U N I V E R S I TÄT B A S E L
Antonio Loprieno Von Fiktion und Simulation als kognitiven Übergängen
Schwabe Verlag Basel
A n to n i o L o p ri e n o Vo n F i k t i o n u n d S i m u l a t i o n a l s ko g n i t i ve n Ü b e rgä n ge n
Basler Universitätsreden 110. Heft Rede gehalten am Dies academicus der Universität Basel am 25. November 2011
Schwabe Verlag Basel
Reihe Basler Universitätsreden, herausgegeben von der Stelle für Öffentlichkeitsarbeit der Universität Basel im Auftrag des Rektorats © 2011 Schwabe AG, Verlag, Basel · www.schwabe.ch Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Basel/Muttenz Gestaltung: Lukas Zürcher, Riehen ISBN 978-3-7965-2813-2
Vo n F i k t i o n u n d S i m u l a t i o n a l s ko g n i t i ve n Ü b e rgä n ge n
Was träumen wir, wenn wir träumen? Wenn man einen Kulturforscher fragte, worauf sich der Begriff «Fiktion» beziehe, so würde er neben Kunst und Literatur auch den Traum erwähnen. In einem gewissen Sinne ist der Traum sogar die natürlichste Form von Fiktion, weil er – von unserem Bewusstsein aus gesehen – unvorbereitet auftritt. Im Traum wird eine Realität simuliert, in der zwar Figuren oder Aspekte unserer täglichen Erfahrung erkennbar sind, aber manchmal derart verstellt, dass man im Allgemeinen nicht weiss, was man von dem Traum halten soll. Fiktion und Simulation, Wissen und Glauben: In dieser Rede geht es um eine wissenschaftliche Einordnung und Gegenüberstellung dieser Begriffe und um deren Bedeutung für unsere Universität. Am Anfang der Fiktion steht also der Traum.1 Aber was träumen wir, wenn wir träumen?2 Träumen wir etwas Vergangenes oder Gegenwärtiges? Oder doch etwas zeitlich Neutrales, das sich nicht sequentiell organisieren lässt? Träumen wir etwas Reales oder etwas Imaginäres – etwas, das zwischen Realität und Fiktion zu lokalisieren wäre?3 Und ist der Traum in der Nacht,4 jener Zeit der Zuspitzung unserer Wahrnehmung, in dem physische Konturen weniger kenntlich, geistige Zeichen hingegen deutlicher werden, anders
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David Lewis-Williams, The Mind in the Cave: Consciousness and the Origins of Art, London: Thames & Hudson 2002, 130–135. 2 Für eine kulturwissenschaftliche Würdigung vgl. Kelly Bulkeley (ed.), Dreams. A Reader on Religious, Cultural, and Psychological Dimensions of Dreaming. New York: Palgrave 2001. 3 Zum Begriff des Imaginären als vermittelnder Instanz zwischen Realität und Fiktion siehe Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 18. 4 Für eine umfassende literaturwissenschaftliche Darstellung siehe Elisabeth Bronfen, Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München: Carl Hanser Verlag 2008.
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zu interpretieren als der Traum am helllichten Tag,5 der einem bewussten Wunsch entspringt und meinen eigenen Gestaltungswillen ausdrückt? Diese Fragen beschäftigen unsere Kultur seit ihren Anfängen. Der Unterschied zwischen dem erlebten Traum in der Nacht und dem ersehnten Traum am helllichten Tag generiert zwei Schnittstellen: jene zwischen Realität und Fiktion (Drückt der Traum etwas Wirkliches oder etwas Postuliertes aus?) und jene zwischen Wissen und Glauben (Spiegelt der Traum meine Kenntnis oder meine Einbildung wider?). Wir bringen Träume mit bestimmten Bildern in Verbindung, weil erst durch die Erzeugung bildhafter – und dadurch auch räumlicher – Konturen ein interpretatorischer Rahmen in unserem Gehirn entstehen kann.6 Den Traum in der Nacht kann man nicht genau auslegen; unsere Kultur weist ihn deshalb dem Bereich der Fiktion zu: «I have had a dream, past the wit of man to say which dream it was», sagt der erwachende Bottom in Shakespeares Midsummer Night’s Dream. An dem ersehnten Tagtraum soll man sich hingegen orientieren: «I have a dream that one day this nation will rise up and live out the true meaning of its creed», beteuerte Martin Luther King in einer der bedeutendsten Reden der neueren Weltgeschichte. Der Traum kann also sowohl unvollkommenes Wissen als auch vollkommener Glaube sein. Altägyptisch träumen Zwei Beispiele aus der altägyptischen Kulturgeschichte. In einem ägyptischen Text aus dem 19. Jahrhundert v. Chr. erzählt der Protagonist Sinuhe 5
Kulturwissenschaftlich vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Tagtraum, kognitionswissenschaftlich vgl. Eric Klinger, Daydreaming and Fantasizing: Thought Flow and Motivation , in: Keith D. Markman, William P. Klein, and Julia A. Suhr (eds.), Handbook of Imagination and Mental Simulation. New York: Psychology Press 2009, 225–239. 6 Ernst Pöppel, Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich. München: Carl Hanser Verlag 2006, 18–22; zum Traum siehe 369–374.
