Adversus Ramistas

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SCHWABE PH I LOSOPH I CA

Riccardo Pozzo

Adversus Ramistas Kontroversen über die Natur der Logik am Ende der Renaissance

Schwabe

XIII




SCHWABE PHILOSOPHICA XIII

HERAUSGEGEBEN VON HELMUT HOLZHEY UND WOLFGANG ROTHER

SCHWABE VERLAG BASEL


RICCARDO POZZO

ADVERSUS RAMISTAS KONTROVERSEN ÃœBER DIE NATUR DER LOGIK AM ENDE DER RENAISSANCE

SCHWABE VERLAG BASEL


Publiziert mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung

© 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel Lektorat: Barbara Handwerker Küchenhoff, Erika Regös, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2818-7 www.schwabe.ch


Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Platonismus und Aristotelismus in der Renaissance  . . . . . . . . . . . 2. Peripatetiker, Philippisten, Ramisten, Philipporamisten, Semiramisten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Philosophiehistorische Stellung von Kornelius Martini  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 9

Erstes Kapitel. Tradition: dialectica, logica  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Melanchthons Dialektik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ramus’ Dialektik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Paduaner Logik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Universität Rostock  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Universität Helmstedt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 29 33 41 44 48 52

Zweites Kapitel. Begründung: idea, organon-instrumentum  . . . . . . . . . . 1. Fundament  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Idea  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Habitus organicus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Loci  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Martinis Konsequenzen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Anatomia logicae Aristotelicae et Rameae  . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 65 68 75 82 86 90

14 20

Drittes Kapitel. System: ars, habitus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Abgeschlossenheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Ars  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Habitus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4. Logica systematica et habitualis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113


6

Inhaltsverzeichnis

Viertes Kapitel. Standpunkt: thema, modus considerandi  . . . . . . . . . . . 119 1. Reduplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Thema  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Modus considerandi  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4. Res  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5. Semantik des Kornelius Martini  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 6. Abgrenzung der Logik von der Metaphysik  . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Fünftes Kapitel. Setzung: adiunctum-obiectum, subiectum  . . . . . . . . . . 159 1. Position  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Vorgeschichte von Descartes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3. Adiunctum-obiectum et subiectum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4. Obiective, obiective consequenter et subiective  . . . . . . . . . . . . . . . 168 5. Semiramisten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Anhang. Kornelius Martini: De natura logicae prolegomena  . . . . . . . . 187 Literatur und Siglen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 1. Siglen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Handschriftliche Quellen und Archivalien  . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 3. Gedruckte Quellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 4. Forschungsliteratur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Sachregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253


Vorwort Dieses Buch hat eine lange, auf das Jahr 1988 zurückgehende Vorgeschichte: Es waren ein Wolfenbüttel-Stipendium und zwei Humboldt-Stipendien zur Quellengeschichte von Georg Friedrich Meiers Vernunftlehre und von Immanuel Kants Logik, die mich mit den Helmstadenses vertraut machten. Im Anschluss daran veröffentlichte ich einige Beiträge zu einzelnen Themen der Philosophie der Renaissance. Dass es aber zu dieser umfassenden und eine einheitliche Perspektive bietenden Arbeit kommen konnte, verdanke ich der Aufforderung von Professor Enno Rudolph (Universität Luzern), an der Abfassung des Kapitels «Drehscheibe Padua» in dem von ihm und ­Professor Gernot Michael Müller (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) herausgegebenen Band Renaissance und Humanismus des Grundrisses der Geschichte der Philosophie mitzuwirken. Dieser Beitrag für den Grundriss war als gemeinsame Arbeit von Professor Franco Volpi (Università di Padova) und mir geplant. Franco Volpis unerwarteter und für uns alle sehr trauriger Tod am Engelsmontag 2009 brachte das Unterfangen zum Scheitern. Da sich inzwischen das Kapitel dank des Einsatzes von Professor Simone De Angelis (Universität Graz) in der Endphase befindet, habe ich mit großer Freude und Dankbarkeit den Vorschlag der Kollegen Professor Helmut Holzhey (Universität Zürich) und Professor Wolfgang Rother (Universität Zürich und Schwabe Verlag, Basel) angenommen, die Ergebnisse meiner Forschungen zur Philosophie und Logik am Ende der Renaissance in der den Grundriss flankierenden Reihe Schwabe Philosophica vorzulegen. Mein aufrichtiger Dank gilt der Herzog August Bibliothek und der Alex­ ander von Humboldt-Stiftung – von beiden Institutionen erhielt ich Stipendien, die meine ertragreichen Aufenthalte in Wolfenbüttel und Trier von 1988 bis 2003 ermöglichten; die Alexander von Humboldt-Stiftung hat dar­ über hinaus einen namhaften Druckkostenzuschuss gewährt. Herzlich ­danken möchte ich insbesondere Professor Norbert Hinske sowie dem inzwischen leider verstorbenen Professor Friedrich Niewöhner für ihre Gastfreundschaft vor zwanzig Jahren, allen oben genannten Schweizer Kollegen sowie Professor Evandro Agazzi (Universidad Autónoma Metropolitana/


