Arm sein in Luzern

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Arm sein in Luzern

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Der Autor Stefan Jäggi-Ulrich, geboren 1957, studierte Geschichte und Lateinische Literatur an der Universität Freiburg i. Üe. und promovierte in Mittelalterlicher Geschichte bei Carl Pfaff. Seit 1986 ist er im Staatsarchiv Luzern tätig. Seine Forschungsinteressen beziehen sich vor allem auf die Sozial- und Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit; so publizierte er über die Rosenkranzbruderschaften in der Innerschweiz, die Hexenverfolgungen im Kanton Luzern, Luzerner Schatzgräber und Schatzbeter, das Söldnerwesen, Waldbrüder sowie die Deutschordenskommende Hitzkirch.

Stefan Jäggi

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Ende Januar 1590 verabschiedete der Luzerner Rat die von Stadtschreiber Renward Cysat konzipierte neue Almosenordnung. Die Reorganisation der Armenfürsorge stand im Zusammenhang mit einer umfassenden Intensivierung, Normierung und Zentralisierung der obrigkeitlichen Herrschaft in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Im Fokus der vorliegenden Untersuchung mit einer umfangreichen Quellenedition stehen aber nicht die institutionellen und organisatorischen Aspekte der Fürsorge, sondern die Betroffenen: Aus den Jahren 1590–1592 haben sich in den Protokollen des Almosenrats detaillierte Listen der Almosenbezüger erhalten. Sie geben Aufschluss über die sozialen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen und rechtlichen Lebensumstände vieler Stadtluzerner Familien und Einzelpersonen, die unterhalb oder an der Armutsgrenze lebten. Unter Berücksichtigung weiterer Quellenbestände gewinnen wir Einblick in die Schicksale einer Bevölkerungsgruppe, wie es sonst in dieser Dichte nicht möglich ist: Alleinerziehende Mütter und Witwen mit kleinen Kindern, alte gebrechliche Frauen, kleine Handwerker und Tagelöhner mit gesundheitlichen Problemen, Jugendliche ohne Perspektiven, «working poor» – sie erhalten hier einen Namen und eine Biographie. Aber auch die Bemühungen der Behörden gerade bei der Unterstützung von kinderreichen Familien und bei der Suche nach Lehrstellen und Schulplätzen für Kinder und Jugend– liche sowie bei der medizinischen Versorgung der Armen werden sichtbar und wirken durchaus modern.

Untersuchungen und Quellen zum Luzerner Armen- und Fürsorgewesen 1590 –1593

I S B N 978-3-7965-2821-7

Schwabe Verlag Basel www.schwabeverlag.ch

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783796 528217

Luzerner Historische Veröffentlichungen




Luzerner Historische VerĂśffentlichungen Band 43 Herausgegeben vom Staatsarchiv des Kantons Luzern und vom Stadtarchiv Luzern Redaktion: AndrĂŠ Heinzer


Stefan Jäggi

Arm sein in Luzern Untersuchungen und Quellen zum Luzerner Armen- und Fürsorgewesen 1590–1593

Schwabe Verlag Basel


Für Daniela und Sarah Isabella

Abbildung auf dem Umschlag: Das Spenden von Almosen an Bettler als ein Werk der Barmherzigkeit, neben anderen Armenseelenbildern jeweils an Allerseelen im Chor der Luzerner Jesuitenkirche aufgestellt (Historisches Museum Luzern, HMLU 01984.f) Copyright © 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN: 978-3-7965-2821-7 www.schwabeverlag.ch


Vorwort

Armut ist auch in unserer modernen Luzerner und Schweizer Gesellschaft trotz Wohlfahrtsstaat und ausgebauter Sozialfürsorge ein Dauerthema. Von Armut, wie man sie auch definieren mag, ist immer ein bestimmter Teil der Bevölkerung betroffen. Mit diesem Phänomen kann man sich politisch, sozialpolitisch, statistisch auseinandersetzen.1 Armut und ihre Bekämpfung im Verlauf der Geschichte ist aber auch ein attraktives Forschungsthema, das in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von Publikationen hervorgebracht hat. Insbesondere die Frühe Neuzeit rückte dabei in den Fokus der Untersuchungen. In der Regel stehen dabei organisatorische und institutionelle Fragestellungen im Vordergrund, die aufgrund normativer Quellen fassbar und beschreibbar sind. Für die vorliegende Untersuchung habe ich einen anderen Zugang zur Thematik gewählt, nämlich den über das von der Armut betroffene und nach Unterstützung suchende Individuum. Als Produkt einer Neuorganisation der Armenfürsorge in der Stadt Luzern haben sich im Luzerner Staatsarchiv detaillierte Listen aus den Jahren 1590–1592 der regelmässig und langfristig unterstützten Leute, Einzelpersonen und Familien erhalten. Dadurch wird eine Gruppe der städtischen Einwohnerschaft fassbar, über die man sonst nur spärliche Informationen in den Quellen findet. Dazu kommen Protokolle der Almosenkommission, die in fast unglaublicher Dichte alle alltäglichen Probleme des Fürsorge­wesens beleuchten. Kern der Publikation ist deshalb die kommentierte Edition der Armenlisten. Um ein schärferes Bild der Betroffenen zu erhalten, wurden zusätzliche Quellengattungen wie Bürger- und Hintersässenbücher, Ratsprotokolle, Gerichtsprotokolle, Kirchenbücher, Urkunden und Akten herangezogen. Wir lernen so Einzelpersonen (vor allem Frauen) und Familien kennen, die sich als arm und damit unterstützungsbe­ dürftig und unterstützungswürdig «outeten», erfahren, wie sie versuchten, ihre alltäg­ lichen Probleme und Herausforderungen zu meistern, wie sie mit ihren gesundheitlichen Probleme kämpften und Strategien entwickelten, sich im frühneuzeitlichen Luzern zu integrieren und zu überleben. Diese Listen von 1590–1592 sind die einzigen ihrer Art, die sich im Luzerner Staatsarchiv erhalten haben (wenn denn weitere überhaupt je existiert haben). Die städtische Armenfürsorge wurde ja weitergeführt, aber man hat wohl nach den ersten Jahren unter der neuen Almosenordnung von 1590 auf eine detaillierte Dokumentierung der 1

Gesamtschweizerische Strategie zur Armutsbekämpfung: Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Motion (06.3001) der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit NR (SGK-N) vom 13. Januar 2006, Bern 2010. Stefan Kutzner (Hg.), Armut trotz Arbeit 2009 (= Schriften zur sozialen Frage 4), Zürich 2009. Simone Villiger, Carlo Knöpfel, Armut macht krank. Warum gesellschaftliche Verhältnisse die Gesundheit prägen, Luzern 2009. Bundesamt für Statistik (Hg.), Armut von Personen im Erwerbsalter: Armutsquote und Working-Poor-Quote der 20- bis 59-jährigen Bevölkerung in der Schweiz zwischen 2000 und 2005, Neuchâtel 2007. Christin Kehrli, Carlo Knöpfel, Handbuch Armut in der Schweiz, Luzern 2006. Amt für Statistik des Kantons Luzern, Kantonales Sozialamt Luzern (Hg.), Die soziale Lage der Luzerner Bevölkerung. Sozialbericht des Kantons Luzern, Luzern 2006 (LUSTAT-Themen 1).