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(der Name bedeutet «der Sohn der Sykomore», des Baumes, der der Liebesgöttin Hathor heilig war), wie er eines Tages, als er zufällig von einer Verschwörung am Königshof hörte, in Panik geriet, desertierte und Ägypten hinter sich liess. Daraufhin verbrachte er viele Jahre im asiatischen Ausland unter halbnomadischen Beduinen und wurde schliesslich zu einem von ihnen. Als ihm jedoch der neue Pharao in einem Brief beteuert, dass er auch unter den neuen Verhältnissen am Hofe nichts zu befürchten habe, und ihn ausserdem an die Bedeutung einer Bestattung auf ägyptischem Boden erinnert, versucht Sinuhe in seiner Antwort an den König, seine für ägyptische Verhältnisse ungeheure Flucht zu rechtfertigen, indem er sie mit einem Traum vergleicht:7 «Denn diese Flucht, auf die ich mich begab – sie war nicht geplant. Sie war nicht in meinem Herzen; ich beabsichtigte sie nicht. Ich weiss nicht, was mich von dem Ort entfernte. Es war wie ein Traumzustand (sSm-rsw.t): Als ob sich ein Bewohner des Nordens im äussersten Süden, ein Mann aus dem Nildelta in Schwarzafrika sähe.»8 Die Sehnsucht nach der Heimat ist zu gross. Sinuhe verlässt seine asiatische Familie und kehrt nach Ägypten zurück. Der Verweis auf den traumhaften Charakter einer Entscheidung, die aus ihm einen in jeder Hinsicht besseren Menschen gemacht hat, klingt wie eine Anspielung auf die Macht des Unerklärlichen, auf die Widersprüchlichkeit der individuellen Erfahrung gegenüber der Eindeutigkeit der Staatsräson. Aber der ägyptische Autor vergisst nicht, dass gerade die Kluft zwischen sozialem Wissen und individuellem Schicksal Sinuhe gleichzeitig zur Rückkehr in die Heimat zwingt und aus ihm einen Helden macht. «Ist das wirklich (m-mAa.t = «in Wahr 7
Zum Traum im Alten Ägypten siehe Kasia Szpakowska, Behind Closed Eyes. Dreams and Nightmares in Ancient Egypt. Swansea: The Classical Press of Wales 2003. 8 Sin. B 223–226. Roland Koch, Die Erzählung des Sinuhe. Bibliotheca Aegyptiaca XVII. Bruxelles: Fondation Égyptologique Reine élisabeth 1990, 67.
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heit») er, o Herrscher, unser Herr?», fragen die Königskinder ihren Vater ungläubig, als sie den zurückkehrenden Sinuhe zum ersten Mal am Hof empfangen. «Und seine Majestät antwortete: Ja, das ist er in der Tat (mmAa.t = «in Wahrheit»)!»9 Für das ägyptische Auge ist Sinuhe nicht mehr zu erkennen, weil er wie ein beduinischer Scheich auftritt – weil er wie im Traum erscheint. Sechshundert Jahre später, im 13. Jahrhundert v. Chr., zeichnete ein uns nicht namentlich bekannter ägyptischer Gelehrter eine Traumdeutung auf, d.h. ein Handbuch für die Erklärung der gewöhnlichsten Nachtträume.10 Der zwar verlorene, aber rekonstruierbare Titel des Traktats verweist auf eine Enzyklopädie des Traumes schlechthin: «Anfang der Träume der Anhänger des Gottes Horus».11 Das Kompendium ist sehr detailliert; neben Träumen, mit denen auch wir Moderne etwas verbinden können, werden häufig solche interpretiert, die nicht unbedingt nachvollziehbar anmuten. «Wenn man im Traum Gott im Himmel sieht – das ist gut: Es bedeutet eine üppige Mahlzeit.»12 Das leuchtet ein: Gott sorgt für reiche Nahrung. «Wenn man sich im Traum beim Segeln auf einer Fähre sieht – das ist gut: Es bedeutet das Ende aller Streitigkeiten.»13 Na ja, sagen wir nicht etwa auch: auf ruhigen Gewässern segeln? «Wenn man sich im Traum beim Schlafen mit einer Frau sieht – das ist schlecht: Es bedeutet ein Begräbnis.»14 Das 9
Sin. B 267–268: Koch, Die Erzählung des Sinuhe, 76. Es handelt sich um Papyrus Chester Beatty III: Alan H. Gardiner, Hieratic Papyri in the British Museum, Third series: Chester Beatty Gift. London: British Museum 1935, pl. 5–12a. Übersetzungen fremdsprachiger Zitate sind, auch im Folgenden, soweit nicht anders vermerkt, von mir, A. L. 11 Es dürfte sich dabei um die guten Menschen handeln, im Gegensatz zu den Träumen der bösen Anhänger des Gottes Seth. 12 pChester Beatty III, r2,14. 13 pChester Beatty III, r4,6. 14 pChester Beatty III, r7,17. Zur Frequenz der sexuellen Sphäre in der Traumdeutung von der Antike bis zu Sigmund Freuds Psychoanalyse siehe Pöppel, Der Rahmen, 371: «Die höhere Akzeptanz der Sexualität in unserer heutigen Zeit mag die Ursache dafür sein, dass die Traumbühne von heute von sexueller Symbolik weitgehend leergeräumt ist oder zumindest weniger genutzt wird.» 10
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ist schon etwas hart, hier müsste man George Lakoff mit seinen Thesen über die linguistischen Ähnlichkeiten zwischen Weiblichem und Gefährlichem bemühen.15 «Wenn man sich im Traum beim Schreiben auf eine Papyrusrolle sieht – das ist schlecht: Es bedeutet, dass Gott einem jeden seine Schuld anrechnen wird.»16 Eine insbesondere für Ägyptologen recht beunruhigende Prophezeiung. Um einen Traum auszulegen, muss man Wissen besitzen; man muss etwa wissen, dass der Schreibergott Thot die guten und schlechten Taten der Verstorbenen auf eine Papyrusrolle notiert und den Richtergottheiten vorträgt. Zur gleichen Zeit etwa konnte in Theben der Gottesfürchtige eine Erscheinung des Gottes explizit provozieren, beispielsweise durch die Inkubation, d.h. die nächtliche Begegnung mit der verehrten Gottheit im Traum. So erfahren wir über eine Steleninschrift, dass der Schreiber Qenherchepeschef den Tempel des Gottes Ptah des Nachts aufsuchte, um im Schlaf Gottes Nähe zu erfahren: «Ich wandelte im Tal der Königinnen und verweilte des Nachts in diesem Vorhof (…) Mein Leib nächtigte im Schatten deines Angesichts, ich verbrachte die Nacht in deinem Vorhof.»17 Ein anderer Beamter, D jehutiemhab, berichtet in seinem Grab darüber, wie sich die Göttin Hathor direkt an ihn wandte, um ihm den richtigen Ort für das Grab zu weisen:18 «Du hast mit deinem eigenen Mund zu mir gesagt: ‹Ich bin die schönste Göttin, meine Gestalt ist ein Abbild der Göttin Mut. Ich bin gekommen, um dich anzuweisen (…)›, während ich schlief und die Erde im