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Vorwort

Cuajimalpa, Mexico) und Professor Enrico Berti (Università di Padova) für ihre Aufforderung und Unterstützung, Annette Popel Pozzo, M.A., M.L.I.S., für ihr Korrekturlesen und natürlich auch für ihre Geduld, Dr. Barbara Handwerker Küchenhoff und lic. phil. Erika Regös für die Lektoratsarbeit, Dr. Maria Cristina Dalfino vom Istituto per il Lessico Intellettuale Europeo e Storia delle Idee-CNR für ihre Hilfe bei der Vorbereitung zum Druck sowie schließlich Ada Russo, M.A., und Simona Lampidecchia dafür, dass sie viele der in dieser Studie behandelten Texte unter dem Stichwort «Archivio di ­testi logici del Rinascimento» in die Datenbank des ILIESI-CNR gestellt ­haben. Das Buch ist dem Andenken zweier herausragender Philosophiehisto­ riker gewidmet: Professor Eugenio Randi (1957-1990) und Professor Franco Volpi (1953-2009). Rom, im Mai 2011

Riccardo Pozzo


Einleitung Da diese Untersuchung von Kontroversen am Ende der Renaissance handelt, habe ich die Methode der history of controversies von Marcelo Dascal sowie die neuesten Versuche der intellectual historians – ich denke besonders an die Studien von Leen Spruit und Howard Hotson – berücksichtigt.1 ­Darüber hinaus bin ich der für die Logikgeschichte von mir bereits erprobten Verbindung von Begriffs-, Ideen- und Problemgeschichte gefolgt.2 In allen Kapiteln werden die einzelnen Kontroversen zunächst in ihrer Problema­ tizität anhand eines Begriffspaares eingeführt. Die Texte sollen aber auch für sich sprechen, denn diese Studie steht in Einklang mit der von Tullio ­Gregory initiierten und der am Istituto per il Lessico Intellettuale Europeo e Storia delle Idee-CNR seit 1964 praktizierten lexikalischen Erfassung von Texten und gehört somit zu den Pionierarbeiten, die sich der Erschließung eines aus der Renaissance stammenden, gewaltigen und komplexen Quellen­ materials widmen.3

1. Platonismus und Aristotelismus in der Renaissance Es gibt keinen Denker der Renaissance, der sich eindeutig und ausschließlich als Vertreter der Lehre Platons oder Aristoteles’ verstanden hat: Jeder hat in seinem philosophischen Weltverständnis Elemente sowohl des Ersteren als auch des Letzteren beibehalten. Die Beispiele von Melanchthon und Ramus sind in dieser Hinsicht erhellend. Trotz seines ausdrücklichen Aristotelismus verhält sich Melanchthon im Hinblick auf verschiedene Fragen als Platoniker, und Ramus – der vermeintliche Erzfeind des Aristoteles – akzeptiert doch immerhin die aristotelische Kategorien- und Beweislehre. Plato

1 M.

Dascal: Interpretation and Understanding; L. Spruit: Species Intelligibilis; H. Hotson: Commonplace Learning. 2 R. Pozzo: Kant und das Problem einer Einleitung in die Logik; ders. u. M. Sgarbi (Hg.): Begriffs-, Ideen- und Problemgeschichte im 21. Jahrhundert. 3 T. Gregory: Origini della terminologia filosofica moderna.


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Einleitung

nismus und Aristotelismus in der Renaissance lassen sich nichtsdestoweniger als mitgestaltende Faktoren erkennen, da sie explizit oder implizit die Zielrichtung der in den damaligen Debatten engagierten Autoren mitbestimmen.4 Was bedeutet aber Aristotelismus während der Renaissance, etwa im ­Unterschied zum Platonismus? Paul O. Kristeller und Charles B. Schmitt ­haben herausgestellt, dass jeder Denker der Renaissance weder rein Platoniker noch rein Aristoteliker war, sondern beides zusammen, und zwar immer unter Einbeziehung des neuplatonischen Corpus Hermeticum, wie von Eugenio Garin unermüdlich hervorgehoben wurde.5 Tatsache ist, dass es unterschiedliche Adressatenkreise gegeben hat. Während Aristoteles die Quelle der auf Lateinisch verfassten Hochschulkompendien war, fand Platon an gelehrten Schulen dank mehrerer Übersetzungen in die Nationalsprachen eine breite Leserschaft.6

