Ein Emblembuch «avant la lettre»

Page 1

Daniel Agricola, Vita Beati (1511)

Ein Emblembuch avant la lettre Herausgegeben von Seraina Plotke





Daniel Agricola, Vita Beati (1511)

Ein Emblembuch | avant la lettre Fotografischer Nachdruck des lateinischen Werks mit synoptischer Beigabe einer ­neuhochdeutschen Übersetzung sowie der Transkription des frühneuhochdeutschen Drucks Herausgegeben von Seraina Plotke

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel Fotografischer Nachdruck des Exemplars: Universitätsbibliothek Basel, Signatur: FG VIII 2 31:2 Transkription nach dem Exemplar: Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Signatur: Inv. Orig. Bd. A2

© 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Reto Zingg, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Basel/Muttenz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2836-1 www.schwabe.ch


Inhalt Seraina Plotke Einleitung: Eine Heiligenlegende als Emblembuch .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Druckerstadt Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Der Minorit Daniel Agricola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Daniel Agricolas Vita Beati .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Die frühneuhochdeutsche Übersetzung der Vita Beati .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Die lateinische Vita Beati als Emblembuch avant la lettre .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Jürgen Mischke Historische Kontexte zur Beatus-Legende von Daniel Agricola .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Verzeichnis zitierter Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Beno Meier / Seraina Plotke Neuhochdeutsche Übersetzung des lateinischen Drucks, Transkription des ­frühneuhochdeutschen Drucks und Anmerkungen .. . . . . . . . . . . . . . 25

5



Einleitung: Eine Heiligenlegende als Emblembuch Von Seraina Plotke Unter dem inhaltsträchtigen Titel Almi confessoris et anachorete Beati: Heluecio­ rum primi euangelistae et apostoli: a sancto Petro missi vita: iam pridem exarata ist 1511 in der Basler Offizin Adam Petris ein lateinischer Druck erschienen, der die Lebensgeschichte des in dieser Zeit am Thunersee kultisch verehrten Heiligen Beatus erzählt. Wie der Widmungsbrief zu erkennen gibt, erhielt der Autor des Werks, ein Basler Franziskaner-Minorit mit latinisiertem Namen Daniel Agricola, den Auftrag für die Ausarbeitung der Heiligenlegende vom Propst des Augustinerklosters Interlaken, zu dessen Kirchsätzen der Ort Beatenberg mit den zur Wallfahrtsstätte avancierten Beatushöhlen zählte und das auch die Reliquien des Heiligen verwaltete.1 Besonders eindrucksvoll ist die graphische Aufmachung des im Folgenden als Vita Beati bezeichneten Werks, die bereits beim ersten Blättern unmittelbar ins Auge sticht. Jedes der fünfzehn Kapitel der Heiligenlegende ist durch einen Holzschnitt vom bedeutenden Zeichner, Kupferstecher und Goldschmied Urs Graf2 illustriert und weist ein sich wiederholendes, klar strukturiertes und genau eine Doppelseite umfassendes Erscheinungsbild auf: Auf der jeweils linken Seite befindet sich die Abbildung mit einer Überschrift und einem darunter gesetzten, zwei Distichen zählenden Epigramm, auf der jeweils rechten wiederum sind ein Kurztitel und der Prosatext des Kapitels von genau einer Blattlänge untergebracht. Diese Anlage des Drucks legt nahe, dass die Ausfertigung des Werks nur in enger Zusammenarbeit von Autor, bildendem Künstler und Drucker geschehen konnte. Allein der Umstand, dass einem diskursiven Werk bei seiner Drucklegung eine reiche Bebilderung zuteil wurde, stellte im frühen 16. Jahrhundert für die Offizinen am Rheinknie keine Besonderheit dar.3 Mit ihren zahlreichen Bildbeigaben steht die Vita Beati in einer bereits mehrere Jahrzehnte bestehenden Tradition illustrierter Drucke, deren Holzschnitte oder Metallstiche oft von bis heute hochgeschätzten Meistern entworfen wurden. Berühmtestes Beispiel eines solchen frühen illuminierten Basler Drucks ist Sebastian Brants Narrenschiff von 1494, mit über 100 Holzschnitten versehen, die zum grossen Teil von Albrecht Dürer stammen.4 Breit ist auch das thematische Spektrum der bebilderten Editionen, es reicht von Klassiker-Ausgaben,5 frühneuhochdeutschen Romanen wie der Melusine Thürings von Ringoltingen6 bis zu Evangelienharmonien und erbaulichen ­Postillen.7

