Wittgenstein und Adorno

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Rolf Wiggershaus

Wittgenstein und Adorno Zwei Spielarten modernen Philosophierens




Der Autor betrachtet es als einen Glücksfall, dass zwei der origi­ nellsten und unkonventionellsten Philosophen des 20. Jahrhun­ derts – Wittgenstein und Adorno – sowohl die Spannweite wie ent­ scheidende Wesensmerkmale modernen Philosophierens deutlich machen. Ungewöhnlich – gemessen an der Normalität akademi­ scher Philosophie – sind sowohl die Biographien und Karrieren wie die Interessenvielfalt und das Werk der beiden. Soweit man von einer Entwicklung der neueren Philosophie sprechen kann, besteht sie in der wachsenden Einsicht in die geschichtliche und gesell­ schaftliche, biologische und sprachliche Situiertheit der Vernunft. Die ›gebrochenen‹ Karrieren Wittgensteins und Adornos – zweier Juden aus wohlhabenden und bildungsorientierten Familien in der Ära der beiden Weltkriege und totalitärer Systeme – wirken fast wie ein Pendant zur Herausbildung einer Auffassung von Philosophie, die sich als reflektierende und verstrickte Teilnehmerin der Lebens­ welt versteht – und nicht als außenstehende Beobachterin. Als das Moderne der beiden vorgestellten Spielarten des Philosophierens ergibt sich: Es wird keine höhere Einsicht beansprucht, sondern ein Verhalten modellhaft vorgeführt, bei dem nichts Selbst­ verständliches davor sicher ist, mit Verwunderung betrachtet zu werden, und nichts Verwunderliches davon ausgeschlossen ist, als etwas Selbstverständliches betrachtet zu werden.

Rolf Wiggershaus studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik in Tübingen und Frankfurt am Main. Er promovierte mit einer Arbeit über Wittgenstein, Austin und Searle. Er ist freier Schriftsteller und unterrichtet an der Universität Frankfurt a.M. Sein 1986 erschienenes Buch Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung wurde in viele Sprachen übersetzt.


Rolf Wiggershaus

Wittgenstein und Adorno Zwei Spielarten modernen Philosophierens

Schwabe Verlag Basel


Schwabe reflexe 20 © 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des vorliegenden Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Fotomechanischer Nachdruck (S. 7–134) der Erstausgabe (Göttingen 2000) mit stillschweigenden Tekturen, ergänzt um ein Vorwort des Autors und ein aktualisiertes Literaturverzeichnis. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2819-4 www.schwabe.ch


Inhalt Vorwort zur Neuausgabe .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort zur Erstausgabe (Gertrud Koch) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.  Ferne und Nähe zweier jargonfeindlicher Szientismuskritiker und metaphysikkritischer Metaphysiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.  Wittgensteins Philosophieverständnis: Die Kunst, über die richtigen Dinge zu staunen, oder »Schauen Sie es einmal so an!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.  Adornos Philosophieverständnis: Die Kunst unrestringierter Erfahrung, oder »Überlassen Sie sich wirklich der Sache!« . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.  Philosophie und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5.  Der Stil des Philosophierens .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6.  Sprache und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137