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George Lakoff, Women, Fire, and Dangerous Things. Chicago: The University of Chicago Press 1987. pChester Beatty III, r7,21. 17 Bernard Bruyère, Mert Seger à Deir el Médineh, Mémoire de l’Institut Français d’Archéologie Orientale 58, Le Caire 1929–30, 24–31; vgl. Jan Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete, Orbis Biblicus et Orientalis, Freiburg i. Ü.: Universitätsverlag / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21999, 382–383. 18 Karl J. Seyfried, Das Grab des Djehutiemhab (TT 194). Theben VIII. Mainz: Philipp von Zabern 1995, 70–72. 16
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Schweigen lag, mitten in der Nacht. Am Morgen jubelte mein Herz und ich freute mich.»19 In der altägyptischen Kultur gab es also offensichtlich zwei Zugänge zum Traum und dessen Stellenwert für den Menschen:20 (a) einen wissenschaftlichen Zugang, bei dem der Nachttraum mit bildlichem Inhalt als Deutung der Zukunft oder als Offenbarung der Gottheit interpretiert wurde, und (b) einen literarischen Zugang, bei dem der Traum im übertragenen Sinne als Verdichtung individueller Erfahrung galt. Diese Dichotomie ist nicht nur für das Alte Ägypten charakteristisch,21 sondern eine Universalie menschlicher Kultur.22 Kennzeichnend für beide Formen von Traum ist dessen Verortung an der Schnittstelle von Bewusstem und Unbewusstem: Das ägyptische Wort rsw.t («Traum») wird vom Verb rs («aufwachen») abgeleitet und mit dem Zeichen des offenen Auges graphisch determiniert.23 Dieses linguistische Merkmal korreliert sehr gut mit der neurologischen Erkenntnis, dass Träume häufiger in Phasen des REM-(rapid eye movement-)Schlafes auftreten, wobei sie in dieser Phase anscheinend nicht nur mehr Narrativität, sondern auch mehr Verworrenheit aufweisen als in den NREM-(non-rapid eye movement-)Phasen.24 19
Jan Assmann, Eine Traumoffenbarung der Göttin Hathor, Revue d’Égyptologie 30 (1978), 22–50. Diese ägyptischen Inkubationen erinnern an die Apex-Träume, die manchmal auf realweltliche Problemlösungen hinweisen, s. unten. 20 In demotischen Texten werden nach John D. Ray, Phrases used in dream-texts, in: Sven P. Vleeming (ed.), Aspects of demotic lexicography. Acts of the Second International Conference for Demotic Studies, Leiden 19–21 September 1984. Studia Demotica 1. Leuven: Peeters 1987, 85–93, zwei Sorten von Traum thematisiert: ein narrativer Traum mit Szenenwechsel und ein eher orakelhafter Traum bestehend nur aus Worten, die keine Antwort hervorrufen. 21 Siehe Karola Zibelius-Chen, Kategorien und Rolle des Traums in Ägypten. Studien zur Altägyptischen Kultur 15 (1988), 277–293. Vgl. auch Gotthard G. Tribl, Dream as a constitutive cultural determinant: the example of ancient Egypt. International Journal of Dream Research 4,1 (2011), 24–30. 22 Bulkeley (ed.), Dreams, 9–172. 23 http://aaew.bbaw.de/tla/servlet/GetWcnRefs?f=0&l=0&of=0&ll=96130&db=0&lr=0&mo=1&wt=y&bc=Start. 24 Tribl, International Journal of Dream Research 4,1 (2011), 25. Zu den neuropsychologischen Dimensionen des Traumes J. Allan Hobson, The New Neuropsychology of Sleep. Implications for Psychoanalysis, in: Bulkeley (ed.), Dreams, 321–332.
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Träume sind auf halber Strecke zwischen Erfahrung und Projektion angesiedelt: «Apex dreaming», eine Kategorie von Träumen besonderer Intensität oder Komplexität, scheint auch einen Einfluss auf die Lösung empirischer wissenschaftlicher Probleme auszuüben.25 Ob als Sequenz nächtlicher Bilder oder als Verdichtung bewusster Erfahrungen, der Traum eröffnet dem Träumenden neue kognitive Perspektiven. Den Charakter des Traumes als Brücke zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, hatte schon der Autor des Papyrus Insinger, eines ägyptischen Weisheitstextes aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, erkannt: «Er (d.h. Gott) erschuf den Traum, um dem Träumenden in seiner Blindheit den Weg zu zeigen.»26 Bild und Wort Mit dem Traum stossen wir an die Grenze unseres Bewusstseins. 27 Die Nacht, die paradigmatische Zeit des Übergangs und der Überschreitung von Grenzen, bietet den idealen Zeitpunkt für die Überwindung des Wissens um das Selbst. Denn der Traum ist eine prototypische Fiktion, eine Modellierung unserer Lebenserfahrung. Im Vergleich zum Traum stellt die Fiktion im technischen Sinne, d.h. literarisches Schrifttum, nicht eine unbewusst auftretende, sondern eine bewusst erzeugte Verarbeitung der gleichen Erfahrungen dar.28 Sowohl der Traum als auch die Fiktion sind aber 25