Die Druckerstadt Basel Im Publikationsjahr 1511 der Vita Beati war Basel eine florierende und weit über die Region hinaus bekannte Druckerstadt mit ungezählten Offizinen, was sie nicht zuletzt der örtlichen Papierproduktion verdankte. Die ersten Papiermühlen waren bei und in Basel bereits Mitte des 15. Jahrhunderts in Betrieb genommen worden, wesentlich veranlasst durch den hohen Bedarf an Papier, der sich während des beinahe zwei Jahrzehnte dauernden Basler Konzils eingestellt hatte. Das Wissen um die Herstellung von Papier hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht lange nördlich der Alpen niedergeschlagen, wo erst 1390 in Nürnberg die erste Papiermühle installiert wurde. Vorher hatte Papier, das sich nach und nach zum wichtigsten Beschreibstoff entwickelte, von Südeuropa her weite Wege zurückzulegen, was das ohnehin kostbare Handelsgut zusätzlich verteuerte. Mit der Erfindung des Buchdrucks stieg die Nachfrage nach Papier sprunghaft in die Höhe. Da es für Drucker aus Kostengründen attraktiv war, möglichst nahe am Herstellungsort des für sie so wichtigen Produkts zu sein, liessen sich in Basel ab Ende der 1460er Jahre diverse wandernde Druckergesellen nieder und eröffneten ihre eigenen Offizinen. Allein für die Zeit bis zur Jahrhundertwen­de sind die Namen von nicht weniger als 70 Druckern bekannt. Einen zusätzlichen Anziehungspunkt bildete die neu gegründete Basler Universität. Für die vornehmlich auf Lateinisch verfassten Bücher brauchte es Redaktoren und Korrektoren, nicht selten waren die Besitzer der Offizinen, in der Regel Drucker, Verleger und Buchhändler in einem, auch selbst humanistisch gebildet. Die vielen Druckereien und ihr guter Ruf zogen Humanisten aus ganz Europa an. Zahllose Gelehrte kamen nach Basel, um hier ihre Werke edieren zu lassen. Erasmus von Rotterdam, um nur das bekannteste Beispiel zu nennen, fand seinen Weg 1514 in die Stadt am Rheinknie, weil er von der Qualität der Arbeit Johann Frobens so beeindruckt war. Erasmus liess sich darauf mehrere Jahre in Basel nieder und vertraute von da an seine Schriften und die von ihm herausgegebenen Werke fast nur noch Frobens Offizin an. Andere kamen zwar nicht selbst nach Basel, sorgten aber dafür, dass ihre Texte dort veröffentlicht wurden. Thomas Morus etwa hat seine gesammelten Epigramme, weit mehr als 200 Gedichte, über die Vermittlung seines Freundes Erasmus 1518 erstmals bei Froben publiziert.8 Die Druckerei des gebürtigen Franken Adam Petri, in der die Vita Beati veröffentlicht wurde, gehörte in dieser Zeit mit zu den bedeutendsten Offizinen Europas. Petris Werkstatt, die er 1509 von seinem Onkel Johannes übernommen hatte, zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass der Verleger 7


sehr eng mit diversen Illustratoren zusammenarbeitete und dabei auch die Entwicklung des Titelblatts als einer marktstrategischen Grösse massgeblich beeinflusste. 9 Neben Urs Graf waren etwa Hans Holbein d. J. und Conrad Schnitt für Petri tätig, alle drei standen jedoch auch im Dienst anderer Drucker. Petri pflegte zudem regen Austausch mit befreundeten Humanisten, die für ihn Werke edierten oder als Korrektoren arbeiteten, deren Schriften er aber auch publizierte. Zu ihnen gehörten der elsässische Franziskaner Konrad Pellikan, späterer Basler Professor der Theologie und Reformator, der junge Sebastian Münster, zunächst ebenfalls Franziskaner und Schüler Pellikans, oder der Schlettstädter Humanist Beatus Rhenanus, der in ebenso engem Kontakt mit den Druckern Johann Amerbach und Johann Froben stand und in deren Offizinen ein- und ausging.

Der Minorit Daniel Agricola Über Daniel Agricola, den Verfasser der Vita Beati, ist wenig bekannt. Geboren vor 1490 vermutlich in Basel als Daniel Meyer,10 trat er anscheinend in jungen Jahren ins Basler Barfüsserkloster ein, wo er sich den Observanten anschloss und lange als lector Theologiae wirkte. 11 Konrad Pellikan erwähnt ihn in seinem Chro­ nicon als Prediger, der 1510 am Provinzkapitel in Tübingen mit einem Vortrag teilnahm.12 In derselben Zeit tat sich Agricola in Basel nicht nur als Verfasser eigener Werke, sondern auch als Herausgeber hervor. Was seine eigenen Schriften angeht, ist neben der Vita Beati seine überaus erfolgreiche Passionsharmonie zu nennen, die bereits um 1505 wohl bei Michael Furter in Basel unter dem Titel Passio domini nostri Jesu christi secun­ dum seriem quattuor Evangelistarum das erste Mal erschien, jedoch ohne Nennung des Autors.13 Derartige Zusammenstellungen, die die Passionsgeschichten aus den vier Evangelien zu einer einzigen homogenen Erzählung kombinierten, waren um die Jahrhundertwende sehr beliebt. Sie richteten sich an Geistliche und dienten insbesondere als Orientierungshilfen bei der Abfassung von Predigten für die Karwoche.14 Die erweiterte Fassung von Agricolas Passio domini gelangte 1509 bei Adam Petri in den Druck, im Verbund mit der damals ebenfalls äusserst populären Postilla Guillermi super Epistolas et Evangelia. Von da an kamen bis 1521 über ein Dutzend Ausgaben dieser Passionsharmonie heraus, in der Regel in Verbindung mit der Postilla Guillermi, und zwar bei diversen Basler Verlegern.15 8