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Aktivitäten der Almosenkommission verzichtet. Nicht zuletzt ist die Quelle auch ein Denkmal für die unermüdliche Tätigkeit des Stadtschreibers Renward Cysat, der nicht nur die treibende Kraft hinter der Neuorganisation des Fürsorgewesens war, sondern auch grosse Teile des dabei entstandenen Schriftguts selbst geschrieben hat.


Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5 1. Einleitung 1.1 Definition von Armut 1.2 Ursachen der Armut 1.3 Eidgenossenschaft: Eigene Arme und fremde Bettler in der Frühen Neuzeit 1.4 Luzern und die Abwehr fremder Bettler 1.5 Luzern im 16. Jahrhundert 1.6 Renward Cysat 1.7 Forschungsstand 1.8 Quellensituation in Luzern

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2. Luzerner Armenfürsorge vor 1590

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3. Die Almosenordnung von 1590 und ihre Folgen 3.1 Langer Anlauf für eine neue Ordnung 3.2 Die neue Almosenordnung: Erste Entwürfe 3.3 Die neue Almosenordnung: Definitive Fassung 3.3.1 Zustimmung und erste Massnahmen 3.3.2 Erfassung der Armen 3.3.3 Finanzierung

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4. Die Armen in der Stadt Luzern 1590–1592 4.1 Sozialtypologie 4.1.1 Ledige Frauen 4.1.2 Verheiratete Frauen 4.1.3 Witwen 4.1.4 Ledige Männer 4.1.5 Verheiratete Männer 4.1.6 Witwer 4.1.7 Kinder und Jugendliche

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4.2 Formen der Unterstützung 4.3 Herkunft 4.4 Soziale Aspekte 4.5 Rechtliche Aspekte 4.6 Berufe 4.7 Gesundheit 4.8 Sozialtopographie 5. Armenfürsorge auf der Luzerner Landschaft 5.1 Die Almosenordnung von 1590 5.2 Probleme bei der Durchsetzung 5.3 Ausblick 6. Quellenedition 6.1 Editions- und Transkriptionsrichtlinien 6.2 Quelle 1: Die Almosenordnung der Stadt Luzern von 1590 6.3 Quelle 2: Armenliste von 1590 6.4 Quelle 3: Armenliste von 1591 6.5 Quelle 4: Armenliste von 1592 6.6 Unterstützte Arme, die nicht in den Almosenlisten erscheinen

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Tabellen 249 Quellen und Literatur Ungedruckte Quellen Staatsarchiv Luzern Gedruckte Quellen und Literatur

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Verzeichnis der Tabellen, Karten, Grafiken und Abbildungen 265 Tabellen 265 Karten 265 Grafiken 265 Abbildungen 265 Register 267


1. Einleitung

1.1 Definition von Armut Wie soll man sich aus historischer Sicht dem Begriff «Armut» nähern? Armut stellt, das ist zu betonen, eine relative Grösse dar; sie ist immer in ein wirtschaftliches, politisches, soziales und emotionales Umfeld eingebettet.1 Wirtschaftlich gesehen besteht Armut im Fehlen eines unterhaltssichernden Einkommens und Vermögens. Das Spektrum ist allerdings breit. Es reicht von der sekundären Armut, in der die Betroffenen zwar das Existenzminimum erreichen, aber trotzdem als arm gelten, weil sie tat­sächlich von der Hand in den Mund leben, bis zur primären Armut, die sich dadurch charakteri­siert, dass diese Armen zum Überleben auf die zeitweilige oder dauernde Hilfe anderer ange­wiesen sind; von ihnen wird hier vor allem die Rede sein. Die Grenzen zwischen primärer und sekundärer Armut sind natürlich flies­ send. In politischer Hinsicht neigte man immer dazu, «Ar­menpolitik» und «Armenfürsorge» nur auf die primäre Armut zu beziehen. Man ging davon aus, dass ­Auswirkungen sekundärer Armut durch das soziale Netz aufgefangen werden können. Die soziale und emotionale Wahrnehmung von Armut kann sich kurz- oder langfristig ändern; es besteht ein Unterschied, ob man in einer Krisenzeit oder während einer Hochkonjunktur am Exi­stenzminimum lebt, ob viele Menschen davon betroffen sind oder nur wenige, ob man in einer wohlhabenden Umgebung wohnt oder unter lauter anderen Armen. Es gab im Verständnis der Zeitgenossen eine «ehrliche» oder «würdige» Armut, die vor allem sesshafte Leute, zum Beispiel kleine Handwerker oder Taglöhner betraf, aber auch Witwen, Waisen, alleinstehende Frauen, Kranke, Behinderte. Davon sind die mobilen Armen zu unterscheiden, also umherziehende Bettler, Va­ganten, Fahren­de, die seit dem Spätmittelalter von der Gesellschaft zunehmend ausgegrenzt, marginalisiert und teilweise kriminalisiert wurden. Sie wurden ebenfalls von der «Armen­politik» erfasst, aber nicht im Sinne der Fürsorge, sondern der Abwehr.

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Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit, Weimar 2000. Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit, (= ­Enzyklopädie Deutscher Geschichte 34), München 1995. Martin Rheinheimer, Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850, Frankfurt a.M. 2000. Für die Situation der Städte vgl. Wolfgang Hartung, Armut und Fürsorge: eine Herausforderung der Stadtgesellschaft im Übergang vom Spätmittel­ alter zur Frühen Neuzeit, in: Joachim Jahn, Wolfgang Hartung, Immo Eberl (Hg.), Oberdeutsche Städte im Vergleich. Mittelalter und Frühe Neuzeit, Sigmaringen 1989, S. 158–181.


