hunger von der Universitätsbibliothek Basel. Basel, im Dezember 2011


Einleitung

1. Forschungsinteresse Während des 19. Jahrhunderts spielten Kirche und Religion im Selbstverständnis der Basler Stadtbürgerschaft1 und des Basler Stadtbürgertums, das ich im Folgenden auch als altes Bürgertum bezeichnen werde,2 eine zentrale Rolle. Kirchliche Bindungen strukturierten die körperschaftliche Organisation der Stadtbürgerschaft. Religiöse Werte und Vorstellungen prägten das soziale und politische Selbstverständnis des regierenden alten Bürgertums. Die Auflösung der körperschaftlichen Organisation der Basler Stadtbürgerschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie der Macht- und Autoritätsverlust des konservativen alten Bürgertums während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten nicht nur die Gruppenidentität der Stadtbürgerschaft und das Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums grundlegend in Frage, dieser Vorgang spiegelte auch die sich verändernde soziale und politische Funktion von Kirche und Religion in der städtischen Gesellschaft Basels. Von den konservativen Stadtbürgern wurde dieser Veränderungsprozess als bedrohlicher und kränkender Zerfallsprozess der eigenen Lebenswelt und der sozialen Ordnung wahrgenommen. Praktisch stellte sich dem regierenden Stadtbürgertum das Problem, das eigene Selbstbild dem sich verändernden sozialen und politischen Umfeld anzupassen, ohne die gruppenspezifischen, identitätsstiftenden Wertvorstellungen aufzugeben. Während in der deutschen sozialgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Stadt- und Bürgertumsforschung seit den 1980er Jahren ein wachsendes Interesse an religionsgeschichtlichen Fragestellungen festzustellen ist und diese Fragestellungen heute zu einem festen Bestandteil der Bürgertumsforschung geworden sind, wird dieser Gesichtspunkt in grundlegenden Arbeiten, die sich mit der Entwicklung des Bürgertums in den reformierten Städten der deutschen Schweiz beschäftigen, nicht berücksichtigt. Die Durchsicht der heute noch grundlegenden Untersuchungen von Philipp Sarasin von 1990 und 1997 und von Albert Tanner von 1995 macht dies schnell 1 2

Im Sinne der Gesamtheit aller Stadtbürger, d.h. Basler Gemeindebürger. Als Basler Stadtbürgertum oder altes Bürgertum bezeichne ich die politische, kulturelle und ökonomische Elite der Stadtbürgerschaft.


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Einleitung

klar. Ein Forschungsvorhaben von Rudolf Braun aus dem Jahre 1980 «Das fromme Basel – Süddeutscher Pietismus im 19. Jahrhundert in seiner Rezeption in der Basler Oberschicht», das Fragestellungen der bahnbrechenden, 1969 erschienenen Arbeit von Hartmut Lehmann aufnahm,3 kam offenbar nie über das Projektstadium hinaus.4 Auch die für meine Arbeit wichtige, von Lothar Gall in die Bürgertumsforschung eingebrachte Unterscheidung zwischen altem und neuem Bürgertum5 hat in der schweizerischen Bürgertumsforschung erst in den letzten Jahren Nachhall gefunden, da die Elitenbildung im entstehenden schweizerischen Nationalstaat nach 1830 bzw. nach 1848 lange im Zentrum der Forschung stand. Sarasin beschreibt Vertreter des alten Bürgertums als Teil des «Grossbürgertums» und der «städtischen Oberschicht», die sich dank Vermögen und Macht den Zugang zu den «neuen Eliten» erhalten konnten,6 Tanner die «Verbürgerlichung» des «städtischen Bürgertums», d.h. den sozialen Annäherungsprozess von Teilen des alten Bürgertums an das neue Bürgertum zwischen 1830 und 1914. Der für das Verständnis der Beziehung zwischen altem und neuem Bürgertum relevante Zeitraum, die Jahre zwischen 1780 und 1850, rückt dadurch sowohl bei Sarasin als bei Tanner in den Hintergrund. Das stark in den kommunalen Strukturen verwurzelte alte Bürgertum, soweit es nicht zur nationalen wirtschaftlichen und politischen Führungsschicht gehört, verschwindet aus dem Blickfeld, auch wenn die Forschungen von Sarasin und Tanner letztlich auf der Untersuchung des alten Bürgertums einzelner grosser Schweizer Städte beruhen. Sozialgeschichtliche, rechtshistorische und politikwissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich in den letzten Jahren vermehrt mit dem alten Bürgertum in der Schweiz. Gerade auf dem Gebiet stadtgeschichtlicher Untersuchungen lässt sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Bedeutung des Gemeindebürgerrechts, mit städtischen Korporationen und mit der Entwicklung der kommunalen Organisation ausmachen. Aber auch diese Forschungen setzen sich nicht systematisch 3 4 5