Sowohl von der Vita Beati als auch von der Passionsharmonie finden sich zudem Drucke in deutscher Übersetzung. Die frühneuhochdeutsche Passio do­ mini ist 1514 in Augsburg bei Johann Otmar unter dem Titel Der Passio. Das abendtesssen / vnd der hailig Passion / auch die vrstend vnsers herñ Jesu christi / auß den vier Ewangelisten gantz ordenlich gesetzt […] erschienen, 16 die Heiligenlegende ohne gedruckte Angaben zur Offizin und zum Publikationsjahr als Das leben des heiligen bychtigers vnd einsidlers sant Batten / des ersten Apostel des oberlands heluecia geheissen. Handschriftlich ist dem einzigen bekannten erhaltenen Exemplar dieser frühneuhochdeutschen Vita jedoch ein Kolophon beigefügt, das Adam Petri als Drucker und 1511 als Veröffentlichungsjahr nennt. 17 Zudem ist ebenfalls 1514 in Nürnberg bei den Verlegern Johann Stuchs und Kaspar Rosenthaler eine deutsche Evangelienharmonie herausgegeben worden, die Agricola zugeschrieben wird.18 Zumindest in Bezug auf die deutsche Version der Vita Beati ist festzuhalten, dass sie mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht von Agricola selbst in die Volkssprache übertragen wurde, da sie gerade diejenigen Stellen, die im lateinischen Text umständlich formuliert und schwer zu verstehen sind, ersatzlos weglässt. Bei den beiden Nürnberger Drucken wird man davon ausgehen können, dass die Übersetzungen sogar ohne Kenntnis des Basler Minoriten angefertigt wurden. Als Herausgeber oder Mitherausgeber war Daniel Agricola im Wesentlichen für Adam Petri tätig, steuerte zudem für die Titelblätter diverser Editionen eigene Epigramme bei. So war Agricola in den 1510er Jahren an etlichen Veröffentlichungen dieser Offizin beteiligt, wobei es sich vornehmlich um Werke theologischen und religiösen Inhalts handelte. Zu den von ihm edierten Schriften gehören Werke Gregors des Grossen,19 des mittelalterlichen Grammatikers Alexander de Villa Dei,20 des Scholastikers Petrus Lombardus,21 des franziskanischen Theologen Wilhelm von Vorillon,22 des Franziskaners und Scotisten Johannes de Colonia,23 des französischen Minoriten Gilbert Nicolai,24 des Augustiner Lexikographen Ambrosius Calepinus,25 des piemontesischen Priesters und Dichters Dominicus Nanus Mirabellius26 sowie des kroatischen Humanisten Marko Marulić;27 ausserdem wirkte Agricola vereinzelt als Herausgeber für Michael Furter. In der ersten Hälfte der 1520er Jahre scheint Agricola aus Basel weggezogen zu sein und in den Franziskanerkonvent in Bad Kreuznach bei Koblenz gewechselt zu haben, möglicherweise wegen der einsetzenden Reformation in der Stadt am Rheinknie.28 Jedenfalls ist seine Teilnahme als Definitor am Kreuznacher Provinzialkapitel 1523 nachgewiesen, 29 zudem finden sich keine Drucke mehr, die Zeichen von einer Zusammenarbeit mit den Basler Offizinen gäben,


wie sie in den 1510er Jahren so rege erfolgte. Dafür sind zwei weitere Werke Agricolas, die allerdings nie in den Druck gelangten, in Handschriften aus Kreuznach überliefert.30 So tradiert ein heute in München aufbewahrtes Manuskript (Bayerische Staatsbibliothek, MS clm 9062) seine antireformatorische Schrift Obeliscus, in der sich Agricola direkt gegen Luther wandte.31 Das Werk ist Johann III. von der Pfalz, Bischof von Regensburg, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog in Bayern, gewidmet und auf das Jahr 1528 datiert, verbunden mit der Bitte, gegen die Irrlehren Luthers vorzugehen. Eine zweite Kreuznacher Papierhandschrift mit dem Titel Wegfart mit sicherm gleid durch luttersche abweg ein yden Christen Clar an tag gleit durch xl tagreiss auff den berg wares glaubes 1529 f[ecit] daniel agricola barfüser wurde jüngst von der Rheinischen Landesbibliothek Koblenz erworben. 32 Die Vorrede dediziert das Werk Pfalzgräfin Katharina, Herzogin von Bayern und Nonne in Boppard; adressiert werden die geistlichen Jungfrauen, denen Agricola in 40 Kapiteln Standhaftigkeit im alten Glauben nahelegt. Wann und wo Daniel Agricola starb, bleibt im Dunkeln.

Daniel Agricolas Vita Beati In seinem 1511 erschienenen lateinischen Werk über den Schweizer Apostel erzählt Daniel Agricola in fünfzehn Kapiteln die Lebensgeschichte des Heiligen Beatus, von dessen Bekehrung und Missionstätigkeit über die Vertreibung des Drachen bis hin zum Eremitentod und den Wundern an seiner Grabstätte. Umrahmt wird die Vita von einem einleitenden Brief und einem sapphischen Gedicht auf Beatus zum Auftakt des Drucks sowie von zwei Orationes und einer Elegie auf die Jungfrau Maria, die den Schluss der Publikation bilden, wobei nicht nur sämtliche Kapitel, sondern auch die Schlussstücke mit Holzschnitten von Urs Graf versehen sind. Der Inhalt der Legende lässt sich in etwa wie folgt zusammenfassen: Im ersten Jahrhundert nach Christus lebt in England ein gewisser Suetonius, so der ursprüngliche Name des Heiligen. Von Barnabas bekehrt und auf den Namen Beatus getauft, bricht der junge Mann nach Rom auf, schliesst sich dort Petrus an und durchläuft die verschiedenen Weihegrade bis zum Priesteramt. Im päpstlichen Auftrag reist Beatus zusammen mit seinem Gefährten Achates zur Mission über die Alpen ins Gebiet der Helvetier, wo er das Evangelium predigt.