Vorwort zur Neuausgabe »Modernes Philosophieren« – ein keineswegs selbstverständlicher Begriff. Kann das mehr besagen als »Philosophieren heute«? Den Unterschied verdeutlicht die Feststellung: Ein epochenunspezi­ fisches Heute hat es immer gegeben, eine epochenspezifische ­Moderne aber gibt es nur und erst in jüngerer Zeit. Modern bedeutet dann: das Neue einer Epoche beschleunigter, auf Dauer ge­ stellter und reflexiv gewordener Erneuerung. Selbst da, wo es um bloße Moden in der Kleidung oder im Design von Personenkraft­ wagen geht, klingt wenigstens untergründig noch etwas wie Em­ phase an: als würde man stets aufs Neue am Anbruch eines un­ erhört Neuen, einer neuen Zeit, teilnehmen können. Doch was macht, wenn es um mehr als bloßen Wechsel geht, das Neue gegenüber dem Veralteten überlegen bzw. attraktiver? Verweise auf Fortschritte in technischer, wissenschaftlicher, poli­ tischer, psychologischer oder anderer Hinsicht sind fragwürdig geworden. Die Ambivalenz von Prozessen wie Industrialisierung und Urbanisierung, Säkularisierung und Rationalisierung, Techni­ sierung und Kommerzialisierung, Individualisierung und Globali­ sierung ist unübersehbar geworden und inzwischen ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Das lenkt den Blick auf die Ursprünge der Emphase, die beim Neuen, beim Modernen noch immer anklingt. Diese Ursprünge zeugen von Erschrecken und Selbstvertrauen, von Aufbruchsstimmung und Mut der Verzweiflung gleichermaßen. »Die neuzeitlichen Philosophen vor Kant«, so formulierte es an­ schaulich der Philosoph Herbert Schnädelbach, »suchten Halt für ihr Denken bei Gott als einem höchsten und notwendigen Wesen, dessen Existenz sie glaubten beweisen zu können. Wir können heute kaum noch ermessen, welcher Schock Kants Nachweis für die Mitwelt bedeutete, daß Gottesbeweise prinzipiell unmöglich sind; es ging dabei gar nicht primär um den Gott der Bibel, son­ dern um den Zusammenbruch einer Weltdeutung, die sich die Perspektive des Absoluten zugetraut hatte. Nach Kant haben wir nur unsere eigene subjektive Vernunft, die als fehlbare ständig der Kritik bedarf; und sie allein muß jetzt die Lasten tragen, die wir uns VII


mit unseren Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit und Objektivität aufbürden.« (Wir Kantianer, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2005) Damit zeichnet sich ab, worum es bei einer Philosophie geht, die nicht bloß beim Prozess dauernder Erneuerung mitmacht, son­ dern die Bezeichnung ›modern‹ in einem spezifischen Sinn ver­ dient. Sie stellt sich der Herausforderung, dass die Traditionen, die bei der Orientierung im Wissen, Verstehen und Handeln halfen, ihre Kraft und ihre Verbindlichkeit verlieren, während gleichzeitig die Dimension der Probleme durch den beschleunigten Wandel einer immer komplexeren und unberechenbareren Welt zunimmt. Kants »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, im De­ zember 1784 in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht, klang hoffnungsvoll und aufbruchsfroh. »Habe Mut, dich deines eige­ nen Verstandes zu bedienen!« sei der Wahlspruch der Auf­klärung. Doch sehr bewusst sprach Kant vom »Mut« zum Selbstdenken, zur Selbstaufklärung eines Publikums, zur Mündigkeit. Mit sei­ nem Aufsatz reagierte er auf den ein Jahr zuvor in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Artikel des Pfarrers Johann Friedrich Zöllner. Der hatte anlässlich des Streits um kirchliche oder zivile Ehe gegen die »unter dem Namen der Aufklärung« in den Köpfen und Herzen der Menschen angerichtete Verwirrung polemisiert und in einer Fußnote gemeint: »Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge!« Was seit Kants Zeiten geschehen ist, lässt sich am knappsten als ›Dialektik der Aufklärung‹ oder ›Ambivalenz des Fortschritts bzw. der Moderni­ sierung‹ charakterisieren. Die Frage, die sich so oder so aufdrängt, ist: Was ist heute und im Rückblick auf das 20. Jahrhundert von dem Wahlspruch »Habe Mut, dich deines eigenen ­Verstandes zu bedienen!« zu halten? Wie weit ist er gültig geblieben, abgewan­ delt oder durch Neues ersetzt, verdrängt, überboten worden? Was findet man dazu bei ›modernen‹ Philosophen? Als produktiv für die Beantwortung solcher Fragen erwies sich die Teilnahme an einem Forschungsprojekt Anfang der 1990er Jahre, bei dem es um einen systematischen Vergleich von Wittgen­ stein und Adorno ging. Mit einiger Verzögerung konnte ich Ende der 1990er Jahre die vorliegende Untersuchung abschließen. Zwei Umstände waren dabei entscheidend. Zum einen verband sich bei VIII