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Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung, 1969. Eine Kopie der Projektskizze wurde mir freundlicherweise von Erika Hebeisen zur Verfügung gestellt. Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, sowie ders., Stadt und Bürgertum im Übergang. Innerhalb der deutschen Bürgertums- und Stadtgeschichtsforschung kommen die von der Forschergruppe um Lothar Gall herausgegebenen Monographien zu einzelnen deutschen Städten dem lokalgeschichtlichen Ansatz meiner Studie am nächsten (Reihe: Stadt und Bürgertum, hg. von Lothar Gall). Sarasin, Stadt der Bürger 1990, beschäftigt sich in der ersten Fassung mit dem Zeitraum 1870–1900, in der überarbeiteten Fassung von 1997 mit den Jahren 1846–1914.


1. Forschungsinteresse

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mit der sozialen und politischen Funktion von Kirche und Religion auseinander. Katrin Rieder, die Forschungen von Albert Tanner zum Berner Bürgertum vertieft und 2008 die bisher umfassendste Sozialgeschichte einer Schweizer Bürgergemeinde und ihrer Bürgerschaft vorgelegt hat, äussert sich zwar präzise, aber nur kurz und am Rande zu Religiosität und Kirchenverständnis des Berner alten Bürgertums und dessen sozialer und politischer Funktion in den «Netzwerken des Konservatismus». Nur eine 2002 erschienene politikwissenschaftliche Arbeit von Barbara Weinmann schliesst in ihrer Untersuchung des sogenannten «Züriputsches» von 1839 auch religiöse Aspekte in ihre Analyse der Ereignisse mit ein. Für Basel gab Markus Mattmüller erste Anstösse zu religionsgeschichtlichen Forschungen in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Er beschäftigte sich im Rahmen der von ihm geleiteten Briefedition von Leonhard Ragaz mit Fragen der Kirchen- und Religionsgeschichte Basels. Mattmüller entdeckte Quellen religiöser Vereinigungen als Quellen für die Basler Sozialgeschichte: Er regte die Studie von Martin Schaffner zum Leben der Basler Arbeiterbevölkerung an, die auf dem Archiv der Evangelischen Gesellschaft für Stadtmission aufbaut.7 Eingehender wurden religionsgeschichtliche Aspekte der Basler Stadtgeschichte des 19. Jahrhunderts erst seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Arbeitskreisen diskutiert, wobei die Erforschung pietistischer Gruppen und Bewegungen im Vordergrund stand.8 Wichtige Anstösse gingen seit 1993 von einer interdisziplinären kirchengeschichtlich-historischen Arbeitsgruppe unter Leitung von Ulrich Gäbler und Joseph Mooser aus.9 Unabhängig davon beschäftigte sich ein von Claudia Opitz-Belakhal geleiteter, mehr geschlechter- und kulturgeschichtlicher Arbeitskreis zur Geschichte der frühen Neuzeit mit der religiösen Geschichte Basels.10 Daneben förderte die Leitung