Gegen anfänglichen Widerstand bringt er die Bevölkerung dazu, den heidnischen Göttern abzuschwören und sich taufen zu lassen. Für den eigenen Lebensunterhalt flicht Beatus Körbe und ernährt damit nicht nur sich selbst, sondern auch Bedürftige. Wie ihn sein Weg so durch viele Städte und Regionen führt, kommt er in die Gegend von Interlaken. Dort hört er von einem Drachen, der in der Nähe sein Unwesen treibt. Zusammen mit seinem Gefährten Achates lässt sich Bea­tus über den See fahren, sucht die Höhle des Drachen auf und vertreibt diesen mit Gottes Hilfe. Von da an lebt der Heilige in dieser Höhle und bringt sein Leben in ­grösster Abstinenz und Frömmigkeit zu. Im Alter von neunzig Jahren wird er krank und stirbt, wie Agricola eigens festhält, im Jahr 112 nach Christus. Wunsch­ gemäss wird Beatus bei der Drachenhöhle begraben. In der Folge werden Kranke, die das Grab aufsuchen, von ihren Leiden befreit. Später setzt man auch Achates neben Beatus bei. Mit dieser Lebensbeschreibung des Heiligen Beatus vom Thunersee schuf Agricola ein Werk, das den bis dahin nur kultisch verehrten Schweizer Apostel hagiographisch verankerte. 33 Wie aus dem Widmungsbrief hervorgeht, handelte es sich bei der Vita Beati um ein Auftragswerk, dessen offensichtlicher Zweck darin bestand, den Heiligen des Berner Oberlandes mit einer Vita zu versehen und dadurch zusätzlich zu popularisieren. Tatsächlich existierte zum Zeitpunkt der Drucklegung ein florierender Kult bei den Beatushöhlen; eine Heiligenlegende, die die Wahrheit und Wirksamkeit der Wunder des Beatus im schriftliterarischen Diskurs verbürgt hätte, scheint es jedoch nicht gegeben zu haben.34 Von daher hatte sich schon die ältere hagiographische und historische Forschung die Frage gestellt, auf welcher Basis Agricola überhaupt seine Legende verfasste. Bereits 1680 wurde vom Jesuiten und Bollandisten Gottfried Henschen beobachtet, dass sich der Basler Minorit bei der Ausarbeitung seiner Beatuslegende wesentlich bei der französischen Hagiographie bedient hatte, indem er die Vita des Beatus von Vendôme, der im neunten Jahrhundert gelebt und ebenfalls einen Drachen getötet haben soll, an den Thunersee transferierte. 35 Henri Moretus wiederum wies durch einen Textvergleich mit den drei anonym überlieferten Rezensionen der Vendômer Beatuserzählung nach, welche dieser Versionen Agricola bei der Ausfertigung seines Textes vorgelegen haben musste.36 An eine Abschrift war der Barfüsser möglicherweise über das westfälische Chorherrenstift Böddeken gelangt, in dessen grossen Legendarium die Lebensbeschreibung 9


des Vendômer Heiligen unter anderem tradiert wurde und das enge Beziehungen zum Basler Augustiner-Chorherrenstift St. Leonhard pflegte.37 Agricola benutzte seine Vorlage allerdings nur motivisch, insgesamt blähte er die Geschichte stark auf und versah sie mit viel Lokalkolorit, zudem nannte er den Gefährten des Beatus, der in den Vendômer Rezensionen keinen Namen trägt, in Rückgriff auf Vergil Achates.38 Alles in allem wollte der Franziskaner, wohl im Sinne seines Auftraggebers, die Fiktion erwecken, es handle sich bei der von ihm erzählten Legende um eine von alters her gut verbürgte und schriftlich überlieferte Vita. In dieser Hinsicht lässt sich auch der etwas merkwürdige Titelzusatz iam pridem exarata erklären: Agricola tut so, als sei er nicht der erste, der über das Leben des Heiligen schreibt.

Die frühneuhochdeutsche Übersetzung der Vita Beati Neben der lateinischen Ausgabe der Basler Beatusvita existiert eine frühneuhochdeutsche Edition dieser Legende, die mit denselben Holzschnitten von Urs Graf versehen ist und ein fast identisches druckgraphisches Erscheinungsbild aufweist: Geradezu pedantisch sind die Einleitungs- und die Schlussstücke übernommen, ist die Aufteilung von jeweils eine Blattseite umfassenden Prosakapiteln und Holzschnitten mit den dazugehörigen Überschriften eingehalten (Abb. 1 und 2). In der volkssprachlichen Publikation fehlen einzig die Epigramme unter den Holzschnitten, was, wie sich unten zeigen lässt, mit einer veränderten Textfunktion dieser Ausgabe zusammenhängt. Obwohl die deutschsprachige Veröffentlichung kein gedrucktes Kolophon zeigt, ist davon auszugehen, dass sie ebenfalls 1511 oder zumindest nur kurze Zeit später in der Offizin Adam Petris ediert wurde: Sowohl die Thematik als auch die Aufmachung des Drucks legen eine solche Annahme nahe. 39 Explizite Hinweise, wer die Übersetzung anfertigte oder auf wessen Betreiben hin sie erstellt wurde, finden sich keine. Mit einiger Sicherheit lässt sich jedoch festhalten, dass die deutsche Fassung nicht von Daniel Agricola selbst ausgearbeitet wurde, da sie konsequent immer genau dort kürzt oder vereinfacht, wo die lateinische Vorlage dunkel bleibt, so dass eine Übertragung schwerfällt. Was die Sprache bzw. den Sprachstand der Übersetzung anbelangt, ist der alemannische Einschlag unverkennbar, indem der Druck einen oberdeutschen Schreibstil aufweist: So ist u nicht zu au diphthongiert (z.B. vßtribung, vff, vssatz), ü nicht zu eu (z.B. hütigen, küschheit, tütsch) und i bzw. y nicht zu ei (z.B. inhal­ 10

Abb. 1: Universitätsbibliothek Basel, Signatur FG VIII2 31:2

Abb. 2: Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Signatur Inv. Orig. Bd. A2