mir Dankbarkeit für günstige Arbeitsmöglichkeiten mit der Lust und dem Ehrgeiz, »einen hübschen Ball« (Nietzsche) zustande zu bringen. Zum anderen waren Wittgenstein und Adorno, mir bereits von früher her vertraut, durch die erneute intensive Beschäftigung mit ihnen und mit der Fülle posthumer Publikationen und ständig zunehmender Informationen zu weitaus mehr als Gegenständen eines systematischen Vergleichs geworden – nämlich zu im wahrs­ ten Sinne des Wortes exzentrischen Verkörperungen modernen Philosophierens. Nicht umsonst werden diese beiden gelegentlich als Genies bezeichnet. Herbert Schnädelbach hat mit guten Gründen in dem bereits zitierten Artikel Kant als den klassischen Philosophen der Mo­ derne charakterisiert. In der vorliegenden Studie geht es darum, Wittgenstein und Adorno als klassische Philosophen der jünge­ ren Moderne vorzustellen. In der Hoffnung, dass diese ›Klassik‹ in ausreichendem Maße auf die folgende Vergegenwärtigung zweier Spielarten modernen Philosophierens abgefärbt hat, habe ich den Text unverändert gelassen, dem Literaturverzeichnis aber einige Ergänzungen hinzugefügt. Angesichts der Zielsetzung des Buches einerseits, uferloser Sekundärliteratur andererseits geht es dabei ausschließlich um Texte und Äußerungen der beiden Philosophen und um Biographisches. Um dieses Vorwort mit einer Einstimmung auf das Folgende abzuschließen, bietet sich ein kleines Beispiel an, das zeigt, wie sehr es auf eigenes Erkunden und aufmerksame Umsicht an­ kommt, damit der Witz einer Sache deutlich wird. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, heißt ein vielzitierter und gelegent­ lich zum Kalauer degradierter Aphorismus Adornos. Damit er aber im richtigen und Adornos modernes Philosophieren beleuchten­ den Licht erscheint, muss man ihn an seinem Ort aufsuchen. Dann sieht man: Zusammen mit anderen Kürzestaphorismen steht er unter dem Titel »Zwergobst« im 1944 in den USA entstandenen Ersten Teil der Minima Moralia. Frankfurt a.M., im Januar 2012

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Vorwort

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uf den ersten Blick scheinen Adorno und Wittgenstein nicht unbedingt nahe beinander zu liegen. Nähe und Differenz im Denken beider Philosophen arbeitet Rolf Wiggershaus in seiner Studie an den Themen des 20. Jahrhunderts heraus. Entstanden ist diese Studie im Rahmen der interdisziplinär besetzten Studiengruppe »Politische Theorie der Massenkultur« des Kulturwissenschaftlichen Instituts, Essen. Dort hatten wir eine intensive Diskussion über den pragmatischen Hintergrund der Kommunikationstheorien von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas. Dabei war natürlich die Frage aufgetaucht, ob es systematische Bezüge auch in der älteren kritischen Theorie zum Pragmatismus gäbe, wie sie von Peirce zu Apel und Habermas sich ziehen lassen. Rolf Wiggershaus war eingeladen, um über Wittgenstein und den Pragmatismus vorzutragen und mit uns zu diskutieren. Dabei ergab sich dann die Anregung zum Vergleich von Adorno und Wittgenstein, den Rolf Wiggershaus nun in ausgearbeiteter Form hier vorlegt. Ausgangspunkt war die kulturwissenschaftliche Dimension in Wittgensteins Sprachspiel- und Lebensweltkonzept. Von dort waren wir ausgegangen, um dann bei Adornos Kulturkritik eine ähnliche Auflösung des vereinseitigten Wahrheitsbegriffs zu finden. Insofern sollte Wiggershaus‘ Vergleich der beiden ungleichen Philosophen auch als ein Beitrag zur philosophischen Debatte der Kulturwissenschaften gelesen werden. Gertrud Koch