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StABS PA 771. In dieser Arbeit werden alle zeitgenössischen Amtstitel, juristische Fachausdrücke, Gesellschafts-, Vereins- und Anstaltsnamen kursiv geschrieben. Das Erscheinen der zwischen 1993 und 2004 von einem internationalen Autorenteam bearbeiteten «Geschichte des Pietismus» regte Forschungen und wissenschaftliche Debatten zu diesem Thema an. Die Ergebnisse wurden anlässlich einer Tagung vom 19. bis 20. November 1999 auf St. Chrischona bei Basel präsentiert, vgl. Thomas K. Kuhn und Martin Sallmann (Hg.), Das «Fromme Basel». In diesem Umfeld entstanden die Arbeiten von Hauzenberger, Hirzel-Strasky, Thomas K. Kuhn und Ramstein. In diesem Umfeld entstanden die Beiträge von Hebeisen zur Sozietätenbildung und Vergesellschaftung der Spätpietisten und der Erweckung in Basel sowie der Rolle der Frauen in den pietistischen Bewegungen des 18. Jahrhunderts.


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Einleitung

des Archivs der Mission 2111 Forschungen auf der Grundlage der hauseigenen Überlieferung.12 Die Vorbereitung der Publikationen zum 200-jährigen Jubiläum der Basler Bibelgesellschaft im Jahr 2004 regten im kirchlichen Bereich eine vertiefte Auseinandersetzung mit der religiösen Geschichte Basels im 19. Jahrhundert an.13 Wichtige Hinweise zur reformierten und katholischen Religions- und Kirchengeschichte finden sich in den von der Neujahrsblatt-Kommission der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige herausgegebenen Parteigeschichten der Liberal-Konservativen Partei und der Katholischen Volkspartei.14 Heiko Haumann vom Historischen Seminar der Universität Basel sowie Jacques Picard vom Institut für Jüdische Studien förderten systematische Untersuchungen zur Geschichte der Juden und der jüdischen Gemeinden in und um Basel.15 Susanne Bennewitz stellt in ihrer 2008 erschienenen Studie zu Migration und Alltag der jüdischen Gemeinde in Basel erstmals einen systematischen Zusammenhang her zwischen der vom alten Bürgertum dominierten kommunalen Politik, den Wirtschaftsinteressen der Stadtbürger und ihrer judenfeindlichen Kirchen- und Religionspolitik.16 Ein Gesamtbild des religiösen Lebens in Basel während des 19. Jahrhunderts lässt sich anhand dieser neueren Arbeiten allerdings nicht gewinnen. Dies gilt vor allem für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieser Befund ist für Basel umso erstaunlicher, als Vertreter der religiöskonservativen Stadtbürgerschaft sich zwischen 1798 und 1889 nicht nur in den kommunalen und kantonalen Verwaltungs- und Regierungsorganen finden; religiös-konservative Stadtbürger dominierten auch viele der vom konservativen alten Bürgertum getragenen religiösen Vereine und pietistisch geprägten Bewegungen, die sich im 19. Jahrhundert in Basel nachweisen lassen.17 11 12 13 14 15

16 17

Neuer Name der Evangelischen Missionsgesellschaft Basel. Vgl. Dagmar Konrad, Jon Miller, Prodolliet, Waldburger. Vgl. Hauzenberger, Basel, sowie Friedrich Meyer. Vgl. Roth, Liberal-Konservative; Meier-Kern, Isolation und Integration. Für einen Forschungsüberblick vor 2004 vgl. Haumann, Von der Gründung. Der neueste Stand der Forschung für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1866 in den Publikationen von Susanne Bennewitz. Forschungslücken bestehen noch für den Zeitraum zwischen 1866 und 1918. Bennewitz, Basler Juden – Französische Bürger, speziell S. 104–116. Der Begriff religiös-konservativ bezeichnet im Folgenden nicht nur die von einer pie­ tistischen Frömmigkeit geprägten konservativen Stadtbürger, sondern auch diejenigen konservativen Stadtbürger, die am Bekenntniszwang in der reformierten Kirche festhielten. Der Begriff religiös-konservativ erscheint mir aus sozial- und religionsgeschichtlicher Perspektive neutraler als der von Paul Burckhardt für diese Gruppen des Stadtbürgertums verwendete Begriff «christlich-konservativ», vgl. Burckhardt, Geschichte Basel Gegenwart, S. 290.