tung, vlissig, wyt, dyn), während ie einen klaren Doppellaut darstellt (z.B. durch­ gieng, fieng, liecht).40 Rundung zu ö und ü liegt punktuell vor (z.B. schopffer, ­erschrokenlichen; jedoch: zwelff, hellischen, wirdigkeit), ou steht hingegen durchgehend anstelle des nhd. au (z.B. getoufft, glouben, ouch). Senkung von u zu o bzw. ü zu ö ist kaum durchgeführt (z.B. sunderliche, künig, sünen). Was die Konsonanten betrifft, zeigt sich die in frühneuhochdeutschen Drucken oft zu beobachtende unmotivierte Konsonantenhäufung nur eingeschränkt, so vor allem bei s zu ß und bei f zu ff (z.B. biß, vß, erkantniß, vernunfft, getoufft, oberlandschafft). Mitunter tritt Lenisierung bei den stimmlosen Fortes p und t auf (dapferkeit, vn­ derricht, brysen, bilgers). Alles in allem wird die Graphie im gesamten Druck vergleichsweise einheitlich durchgehalten. Mit Blick auf die inhaltliche Übertragung der Legende ist zu konstatieren, dass sich der unbekannte Übersetzer erkennbar am lateinischen Wortlaut der Erzählung orientierte. So wie die Gestaltung des Drucks als Ganzem beinahe passgenau übernommen wurde, hält sich der Prosatext fast sklavisch an seine Vorlage. Von daher präsentiert die deutschsprachige Edition über weite Strecken eine nahezu wörtliche Übersetzung der lateinischen Publikation, abgesehen von Kürzungen, die nicht immer der Vereinfachung geschuldet sind, sondern mitunter auch dem graphischen Zwang entspringen, dass die Länge der Kapitel eine Blattseite nicht übersteigen durfte. Einzig was die metrischen Passagen der Vorlage angeht, machte der volkssprachige Verfasser Konzessionen, wobei evident wird, dass es zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht denkbar war, die antiken ­Versmasse für Gedichte in deutscher Sprache zu verwenden: 41 Während die Epigramme unter den Holzschnitten ersatzlos ausgespart bleiben – aus Gründen, die im Folgenden zu klären sind –, sind das sapphische Widmungsgedicht zum Auftakt des Drucks sowie die elegische Danksagung am Schluss in paarreimende bzw. assonierende Viertakter transponiert.42 e

e

Die lateinische Vita Beati als Emblembuch avant la lettre Wie mehrfach erwähnt, ist gerade die Anlage des Drucks, der die Heiligenlegende präsentiert, von besonderer Charakteristik, vor allem in seiner lateinischen Version. Daniel Agricola, der auch die Titelblätter verschiedener anderer Publikationen Adam Petris mit Epigrammen ausstattete, versah jedes einzelne Kapitel der Beatusvita mit einem Gedicht von jeweils zwei Distichen, wobei die Position dieser Epigramme unter den Holzschnitten speziell ins Auge sticht. Mit der

mottoartigen Überschrift, der Abbildung und dem darunter gesetzten Epigramm bildet die immer linke Blattseite der Heiligenlegende eine signifikante Trias aus, welche stark an jene Gattung erinnert, die ab dem späten 16. bis ins 18. Jahrhundert derart beliebt war, dass sie nicht nur die bildende Kunst und die Dichtung im engeren Sinne beeinflusste, sondern weit über diese hinaus wirkte, ja beinahe sämtliche Lebensbereiche durchdrang: die Emblematik. 43 Als Geburtsjahr der Emblematik gilt allgemein das Jahr 1531, als den lateinischen ekphrastischen Epigrammen des Mailänder Juristen Andrea Alciato bei der Druckle­gung Holzschnitte beigefügt wurden.44 Das in Augsburg erschienene Buch mit dem Titel Emblematum liber fand sofort sehr grossen Anklang und erfuhr in der Folge zahlreiche Neuauflagen, Bearbeitungen und Übersetzungen.45 Die vorgenommene Anordnung von Überschrift46, Bild und Epigramm, die in der Pariser Ausgabe von 1534 zudem die später typische Form, nämlich die Inanspruchnahme einer ganzen Blattseite, erhielt, wurde richtungsweisend und Vorbild für die wahre Flut von Emblembüchern, die bereits im Laufe des 16. Jahrhunderts und insbesondere im 17. Jahrhundert veröffentlicht wurden.47 Zugleich gab der Titel der Sammlung der neu entstandenen Gattung den Namen.48 So wegweisend Alciatos Emblematum liber für die Gattung der Emblematik auch war: Wie oben bereits ausgeführt wurde, stellt der Umstand, dass einem Druck im Jahre 1531 illustrierende Holzschnitte beigegeben wurden, keineswegs eine Seltenheit dar. Wie gerade im 15. Jahrhundert besonders schöne bebilderte Handschriften entstanden sind, so haben auch die ersten 100 Jahre der Druckgeschichte eine reiche Buchillustration hervorgebracht, die verdeutlicht, welch zentrale Rolle die Bimedialität, das Zusammenbringen von Text und Bild zu einem neuen Ganzen, innerhalb des frühen Buchdrucks spielte.49 Welche Funktionen dieser Bimedialität im Einzelnen allerdings zukamen, ist nicht pauschal zu beantworten, sondern kann nur am konkreten Beispiel untersucht werden. Inwiefern sich sogar scheinbar identisch angelegte Drucke gleichen Inhalts in ihren Text- und Text-Bild-Funktionen unterscheiden können, lässt sich besonders einprägsam anhand der lateinischen Vita Beati und ihrer frühneuhochdeutschen Übersetzung demonstrieren. Die Bewandtnis, die es mit den Epigrammen unter den Holzschnitten in der lateinischen Ausgabe hat, sei deshalb exemplarisch kurz erörtert. Das fünfte Kapitel der lateinischen Heiligenvita beispielsweise trägt den Titel De fructuosa fidelium regeneratione.50 Dieser Titel, von der Druckgraphik her klar als Überschrift des Holzschnitts und des Epigramms markiert – über dem Prosa11