Paolo Mazzarello, What dreams may come? Nature 408 (2000), 523. pInsinger 32,12: František Lexa, Papyrus Insinger. Paris: Paul Geuthner 1926; siehe Miriam Lichtheim, Ancient Egyptian Literature, vol. III: The Late Period. Berkeley: University of California Press 22006, 184–217. 27 Tracey L. Kahan, Consciousness in Dreaming. A Metacognitive Approach, in: Bulkeley (ed.), Dreams, 333–360. 28 Das trifft auch auf andere Bereiche geistiger Reflexion zu, etwa auf das Recht. Zum Verhältnis zwischen Recht und Fiktion siehe Claudio Magris, Letteratura e diritto. Cuadernos de Filología Italiana 13 (2006), 175–181; id., Literature, Law and Europe. The First Romano Guarnieri Lecture in Italian Studies and a Debate with Frans Timmermans. Italianistica Ultraiectina 5, Utrecht: Igitur 2009. Nach Magris ist Recht die Domäne der Unterscheidung, Literatur die Domäne der Überschreitung. Das Recht stellt eine Projektion der Welt dar, die genauso wie die Fiktion an den Grenzen eines auf Erfahrung basierenden Wissens verortet ist. Diese kognitive Ähnlichkeit könnte ein 26
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Formen der Beziehung zwischen dem bildlichen Charakter einer «poetischen» Sequenz und dem Bild im engeren Sinne.29 In beiden Fällen geht es um einen bildlichen Horizont (eine Mimesis, ein Sich-ein-Bild-Machen von etwas), der ohne visuelle Reize, ohne den Einsatz von sensorischen Zellen in jenem Bereich des Gehirns entsteht, den die Fachleute «Grosses Intermediäres Netz» nennen und der sämtliche Zwischenstufen zwischen dem sensorischen Reiz und der motorischen Reaktion steuert.30 Sowohl Träume als auch Fiktionen können selbst von Blinden «gesehen» werden: Eine blinde Patientin «berichtet, dass Erfahrungen des täglichen Lebens, die über das Hören, das Tasten, den Geruch und den Geschmack oder den Bewegungssinn vermittelt werden, im Traum ins Bild gesetzt werden»;31 und ein gelungener literarischer Text kann auch bei einem Blinden oder bei einem Gehörlosen bildliche bzw. akustische Assoziationen hervorrufen. Die Bilder des Traumes und der poetischen Fiktion brauchen jedoch immer einen ordnenden Rahmen (im Sinne von «Orientierungsangaben»), damit der Traum oder die poetische Fiktion erkannt und verinnerlicht werden kann. Anders als die Etymologie oder Geschichte des Wortes nahezulegen scheint, hat also «Bild» weniger mit «Zeigen», «Kuss» oder «Häutchen» als vielmehr mit Gedächtnis, also mit Wissen, zu tun.32 Ein Bild ist ein
Grund sein, weshalb Recht – wie Fiktion, s. unten – in vielen kulturellen Traditionen am Anfang der schriftlichen Tradierung steht: Man denke an den Codex Hammurapi im mittelbronzezeitlichen Babylon oder an das Zwölf tafelgesetz im archaischen Rom. 29 Ralf Simon, Der poetische Text als Bildkritik. München: Wilhelm Fink Verlag 2009, 261–300. 30 Pöppel, Der Rahmen, 107–125. 31 Pöppel, Der Rahmen, 342. 32 Vgl. eine skizzenhafte, aber anregende Auflistung der verschiedenen Bildtheorien bei James Elkins, Reasons Why it Is Not Possible to List Concepts of the Image. Rheinsprung 11: Zeitschrift für Bildkritik 1, Basel 2011, 13–20; zum kognitiven Ansatz siehe hingegen Pöppel, Der Rahmen, 145–155.
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«eingerahmtes» Wissen, eine auf Erfahrungen und Erinnerungen basierende Modellierung der Realität.33 Modellierung ist wiederum ein Verfahren, das mit Fingieren bzw. Simulieren in Verbindung steht,34 eine Annäherung an die komplexen Zusammenhänge der realen Welt, welche durch einen Prozess der Dynamisierung und Verbildlichung den Charakter einer Simulation annimmt und zu einem besseren Verständnis der Welt beiträgt. Simulationen sind Modelle, deren Erkenntnisgewinn durch eine «dynamische» Komponente potenziert wird.35 Was Simulation auf medialer Ebene, d.h. auf der Basis nachvollziehbarer technologischer Verfahren, leistet, vermittelt Fiktion auf kreativer Ebene, durch die individuellen Bilder, die ein literarischer Autor entwirft.36 In beiden Fällen geht es darum, Modelle zu entwickeln, die aufgrund wissenschaftlicher Voraus-sagen oder narrativer Aus-sagen die Stichhaltigkeit von Hypothesen über die reale Welt zu testen vermögen.37 Die These, dass man die Voraussagen der Computersimulation und die Aussagen der narrativen Fiktion unter ein gemeinsames kognitives Dach subsumieren kann, mag prima facie befremdlich anmuten, ist aber durch die Schlüsselfunktion beider Verfahren in der Interaktion von Wissen und 33
Für einen bildwissenschaftlichen Ansatz siehe Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: id. (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München: Wilhelm Fink Verlag 42006, 11–38, speziell 29–36. Zum epistemischen Status des Bildes als Vehikel von Wissen vgl. Jörg Huber, Bilderwissen. Eine epistemologische Skizze, in: Ulrich Ratsch, Ion-Olimpiu Stamatescu und Philipp Stoellger (Hrsg.), Kompetenzen der Bilder: Funktionen und Grenzen des Bildes in den Wissenschaften. Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 137–147. 34 Catherine M. Banks, What is Modeling and Simulation?, in: John A. Sokolowski and Catherine M. Banks (eds.), Principles of Modeling and Simulation: a Multidisciplinary Approach. Hoboken, NJ: Wiley 2009, 3–24. 35 John A. Sokolowski, Simulations: Models That Vary over Time, in: Sokolowski and Banks (eds.), Principles of Modeling and Simulation, 47–69. 36 Siehe Laurent Dubreuil, L’état critique de la littérature. Paris: Hermann Éditeurs 2009, 9: «Il doit enfin être admis que j’aborde la littérature de manière singulative, comme on dirait en grammaire, j’entends: dans la reconfiguration locale que donne chaque œuvre. Bien sûr, la littérature est aussi un nom collectif, et rien n’empêche – sinon parfois une superficialité – de théoriser sur des centaines de références.» 37 Paul F. Reynolds, Jr., The Role of Modeling and Simulation, in: Sokolowski and Banks (eds.), Principles of Model ing and Simulation, 25–43.