1. Forschungsinteresse

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In der lokalgeschichtlichen Forschung wird der Einfluss dieser kleinen religiös-konservativen Minderheit innerhalb der Stadtbürgerschaft und der Einwohnerschaft Basels in Regierung, Verwaltung und Kirche immer wieder hervorgehoben, aber nie konkretisiert. Das städtische soziale und politische Beziehungsnetz der religiös-konservativen Kreise Basels ist weitgehend unerforscht. Es wurde bisher kaum versucht, systematisch personelle Bezüge herzustellen zwischen den vom religiös-konservativen alten Bürgertum getragenen Vereinen und dem sozialen, kulturellen und politischen Umfeld, in dem diese Organisationen und ihre Träger in der städtischen Gesellschaft Basels während des 19. Jahrhunderts operierten. Auch neuere Untersuchungen wie die Arbeiten von Jon Miller, von Christoph Ramstein und von Carolina Hirzel-Strasky beschäftigen sich in erster Linie mit der inneren Entwicklung und Organisation der untersuchten Vereine und Anstalten, nicht mit deren Bezügen zur städtischen Gesellschaft.18 Die sozialen und politischen Mechanismen, die dieser Minderheit eine direkte oder indirekte Einflussnahme auf die städtische und kantonale Politik ermöglichten, und das genaue Ausmass dieser Einflussnahme wurden bisher nicht geklärt. Auch die aus der älteren Stadt- und Kirchengeschichte stammende Identifikation des «Ratsherrenregiments» mit dem sogenannten «frommen Basel» wurde nie kritisch hinterfragt,19 da bisher zu wenig zwischen der strengen, strikt auf die Bürgergemeinde beschränkten Kirchlichkeit des konservativen alten Bürgertums und der Kirchlichkeit des religiös-konservativen alten Bürgertums unterschieden wurde. Die Kirchlichkeit des religiös-konservativen alten Bürgertums erhielt nämlich durch die ausserkirchliche Gemeinschaftsbildung und durch die weit über die Stadt hinausgreifende Missionstätigkeit eine gewisse Offenheit, ohne dass dadurch jedoch die enge Bindung an die Bürgergemeinde und der exklusive Charakter der Kirchlichkeit in Frage gestellt worden wären. Die Lücken in der religions- und kirchengeschichtlichen Forschung zum 19. Jahrhundert erlauben es nicht, Umfang und Tätigkeit der religiös-konservativen Kreise in Relation zu setzen zum allgemeinen religiösen Leben 18 19

Die Arbeiten von Ramstein und Hirzel-Strasky enthalten aber wichtige Hinweise zum weiteren sozialen Umfeld der Predigerschule. Die Wortfolge «frommes Basel» findet sich in Paul Burckhardt, Geschichte Basel Gegenwart, an mehreren Stellen und dient dem Autor als Oberbegriff für seine Charakterisierung der gruppenspezifischen kirchlichen und religiösen Haltung des konservativen Stadtbürgertums in der Zeit des «Ratsherrenregiments». Ich selbst vermeide diesen Begriff und verwende diese Wortfolge in der vorliegenden Studie ausschliesslich für das von Burckhardt so bezeichnete historiographische Konzept.


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der Stadt, von dem man sich besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein zusammenhängendes Gesamtbild machen kann.20 So fehlen eine Aufarbeitung der personellen, institutionellen und theologischen Entwicklung der reformierten Staatskirche, eine Geschichte der französischen (calvinistischen) Kirche – nota bene der ältesten Basler Freikirche21 – sowie der für das Verständnis der Basler Kirchenpolitik wichtigen christkatholischen Kirche und der zahlreichen Freikirchen, zu denen während des 19. Jahrhunderts auch die römisch-katholische Gemeinde Basels zu rechnen ist. Eine Darstellung der Kirchen- und Religionspolitik des Basler Stadtbürgertums während des 18. und 19. Jahrhunderts bis zur «hinkenden Trennung» von Kirche und Staat im Jahre 1910 wurde bisher ebenfalls nicht versucht, wie auch religiöse Geschichte und politische Geschichte Basels bisher nicht in systematischer Weise aufeinander bezogen wurden. Irritierend sind in der lokalen Kirchengeschichtsforschung besonders die Vernachlässigung der Basler Bibelgesellschaft und die systematische Ausblendung der wichtigen Rolle der Herrnhuter Brüdersozietät in der Kirche und in den religiösen aus­ serkirchlichen Bewegungen während des 18. und 19. Jahrhunderts, während die Bedeutung der Deutschen Christentumsgesellschaft verhältnismässig überbetont wird, was sich aufgrund der erhaltenen Quellen in keiner Weise rechtfertigen lässt: Spätestens seit den dreissiger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich die Christentumsgesellschaft auf eine lokale Kommission reduziert, die das Gesellschaftsvermögen verwaltete. Auch der Einfluss der Allianzbewegung in Basel seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts sowie Entstehung und Entwicklung der Heiligungsbewegung und der Gemeinschaftsbewegung in Basel zwischen 1860 und 1900 liegen weitgehend im Dunkeln.22