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1.2 Ursachen der Armut Was waren denn die Ursachen von Armut? Zunächst ist auf eine Grundtatsache hinzuweisen: In der elementaren Armut spielt der Hunger eine zentrale Rolle. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein mussten die Angehörigen der Unterschichten und selbst Teile der Mittelschichten zwischen zwei Dritteln und 80% ihres Einkommens allein für die Nahrung aufwenden. Der Kampf um das tägliche Brot bildete somit eine Konstante damaliger Armut. Für Kleidung und Wohnkosten musste im Gegensatz zu heute nur ein kleiner Teil eingesetzt werden. Damit wird ein verhängnisvoller Mechanismus erkennbar: Wer arm ist, kann sich oft nur schlecht ernähren; wer schlecht ernährt ist, erkrankt rascher und häufiger als gut Ernährte; wer häufig krank ist, kann seinem Erwerb nur unvollkommen nachge­hen, was die Armut zusätzlich verschärft. Fragt man nach den strukturellen Ursachen von Armut, so muss man kurz- und langfristige Ent­wicklungen unterscheiden. Unmittelbar wirkten sich Hungerkrisen und Teuerungen auf die Armen aus. In unserer Gegend traten klimatisch bedingte Hungerkrisen zwar unregelmässig, aber immer wieder auf; sie be­wirkten neben der Lebensmittelknappheit eine enorme Teuerung. Davon waren alle betroffen, die selbst keine Überschüsse erwirtschaften konnten und für den Nahrungserwerb auf den Markt angewiesen waren. Drastisch werden Krisen dieser Art jeweils am sprunghaften Anstieg der Ge­ treide- und damit der Brotpreise sichtbar. Die Obrigkeiten suchten seit dem Spätmittelalter sol­chen Notlagen vorzubeugen, indem sie in Form der Vorratshaltung eine Art Lebensmittelpolitik betrieben. Die schlechten Transportmöglichkeiten setzten aber diesen Massnahmen enge Gren­zen. Solche Krisen bedeuteten jeweils einen Rückgang des Arbeitsangebotes, was die Lage der Arbeitnehmer zusätzlich verschlechterte. In Krisenzeiten sank also die Armutsschwelle rasch ab, und die ohnehin beträchtliche Differenz zwischen Arm und Reich wurde noch vergrössert. Nur kurz möchte ich auf die längerfristigen Entwicklungen hinweisen: Im Spätmittelalter sanken in Mitteleuropa die Bevölkerungszahlen; infolge des Arbeitskräftemangels stiegen die Löhne, die Lebensmittelpreise dagegen sanken. Die Wende kam im frühen 16. Jahrhundert, indem durch den Bevölkerungsanstieg die landwirtschaftliche Nutzfläche für mehr Leute ausreichen musste; die Lebensmittelpreise stiegen stärker als die Löhne. Es kommt also nicht von ungefähr, dass sich in der Eidgenossenschaft seit den 1520er Jahren die Klagen über die umherziehenden Bett­lermassen häuften und das Thema zu einem Dauerbrenner an den Tagsatzungen wurde. 1.3 Eidgenossenschaft: Eigene Arme und fremde Bettler in der Frühen Neuzeit Nachdem die Abwehr fremder Bettler und Landstreicher bereits seit etwa 1470 regelmässig Thema an der eidgenössischen Tagsatzung gewesen war,2 scheint das Problem in den 1520er Jahren besonders virulent geworden zu sein. Allerdings verschob man 2

Oliver Landolt, «... ich acht, das kaum ein ort sei, do die armen mehr not liden dann im Schwitzer land ...». Zur Ausgrenzung mobiler Armut in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft, in: Hans-Jörg Gilomen, Sébastien Guex, Brigitte Studer (Hg.), Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung, Zürich 2002, S. 127–138.


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die Angelegenheit zunächst auf kommende Sitzungen.3 Als erste konkrete Massnahme wurde dann 1533 beschlossen, dass die Obrigkeiten ihren Bedürftigen Ausweise verteilen sollten, um sie von den fremden Bettlern unterscheiden zu können. Die Fremden und Zigeuner waren zu verweisen.4 Dass diese Absicht nicht umgesetzt werden konnte, zeigt sich darin, dass auch in den nächsten Jahren immer wieder über das Überhandnehmen dieser Bettler geklagt wurde. Dies ging offen­bar so weit, dass bei der ländlichen Bevölkerung ein Gefühl der Unsicherheit entstand: Einerseits traute man dem fahrenden Volk bis zu Mord und Brandstiftung alles zu, andererseits schreckten die Landstreicher vor handfesten Drohungen nicht zurück, um zu ihren Almosen zu kommen.5 Dass echte Kriminalität an der Tagesordnung war, möge ein Beispiel veranschaulichen: An einer Versammlung des Luzerner Landklerus im November 1592 wurde gesagt, dass innert Monats­frist bei 14 Priestern auf der Landschaft eingebrochen worden sei.6 Die Städte dagegen waren besser zu überwachen, da der Zugang durch die Stadttore relativ einfach zu kontrollieren war. Ein neuer Anlauf für eine durchgreifende Ordnung wurde 1551 genommen. Nun erschien wieder das Heimatprinzip, dass nämlich jede Gemeinde oder Pfarrei ihre Armen selbst unterhalten solle.7 Dieser Grundsatz war nicht neu, sondern tauchte bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts in der Eidgenossenschaft und seit 1497 in der Reichsgesetzgebung auf.8 Eines der Hauptprobleme, nämlich das der heimatlosen Armen, wurde mit der Anwendung des Heimatprinzips natürlich nicht gelöst.9 Auch erwies es sich als schwierig, ja praktisch unmöglich, seine Einhaltung zu kontrollieren und zu überwachen. Die repressiven Massnahmen gegen fremde Bettler liessen sich ebenfalls nicht wirksam durch­setzen. Besonders seit etwa 1560 wurde immer wieder dazu aufgerufen, endlich gegen die «star­ken, unpresthaften Bettler» vorzugehen, sie zu verhaften, zu bestrafen und des Landes zu verwei­sen. Den Landvögten vor allem der Gemeinen Herrschaften wurde wiederholt befohlen, die Zugänge zu ihren Territorien zu kontrollieren, was schon aus Personalmangel nicht durchführbar war.10 Schliesslich tauchte sogar der Vorschlag auf, diese Müssiggänger gesamthaft auf die Galee­ren zu schicken.11 1583 wurde eine neue Massnahme in die Diskussion eingebracht: Gemäss geheimer Absprache sollte überall in der Eidgenossenschaft am selben Tag eine «Betteljagd» oder «Landrumi» veran­staltet werden.12 Die Betteljagden wurden periodisch wiederholt;13 3 4 5 6 7 8 9 10