4 Thematisch

dazu C. B. Schmitt: Platon et Aristote dans les universités et les c­ ollèges du XVIe siècle. 101. Trotz der Herrschaft des Aristotelismus erstreckte sich ein Einfluss des Platonismus «surtout par l’intermédiaire des académies, de la lecture privée, et du contact personnel. Même cet enseignement limité de Platon indiquerait que les universités n’étaient pas aussi figées dans leurs attitudes qu’on le suppose dans les manuels. A mesure que le XVIe siècle s’avançait, de plus en plus de textes non aristotéliciens figuraient au programme de philosophie.» Die Verbreitung des Platonismus innerhalb der Hochschulen in der Renaissance lässt sich – ebd. 102 – auf diese Weise rekonstruieren: «en remontant dans le temps jusqu’aux premiers efforts de Schneevogel à Leipzig, d’Aléxandre à Paris, et d’Agrippa à Pavie; puis en indiquant au milieu du XVIe siècle le développement d’un enseignement nettement platonicien aux universités de Paris, de Pise, de ­Ferrare, et de Rome». Vgl. auch R. Klibansky: The Continuity of the Platonic ­Tradition; A. Maierù: University Training in Medieval Europe. 5 Vgl. P. O. Kristeller: The Classics and Renaissance Thought. Kap. 1-2. Zur Zusammenwirkung von Antike, Scholastik und Humanismus vgl. auch ders.: Renaissance Thought; E. Garin: La cultura filosofica del Rinascimento italiano; C. B. Schmitt: Aristotle and the Renaissance. Kap. 1; ders.: La tradizione aristotelica fra Italia e Inghilterra. Siehe auch J. H. Randall, Jr.: The Development of Scientific Method in the School of Padua; ders. The School of Padua and the Emergence of Modern Science. 6 Vgl. C. B. Schmitt: Aristotle and the Renaissance. Kap. 2. Thematisch dazu ders.: Platon et Aristote dans les universités et les collèges du XVIe siècle. 94-95: «En fait, le platonisme, comme c’est le cas pour d’autres systèmes philosophiques de l’antiquité qu’on avait essayé de restaurer, ne sut jamais pénétrer d’une manière


Platonismus und Aristotelismus in der Renaissance

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Der kontinuierliche und kumulativ enorme Denkanstoß, der zunächst zu Pietro Pomponazzi und daraufhin zu Jacopo Zabarella führt, kennzeichnet das Studium Universitatis von Padua als den luogo naturale, an welchem die Entstehung der modernen Wissenschaft besser als an allen anderen Orten stattfinden konnte. Der Aristoteles von Padua war griechisch und lateinisch. Denn bereits im 12. Jahrhundert kopierten die scriptoria des Benediktinerklosters Santa Giustina antike Übersetzungen der aristotelischen Texte, und am Ende des 13. Jahrhunderts war Petrus von Abano imstande, Aristoteles auf Griechisch zu lesen. Sowohl das averroistische Menschenbild als auch die neue Sicht Pomponazzis versuchen zu zeigen, dass ein an die Sterblichkeit gebundener Mensch doch imstande sein kann, die Wahrheitsschau zu erlangen. Dieses grund­ legende Menschenbild vereinigt zwei scheinbar entgegengesetzte Posi­ tionen. Bis hin zu Zabarella ist es sehr schwierig, die einzelnen Philosophen jener oder dieser Partei zuzuschreiben. Von der Erfindung der Buchkunst bis zur Baseler Ausgabe der Opera von 1538 wurden die Werke des Aristoteles (philosophus) in der Regel von denen des Averroes (commentator) ­begleitet. 1481 versuchte zwar Philippus Petri einen Anfang in der Richtung einer Gesamtausgabe des Aristoteles Latinus zu machen, indem er das Organon (Gesamtkatalog der Wiegendrucke Nr. 2391) und 1482 die Texte De ­naturali philosophia (Gesamtkatalog der Wiegendrucke Nr. 2396) selbständig veröffentlichte. Petri ging allerdings nicht weiter und hatte auch keine Nachfolger. Die erste vollständige lateinische Ausgabe von Aristoteles und Averroes verdankt man Nicoletto Vernia, damals der bekannteste unter den significative dans l’enseignement universitaire. En 1500, en 1600, et même jusqu’en 1675, l’enseignement scientifique universitaire fut basé sur le corpus aristotelicum, phénomène qui avait duré depuis le XIIe siècle. Alors que l’enseignement de la philosophie avait changé d’une façon remarquable pendant cette même période, et subi des transformations successives et importantes pendant les trois siècles qui séparaient les débuts de l’humanisme du siècle de Descartes, il faut tout de même constater que l’enseignement de la philosophie au niveau universitaire resta ­profondément aristotélicien. […] C’est surtout sur les académies et sur les cercles littéraires que le platonisme exerça son influence; il pénétra l’enseignement universitaire jusqu’à un certain point. Seulement, faute de documentation exacte, il est très difficile d’estimer à juste titre toutes les tentatives qui furent faites pour introduire Platon dans l’enseignement universitaire. Peut-être ces tentatives ­ ­furent-elles plus nombreuses qu’on ne pense.»