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Glauben begründet, auf die ich später zurückkommen werde. Nun dies als Einstieg: Fiktion und Simulation dienen uns als Kanal zur Überprüfung unseres Wissens, wenn wir diesem Wissen nicht recht trauen, wie auch zur Festigung unseres Glaubens, wenn letzterem nicht genügend Wissen zugrunde zu liegen scheint. Fiktion und Simulation werden dort eingesetzt, wo das Wissen an seine Grenzen stösst. Der Traum, die literarische Fiktion und die wissenschaftliche Simulation vermitteln also Bilder alternativer Realitäten, sie stellen bildhafte Modellierungen der Welt dar. Sie unterscheiden sich vom erklärenden Wort der hermeneutischen Disziplinen und von der wissenschaftlichen Formel der Mathematiker oder der Physiker dadurch, dass der modale Charakter des Bildes (das Denken-Wie) und der referentielle Charakter des Wortes oder der Formel (das Denken-Was) sich einerseits bedingen und fördern, andererseits jedoch manchmal auch im Wege stehen.38 Der postmoderne iconic turn hat unsere kognitive Aufmerksamkeit auf das Bild fokussiert,39 was auch zur Entstehung von Langzeitprojekten im Bereich der Bildwissenschaften geführt hat.40 Er hat aber die Zentralität des Bildes vielleicht zu einseitig propagiert. Wir neigen zurzeit dazu, die durchaus vorhandenen epistemischen Grenzen des Bildes zu übersehen.41 Denn Wörter und Bilder haben einen unterschiedlichen kognitiven Status: Während Wörter primär referentiell erkannt werden, werden Bilder primär modal wahrgenommen. Wörter sind geeigneter für die Präsentation des von uns Entfernten (dis38
Siehe Raoul Schrott und Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren. München: Carl Hanser Verlag 2011, 410–421; José Luis Bermúdez, Thinking Without Words. Oxford: University Press 2003. 39 Vgl. Wlad Godzich, Language, Images, and the Postmodern Predicament, in: Hans Ulrich Gumbrecht and K. Ludwig Pfeiffer (eds.), Materialities of Communication. Stanford: University Press 1994, 355–370. 40 Siehe Gottfried Boehm, Ikonische Differenz. Rheinsprung 11 – Zeitschrift für Bildkritik 1, Basel 2011, 170–176. 41 Zu den kognitiven Grenzen des Bildes siehe Manfred Faßler, Vom Sichtbaren des Denkens, in: Ratsch, Stamatescu und Stoellger (Hrsg.), Kompetenzen der Bilder, 300.
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tal), Bilder hingegen für die Repräsentation des uns Nahen (proximal). Diese und andere Erkenntnisse der Neuropsychologie auf die bisher geisteswissenschaftlich angelegte Bildkritik zu übertragen würde die Forschung in den humanities fundamental bereichern.42 Zu den traditionellen geisteswissenschaftlichen Themen, die auch in den Neurowissenschaften behandelt werden und von einem Dialog mit diesen profitieren könnten, gehört etwa die Frage, ob das sprachliche Bild eines Gedichtes oder einer Erzählung43 nach ähnlichen neuronalen Mustern wie das ikonische Bild der Malerei verarbeitet wird44 oder ob unterschiedliche «Bildformate» auch verschiedene neuronale N etze bzw. Hirnareale aktivieren.45 «Bild» trifft also auf eine Reihe ganz unterschiedlicher kognitiver Sachverhalte zu: Das Bild, das wir uns von der Realität machen, kann auf einer rein sprachlichen Sequenz beruhen, wie in der narrativen Fiktion, auf einer Mischung sprachlicher und musikalischer Elemente, wie in der Dichtung, oder auf sensorische Reize zurückgeführt werden, wie bei einem Bild im engeren Sinne.46 Mimesis, Fiktion, Simulation Spätestens hier sind terminologische Präzisierungen notwendig. Die bisher eingeführten Begriffe «Mimesis», «Fiktion» und «Simulation» sind nämlich allesamt von einer gewissen semantischen Unschärfe, weil sich ihr Bedeutungshorizont in unserer Kulturgeschichte und Wissenschaftssprache 42
Vgl. David Linden, How are images generated in the brain?, in: Ratsch, Stamatescu und Stoellger (Hrsg.), Kompetenzen der Bilder, 271–286; Schrott und Jacobs, Gehirn und Gedicht, 401–421. 43 Simon, Der poetische Text als Bildkritik. 44 Insbesondere Stephen M. Kosslyn, Giorgio Ganis, and William L. Thompson, Neural Foundations of Imagery. Nature Reviews neuroscience 2 (2001), 635–642. 45 Eleanor A. Maguire et al., Navigation expertise and the human hippocampus. A structural brain imaging analysis. Hippocampus 13 (2003), 250–259. Generell vgl. Francesco Ferretti, Pensare vedendo. Le immagini mentali nella scienza cognitiva, Roma: Carocci 1998. 46 Schrott und Jacobs, Gehirn und Gedicht, 229–421.