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EA IV.1a, S. 151 (i), 264 (aa), 313 (e–f); EA IV.1b, S. 1014f. (b). EA IV.1c, S. 52f. (d), 58 (a), 64 (g). EA IV.1c, S. 307 (c), 504 (d), 666 (b), 1067 (f), 1086 (f), 1102 (g), 1210 (a), 1280 (b); EA IV.1d, S. 240 (i), 543 (c), 954 (d); EA IV.1e, S. 209 (aa), 508f. (s). StALU COD 5175, fol. 235. EA IV.1e, S. 576 (h), 1551 Nov. 23, 620 (i), 1554 Febr. 19, 940 (w), 1554 Juni 4. Landolt, «...ich acht...», S. 133; von Hippel, Armut, S. 49. Vgl. etwa EA IV.1e, S. 961 (c), 1554 Juli 23. EA IV.2, S. 70 (v), 80 (ii), 93 (ee), 103 (d), 105 (a), 113 (w), 120 (e), 160 (a), 175 (x), 180 (i), 240 (r), 248 (q), 260 (ii), 334 (v), 341 (t), 356 (m), 358 (d), 365 (t), 377 (k), 389 (v), 402 (w), 449 (t), 453 (d), 457 (p), 461 (h), 462 (e), 467 (h), 489 (e), 513 (f), 514 (h), 546 (a), 616 (e), 622 (x), 629 (i), 639 (b), 641 (m), 643 (i), 654 (ff), 707 (d), 733 (b), 765 (o), 797 (b–c), 947 (aa), 956 (c). EA IV.2, S. 620 (i), 1577 Mai 29, 662 (c), 1578 Aug. 17; EA V.1, S. 411 (x), 1596 Juni 30, 433 (g), 1597 Jan. 19, 541 (e), 1600 Mai 14. EA IV.2, S. 801, 1583 Juni 19, 808 (a), 1583 Nov. 10. EA IV.2, S. 818 (w); EA V.1, S. 433 (g), 1597 Jan. 19, 472 (v), 1598 Juni 28, 487 (h), 1598 Nov. 15.


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die Abstimmung zwischen den einzelnen Orten klappte jedoch häufig nicht.14 Auch die Anwendung des Heimatprinzips war im­mer wieder Gegenstand von Beratungen;15 es scheint, dass man auch hier nicht zu einer einheitli­chen Politik finden konnte.16 1.4 Luzern und die Abwehr fremder Bettler In Luzern versuchte der Rat, die Beschlüsse der Tagsatzungen umzusetzen und der Bevölkerung zur Kenntnis zu bringen. Dies geschah durch Mandate, die vor allem seit etwa 1570 in kurzen Abständen erlassen wurden.17 1577 beschloss der Rat, verdächtige «Landstreicher und Bettlerbuben» mit ei­nem «L» auf der Stirn zu brandmarken.18 1582 wurde eine flächendeckende Betteljagd in allen Äm­tern organisiert,19 der weitere folgten.20 In der Stadt wurden immer neue Massnahmen ergriffen, um des Zustroms frem­ der Bettler Herr zu werden: An die Tore wurden vereidigte Torwächter gestellt; die Bettelvögte wurden angewiesen, tagsüber auf verdächtige Personen zu achten und solche nötigenfalls zu ver­haften; durchziehende Bettler durften im Spital nur noch während einer Nacht beherbergt wer­den; die private Beherbergung Fremder wurde ganz verboten.21 Auf dem Land wurde gar ausdrücklich toleriert, dass an ertappten Dieben und Einbrechern Selbstjustiz geübt wurde.22 Eine Entschärfung der Situation wurde allerdings nicht erreicht; es scheint sogar, dass sich die einzelnen Orte gegenseitig damit übertrafen, bei Nacht und Nebel aufgegriffene Bettler über die Grenzen zu schaffen. Luzern drohte schliesslich damit, erwischten Schleppern Ross und Wagen zu beschlagnahmen.23 Andererseits beklagte sich Nidwalden mehrmals darüber, dass vagierende Bettler über den See auf sein Gebiet geführt würden.24 Noch auf ein weiteres Strukturproblem wurde man aufmerksam: Bis dahin war es üblich, dass Klöster und Stifte regelmässig Almosen austeilten. Es war offensichtlich, dass dies eine starke Sogwirkung ausübte. 1592 wurde berichtet, dass an die Spend in Beromünster jeweils achtzig Personen kämen, an die Spend in St. Urban, die dreimal in der Woche ausgegeben wurde, gar 400, von denen keine fünfzig aus dem Luzernbiet

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Vgl. etwa EA V.1, S. 376 (h), 1595 Juni 25 (Differenzen zwischen Bern und Luzern). EA V.1, S. 216 (ee), 1590 Juli 1, 247 (l), 1591 Jan. 20, 252 (v), 1591 März 24. Vgl. etwa StALU AKT 14/737 (1595 Febr. 22). StALU RP 31, fol. 20v (1573 Febr. 6), fol. 83v (1573 Juni 17), fol. 129 (1573 Okt. 19); RP 33, fol. 107 (1574 Sept. 10), fol. 236v (1575 Aug. 1); RP 35, fol. 82 (1576 April 11), fol. 226 (1576 Dez. 29), fol. 286 (1577 April 26); RP 36, fol. 98 (1578 Juni 9), fol. 236 (1579 Jan. 26); RP 37, fol. 240v (1581 Jan. 21), fol. 251 (1581 Febr. 6); RP 38, fol. 378 (1583 Aug. 26); RP 40, fol. 134v (1586 Juli 12), fol. 202v (1586 Nov. 14); RP 41, fol. 164 (1588 Sept. 30), fol. 327 (1589 Mai 12); AKT 14/737 (1546, 1559 Nov. 17, 1568 Juli 19, 1571 Jan. 24, 1571 Febr. 9, 1573 Juni 17, 1574 Juni 14, 1577 Nov. 4, 1578 Juni 12, 1579 Juni 1, 1580 März 4, 1583 April 30/Okt. 10); AKT 17/888 (1566 Nov. 14, 1586 Nov. 14). StALU RP 35, fol. 280v (1577 April 17). StALU RP 38, fol. 25v (1582 Febr. 6). StALU RP 39, fol. 19 (1584 Febr. 13); AKT 17/888 (1583 Nov. 22). StALU RP 39, fol. 250 (1585 Febr. 13); RP 40, fol. 311 (1587 April 9), fol. 334v (1587 Mai 11). StALU AKT 14/737 (1574 Juni 14, 1580 März 4, 1583 Okt. 10). StALU RP 40, fol. 160v (1586 Aug. 29); RP 41, fol. 77v (1588 April 28); AKT 17/888 (1588 Mai 16). StALU AKT 14/737 (1570 Okt. 8, 1578 Juni 18); AKT 17/888 (1586 Nov. 10).