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Einleitung

Averroisten, der die Ausgabe von 1483 (Gesamtkatalog der Wiegendrucke Nr. 2337) herausgab, die alle Texte außer der Rhetorica wiedergibt, und zwar in akkuraten neuen Übersetzungen aus dem Griechischen, dem Arabischen sowie dem Hebräischen. Vernias Ausgabe galt als Vorbild bis zur Ausgabe von Aristoteles und Averroes durch Tommaso Giunti von 1550-1552, die 1573-1576 neu aufgelegt wurde.7 Man darf ferner die Mitwirkung des Epikureismus, des Skeptizismus und des Stoizismus nicht außer Acht lassen sowie die die philosophischen Diskussionen noch prägenden scholastischen Orden – vor allem die Thomisten (Dominikaner und ab 1540 Jesuiten) und die Scotisten (Franziskaner). In der hier berücksichtigten Zeitspanne war der Humanismus eine treibende Kraft, allerdings trat er in Deutschland in zwei Varianten auf: zum einen beim ­jungen Melanchthon (um 1520) und zum anderen bei Johannes Caselius (um 1590). Melanchthons Humanismus ist bei allem Aristotelismus der stoischciceronianischen Tradition der Logik und der Rhetorik eng verbunden (man denke an seine Abhängigkeit von Rudolf Agricola).8 Johannes Caselius stellt sich eher als ein Humanist im Sinne von Erasmus dar. Caselius und sein ­Schüler Kornelius Martini verlangen eine Rückkehr zu dem echten Aristoteles – ohne Einbeziehung von Cicero oder von Agricola.9 Die Spaltung hinsichtlich des Verständnisses von Humanismus macht uns darauf aufmerksam, dass das Problem der Stellung der Topica innerhalb des Organon (ob sie der Analytica voran- bzw. nachgestellt werden sollte) einen wesentlichen Einfluss auf die Entgegensetzung von Platonismus und Aristotelismus hatte. Agricola, Melanchthon und Ramus legten im Sinne des ­Platonismus den Schwerpunkt der Logik auf die Topik, um erst daraus eine

7 Siehe

dazu F. E. Cranz: Editions of the Latin Aristotle accompanied by the c­ ommentaries of Averroes; E. P. Mahoney: Neoplatonism, the Greek Commentators, and Renaissance Aristotelianism. 169-177, 264-282; ders.: Aristotle and Some Medieval and Late-Renaissance Philosophers; A. Kenny (Hg.): Essays on the ­Aristotelian Tradition; R. W. Sharples (Hg.): Whose Aristotle? Whose Aristote­ lianism?; G. Piaia (Hg.): La presenza dell’aristotelismo padovano nella filosofia della prima modernità. 8 Vgl. W. Risse: Logik der Neuzeit. Bd. I. 81-88. 9 Über die Wirkung des Humanismus von Johannes Caselius am Ende der Renaissance vgl. F. Koldewey: Geschichte der klassischen Philologie auf der Universität Helmstedt; E. Bonfatti: La «civil conversazione» in Germania. 86-90; G. Roncaglia: Palaestra rationis. 49.


Platonismus und Aristotelismus in der Renaissance

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Beweistheorie zu erarbeiten.10 Caselius, Martini und ihr Kreis lehnten da­ gegen – als orthodoxe Aristoteliker – die topische Auffassung der Logik ab und hielten an der Analytik als der einzigen wissenschaftlich berechtigten Grundlegung der Logik und der Methode fest. In der Tat ist die Frage nach dem wissenschaftlichen Status der Topik (von den Humanisten als System der loci verstanden) das Kriterium, wodurch sich platonische und aristotelische Einflüsse aufs Deutlichste unterscheiden ­lassen. Es geht nicht nur um die Auseinandersetzung zwischen einer «humanistischen» und einer «traditionellen» Logik, sondern um eine Grundlagenfrage.11 Es geht um das Verhältnis der Kategorien zu den loci. Wenn die ganze Logik als System der loci aufzufassen ist (denn die loci umfassen ­sowohl die phainomena als auch die endoxa), was ist dann ihr ontologischer Bezug? Dieses Problem hatte Aristoteles nicht, weil für ihn die Logik durch die auf der Abstraktionstheorie der Analytica Posteriora I 31 (87b 29-88a 17) beruhende Begriffslehre fundiert war. Das von den Humanisten aufgeworfene Projekt einer Topik als System verträgt dagegen nur eine direkte ontologische Grundlegung mit der Folge, dass jedem topos ein Teil des Seienden zugeschrieben wird, und jede Aussage der Logik in der entsprechenden ­species entis ihre Bedeutung findet. Die orthodoxen Aristoteliker lösten im 10 Das Problem der Stellung der Topica innerhalb des Organon wurde von S. Otto: Rhetorische Techne oder Philosophie sprachlicher Darstellungskraft? 497-514 in Bezug auf Rudolf Agricola dargelegt. Vgl. auch R. Pozzo: Melanchthon and the Paduan Aristotelians. 11 Zwei Definitionen sind in der Cambridge History of Renaissance Philosophy zu finden. Zu der sich erneuernden «traditional logic» vgl. E. J. Ashworth. ebd. 164: «First, the syllogism is presented as the focal point of the study of valid inference [...]. Second, there is a complete absence of the sophisms which had formed so ­prominent a feature of earlier texts [...]. Third, there is a completely new attitude to language, which is signaled both by the general disappearance of sophisms and by the disappearance of special problem cases from the discussion of such matters as exponibles and conversion.» Zur neu hinzugekommenen «humanistic logic» vgl. L. Jardine: Humanistic logic. 175: «A humanist treatment of logic is characterized by the fundamental assumption that oratio may be persuasive, even compelling, without its being formally valid (or without the formal validity of the argument being ascertainable). It takes the view, therefore, that any significant study of ­argument (the subject-matter of logic/dialectic) must concern itself equally with argument (strictly, argumentation) which is compelling but not amenable to ­analysis within formal logic.»