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mehrmals verschoben hat.47 Mimesis ist ein Begriff der aristotelischen Tradition, der bis zu den realistisch geprägten Literaturtheorien der Neuzeit in Gebrauch geblieben ist und der sich auf die künstlerische – ob ikonische oder literarische – Nachahmung der Welt bezieht.48 Ich verwende hier das Wort «Mimesis», um den Akt der bewussten Konstruktion mentaler Bilder zu beschreiben, die einen bildlichen oder schriftlichen Niederschlag finden. Mimesis ist das Ergebnis der Nachahmung der Welt und der Erzeugung alternativer Welten auf der Basis von Erinnerungen an die Realität.49 Deshalb können wir die Mimesis, im Gegensatz zum Traum, als eine bewusste Verbildlichung der Realität verstehen. Fiktion wird gelegentlich als Begriff der psychologischen Forschung benutzt, um eine bestimmte sensorische Täuschung zu kennzeichnen, durch die zunächst nur angedeutete, neuronale Verbindungen verallgemeinernd vervollständigt werden, was eine Illusion in der Wahrnehmung erzeugt.50 Primär ist aber «Fiktion» ein insbesondere in den Literaturtheorien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auftretendes Konzept, das angewandt wird, um die Eigenschaften des literarischen Textes im Unterschied zu anderen Formen von Schrifttum zu definieren. Ich verwende das Wort «Fiktion» zur Bezeichnung einer mentalen Tätigkeit, die zur Erzeugung alternativer Welten oder Realitäten führt. Fiktion ist nicht – wie häufig 47
Eine gute Zusammenfassung findet sich bei Uta Buttkewitz, Das Problem der Simulation am Beispiel der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und der Tagebücher Thomas Manns, Diss. Rostock 2002, 10–47. 48 Pars pro toto Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern: Francke 9 1994; vgl. Antonio Loprieno, Topos und Mimesis. Zum Ausländer in der ägyptischen Literatur. Ägyptologische Abhandlungen 48. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1988. 49 Gerald M. Edelman and Giulio Tononi, A Universe of Consciousness. How Matter Becomes Imagination. New York: Basic Books 2000 (dt.: Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht. München: C. H. Beck 2002); Stanislas Dehaene, Reading in the Brain. The Science and Evolution of a Human Invention. New York: Viking 2009 (dt.: Lesen. Die grösste Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert. München: Knaus 2010). 50 Schrott und Jacobs, Gehirn und Gedicht, 147–155; vgl. Richard L. Gregory, Visual Illusions Classified. Trends in Cognitive Sciences 1 (1997), 190–194.
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vermutet – eine inhärente Eigenschaft bestimmter Texte, eine ihnen eingeschriebene Konstante, sondern eine kontextuelle Variable, die vom interpretatorischen Rahmen diktiert wird, den der Leser einem Text verleiht. Als eine Form von Mimesis, d.h. als (getreue, widersprüchliche, problematische, zuverlässige, dialektische) Nachahmung der Welt, ist Fiktion immer in einen bestimmten Diskurs eingebunden. Sie ist «zweistellig», wie Wolfgang Iser51 die Problematik der kognitiven Verortung der Fiktion in einem Prädikat zusammenfasst: Die Gegenstände der Fiktion befinden sich im Zustand einer «latenten Simulation», welche sich zu einer kohärenten Struktur zusammenfügt und auf dem Prinzip der «Emergenz» beruht.52 Will heissen: Fiktion besteht aus einem bildlichen Inhalt und aus einer Verpackung dieses Bildes in kulturellen Formen, d.h. aus einem Diskurs. Was Fiktion ist, lässt sich deshalb nicht vom beobachtenden Wissenschaftler empirisch bestimmen, sondern – genauso wie sprachliche Kompetenz – lediglich kontextuell wahrnehmen. Das historische Auftauchen einzelner Textbausteine (anders als einfältige Fachleute in meiner eigenen Diszi plin behaupten mögen) sagt an sich nichts über deren allfälligen fiktiven Gebrauch, der im Gegenteil nur auf der Basis kontextueller, d.h. den Text einrahmender Bedingungen eruiert werden kann. Und das historische Auftreten von Fiktion zeigt, dass Fiktion in der Vormoderne, als sie sich noch nicht als autonomer Diskurs emanzipiert hatte, durchaus auch als Simulation, d.h. als Brücke zum Wissen, eingesetzt wurde. Dantes Göttliche Komödie wäre dafür ein Paradebeispiel. Insofern kann man durchaus (insbesondere im Falle antiker Kulturen) von historischen Kontexten ausge51
Wolfgang Iser, Mimesis Emergenz, in: Andreas Kablitz und Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation. Reihe Litterae 52, Freiburg i.B.: Rombach Verlag 1998, 669–684. 52 Iser, Mimesis Emergenz, in: Kablitz und Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation, 674.
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hen, in denen bestimmte Texte zwar als «wissenschaftliche», d.h. realweltliches Wissen nachahmende Mimesis entstanden, im Laufe der späteren Geschichte jedoch ihre ursprüngliche kontextuelle Verortung verloren und als imaginäre Fiktion rezipiert wurden.53 Das dritte Konzept, Simulation, bezieht sich in der antiken Rhetorik (und in Dialektik mit Mimesis) auf die Vortäuschung eines Wissens, das man eigentlich nicht besitzt. Der Begriff ist dann im Laufe unserer Kulturgeschichte als Wesenszug des Theaters verstanden und in der postmodernen Reflexion zur Kennzeichnung der medialen Hyperrealität schlechthin gebraucht worden.54 Insofern hat Simulation auch historisch etwas mit Fiktion zu tun. Aus diesen Gründen wird in letzter Zeit das Verhältnis zwischen Mimesis als individuellem, kreativem, künstlerischem Moment und Simulation als modellierendem Verfahren zur Darstellung wissenschaftlicher Sachverhalte intensiv reflektiert, vor allem wegen der rapide zunehmenden Erkenntnis des Potentials der Simulation für geisteswissenschaftliche Anliegen.55 Hier verwende ich das Wort «Simulation» fast ausschliesslich in diesem technischen Sinne. Ich möchte sogar so weit gehen zu zeigen, dass computergestützter «Simulation» und literarischer «Fiktion» ein ähnlicher Diskurs zugrunde liegt, weil beide Formen der Bewältigung von Wissensübergängen darstellen. In der nichttechnischen Bedeutung des 53
Ein ägyptologisches Beispiel dafür ist die Rezeption mittelbronzezeitlicher Weisheitstexte im Neuen Reich: Als pseudoepigraphische Schultexte verfasst, wurden diese Weisungen fünf Jahrhunderte später als Literatur, d.h. als autoriale Werke gelesen. Vgl. Antonio Loprieno, Defining Egyptian Literature: Ancient Texts and Modern Literary Theory, in: Jerrold S. Cooper and Glenn M. Schwartz (eds.), The Study of the Ancient Near East in the TwentyFirst Century. The William Foxwell Albright Centennial Conference. Winona Lake: Eisenbrauns 1996, 209–232. 54 Vgl. simulacrum bei Roland Barthes und den Poststrukturalisten: Jean Baudrillard, Simulacres et simulation. Paris: Éditions Galilée 1981. 55 Als Beispiel dafür siehe Almuth Grésillon, Literarische Handschriften im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Von der Mimesis zur Simulation, in: Kablitz und Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation, 255–275. Hier wird Simulation als dynamischer Prozess verstanden, und zwar im Sinne der Anwendung auf die Reproduzierbarkeit literarischer Fiktion.