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stammten.25 Ebenso beschwerte sich die Gemeinde Emmen, dass ein grosser Zulauf von Fremden zum Kloster Rathausen bestehe.26 Die Obrigkeit konnte kein anderes Rezept vorschlagen, als dass die Fremden ohne Almosen abzuweisen seien.27 Für die geistlichen Institutionen dürfte es jedoch undenkbar gewesen sein, eine seit Jahrhunder­ten geübte wohltätige und heilbringende Gewohnheit aufzugeben. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nicht nur Luzern, sondern die ganze Eidge­nossenschaft das Problem der vielen heimatlosen und herumziehenden Bettler nicht in den Griff bekam. Die beschlossenen Massnahmen wurden in der Regel nur halbherzig durchgeführt und konnten so nicht den gewünschten Erfolg bringen; da sie zudem nur die Symptome und nicht die eigentlichen Ursachen des Phänomens angingen, waren sie ohnehin zum Scheitern verurteilt.28 1.5 Luzern im 16. Jahrhundert Im Verlauf des Spätmittelalters, vor allem jedoch seit dem Sempacherkrieg von 1386, gelang es dem eidgenössischen Städteort Luzern, ein eigenes Territorium aufzubauen, zu konsolidieren und zu organisieren; die Territoriumsbildung war gegen Ende des 15. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen.29 Um die Stadt am Ausfluss der Reuss aus dem Vierwaldstättersee lag die in 15 Landvogteien organisierte Landschaft, über welche die städtische Obrigkeit die Herrschaftsrechte wahrnahm. Die politische Führung lag beim auf Lebenszeit gewählten 36-köpfigen Kleinen Rat, aus dem der Schultheiss bestimmt wurde; auch die wichtigsten Ämter in der Verwaltung (Säckelmeister, Stadtvenner, Bauherr, Spitalmeister, Kornherr, Landvögte der «grossen» Landvogteien) wurden von diesem Gremium gestellt. Um die zeitliche Belastung, die bei etwa vier Sitzungen pro Woche hoch war, etwas zu verringern, wurde der Kleine Rat in zwei Rotten aufgeteilt, die je ein halbes Jahr lang die Amtsgeschäfte führten. Der aus 64 Mitgliedern bestehende Grosse Rat hatte im 16. Jahrhundert nur noch beschränkte Kompetenzen, er stellte zum Beispiel Mitglieder der Gerichte, weniger wichtige Amtsträger (­Grossweibel, Strassenherr usw.) und die Landvögte der kleineren Landvogteien. Auch die Gemeinde der Bürger verlor weitgehend ihren politischen Einfluss. Einen zentralen Platz in der Verwaltung Luzerns besetzte die Stadtkanzlei unter der Leitung des Stadtschreibers.

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StALU COD 5175, fol. 237v–238. StALU COD 5175, fol. 240v. StALU COD 5175, fol. 241. Vgl. Geschichte der Schweiz und der Schweizer 2, Basel/Frankfurt a.M. 1983, S. 41. Zu einzelnen eidgenössischen Orten: Geschichte des Kantons Zürich 2, Zürich 1996, S. 57–59, 226–230; Sankt-Galler Geschichte 4, St. Gallen 2003, S. 40–43; Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt, Bern 2006, S. 491–493. Für eine ländliche Region s. Anne-Marie Dubler, Armen- und Bettlerwesen in der Gemeinen Herrschaft «Freie Ämter» (16. bis 18. Jahrhundert), Basel 1970. Einen kurzen Überblick über die Luzerner Geschichte geben die Artikel «Luzern (Gemeinde)» und «Luzern (Kanton)» im Historischen Lexikon der Schweiz 8, Basel 2009, S. 135–182. Ausführlich Anton Gössi, Das Werden des modernen Staates: Luzern von 1550–1650, in: Renaissancemalerei in Luzern 1560–1650, Luzern 1986, S. 13–31.