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Einleitung

Gegensatz zu den Ramisten die Frage nach dem ontologischen Bezug durch die Herausarbeitung der Unterscheidung zwischen intentiones primae et ­secundae auf. Am Ende der Renaissance wandten Caselius und Martini ihren kritischen Humanismus so weit an, dass sie die implizit platonischen Voraussetzungen von Humanisten wie Agricola, Melanchthon und Ramus an die Oberfläche zu bringen wussten. Dadurch wurde endgültig klar, welche wahrhaft platonischen bzw. aristotelischen Motive die logischen Debatten des 16. Jahrhunderts prägten. Nicht zuletzt war die Entscheidung der Frage nach der techne-Definition der Logik wesentlich: Ist sie als ein System (wie bei den Stoikern) oder als ein Habitus (wie bei Aristoteles) zu verstehen?12 Ist sie ein System, so be­ nötigt sie eine extramentale Grundlegung, also eine Grundlegung in den ­ewigen Strukturen der Natur, d.h. in der platonischen Ideenwelt. Ist sie ein Habitus, so wird sie dem Wissenschaftler als flexibles Instrument auf seiner Suche nach der Feststellung der Wahrheit dienen.

2. Peripatetiker, Philippisten, Ramisten, Philipporamisten, Semiramisten Die während der Renaissance in Deutschland tätigen Logiker lassen sich bestimmten Sekten zuordnen. Doxographisch sind solche Bezeichnungen wie Peripatetici, Philippistae, Ramistae, Philipporamistae, Semiramistae gut belegt.13 Es nützt wenig, sie als «verschwommene Kategorien» zu liquidieren,14 in welche «die verschiedensten Ansichten geworfen werden».15 Joseph S. Freedman mag mit Recht eine prinzipielle Schwierigkeit bei diesen Bezeichnungen darin sehen, dass die Historiker, die mit ihnen arbeiten, nicht immer 12 Aristoteles: Ethica Nicomachea. VI 4. 1140a 7-10. Die von Lukian (De parasito. IV. Kap. 2) verbreitete Definition von techne als sustema stammt von Zenon von Kition (vgl. Stoicorum veterum fragmenta. I. 21. 6). Vgl. W. Risse: Logik der ­Neuzeit. Bd. I. 17; N. Holzberg: Lucian and the Germans. 199-209. 13 Zur Einführung vgl. W. Risse: Logik der Neuzeit. Bd. I. Kap. 4. 201-204 (Peri­ patetiker). Kap. 2. 79-80 (Philippisten). Kap. 3. 177-180. (Ramisten). 181-182. (Philipporamisten). Kap. 6. 440-441. (Semiramisten); M. Albrecht: Eklektik. 118-143; S. Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650. 14-15. Schließlich im HWPh: Ramismus. Bd. VIII. 14-17. 14 U. G. Leinsle: Das Ding und die Methode. 176. 15 J. Freudenthal: Goclenius, Rudolph. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. IX. 311.


Peripatetiker, Philippisten, Ramisten, Philipporamisten, Semiramisten

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über eine «präzise» Definition verfügen.16 Jedoch berücksichtigt Freedman hierbei nicht, dass die Sektennamen nicht «bloße Hilfsmittel» für die heutige historische Forschung, sondern vielmehr «historische Gegenstände» sind, die von der Forschung als solche problematisiert werden müssen.17 Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf den Zeitraum von der Entstehung der melanchthonischen Logik (um 1520) bis zu ihrer wegen der Vermischung mit der ramistischen Logik verursachten Auflösung und daher Aufhebung durch die Rückkehr zu der Logik und Metaphysik der ‘reinen’ bzw. ‘orthodoxen’ Aristoteliker (um 1620). Ihr Gegenstand sind die um die Jahrhundertmitte einsetzenden Auseinandersetzungen zwischen Aristote­ likern und Ramisten, die ihre Zuspitzung in den Debatten der 90er Jahre fanden. Geographisch bleibt diese Untersuchung auf den deutschen Sprachraum unter Einbeziehung der Niederlande und Englands beschränkt, und zwar mit besonderer Rücksicht auf die Academia Iulia, die 1576 gegründete Helmstedter Universität. Eine ebenso auf Helmstedt zentrierte philosophiehistorische Untersuchung wurde von Gino Roncaglia in seiner Dissertation über die Modallogik im Deutschland des 17. Jahrhunderts vorgelegt. Die ­Arbeit Roncaglias lässt sich als fruchtbarer wirkungsgeschichtlicher Vor­ gänger der vorliegenden Arbeit lesen.18 Einflüsse und Wirkungen der in dieser Untersuchung berücksichtigten Ansätze weisen allerdings weit über den genannten Sprachraum hinaus. So tritt etwa im Ramismus der französische neben dem von Melanchthon bestimmten deutschen Lehrbetrieb auf. Manche der in dieser Arbeit berücksichtigten Autoren haben ihre Quellen in Italien, vor allem in Padua, aber auch in Spanien und Portugal, in Salamanca und Coimbra. Peter Petersen war der erste, der in seiner 1921 erschienenen Studie den Begriff des «protestantischen Aristotelismus» hervorhob und ihn als eine der wichtigsten Neuerungen im Spannungsfeld der europäischen Philosophie der Neuzeit darstellte.19 Seitdem hat sich die Debatte über das Thema «Aris­ 16 J. S. Freedman: European Academic Philosophy in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Centuries. 159 kritisch zu W. J. Ong: Ramus and Talon Inventory. 510-533. 17 J. S. Freedman: ebd. 18 Vgl. G. Roncaglia: Palaestra rationis. 19 Vgl. P. Petersen: Geschichte der Aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland.