text steht nur eine verkürzte Variante –, nimmt mit dem Wort regeneratio auf die Vulgata und auch auf Augustin Bezug, wo es um die Erlangung des Reiches Gottes geht.51 Das Wort tritt nur in christlichem Kontext auf und wird gleichsam als Terminus technicus verwendet, es erhält neben Wiedergeburt die Bedeutungen Seelenrettung und Taufe. Das mit regeneratio verbundene Adjektiv fructuosus verstärkt den Bezug auf das Neue Testament; Matthäus 7,16 heisst es schliesslich: «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.» Das dazugehörige Epigramm scheint die im Holzschnitt dargestellte Szene zu kommentieren, es lautet: Pellite caecutiens ­virtutis dogmate crimen: / Vt sapiant veram corda beata fidem. / Nemo fidem Christi rectam cum crimine defert. / Hos pseudochristi nominat ipse Iesus.52 Solange der Prosatext der Heiligenlegende als Bezugspunkt des Bildes dient, wird der im Holzschnitt dargestellte bärtige Mann mit Beatus identifiziert, der die Heiden tauft. In der Verbindung mit dem Epigramm jedoch erhält die abgebildete Szene einen allgemeinen Charakter. Sie zeigt dann einen beliebigen Prediger des Christentums, der den Unglauben bekämpft. Genau genommen wird die Verallgemeinerung der Bild-Szene auch durch die mottoartige, auf das Neue Testament zu beziehende Überschrift bewirkt – was im Kontrast mit der entsprechenden Kapitelüberschrift des volkssprachlichen Drucks erst recht manifest wird, dort heisst es nämlich: Zu dem funften: wie sant Bat die abgottery zer­ stort / vnd das volck wyrd von im getoufft. Während der Titel des frühneuhochdeutschen Kapitels den expliziten Zusammenhang des Holzschnitts mit der Heiligenlegende herausstellt, führen Überschrift und Epigramm im lateinischen Werk zu einer anderen Interpretation der Abbildung: Der Leser wird ermahnt, die christlichen Lehrsätze nicht nur für sich selbst aufrecht zu erhalten, sondern auch richtig zu predigen, was erst dann der Fall sei, wenn er sich selbst von der Sünde befreit habe; dadurch werde ihm, wie die Überschrift verdeutlicht, der Eingang in das Reich Gottes gewährt. Die Kombination von Überschrift, Holzschnitt und Epigramm lässt sich in der lateinischen Ausgabe also für sich allein genommen als sinntragendes Ganzes interpretieren, das in Verbin­dung mit der Heiligenvita durch zusätzliche Sinnschichten ergänzt werden kann, aber nicht muss. Diese verallgemeinernde Struktur zeigt sich in allen fünfzehn Kapiteln des lateinischen Drucks, selbst dort, wo der Bezug der Illustration zur Heiligenlegende noch stärker ist und deutliche inhaltliche Verknüpfungen zwischen Holzschnitt und Legendentext auf der Hand zu liegen scheinen, wie sich am Beispiel der Kapitel neun und zehn belegen lässt. Das neunte Kapitel besitzt den Titel De Draconis inventione cautelosa53 und präsentiert als Epigramm: Horridus atque e

e

12

draco squamosus crimina suadet / Occulte ipse draco: saeuit aperte leo. / Obstrue rugitusque leonis: tunde draconis / Guttura: qui miseros decipit arte sua. 54 Kapitel zehn ist überschrieben mit De draconis expulsione animosa 55, wobei das Epigramm festhält: Orantes quicquid petimus de pectore fiet: / Si salus est animae: si ratione petis. / Celsum deuotaeque preces scandunt per olimpum. / Ditis virtutes ra­ bidaque bruta domant.56 Gemäss der Apokalypse des Johannes ist der Drache mit dem Teufel gleichzu­setzen, er ist der Satan und Antichrist (Offb 20,2). Schon im Frühmittelalter hat sich der – von Urs Graf im Holzschnitt aufgegriffene – Bildtypus des geflügelten, sich ringelnden, schuppigen Reptils mit Kopf und Vorderfüssen eines wolfsartigen Raubtiers ausgebildet, das für alles Böse und Feindliche steht, für die Plagen und Drangsale aller Art. In den allegorischen Wörterbüchern, die nicht nur im Mittelalter, sondern auch noch in der frühen Neuzeit in diversen Ausführungen und zahlreichen Exemplaren kursierten 57, findet sich nicht nur diese Deutung, sondern auch die in Agricolas Epigramm thematisierte Gegenüberstellung des im Verborgenen wirkenden (teuflischen) Drachen und dem offen kämpfenden Löwen.58 Scheinen die Holzschnitte der Kapitel neun und zehn mit Blick auf den Prosatext der jeweils gegenüberliegenden Seiten untrennbar mit dem Inhalt der Heiligenvita verbunden zu sein, da Beatus den Drachen, der in der Gegend sein Unwesen treibt, aufsucht und fortjagt, kann dieser Zusammenhang aber auch unbeachtet bleiben, und es ergibt sich trotzdem ein sinnvolles Ganzes. Werden Überschrift, Holzschnitt und Epigramm für sich allein genommen rezipiert, dann lassen sich die beiden Text-Bild-Konfigurationen als Handlungsanweisungen an den Leser interpretieren, die Gefahren des überall lauernden Teufels aufzuspüren und mit Hilfe des Gebets und des christlichen Glaubens unschädlich zu machen, um dadurch das Seelenheil zu erreichen. Die Heiligenvita bietet in diesem Fall also nur den Anlass, um bestimmte allgemeine christliche Verhaltensmaximen zu kommunizieren, die über die Auslegung einer dargestellten res signifi­ cans vermittelt werden. Diese Charakteristika der Text-Bild-Kombinationen in der lateinischen Vita Beati legen die Frage nahe, ob das Werk der Emblematik zugerechnet werden darf, es sich bei diesem Druck also um ein Emblembuch handelt, um ein Em­ blembuch avant la lettre sozusagen. Die lateinische Version von Daniel Agricolas Heiligenlegende wäre dann gleichsam eine Präfiguration der geistlichen Em­ blembücher, die vor allem im 17. Jahrhundert – und da auch im protestantischen Kontext – weite Verbreitung fanden.59