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Einleitung

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ozu Philosophie? Und was ist Philosophie? Das sind Fragen, die sich immer wieder neu stellen und die zu immer wieder neuen Versuchen einer Beantwortung führen. Philosophie drohte auf Philosophiegeschichte zu schrumpfen, sich auf Wissenschaftstheorie zu reduzieren, bloß noch trotzig an ihrer Zuständigkeit für Transzendenzen festzuhalten, sich nur noch als Kompensationsangebot oder Anleitung zur Lebenskunst für an Sinnleere oder Stillosigkeit leidende Zeitgenossen zu verstehen oder sich mit der Beschränkung auf die neuartige Beschäftigung mit alten philosophischen Spezialthemen zufrieden zu geben. Gleichzeitig kann man aber auch den Eindruck einer Art von Entwicklungslogik gewinnen: Philosophie erweist sich immer mehr in dem Maße als relevant, in dem die Teilnehmerperspektive Vorrang gewinnt vor der Beobachterperspektive. Damit ist folgendes gemeint: Die Philosophie versteht sich nicht mehr als Stimme einer Vernunft, die aus der Perspektive eines unirdischen Beobachters, gleichsam aus der Gottesperspektive, die Welt wahrzunehmen und zu begreifen vermag. Durch Herder und Wilhelm von Humboldt einerseits, die Junghegelianer andererseits ist in einem ersten Schub die Einsicht in die sprachliche, leibliche, soziale und geschichtliche Situiertheit der Vernunft artikuliert worden. Gleichzeitig hat damit die Einsicht in ihre Begrenztheit konkrete Gestalt angenommen. In einer weiteren Phase, die vom US-amerikanischen Pragmatismus über Lebensphilosophie und Phänomenologie bis hin zur anarchistischen Klimax der postempiristischen Wissenschaftstheorie reicht, gelangte die Philosophie schließlich dazu, die »Boden9

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funktion« von Alltagspraxis und Lebenswelt ernstzunehmen. Nachidealistisch und antiszientistisch – nicht wissenschaftsfeindlich – sucht sie als reflektierende Teilnehmerin der Lebenswelt deren Intuitionen teils im Licht wissenschaftlicher Beschreibungen und Erklärungen, teils gegen deren Imperialismus zur Sprache und zur Erörterung zu bringen. Man kann von einem philosophischen Vorrang der Teilnehmer- vor der Beobachterperspektive reden, der zweierlei bedeutet. Zum einen: Philosophie versteht sich vorrangig als reflektierende Teilnehmerin der Lebenswelt, nicht als autonome Beobachterin. Zum anderen: als reflektierende Teilnehmerin der Lebenswelt hält sie das Bewußtsein für deren »Bodenfunktion« für die Wissenschaften wach, bei denen selbst in den Fällen, in denen die Teilnehmerperspektive für die Gewinnung ihrer Forschungsresultate eine bedeutsame Rolle spielt, das Selbstverständnis der Forschenden, die Fixierung der Erkenntnisse und die Interpretation der Ergebnisse von der Beobachterperspektive bestimmt sind. Beide Aspekte sind miteinander verbunden in der Forderung, daß Philosophie nicht Teil des Alltagsgesprächs ist, sich aber doch in anderer Weise an ihre Adressaten wendet als die Wissenschaften und anders rezipierbar ist als diese. Zum wesentlichen Teil wendet sie sich nicht an Experten, sondern an alle, und sie spricht über alles, was unser Selbstverständnis betrifft, so daß dies Selbstverständnis in einem Prozeß der Selbstverständigung stets aufs neue zu klären versucht wird. Doch warum sollte für die Zuspitzung gewisser Entwicklungen in der Geschichte der modernen Philosophie, die deren Möglichkeit und Aufgabe hervortreten läßt, gerade ein Vergleich von Wittgenstein und Adorno geeignet und ergiebig sein? Sind sie nicht Vertreter sehr ver10 10