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Der Kleine Rat nahm also zu Beginn der Frühen Neuzeit eine beherrschende Stellung ein. Die Tendenz ging nun dahin, die Anzahl der am Rat partizipierenden Familien zu beschränken, was durch das geltende Stadtrecht ermöglicht wurde: Der Kleine Rat ergänzte sich selbst, die Mitglieder des Grossen Rates wurden durch den Kleinen Rat gewählt, die Ratszugehörigkeit bestand auf Lebenszeit. So sehen wir im 16. und 17. Jahrhundert die Ausbildung eines Patriziats, wie wir das auch aus anderen eidgenössischen Städten kennen.30 Obwohl die meisten der Patrizierfamilien ursprünglich vor allem aus dem Handwerk und Gewerbe stammten, hatte sich ihre materielle Grundlage bis zum Ende des 16. Jahrhunderts weitgehend auf die Einkünfte aus den Fremden Diensten verlagert. Um 1500 betrug die Einwohnerzahl der Stadt gemäss Schätzungen (genaue Angaben aufgrund quantifizierender Quellen haben wir nicht) um 3000. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erfolgte dann ein markanter Wachstumsschub auf rund 4000; bei dieser Grösse blieb es in den nächsten hundert Jahren. Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts kann man mit einer Bevölkerungszahl der Landschaft von rund 26 000 Personen rechnen, mit Wachstumsschüben im 17. Jahrhundert, die zu einer Verdoppelung bis um 1700 führen sollten. Die Stagnation in der Stadt wird weitgehend auf rigide Niederlassungsbeschränkungen des Rats zurückzuführen sein; dadurch sollten neben den politischen Rechten auch die wirtschaftlichen Ressourcen – nicht zuletzt im Fürsorgewesen! – auf eine möglichst kleine Zahl von Berechtigten beschränkt werden. Zu diesen gehörten in erster Linie die Bürger, die zwar im 16. Jahrhundert praktisch keine politischen Rechte mehr besassen, aber Anspruch auf Genossengut und Armengut hatten. Infolge einer immer restriktiveren Aufnahmepraxis für Neubürger wurden in der Frühen Neuzeit die Hintersässen zur grössten Bevölkerungsgruppe; sie hatten zumindest Anteil am Armengut und damit wie die Bürger automatisch Anspruch auf Unterstützung im Bedarfsfall. In wirtschaftlicher Hinsicht waren Handel, Handwerk und Gewerbe auf Luzern und die Kleinstädte auf seinem Territorium (Willisau, Sursee, Sempach) konzentriert, während die Landschaft weitgehend agrarisch ausgerichtet war. Zu einem wesentlichen Wirtschaftsfaktor entwickelten sich seit dem späten 15. Jahrhundert die Fremden Dienste, von denen allerdings praktisch nur das städtische Patriziat profitierte. Aber Luzern gelang es, im 16. Jahrhundert zu einem von der Bevölkerung unabhängigen Staatshaushalt zu kommen, mit den Hauptpfeilern Bündnisgelder und Erträge aus dem Bankgeschäft. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts lassen sich für den Staat Luzern eine Intensivierung, Normierung und Zentralisierung der obrigkeitlichen Herrschaft feststellen; parallel dazu verlief die bereits angesprochene Ausbildung des städtischen Patriziats. Konkret manifestierte sich diese Entwicklung in einer Reorganisation und Straffung des Staatsapparats, einer verstärkten Verschriftlichung der Verwaltung und im Einbezug des gesamten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens in den staatlichen Einflussbereich. Für die Untertanen in Stadt und Land bedeutete dies einen praktisch alle Lebensbereiche umfassenden Regulierungs- beziehungsweise Disziplinierungs- und Pädagogisierungsprozess, verbunden mit einer zunehmenden Bürokratisierung. Grundlage dafür waren ein neues Selbstbewusstsein des Luzerner Rates, beruhend auf der Auseinandersetzung mit 30

Hans Conrad Peyer, Die Anfänge der schweizerischen Aristokratien, in: Kurt Messmer, Peter Hoppe, Luzerner Patriziat. Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studien zur Entstehung und Entwicklung im 16. und 17. Jahrhundert (= Luzerner Historische Veröffentlichungen 5), Luzern/München 1976, S. 3–28.


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einem zusehends wachsenden Aufgabenkatalog im Innern und einer vor allem aufgrund der Soldallianzen zunehmenden Verflechtung mit der internationalen Politik, ein entwickeltes Staatskirchentum im Gefolge der katholischen Reform sowie schliesslich das Bewusstsein, die von Gott eingesetzte Obrigkeit mit der Verantwortung für alle Lebensbereiche zu sein. Im Verwaltungsbereich, insbesondere bei der Finanzverwaltung, lässt sich eine starke Ratio­nalisierungstätigkeit feststellen. Die Wirtschaftspolitik wurde ganz auf die Versorgung der Stadt mit genügend Lebensmitteln ausgerichtet mit dem Markt als Drehscheibe. Die Handwerke wurden neu organisiert, indem sie als Meisterschaften umfassende Kompetenzen bei der Kontrolle von Ausbildung, Qualität der Produkte sowie Preisen und Löhnen erhielten. Die Kontrolle des Rates dehnte sich aber auch auf private Bereiche des täglichen Lebens aus: Feste, Fasnacht, Umzüge, Kirchweihen, Tanzveranstaltungen, Kleidung und Luxusgüter, Genussmittel, Glücksspiele, das Gesundheitswesen, alles geriet nun in den Fokus der obrigkeitlichen Bestrebungen zur Reglementierung und Normierung. In der Reformation blieb Luzern beim alten Glauben; bei der Durchführung der katholischen Reform seit dem Konzil von Trient nahm es in der katholischen Eidgenossenschaft eine Führungsrolle wahr, was sich unter anderem in der Errichtung der Nuntiatur in Luzern,31 der Berufung der Jesuiten32 für die höhere Bildung und der Kapuziner33 für die Seelsorge niederschlug. Die kirchlichen Institutionen wie Klöster, Stifte und Pfarreien wurden verstärkter Kontrolle unterstellt, unter anderem durch Prüfung der Rechnungen. Neben den Neugründungen von Klöstern kam es zu Zusammenlegungen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb auch das Fürsorgewesen eine grundlegende Neuorganisation erfuhr. Es gehörte schliesslich zu den zentralen Aufgaben der Obrigkeit, für das Wohlergehen der ihr anvertrauten Bevölkerung zu sorgen, und zwar gerade auch dann, wenn es um die Abdeckung der elementarsten Bedürfnisse (Lebensmittel, Kleidung, Unterkunft) ging. Schliesslich sei noch auf eine Rahmenbedingung hingewiesen, die der Einflussnahme jeglicher Obrigkeit entzogen war, sich aber auf die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung ebenfalls tiefgreifend auswirkte: Seit ca. 1565 lässt sich eine markante Klimaverschlechterung («Kleine Eiszeit») feststellen, besonders extrem bei der Sommerwitterung. Ihre negativen Auswirkungen betrafen sowohl die Getreidebaugebiete wie die Viehzucht- und Milchwirtschaftsregionen; tiefere Temperaturen, überaus zahlreiche Regentage und Extremereignisse wie Hagelzüge prägten das Wetter und lies­ sen die landwirtschaftlichen Erträge stark sinken. Als Folge davon verteuerten sich die Grundnahrungsmittel massiv. Gerade die Jahre 1586–1589 waren ausgesprochen schlechte Jahre, was sich auf die wirtschaftliche Situation und Versorgungslage auch der Luzerner Bevölkerung vor 1590 unmittelbar ausgewirkt hat.34 31 32