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Hilfreich für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die breit angelegte, im Auftrag der Basler Bibelgesellschaft erstellte Übersichtsdarstellung (mit ausführlicher Bibliographie) von Hans Hauzenberger. Für das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts stehen nur die Arbeiten von Hirzel-Strasky und Ramstein zur Entwicklung der Basler Predigerschule zur Verfügung, die einen sachlich und zeitlich begrenzten, dafür vertieften Einblick gewähren. Es handelt sich um eine seit ihrer Gründung im 16. Jahrhundert von der Basler Reformierten Kirche unabhängige Presbyterkirche. Die Pfarrer der französischen Kirche gehörten zwar zum Ministerium der Basler Kirche, wurden aber von der französischen Kirche selbständig gewählt. Einzelne Hinweise zur Beteiligung von Baslern an der internationalen Allianzbewegung bei Hauzenberger, Einheit, passim. Zu einzelnen Vertretern der Heiligungsund Gemeinschaftsbewegung in Basel und ihrer Rolle in der Predigerschule vgl. Ramstein, Predigerschule.


2. Fragestellung und Forschungslage

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Bis heute gibt es keine systematischen Untersuchungen zum Finanzaufkommen und zur Finanzierung religiöser Vereine und Anstalten, wodurch nicht nur ein ganz wesentlicher Faktor zur Beurteilung der Rolle des Stadtbürgertums in den pietistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts fehlt, sondern auch ein wichtiger Aspekt des Mäzenatentums des Stadtbürgertums vernachlässigt wird, wie die Monographie von Christoph Ramstein zur Evangelischen Predigerschule nahelegt. Nur die sogenannte «Halbbatzenkollekte» der Basler Missionsgesellschaft23 und die zur Basler Missionsgesellschaft gehörende Basler Handels-Gesellschaft waren bisher Gegenstand vor allem wirtschaftshistorischer Darstellungen oder der afrikanistischen Forschung.24 Der Umfang der Vermögenswerte der Christentumsgesellschaft, die Art ihrer Bewirtschaftung und der Verteilungsschlüssel der Gewinne, speziell nach deren Auflösung Mitte der dreissiger Jahre, liegen im Dunkeln, obwohl alle wichtigen religiösen Vereine und Anstalten Basels während des 19. Jahrhunderts aus diesem Fonds regelmässig finanzielle Unterstützung erhielten.25 Solche Forschungen wären umso dringlicher, als vieles darauf hinweist, dass der in der Literatur allgemein so hervorgehobene finanzielle Beitrag des Basler Stadtbürgertums an die religiösen Vereine und Anstalten zeitlich und quantitativ relativiert werden muss.