Was die Gattungsproblematik anbelangt, wurden in der Emblemforschung bisher diverse Antworten auf die Frage gegeben, was ein Emblem überhaupt zum Emblem mache. Besonders einschlägig waren die frühen Definitionen von Mario Praz und von Albrecht Schöne. Praz definiert das Emblem als Komplementärphänomen zum Epigramm, bezeichnet mit Ersterem jedoch nur die Bildebene: «The emblem […] is exactly the reverse of the epigram […]. Emblems are therefore things (representations of objects) which illustrate a conceit; epigrams are words (a conceit) which illustrate objects (such as a work of art, a votive offering, a tomb). The two are therefore complementary, so much so that many epigrams in the Greek Anthology written for statues are emblems in all but name.»60 Diese Begrifflichkeit bringt es mit sich, dass Praz das zentrale Merkmal eines Emblems im Moment des Concettistischen sieht.61 Albrecht Schöne wiederum, dessen Auseinandersetzung mit der Emblematik vor allem die germanistische Forschung über Jahrzehnte prägte, hält Praz’ Fokussierung auf den Concetto-Charakter der Embleme für unzulässig, da sich die Gattung als Ganze nicht auf diesen einen Aspekt reduzieren lasse. 62 Tatsächlich ist die Definition von Praz im Wesentlichen anhand der humanistischen Emblematik des 16. Jahrhunderts gewonnen und klammert damit weite Teile der Gattung aus. Schöne selbst bestimmt das Emblem dahingehend, dass «seiner dreiteiligen Bauform eine Doppelfunktion des Abbildens und Auslegens oder des Darstellens und Deutens entspricht», wobei die Pictura auch der Ausdeutung zu dienen vermag, Motto und Subscriptio auch an der Abbildung teilhaben können.63 Ein weiteres zentrales Merkmal sieht Schöne im «imperativische[n] Maximencharakter emblematischer Texte»64, der sich darin zeigt, dass in den Emblemen mit der Ausdeutung des Bildes jeweils der Aufruf zur Befolgung bestimmter Verhaltensmaximen verknüpft ist. In Bezug auf die Trias von Motto, Pictura und Subscriptio spricht Schöne von einem «Idealtypus des Emblems»65, nimmt damit eine Wertung vor, die der vielfältigen Art und Weise, wie die Gattung im 16. und 17. Jahrhundert in Erscheinung trat, nicht gerecht wird.66 Bernhard F. Scholz hat deshalb den Vorschlag gemacht, das «Emblem als Textsorte unter dem Gesichtspunkt einer Normalform»67 zu betrachten, wie sie sich «im Sinne eines statistischen Durchschnitts»68 zeigt. Diese Normalform des Emblems charakterisiert er wie folgt: «[D]as in diesem Sinne normale Emblem hat eine dreiteilige, vertikal angeordnete Oberflächengestalt, es hat ein ausgeführtes Bild, es nimmt eine ganze Blattseite ein, der sprachliche Teil des dreiteiligen Gesamttextes oberhalb des Bildes besteht in der übergrossen Zahl der Fälle aus einer einzigen Zeile, derjenige unterhalb des Bil-

des besteht aus einigen wenigen Versen, und schliesslich: der sprachlich-bildliche Text als Ganzer ‹enthält› einen expliziten oder impliziten allgemeinen Lehrsatz bzw. eine explizite oder implizite, handlungsrelevante Lehre oder Maxime.»69 Scholz greift mit seiner Definition wesentliche Aspekte der Bestimmung Schönes auf, versucht jedoch, die Trias von Motto, Pictura und Subscriptio weniger wertend zu fassen.70 Werden die lateinischen Text-Bild-Konfigurationen in Daniel Agricolas Vita Beati an dieser Bestimmung des Emblems gespiegelt, dann zeigt sich, dass sie in jedem Punkt mit der von Scholz vorgeschlagenen Normalform übereinstimmen. Insbesondere beim Vergleich mit der frühneuhochdeutschen Version der Heiligenlegende wird deutlich, wie sehr die Text-Bild-Kompositionen im lateinischen Druck den von Emblemen erwarteten Charakteristika entsprechen. Nicht der Umstand, dass in der volkssprachlichen Ausgabe die Epigramme weggelassen sind, erweist sich als entscheidende Differenz in Bezug auf die Frage nach der Emblematik, sondern die Tatsache, dass in den deutschen Überschriften der verallgemeinernde Zug völlig fehlt: In der frühneuhochdeutschen Edition beziehen sich die Kapitel- bzw. Holzschnittüberschriften konkret und namentlich auf den Heiligen und seine Erlebnisse. In der lateinischen Version lässt sich eine solche Zuordnung nur mittelbar über den Prosatext der rechten Buchseite vornehmen.71 Werden hingegen das jeweilige Epigramm, der Holzschnitt und die Überschrift aufeinander bezogen, dann richtet sich jede der lateinischen TextBild-Kompositionen mit einer handlungsrelevanten Maxime an den Rezipienten, ein Gesichtspunkt, der in der volkssprachlichen Veröffentlichung vollständig fehlt. Selbst die in Scholz’ Kurzcharakteristik nicht genannte Schönesche Bestimmung des Emblems, dass für die Text-Bild-Konfigurationen die «Doppelfunktion des Abbildens und Auslegens, Darstellens und Deutens» 72 konstitutiv sei, ist in der lateinischen Ausgabe verwirklicht. Während die jeweilige Szene des Holzschnitts in der frühneuhochdeutschen Edition aufgrund der Bildüberschrift eindeutig und unmittelbar mit Beatus und seinem Tun verknüpft ist, legt dieselbe Abbildung im lateinischen Druck durch die Verbindung mit dem Titel und dem Epigramm eine allegorisch deutende Auslegung nahe, aus der die je spezifische Handlungsanleitung zu schliessen ist. Diese offensichtlichen Differenzen zwischen der lateinischen und der volkssprachlichen Publikation scheinen von unterschiedlichen Textfunktionen herzurühren. Die lateinische Version der Vita Beati bietet zwar einerseits die Lebensbeschreibung des Heiligen, den sie mit einer schriftlichen Vita versieht, welche 13