schiedener philosophischer Richtungen? Liegen die thematischen Schwerpunkte ihres Philosophierens nicht in allzu verschiedenen Bereichen? Gehören sie nicht vom gesamten Habitus her höchst verschiedenen Welten an? Und können sie wirklich noch aufschlußreich und wegweisend für eine Bestimmung der Philosophie sein, wo doch in den Jahrzehnten nach ihrem Tod weitere krisenhafte Entwicklungen stattfanden, die die Philosophie ohnmächtiger denn je erscheinen lassen? Ist der Ausdruck »Philosophie« nicht eben deshalb zum Element oberflächlicher Veredelungsmanöver geworden, ist nicht deshalb beispielsweise eine »Unternehmensphilosophie« zum selbstverständlichen Bestandteil von UnternehmensSelbstdarstellungen und –Anzeigen geworden und kann nicht deshalb Philosophie als eine Sparte zwischen Lebenshilfe und Esoterik angeführt werden, weil Philosophie längst nicht mehr als eigenständiger und eigensinniger Faktor wahrgenommen wird – und wahrnehmbar ist? Es gibt eine charakteristische Seite des Gesamteindrucks, den Wittgensteins und Adornos Philosophieren jeweils vermitteln, die es nahelegt, einen Vergleich für sinnvoll und für ergiebig zu halten: Beide stimmen den hohen Ton der Philosophie herab, halten aber an der Zuständigkeit der Philosophie für – mit Wittgenstein zu reden – »tiefe Probleme« fest. Diese Stimmung, dies Klima der Philosophie kommt bei Wittgenstein am knappsten in einer Formulierung zum Ausdruck, die von Basil Reeve überliefert ist, einem Arzt, mit dem Wittgenstein während des Zweiten Weltkriegs bei einem medizinischen Forschungsprojekt als Helfer zeitweise zusammenarbeitete. Was er von Wittgenstein gelernt habe, sei: sich stets vor Augen zu halten, daß die Dinge sind wie sie sind, 11

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und treffende Vergleiche zu suchen, um zu verstehen, wie sie sind.1 Das gleiche Klima findet man bei Adorno, der Philosophieren bestimmt als: Das, was einem aufgeht an der Welt, stringent ausdrücken. Beide Bestimmungen des Philosophierens, die Wittgensteinsche und die Adornosche, besagen das gleiche. Zwar gibt es keinerlei Erfahrung, die nicht durch Begriffe gefiltert, geprägt ist. Es gibt kein unmittelbares Sehen dessen, was ist, sondern alles Sehen ist auch schon ein Sehen von etwas, das begrifflich bestimmt ist, sei es auch nur in sehr allgemeinen Kategorien. Aber wir können Termini, durch die wir unsere Erfahrungen nicht zufriedenstellend ausgedrückt finden, aufgeben und zurückgehen auf alltagsnähere oder gar alltägliche Begriffe, die, »im Fluß des Lebens«2 befindlich, ein unübersehbares Bedeutungsleben aufweisen und deshalb dazu geeignet sind, unter Rückgriff auf sie zwischen neuen, spezifischen Erfahrungen und neuen, spezifischen Begriffen ein wechselseitiges Verhältnis zu stiften. Philosophieren besteht für Wittgenstein wie für Adorno zu einem wesentlichen Teil darin, vom Begriffsbildungsprozeß der natürlichen Sprache zu lernen und aus ihm den Anreiz, den Mut und die Kraft zur ständigen Bereitschaft zu Selbstbesinnung, Aufmerksamkeit auf die Welt und eigenem Urteil zu gewinnen. Wittgenstein kritisiert »die verächtliche Haltung gegenüber dem Einzelfall«, meint von sich: »Wo andere weitergehen, dort bleibe ich stehen.« Und zwar um der Forderung gerecht werden zu können: »Mal wirklich nur, was Du siehst!«3 Bei Adorno sind die gleichen Motive in der 1 Berichtet in: Monk, Wittgenstein, S. 477. 2 Wittgenstein 3 Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 8, S. 39 u. 546.

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Einsicht zusammengefaßt: »Fast könnte man sagen, daß vom Tempo der Geduld und Ausdauer des Verweilens beim Einzelnen, Wahrheit selber abhängt: was darüber hinausgeht, ohne sich erst ganz verloren zu haben, was zum Urteil fortschreitet, ohne der Ungerechtigkeit der Anschauung erst sich schuldig gemacht zu haben, verliert sich am Ende im Leeren.«4 Beide Philosophen sehen sich dabei in der Tradition Goethes. Wittgenstein zitiert unter anderem Goethes Satz »Man suche nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre«, der zu ergänzen ist durch die Feststellung: »Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt« und zusammenzudenken ist mit jenem anderen Satz: »Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele, zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, das für Theorie gelten könnte.« Adorno seinerseits bedient sich gelegentlich des Begriffs »zarte Empirie«. »Es gibt«, heißt es dazu bei Goethe, »eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.« Wenn Goethe von »eigentlicher Theorie« spricht, denkt er offensichtlich an ein Bei-derSache-Sein, das ihr näher ist als der »ungeduldige Verstand«, der den Gegenstand durch Bilder, Begriffe, Worte ersetzt und verdeckt. Aber Bilder, Begriffe, Worte sind nötig zum Sehen. Nur dürfen sie die Phänomene nicht verdecken. Auf Bilder, Begriffe, Worte, die die Phänomene nicht verdecken, sondern sichtbar machen, kommt aber 4 Adorno, Minima Moralia, 48. Aphor.