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Einleitung

totelismus und Renaissance» mit immer neuen Fragestellungen weiterent­ wickelt.20 Man hat festgestellt, dass die Geistesgeschichte der Renaissance ihre Koordinaten in drei strukturellen Prinzipien findet, die den Bezug zu Aristoteles zusammen mit oder auch ohne Platon voraussetzen: (a) kein Teil des aristotelischen Corpus gerät in Vergessenheit, (b) Latein als Sprache der Gelehrten behält eine allgemein verbindende Funktion, (c) die Organisation der Lehr- und Forschungsstätten – vor allem der Universitäten – bleibt ­stabil.21 Im Hinblick auf die Geschichte der Logik ist die Renaissance eine Umbruchzeit. Man braucht nur die Entwicklung der Lehrbücher zu verfolgen. So schreibt E. Jennifer Ashworth: The period 1500-1650 is a distinctive one in the history of logic. It begins when the great works of fourteenth century logic, embedded in university curricula all over Europe, are replaced by new and different texts; it ends when the «new philosophies», first of Descartes and later of Locke, infiltrate the study of logic and lead logicians to embrace an «explicit consideration of the cognitive faculties and their operations» at the expense of mere formal concerns [...]. Writings purely in the medi­ eval tradition ceased abruptly after 1530, at least outside Spain; but some parts of the medieval contributions to logic continued to be included in at least some textbooks. The new interest of rhetorical humanism, the emphasis on the topics, on strategies for plausible argumentation, on methods of organizing discourse, on the use of classical examples, had a great impact on the classroom. However teachers soon found that the works of Agricola himself or of the later Pierre de la Ramée contained insufficient formal material, and their writings were soon supplemented by Aristotelian syllogistic.22

20 Für einen status quaestionis vgl. C. B. Schmitt: Towards a History of Renaissance Philosophy. 9-16. 21 Ebd. 20. Zu den Handbüchern in den vom nördlichen Humanismus beeinflussten Universitäten vgl. A. Grafton u. L. Jardine (Hg.): From Humanism to the Humanities. 122-157. Vgl. auch N. Hammerstein: Humanismus und Universitäten; C. Vasoli: «Logica» ed «encyclopedia» nella cultura tedesca del tardo Cinquecento e del primo Seicento; P. Baumgart: Humanistische Bildungsreform an deutschen Universitäten des 16. Jahrhunderts; J. S. Freedman: Deutsche Schulphilosophie im Reformationszeitalter (1500-1650); P. O. Kristeller: Scholastik und Humanismus an der Universität Heidelberg; L. Grane: Studia humanitatis und Theologie an den Universitäten Wittenberg und Kopenhagen im 16. Jahrhundert. E. J. Ashworth: Traditional Logic. 75-76. Zum Begriff facultative Logic vgl. 22 J. G. Buickerood: The Natural History of the Understanding.


Peripatetiker, Philippisten, Ramisten, Philipporamisten, Semiramisten

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«The history of formal logic is a recent science», darauf wies Joseph Marie Bochenski 1958 hin.23 In der Tat befindet man sich sogar noch fünfzig Jahre später in der Rolle der Pioniere, da die Erschließung eines gewaltigen Materials weiterhin bevorsteht. In dieser Hinsicht ist die monumentale Arbeit Wilhelm Risses eine unentbehrliche Voraussetzung.24 Risse hat bewiesen, dass in der Renaissance keine Logik ad mentem Platonis vorgelegt wurde. Höchstens die Erkenntnislehre des Marsilio Ficino könne als echter platonischer Versuch im Rahmen der neuzeitlichen Logik gelten.25 Die aristotelische Logik der Renaissance – so Risse – sei übrigens auch kein einheitliches Gebäude gewesen, und man müsse deshalb vielmehr mit einer Mehrzahl von sich auf Lokaltraditionen gründenden Ansätzen rechnen.26 So lassen sich ­beispielsweise die Konturen des Helmstedter Aristotelismus nicht zuletzt durch die Rekonstruktion der Geschichte der Academia Iulia unmittelbar nach ihrer Gründung ausmachen. Zurück zu der Frage nach den Sekten: Was heißt Peripateticus in der Renaissance? In einem weiteren Sinn umfasst der Terminus alle Logiker, die sich auf Aristoteles berufen – also mit Ausnahme von Ficino beinahe alle – Melanchthon eingeschlossen natürlich und selbst Ramus. In einem engeren Sinn bezeichnet Peripateticus jene Rezeptionsstränge, die während der Renaissance eine Rückkehr zu dem ‘reinen’ Aristoteles gefordert und somit eine erneute Interpretation des Corpus Aristotelicum im Sinne einer neu­ gegründeten Orthodoxie vorgelegt haben. Risse pflegt die zwei Seelen des neuzeitlichen Aristotelismus nach dessen averroistischem bzw. alexandrinistischem Ursprung zu unterscheiden. Die Logiker der Schule von Padua setzten die Tradition des Averroismus – gleichsam im Sinne einer Orthodoxie – fort, während sich andere mit der von Aldo Manuzio neuedierten