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Wortes wird Simulation zuweilen als gefilterte (d.h. angepasste, modifizierte, idealisierte, abgelehnte) Darstellung der Realität verstanden.56 Man kann im Übrigen sehr gut nachvollziehen, wie die semantische Entwicklung der drei Begriffe vonstatten ging, wenn man sie in Zusammenhang mit medialen Revolutionen bringt. Die erste Revolution fand im 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen statt und hatte mit der Entwicklung des griechischen Theaters vom Ort des Kultes zur Bühne für die bildliche Darstellung einer virtuellen Wirklichkeit (mímesis) zu tun.57 Was für die Sophisten eine ethisch unmarkierte, rein wissensbasierte und empirisch einzusetzende «Täuschung» (apátê) gewesen war, wurde für Plato zu einem moralisch bedenklichen, weil die Wahrheit verstellenden «Betrug».58 Das informative Potential des Bildes (ob im figurativen Sinne, als eikôn, oder im sprachlichen Sinne, als lógos, verstanden) wurde diskreditiert. Eine gewisse ethische Entspannung erfuhr zwar die bildliche Nachahmung der Wirklichkeit59 durch Aristoteles, der sie nicht nur als legitime, sondern sogar als konstitutive Komponente der «Kunstfertigkeit» (téchnê) betrachtete.60 Aber grundlegende Zweifel an der Legitimität des Bildes und am Wahrheitsge-
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Zur Dialektik zwischen technischen und nichttechnischen Bedeutungen von Simulation vgl. Tuncer I. Ören, Uses of Simulation, in: Sokolowski and Banks (eds.), Principles of Modeling and Simulation, 153–179, bes. 155–156: «Simulation is a goal-directed experimentation with dynamic models or use of a representation of a real system to provide experience for entertainment or for training to develop and/or enhance three types of skill, i.e., motor skills, decision-making skills, or operational skills.» Zu verschiedenen Formen der wissenschaftlichen Verwendung des ikonischen Moments vgl. die Beiträge in der Sektion III («Bilderverwendung in Wissenschaften») von Ratsch, Stamatescu und Stoellger (Hrsg.), Kompetenzen der Bilder, 151–268. 57 Martin Andree, Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute. München: Wilhelm Fink Verlag 2005, 57–84. 58 Vgl. Stanley Rosen, Plato’s Sophist. The Drama of Original and Image. New Haven: Yale University Press 1983. 59 Siehe Gottfried Willems, Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen: Niemeyer 1989, bes. 221. 60 Aristoteles, Poetik. Griechisch–Deutsch. Übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1994, 31 [1451b]: er (d.h. der Dichter) ist ja im Hinblick auf die Nachahmung Dichter, und das, was er nachahmt, sind Handlungen.»
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halt der Simulation – egal, ob in künstlichem oder in künstlerischem Kontext – blieben in der westlichen Kultur bestehen. Die zweite intellektuelle und mediale Revolution, die zu einer Auseinandersetzung mit dem kognitiven Status der mimetischen Täuschung führte, fand zwischen der Erfindung des Buchdrucks und der Aufklärung statt.61 Es war die Zeit eines bewusster werdenden Umgangs mit der epistemischen Voraussetzung für die Wahrnehmung der Fiktion als einer besonderen Form von Täuschung, die zwischen dem Autor und dem Leser stillschweigend vereinbart und auf bestimmte Textgattungen bezogen wird. Diese Voraussetzung ist die suspension of disbelief, wie der englische Literat Samuel Taylor Coleridge sie in der Biographia Literaria (1815–1817) nannte,62 die Aufhebung der beim Leser potentiell aufkeimenden Skepsis an der Authentizität des Erzählten.63 Der Roman als idealtypische Form fiktionaler Kommunikation erfuhr im Laufe des 18. Jahrhunderts e inen geradezu explosionsartigen Erfolg,64 vor allem der Reiseroman à la Gulliver’s Travels (der die Grenzen individuellen Handelns aufzeigt)65 oder der Lebensbericht à la Tristram Shandy (der die inhaltlichen Merkmale des biographischen Erzählens problematisiert).66 Dabei handelt es sich just um jene zwei Textgattungen, die seit dem altägyptischen Sinuhe ineinander verwobene, privilegierte Formen der Beschäftigung mit 61
Andree, Archäologie der Medienwirkung, 209–251. Samuel Taylor Coleridge, A Critical Edition of the major Works, edited by Heather Joanna Jackson. Oxford: University Press 1985, 314 [Biographia Literaria, 14]. 63 Vgl. Andree, Archäologie der Medienwirkung, 432–500. 64 Pars pro toto Ian Watt, The Rise of the Novel: Studies in Defoe, Richardson and Fielding. London: Chatto and Windus 1957. Zur Reise des Protagonisten von Fiktion als Metapher für die Gewinnung von Wissen vgl. Georges Van Den Abbeele, Travel as Metaphor: From Montaigne to Rousseau. Minneapolis: University of Minnesota Press 1992; Gerald Moers, Fingierte Welten in der ägyptischen Literatur des 2. Jahrtausends v. Chr. Grenzüberschreitung, Reisemotiv und Fiktionalität. Probleme der Ägyptologie 19. Leiden: Brill 2001. 65 Jonathan Swift, Travels into Several Remote Nations of the World, in Four Parts. By Lemuel Gulliver, First a Surgeon, and then a Captain of several Ships, London 1726. 66 Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, London 1759–1767. Zu diesem Themenkomplex vgl. Moers, Fingierte Welten. 62