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Urban Fink, Die Luzerner Nuntiatur 1586–1873. Zur Behördengeschichte und Quellenkunde der päpstlichen Diplomatie in der Schweiz (= Luzerner Historische Veröffentlichungen 32), Luzern 1997. Helvetia Sacra V/2, S. 352–357. Markus Ries, Das Luzerner Jesuitenkollegium, in: Aram Mattioli, Markus Ries (Hg.), «Eine höhere Bildung thut in unserem Vaterlande Noth». Steinige Wege vom Jesuitenkollegium zur Hochschule Luzern (= Clio Lucernensis 7), Zürich 2000, S. 9–28. Helvetia Sacra VII, S. 114–133. Vierhundert Jahre Kapuziner auf dem Wesemlin 1588–1988, Luzern 1988, S. 43–46. Christian Pfister, Klimageschichte der Schweiz 1525–1860, 2 Bde., Bern 1984, v.a. Bd. 1, S. 119–121; Bd. 2, S. 60–64. Geschichte der Schweiz – und der Schweizer 2, Basel 1983, S. 20f. Andreas Ineichen, Innovative Bauern. Einhegungen, Bewässerung und Waldteilungen im Kanton Luzern im 16. und 17. Jahrhun-


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A RM S EIN IN LUZERN Abbildung 1: Renward Cysat (1545–1614) amtete seit 1575 als Stadtschreiber in Luzern. Er war massgeblich verantwortlich für die Reorganisation und Verdichtung der staatlichen Verwaltung im späteren 16. Jahrhundert; dazu gehörte auch die Neuordnung des Fürsorgewesens, die weitgehend nach seiner Konzeption durchgeführt wurde.

1.6 Renward Cysat Eine wesentliche Rolle bei der konkreten Ausgestaltung des Prozesses der «normativen Zentrierung»35, seiner theoretischen Untermauerung und nicht zuletzt im Hinblick auf die Verschriftlichung der administrativen Abläufe spielte der Stadtschreiber Renward Cysat.36 Er wurde 1545 geboren; nach einer Ausbildung zum Apotheker wurde er 1570 Unterschreiber in der Luzerner Kanzlei, war 1573–1575 Grossrat und übernahm 1575 das Amt des Stadtschreibers, das er bis zu seinem Tod 1614 ausübte. Zu seinen herausragenden Verdiensten gehörten nicht nur die Reorganisation der Kanzlei und des Archivs sowie die Erneuerung sämtlicher Rechtsaufzeichnungen des Staates und weiterer Institutionen (Klöster, Ämter, Vogteien, Twinge). Mit unermüdlichem Einsatz vollzog Cysat im Rahmen der Herrschaftsintensivierung und -verdichtung

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dert (= Luzerner Historische Veröffentlichungen 30), Luzern 1996, S. 131–133. Vgl. auch Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 118–128. Berndt Hamm, Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: Zeitschrift für Historische Forschung 26 (1999), S. 163–202. Historisches Lexikon der Schweiz 3, Basel 2004, S. 560–561 (Fritz Glauser). Vgl. Abbildung 1.


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einen regelrechten Bürokratisierungsschub mit einer bis dahin unbekannten Steigerung der Schriftlichkeit. Aber auch in der Politik machte sich der Stadtschreiber unentbehrlich. Dank seiner vielseitigen Bildung, seiner Sprachkenntnisse und weitgespannten Beziehungen wurde er einer der führenden Persönlichkeiten Luzerns und der katholischen Eidgenossenschaft. Er profilierte sich als Vordenker der katholischen Reform in der Innerschweiz, kümmerte sich mit der Etablierung der Jesuitenschule um eine gehobene Bildung und nahm sich nicht zuletzt auch der Reorganisation des bis dahin verzettelten und unsystematisch betriebenen Fürsorgewesens an. Praktisch alle Unterlagen zu diesem Projekt stammen von seiner Hand, die verschiedenen Entwürfe zur Almosenordnung, die Protokolle der Almosenkommission und die detaillierten Armenlisten. Damit gelang ihm zweifellos ein wichtiger Erfolg bei der Bekämpfung des «offenen Gassenbettels» und anderer Auswüchse einer inadäquaten Fürsorgepolitik. Allerdings ging die Reform dann nicht so weit, wie sich Cysat dies vorgestellt hatte; insbesondere gelang es nicht, die Reorganisation auch auf die Landschaft auszudehnen und längerfristig durchzusetzen. Es darf durchaus darauf hingewiesen werden, dass Cysat selbst sich den Armen gegenüber grosszügig zeigte. Davon zeugen etwa seine Jahrzeitstiftungen für seine Eltern von je hundert Gulden im Hof und bei den Barfüssern; von den Erträgen war ein Teil ausdrücklich für die Austeilung an Arme anlässlich der Jahrzeit bestimmt.37 Seine Frau Elisabeth Bosshart wird auf dem Epitaph als besonders freigebig gegenüber den Armen bezeichnet.38 1.7 Forschungsstand Um diese politischen und gesellschaftlichen Vorgänge, die sich natürlich nicht nur in Luzern, sondern in ganz Europa abspielten, prägnant fassen, beschreiben und deuten zu können, haben sich in der historischen Forschung der letzten Jahrzehnte Konzepte wie die der «Sozialdisziplinierung»39, der «Konfessionalisierung»40 und der «normativen Zentrierung»41 als besonders fruchtbar erwiesen. Dabei hat man aber auch erkannt, dass diesen Tendenzen zu staatlicher und religiöser Intensivierung, Vereinheitlichung und Zentrierung von Herrschaft unübersehbar «Vorgänge der Differenzierung, Multi-

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Josef Schmid, Wer war Renward Cysat?, in: Josef Schmid (Bearb.), Collectanea chronica und denkwürdige sachen pro chronica Lucernensi et Helvetiae I/1.1, Luzern 1969, S. XIX–XLIII, hier S. XLII. StALU KF 80, fol. 57 (Jahrzeitbuch des Franziskanerklosters). Schmid, Renward Cysat, S. XLIII und Abb. IV. Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff «Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit», in: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), S. 265–302. Wolfgang Reinhard, Sozialdisziplinierung – Konfes­ sionalisierung – Modernisierung. Ein historiographischer Diskurs, in: Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge, Paderborn 1997, S. 39–55. Heinrich Richard Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 12), München 1992. Wolfgang Reinhard, Glaube und Macht. Kirche und Politik im Zeitalter der Konfessionalisierung, Freiburg i.Br. 2004. Hamm, Normative Zentrierung, S. 163–202.