23 J. M. Bochenski: Formale Logik. 240. Vgl. auch W. Kneale u. M. Kneale: The ­Development of Logic; M. Capozzi u. G. Roncaglia: Logic and Philosophy of Logic from Humanism to Kant. Für eine kritische Stimme vgl. P. T. Geach: A ­History of the Corruptions of Logic. 24 W. Risse: Logik der Neuzeit. Bd. I; ders.: Bibliographia logica. 25 Ders.: Logik der Neuzeit. Bd. I. 275. Vgl. M. Ficino: Theologia platonica. VIII. Kap. 16.: «Cognitio per quandam mentis cum rebus adaequationem perficitur.» 26 Zu den aristotelischen Logikern der Renaissance zählt Risse: ebd. Kap. 4-6, neben den Philippisten, die Altaristoteliker, die Thomisten, die Scotisten und die Systematiker.


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Einleitung

­ ristotelesausgabe kritisch befassten,27 und zwar unter Einbeziehung der A Kommentatoren aus der Spätantike (Alexander von Aphrodisias, Ammonius, Themistius).28 Philippista ist ein Terminus, in dem sich Theologie und Philosophie überschneiden. Denn er bezeichnet zum einen die Anhänger Melanchthons im Rahmen der Kontroversen über die Konkordienformel im Gegensatz zu den Gnesio-Lutheranern;29 zum anderen meint der Terminus aber auch diejenigen Logiker, die sich – anders als die Ramisten, die reinen Aristoteliker und die orthodoxen Lutheraner – strikt an den Text der Erotemata dialectices hielten.30 Was Ramista betrifft, muss man auf die umfassende bibliographische Untersuchung von Walter J. Ong verweisen, die trotz der unvermeidlichen Unbestimmtheit mancher Zuschreibung eine immerhin gewaltige Menge an Informationen bietet.31 Da wir unter Ramistae die unmittelbaren Verbreiter der ramistischen Lehren in Europa verstehen, wird die Abgrenzung der ­Ramistae von den Philipporamistae und den Semiramistae von selbst klar.32 27 Vgl. F. E. Cranz: Editions of the Latin Aristotle accompanied by the commentar­ ies of Averroes. 28 Zu Alexandrinismus und Averroismus vgl. W. Risse: Averroismo e Alessandrinismo nella logica del Rinascimento; G. Müller: Die Aristoteles‑Rezeption im deutschen Protestantismus. 29 Für einen Versuch, den Philippismus aufgrund seiner theologischen und geistesgeschichtlichen Bedeutung zu verdeutlichen, siehe E. Koch: Der kursächsische Philippismus und seine Krise in den 1560er und 1570er Jahren. 30 Als kritisch bewussten Vertreter des Philippismus um das Ende des 16. Jahr­ hunderts möchte ich Matthias Flacius Illyricus d. J. erwähnen, der trotz des von seinem Vater inspirierten Gnesio-Lutheranismus eine kohärente und innovative Haltung gegenüber Melanchthons Logik vertrat. 31 W. J. Ong: Ramus. Method, and the Decay of Dialogue. 510-533. 32 Zur Verbreitung des Ramismus im ganzen Europa vgl. J. Moltmann: Zur Bedeutung des Petrus Ramus für Philosophie und Theologie im Calvinismus; W. J. Ong: Ramus and Talon Inventory; W. S. Howell: Logic and Rhetoric in England, 15001700; G. Oldrini: La disputa sul metodo nel Rinascimento. Im deutschen Sprachraum vgl. J. T. Freige: Trium artium logicarum, grammaticae, dialecticae et rhetoricae breves succintisque schematismi [1568]; W. A. Scribonius: Triumphus logicae Rameae (1587); K. Neander: Tabulae plane novae, succinctae ac conspicuae in ­nobilem illam disserendi artem Petri Rami dialecticae libros duos (1591); H. Nicephorus: Theses Iova praeside, dialecticae, grammaticorhetoricae, physicae, ethicotheologicae (1594); H. Rennemann: Pro Ramea philosophia dissertatio (1595);