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den Grenzen des Wissens und deren Überwindung darstellen.67 Fiktion hat es also seit der Erfindung der Schrift immer gegeben: Genauso wie in der heutigen Zeit keine erfolgreiche chirurgische Operation oder keine kompetente Landung eines Flugzeugs ohne Schulung durch Simulation möglich ist, sind schulische Bildung und Ausbildung niemals ohne fiktives Schrifttum möglich gewesen. Ein Phänomen der westlichen Neuzeit ist hingegen der wissenschaftliche Umgang mit Fiktion. Zum heutigen Gebrauch des Simulationsbegriffs hat schliesslich eine dritte intellektuelle Revolution geführt: der iconic turn und dessen mediale Entsprechung, der digital turn, denen in philosophischer Hinsicht das postmoderne Weltbild Pate steht. In diesem kulturellen Kontext68 wird der Unterschied zwischen technischem und nichttechnischem Gebrauch des Begriffes «Simulation» letzten Endes aufgehoben, weil in einem «Zeitalter der Simulation» die Realität ohnehin als manipulierbar bzw. als verzerrt darstellbar erscheint.69 Dies ruft nach einer Neuformulierung der alten «Frage nach dem Original» eines jeden kulturellen Artefaktes:70 Durch die Infragestellung des Wahrheitsbegriffs und die medientechnische Fragmentierung des Wissens wird Simulation nunmehr auch zum Dispositiv für die Aufhebung von Wissen. Das Bild tritt nun als idealtypischer Kanal für die Erklärung der Realität an die Stelle des Wortes. Somit entstehen durch 67
Es kommt einem hier die Aussage von Max Frisch (Mein Name sei Gantenbein) in den Sinn: «Jedermann erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.» 68 «Poststrukturalistisch» à la Jean Baudrillard, L’échange symbolique et la mort. Paris: Gallimard 1976 (dt.: Der symbolische Tausch und der Tod. Batterien 14. München: Matthes und Seitz 1982). 69 Siehe die interessante Gegenüberstellung von Simulation als (re)production und Mimesis als Poiesis, d.h. als (re)creation bei Ewa Borkowska, The «Culture» of Simulation, in: Wojciech H. Kalaga and Tadeusz Rachwał (eds.), Signs of Culture: Simulacra and the Real. Literary and Cultural Theory 7. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2000, 89–99. Zu einer philosophischen Würdigung der Merkmale des «Zeitalters der Simulation» siehe Faßler, Vom Sichtbaren des Denkens, 289–314. 70 Klassisch siehe Richard Hamann, Original und Kopie. Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 15 (1949–1950), 135–156; postmodern siehe Andree, Archäologie der Medienwirkung, 117–134.
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Fiktion und Simulation Bilder, die keinen niedrigeren Status gegenüber the real thing beanspruchen, sondern die im Gegenteil versuchen, dessen kognitives Potential zu überbieten: Das Bild wird selbst zum Experiment, zum idealen Vehikel für ein besseres Verständnis von Weltzusammenhängen.71 Und die Mimesis kann generell als Experiment verstanden werden, aus dem man sich neue Einsichten verspricht.72 Paradoxerweise dokumentiert deshalb gerade die Entwicklung der wissenschaftlichen Simulation den postmodernen Verlust von Vertrauen in das rein wortbasierte, referentielle Wissen.73 Dieses Unbehagen gegenüber den etablierten Erkenntnissen, dieses tiefere Bewusstsein der Grenzen des Wissens begründet die zeitgenössische Sehnsucht nach einer Überwindung der auf die Aufklärung zurückgehenden Trennung von Wissen und Glauben, weil eigentlich nur Glaube – auch in der Wissenschaft – Vertrauen stiften kann.74 Dadurch hat die poststrukturalistische Philosophie einen epistemischen Nerv getroffen und Ausschlag gegeben, die Frage des kognitiven Status der Grundlagenforschung und die traditionelle, auf Wilhelm Dilthey zurückgehende Opposition von Geistes- und Naturwissenschaften75 zu problematisieren. Denn es ist 71
Siehe Huber, Bilderwissen. Zu Experiment > Theorie > Simulation, bes. zur Stellung der Theorie im wissenschaftlichen Diskurs siehe Norbert Bolz, Die Prinzen von Serendip, in: Clemens Schwender, Jakob Dittmar und Hans Prengel (Hrsg.), Abbild – Modell – Simulation. Technical Writing 6. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2005, 217–242. In der wissenschaftlichen Konvention (d.h. in der Theoriebildung) habe Zuverlässigkeit (ich würde eher sagen: Adäquatheit, d.h. fitness) Richtigkeit ersetzt (d.h. goodness im referentiellen Sinne), und zwar durch jenen Prozess, der bekannt ist als drift from validity to reliability: Steve Fuller, Social epistemology. Bloomington: Indiana University Press 2002. 72 Siehe Pöppel, Der Rahmen, 39–40. 73 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris: Éditions de Minuit 1979 (dt.: Das postmoderne Wissen. Wien: Passagen Verlag 52006). 74 Tomasz Kowalewski, Postmodernity and Nostalgia for Rural Life and Community: Constructions and Fabrications, in: Kalaga and Rachwał (eds.), Signs of Culture, 29–38. Siehe S. 30: «Nostalgia is then a response to the world which is characterized by the collapse of certainty and the constant re-redefining of identities.» 75 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erstdruck Leipzig: Duncker & Humblot 1883.
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