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nur der, der am Leben der natürlichen Sprache teilnimmt. Daß sowohl Wittgenstein wie Adorno sich Goethe nahe fühlten, hängt nicht nur mit bildungsbürgerlichen Traditionen zusammen, sondern hat vor allem einen sachlichen Grund. Goethe steht für einen Anspruch auf Erkennen, der sich mit dem Unmittelbaren nicht zufrieden gibt, im Unterschied zu den Wissenschaften aber die Befreiung des Weltbildes von dem, was auf unsere Sinnesorgane und unsere Erfahrung Bezug hat, nicht mitvollzieht. Genau darauf zielt es, wenn Wittgenstein meint, eine Schwierigkeit in der Philosophie sei, zur richtigen Zeit sowohl intelligent als auch unintelligent genug zu sein, und Adorno Philosophie als eine höchst merkwürdige Konfiguration von Naivität und Unnaivität kennzeichnet. Soviel zunächst als erster Hinweis, was einen dazu veranlassen könnte, sich auf einen Vergleich Wittgensteins und Adornos einzulassen. Zuviel Gemeinsamkeit wäre schließlich auch nicht gut. Vergleiche sollten überraschend sein und am Bekannten neue Seiten zutage treten lassen. Im Idealfall beleuchten die verglichenen Elemente wechselseitig sowohl gemeinsame Charakteristika, die an ihnen in unterschiedlich ausgeprägter Klarheit oder in unterschiedlicher Weise zutage treten, wie auch trennende Charakteristika, die ihre jeweilige Eigenart schärfer hervortreten lassen. Doch es ist gut, sich nach diesen einleitenden Überlegungen zunächst genauer zu vergegenwärtigen, was sich an Hinweisen auf eine große, für einen Vergleich allzu groß scheinende Verschiedenheit Wittgensteins und Adornos anführen läßt. Danach folgt als weiterer Ausgangspunkt des Vergleichs der Philosophien von Wittgenstein und Adorno die Nebeneinanderstellung ihres jeweiligen Selbstverständnisses und damit zugleich ihres Verständnisses von den Bedingungen, Mög14 14


lichkeiten und Aufgaben modernen Philosophierens. Weil nach dem Selbstverständnis beider Philosophie nicht eine Einzelwissenschaft wie alle anderen akademischen Fächer ist und Philosophieren für sie nicht eine dem Alltag enthobene Expertentätigkeit, sondern reflektierende Lebenshaltung ist, werde ich skizzenhaft auf Aspekte der Biographien und der philosophischen Entwicklung bei beiden eingehen, die mir aufschlußreich scheinen für den spezifischen Zusammenhang von Philosophie und Leben. Dadurch wird übergeleitet zu Wittgensteins und Adornos philosophischer Praxis – Praxis im Sinne dessen, was sie in ihren Texten tun und was sich mit ihrem Philosophieverständnis nicht unbedingt deckt. Zunächst geht es dabei um den Versuch, den Stil oder den Habitus des Philosophierens der beiden vor dem Hintergrund ihrer Biographie und ihres philosophischen Werks zu charakterisieren. Das letzte Kapitel legt anhand von Wittgensteins und Adornos Gedanken zur Sprachpraxis und zur Sprache der Philosophie dar, was durch sie endgültig auf den Weg gebracht wurde: Philosophieren als eine gegenüber Lebenswelt wie Wissenschaft so bescheiden wie selbstbewußt auftretende reflektierende Teilnahme an beidem, vor allem aber an ersterer.

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