Peripatetiker, Philippisten, Ramisten, Philipporamisten, Semiramisten

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Unter Philipporamistae verstand man eine Gruppe von lutherischen ­ ogikern, die in Anlehnung an die Regulae studiorum von David Chyträus L eine Verbindung, in ihren eigenen Worten eine Harmonie, von Melan­ chthons Erotemata und Ramus’ Dialectica verfolgten und auch zustande brachten. Allerdings war die Suche nach Harmonie zwischen diesen großen Geistern gegen die reinen Aristoteliker gerichtet. Man denke an Friedrich ­Beurhaus und Heizo Buscher. Während der Philipporamismus eine zeitlich begrenzte Erscheinung war, die ihre polemische Kraft in der Zeitspanne von 1575 bis 1600 erschöpfte, gewann der Semiramismus eine viel breitere und dauerhaftere Rezeption. Als Spottname von einigen deutschen Aristotelikern (vermutlich in Wittenberg um das Jahr 1620 eingeführt) verwendet, bezeichnet das Substantiv ­Semiramistae eine Gruppe von calvinistischen Logikern, die sowohl gegen die Aristoteliker als auch gegen die Ramisten bzw. die Philipporamisten polemisierten und sich allerdings nicht davor scheuten, eine Mischung ­ ­aristotelischer und ramistischer Lehrstücke auszuarbeiten.33 Als geistige Strömung entwickelt sich der Semiramismus erst um die Jahrhundertwende. Seine Gründer waren Rudolph Goclenius, Bartholomäus Keckermann, ­Klemens Timpler und Johann Heinrich Alsted. Eine große Resonanz fand der Semiramismus in England durch die Cambridge Logiker um William Temple und in den Niederlanden durch Franco Burgersdijk.34 ders.: Philosophiae Rameae insuperabile scutum (1599); ders.: Enodatio totius ­philosophiae Rameae [1599]; G. Marriani: Antigramma respondens ad programmati M. Oveni Gyntheri quo Petrum Ramum caussa indicta (1598). Vgl. auch G. Voigt: Über den Ramismus an der Universität Leipzig. In den Niederlanden vgl. P. Dibon: L’influence du Ramisme aux universités néerlandaises au 17e siècle; ders.: La philosophie néerlandaise au siècle d’or. Bd. I. In England vgl. E. Digby: Libri II. de duplici methodo, Rami methodum refutantes (1580); R. Snell: Commentarius doctissimus in dialecticam Petri Rami forma dialogi conscriptus (1587); ders.: Praelectiones in Rami dialecticam, cum collatione Rami et Philippi Melanchthonis (1596); ders.: Snellio-Ramaeum philosophiae syntagma (1596); ders.: Commentarius in dialecticam Petri Rami (1597). 33 Vgl. vor allem den zeitgenössischen Bericht von Johann Scharf in seinen Institutiones logicae (1632). 32. Die erste belegte Erwähnung von «Semiramismus» ist aber erst in Johann Georg Walchs Historia logicae (1731). 623 zu finden. 34 W. Temple: P. Rami Dialecticae libri duo scholiis G. Tempelli Cantabrigiensis ­illustrate; W. S. Howell: Logic and Rhetoric in England, 1500-1700. 282-317 sowie E. Bos u. H. A. Krop (Hg.): Franco Burgersdijk (1590-1635); M. Savini: Le déve-


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Einleitung

Es sind hier nicht alle Facetten des Aristotelismus der Renaissance zur Sprache gekommen, wohl aber jene Ansätze, die durch ihre Entgegen­ setzungen die epochale Revision der Logik der Renaissance auf der Bühne der deutschen protestantischen Universitäten bewirkt haben.35

3. Philosophiehistorische Stellung von Kornelius Martini Das Leben und Werk des Kornelius Martini (1568-1621) wurde schon in mehrfacher Hinsicht untersucht, obwohl eine ihm gewidmete umfassende Monographie noch ein Desideratum ist. Auch die vorliegende Untersuchung kann dieses Ziel nicht erfüllen und beschränkt sich vielmehr auf seine logischen Schriften.36 Martinis Wirkung lässt sich an vier Strängen verfolgen: (1) an der unmittelbaren Rezeption seiner Erneuerungen im Rahmen der Logik und der Metaphysik, die die ‘zweite Scholastik’ in Deutschland ein­ setzen ließ (man denke an die Rezeption Martinis durch Bartholomäus ­Keckermann und Christoph Scheibler); (2) an der am Ende des 17. Jahrhunderts einsetzenden Anerkennung seiner Rolle als Sieger über den Ramismus, die vor allem durch Johann Franz Budde, Johann Georg Walch, Johann ­Hermann von Elswich und Johann Jakob Brucker bekannt wurde;37 (3) an dem um die Mitte des 19. Jahrhunderts neuerwachten Interesse für seine Rolle innerhalb der Geschichte der protestantischen Theologie (allerdings

loppement de la méthode cartésienne dans les Provinces-Unies (1643-1665). 17-79; M. Sgarbi: Towards a Reassessment of British Aristotelianism. 35 Zu nennen sind hier jene Aristoteliker, die vor Martini den Ramismus bekämpft haben. Unter anderen in England John Case: Summa veterum interpretum in ­dialecticam Aristotelis et quam vere falsove Ramus in Aristotelem invehatur (1597); in Deutschland vor allen N. Frischlin: Dialogus contra Petri Rami sophisticam pro Aristotele (1590). 36 Für eine Kurzinformation über Leben und Werk Martinis siehe C. Lohr: Latin ­Aristotle Commentaries. Bd. II. 567-568; K. Martini: De natura logicae. (Hg. von R. Pozzo). Siehe auch P. Zimmermann: Album. 432-433. 37 J. H. v. Elswich: De varia Aristotelis in scholis protestantium fortuna (1720). 59-61; J. G. Walch: Historia logicae (1731). 631; J. F. Budde: Compendium historiae philosophicae (1731). Bd. IV/1. 320-322; J. J. Brucker: Historia critica philosophiae (1742). Bd. IV/2. 578-582; W. L. G. v. Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und der Metaphysik der Deutschen (1794). Bd. I. 14.


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