2. Fragestellung und Forschungslage Während des 19. Jahrhunderts kam es innerhalb der Stadtbürgerschaft und des regierenden alten Bürgertums zu einem sozialen und politischen Differenzierungsprozess, der sich anhand der Entwicklung religiöser Haltungen gut fassen und darstellen lässt. Vereine und Gesellschaften waren während des 19. Jahrhunderts ein wesentlicher Bestandteil der Lebenswelt des konservativen alten Bürgertums. Die personelle Entwicklung und die soziale Vernetzung religiöser Vereine und Gesellschaften bieten deshalb – neben der Kirche und den im weitesten Sinn mit religiösen und kirchlichen Fragen befassten kommunalen und kantonalen Behörden – einen unmittelbaren Zugriff auf sozial- und religionsgeschichtliche Prozesse innerhalb

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Tschudi-Barbatti, Die Halbbatzen-Kollekte (unpublizierte Lizentiatsarbeit). Gustav Adolf Wanner, Handels-Gesellschaft; ders., Eduard und Wilhelm Preiswerk; Andrea Franc, Schokolade, Basel 2008. Vgl. Gysin, Sicht der Stadt.


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der Stadtbürgerschaft und des konservativen alten Bürgertums.26 Für eine Analyse dieses Differenzierungsprozesses innerhalb des alten Bürgertums schien es sinnvoll, die Untersuchung auf einen gut dokumentierten Verein und eine Teilgruppe der konservativen Stadtbürgerschaft zu beschränken, die religiösen Haltungen und Werten sowie der Kirchlichkeit, d.h. der für die Stadtbürgerschaft typischen Identifikation von Kirchgemeinde und Bürgergemeinde, eine besondere soziale und politische Bedeutung beimass. Diese Kriterien trafen auf den Verein der Freunde Israels zu, einen 1830 gegründeten Männerverein, der sich mit Judenmission befasste. Dessen Archiv hat sich für den Zeitraum zwischen 1830 und 1914 praktisch vollständig und – im Gegensatz zum grössten Teil der erhaltenen historischen Überlieferung Basels – im originalen Aktenzusammenhang erhalten.27 Die Ursprünglichkeit der Aktenablagen des Vereins der Freunde Israels erleichterte eine kritische Analyse der Beziehungen zwischen der heutigen Überlieferungslage und den lokalen historiographischen Traditionen, einem Problemfeld, dem bisher in der Basler Stadtgeschichtsforschung zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. Sammlungsstrukturen und Verzeichnungsweise der Archive, Bibliotheken und Sammlungen stehen einem unvermittelten Zugang zu den Sammlungsinhalten im Wege, da sie ganz wesentlich vom Selbstverständnis und dem Geschichtsbild des Stadtbürgertums zwischen 1870 und 1914 geprägt sind und diese durch die Ordnungsstrukturen und Erschliessungstechniken historisch zu belegen und zu rechtfertigen suchen. Die komplexe Schichtung der Überlieferungslage, die Verwerfungen in der Aktenlage kommunaler und kantonaler Behörden und die Zersplitterung ursprünglich zusammengehöriger Bestände sind ein direktes Abbild der Spannungen und Auseinandersetzungen, die den Differenzierungspro26

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Zur Entwicklung dieser historischen Forschungsrichtung im deutschen Sprachraum seit den 1970er Jahren, vgl. Monika Neugebauer-Wölk, Zur Konstituierung historischer Religionsforschung 1974 bis 2004, in zeitenblicke 5 (2006), Nr. 1, URL: http:// www.zeitenblicke.de/2006/1/Einleitung (20. März 2011). Viele interessante Hinweise auch in der Aufsatzsammlung von Anne Conrad, Rationalismus und Schwärmerei. Das Archiv des Vereins der Freunde Israels wurde bisher nie systematisch wissenschaftlich bearbeitet und ausgewertet. Nur für Artikel der vom Verein seit 1834 herausgegebenen Zeitschrift «Der Freund Israels» und der seit 1945 erscheinenden theologischen Zeitschrift «Judaica» sowie für die Jubiläumsschriften zur 50-, 100- und 150-Jahr-Feier wurden die Protokolle des leitenden Komitees und Teile der Vereinskorrespondenz herangezogen, jedoch nie in systematischer Weise, vgl. [Johannes Schnell-Riggenbach], Der Verein der Freunde Israels in Basel. Seine Entstehung und seine Arbeit während fünfzig Jahren, Basel 1881; August Gerhardt, Hundert Jahre Verein der Freunde Israels in Basel 1830–1930, Basel 1931; [Thomas Willi-Plein], Der Verein der Freunde Israels 150 Jahre, Basel 1980.


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