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plizierung, Individualisierung und Verdiesseitigung» entgegenstehen.42 In vielen Quellen zur Alltagsgeschichte kann man Freiräume der Bevölkerung zur Selbstregulierung feststellen, die auch von den Obrigkeiten berücksichtigt werden mussten; Neuerungen konnten oft nicht einfach von oben herab durchgesetzt werden, sondern waren in vielen Fällen das Resultat von «Interaktionen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen». Widerstand (auch ohne Gewaltanwendung) gehörte durchaus zum Repertoire der Bevölkerung.43 Im Bereich Armenfürsorge lässt sich dies beim Verhalten der Luzerner Landbevölkerung gegen die Einführung einer zentralisierten Armenunterstützung entsprechend der Almosenordnung von 1590 feststellen. An modernen Untersuchungen über die Armut in Europa im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit fehlt es nicht. Allgemeinere Darstellungen stammen von ­Bronislaw Geremek, Wolfram Fischer und Sylvia Hahn.44 Für das Mittelalter sind die Publikationen von Michel Mollat zu nennen sowie der Band «Armut im Mittelalter» aus der Reihe «Vorträge und Forschungen».45 In den letzten Jahren hat sich das Forschungsinteresse vermehrt der Frühen Neuzeit zugewandt, und häufig stehen städtische Gesellschaften im Fokus der Forschung. Ich verweise hier auf die Überblicksdarstellungen von Jütte, Rheinheimer und von Hippel sowie auf die Sammelbände «Die Entstehung einer sozialen Ordnung in Europa» und «Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit».46 Peter Hersche betrachtete die Armenfürsorge katholischer Regionen in Europa unter dem Aspekt des Barocks.47 Spezifisch mit dem Phänomen der bettelnden Kinder befasste sich Helmut Bräuer.48 Mit einer landesherrschaftlichen Fürsorgepolitik, nämlich der Bayerns, befasst sich eine Untersuchung von Elisabeth Schepers, mit der eines geistlichen Territoriums (Salem) Claudia Schott.49 Einzeluntersuchungen

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Ebenda, S. 165. S. auch Heinrich Richard Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 639–682. Dominik Sieber, Jesuitische Missionierung, priesterliche Liebe, sakramentale Magie. Volkskulturen in Luzern 1563–1614 (= Luzerner Historische Veröffentlichungen 40), Basel 2005. Marco Polli-Schönborn, Frühneuzeitliche Widerstandstradition auf der Luzerner Landschaft. Ein vergleichender Überblick, in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Luzern 20 (2002), S. 3–15. Bronislaw Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, München 1988. Wolfram Fischer, Armut in der Geschichte, Göttingen 1982. Sylvia Hahn, Nadja Lobner, Clemens Sedmak (Hg.), Armut in Europa 1500–2000, Innsbruck 2010. Michel Mollat (Hg.), Etudes sur l’histoire de la pauvreté (Moyen Age–XVIe siècle), 2 Bde., Paris 1974. Ders., Les pauvres au Moyen Age. Etude sociale, Paris 1978 (deutsch: Die Armen im Mittelalter, München 1984). Otto Gerhard Oexle (Hg.), Armut im Mittelalter (= Vorträge und Forschungen LVIII), Ostfildern 2004. Jütte, Arme; Rheinheimer, Arme; von Hippel, Armut. Theodor Strohm, Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas I: Historische Studien und exemplarische Beiträge zur Sozialreform im 16. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts 22), Heidelberg 2004. Sebastian Schmidt, Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit (= Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 10), Frankfurt a.M. 2008. Peter Hersche, Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg i.Br. 2006, S. 770–793. Helmut Bräuer, Kinderbettel und Bettelkinder Mitteleuropas zwischen 1500 und 1800, Leipzig 2010. Elisabeth Schepers, Als der Bettel in Bayern abgeschafft werden sollte. Staatliche Armenfürsorge in Bayern im 16. und 17. Jahrhundert, Regensburg 2000. Claudia Schott, Armenfürsorge, Bettelwesen und Vagantenbekämpfung in der Reichsabtei Salem, Bühl (Baden) 1978.


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liegen für verschiedene deutsche Reichsstädte vor, etwa für Basel, Freiburg i.Br. und Strassburg, Goslar, Frankfurt a.M. und Köln, Nürnberg und Leipzig.50 Aber auch weitere e­ uropäische Städte wie Bordeaux und Barcelona wären anzuführen.51 1.8 Quellensituation in Luzern Quellenmässig schlägt sich die Stadtluzerner Fürsorgepolitik bis 1590 in erster Linie in den Ratsprotokollen nieder. Dazu kommen Akten vor allem zu den Bereichen Gemeinbrett sowie Tuch-, Kleider- und Schuhausteilung. Im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Almosenordnung 1590 kam es zu einer enormen Verdichtung des Verwaltungsschriftguts bezüglich des Fürsorgewesens. Im Zentrum stehen dabei die beiden umfangreichen Bände mit den Protokollen der Sitzungen des Almosenrates;52 hier wurden minutiös alle Aktivitäten und Beschlüsse aufgezeichnet, hier wurden auch die Listen der unterstützten Bedürftigen für die Jahre 1590–1592 geführt. Weitere solcher Protokolle und Listen sind nicht erhalten; es ist sehr wohl möglich, dass man die Arbeit der Kommission nicht mehr mit derselben Akribie dokumentierte, nachdem sich eine gewisse Routine eingestellt hatte.

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Thomas Fischer, Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Untersuchungen am Beispiel der Städte Basel, Freiburg i.Br. und Strassburg, Göttingen 1979. Hannelore Dreves, Das Armenwesen der Stadt Goslar. Eine Einzeluntersuchung zur städtischen Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Goslar 40), Goslar 1992. Robert Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln, Köln 1984. Arnold Lassotta, Formen der Armut im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Untersuchungen vornehmlich an Kölner Quellen des 14. bis 17. Jahrhunderts, Freiburg i.Br. 1983. Valentin Groebner, Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1993. Helmut Bräuer, Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18. Jahrhundert, Leipzig 1997. Martin Dinges, Stadtarmut in Bordeaux 1525–1675. Alltag, Politik, Mentalitäten, Bonn 1988. Uta Lind­ gren, Bedürftigkeit, Armut, Not. Studien zur spätmittelalterlichen Sozialgeschichte Barcelonas (= GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im Katholischen Deutschland: Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft 2, 18), Münster Westfalen 1980. StALU COD 5145; COD 5175.



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