die Wallfahrtsstätte am Thunersee überregional propagiert. Andererseits handelt es sich bei diesem Werk, aufgrund der Text-Bild-Konfigurationen auf der jeweils linken Blattseite, auch um ein Erbauungsbuch mit paränetischem Charakter, und zwar weit über den Umstand hinaus, dass Heiligenlegenden genretypisch erbauliche Züge besitzen: Jede einzelne Text-Bild-Kombination lässt sich in moralischanagogischer Hinsicht auslegen, und die Merkmale der Individuiertheit und der Singularität, die im frühneuhochdeutschen Druck mit der Pointierung des Heiligen Beatus im Vordergrund stehen, fehlen fast gänzlich. Während es der in der Volkssprache gehaltenen Ausgabe im Wesentlichen darum zu gehen scheint, den Heiligen einem breiteren, Latein unkundigen (und wohl auch illiteraten) Publikum bekannt zu machen, 73 verweisen die linksseitigen Text-Bild-Kompositionen in der lateinischen Veröffentlichung nicht auf den Einzelfall Beatus, sondern rekurrieren auf Generell-Christliches und sind verallgemeinerbar. Für sich genommen dienen sie der meditativen Versenkung und der Einübung in christliche Lehren, sie helfen zudem, die betreffenden Verhaltensmaximen besser dem Gedächtnis einzuschreiben.74 Die deutschsprachige ­Publikation hingegen zeigt sich ausschliesslich als eine Art Werbeschrift für den im Berner Oberland blühenden Beatuskult. Alles in allem betrachtet lassen sich die Text-Bild-Kompositionen der lateinischen Ausgabe von Daniel Agricolas Vita Beati also ohne weiteres als Embleme bezeichnen. Einzig der Umstand erscheint problematisch, dass das Publikationsdatum des Drucks zwei Dekaden vor der Erstveröffentlichung des Emblematum liber von Andrea Alciato liegt. Nicht erst die moderne Emblemforschung hat Alciato zum emblematum pater et princeps stilisiert.75 Schon im 16. Jahrhundert wurde der Mailänder Jurist in Vorworten von Emblembüchern und in poetologischen Traktaten als eigentlicher Erfinder der Gattung genannt. Die Gattungsdiskussion kulminiert hier also in der Frage, inwiefern Gattungs-, Wirkungs- und Kanonisierungsgeschichte bei der Emblematik in Eins gesetzt werden dürfen und welcher Stellenwert dem oft als Archetyp bezeichneten und der Gattung den Namen verleihenden Emblematum liber Alciatos von heute aus gesehen zukommt. Es ist ein in der Emblemforschung anerkanntes Faktum, dass die Einflüsse auf die Entstehung und die Entwicklung der Emblematik vielfältig waren. Welch wichtige Rolle nicht nur die Renaissance-Hieroglyphik, sondern auch die Heraldik, die mittelalterliche Allegorese, die Ars memorativa, ja sogar einzelne Werke wie etwa der Physiologus hierbei spielten, ist gut bekannt. Was das Gattungsverständnis des 16. und 17. Jahrhunderts anbelangt, so entspricht der «Gegensatz 14

von Gattungsbegründung einerseits und Vorläufern andererseits […] gerade nicht der Vorstellung, die [man sich damals] von Alciatos Rolle hinsichtlich der Emblematik» machte.76 Die Poetiken und die Praefationes zu Emblembüchern nennen in der Regel nicht nur Alciato, wenn es um die Herkunft der Embleme geht, sondern auch die ägyptischen Hieroglyphen. Alciato wird dann meistens als derjenige angesehen, der an der Spitze derer steht, die in jüngerer Zeit Embleme hervorgebracht haben. Dass Alciatos Emblematum liber mit seinen Text-Bild-Kompositionen innerhalb des frühen Buchdrucks keine Sonderstellung einnimmt, sondern unter die Vielzahl der illustrierten Editionen zu reihen ist, die die ersten Jahrzehnte der Druckgeschichte hervorgebracht haben, wurde oben bereits erläutert. 77 Angesichts dieser Tatsache scheint es nicht angemessen, Alciatos Werk zum eigentlichen Ausgangspunkt der Emblematik zu stilisieren, sondern deren Ursprung in der damaligen Buchkultur insgesamt zu sehen. So ist der Emblematum liber, ebenso wie Agricolas Vita Beati, als typisches Erzeugnis dieser Buchkultur zu betrachten, die die Vorteile nutzte, welche der Buchdruck nicht nur hinsichtlich der Vervielfältigung von Texten, sondern auch hinsichtlich der Reproduzierbarkeit von Text-Illustrationen – Holzschnitt bzw. Kupferstich als Bilddruck –, mit sich brachte. Der frühe Buchdruck schaffte ein medienhistorisches Apriori, das die betreffende Kombinatorik freisetzte, aus der heraus sich die Emblematik als Gattung entwickelte. Insofern liegt die Geburt der Emblematik in der Natur der mit dem Buchdruck ermöglichten Ästhetik. Von daher ist die Kanonisierung von Alciatos Emblematum liber als Initiale der Gattung zu relativieren. Alciatos Werk lässt sich zwar als Ursprung des Begriffs als Genrebezeichnung betrachten, nicht hingegen als Ausgangspunkt für den gattungskonstitutiven Gebrauch von Text-Bild-Konfigurationen in tropologischer Hinsicht. In der Konsequenz bedeutet dies: Genau so, wie Text-Bild-Zusammenstellungen, die nach 1531 publiziert wurden, daraufhin zu untersuchen sind, ob sie zur Gattung der Emblematik gezählt werden dürfen oder nicht, müssen auch Drucke mit Erscheinungsdatum vor 1531 einer entsprechenden sorgfältigen Prüfung unterzogen werden, wenn sie Bild und Text kombinieren. Es versteht sich von selbst, dass nicht jedes illustrierte Werk aus der Frühzeit des Buchdrucks der Emblematik zuzurechnen ist, genauso wenig, wie nicht jedes illustrierte Flugblatt aus dem 17. Jahrhundert dieser Gattung zugezählt werden darf. Wie fliessend jedoch die Übergänge schon vor Alciatos Emblematum ­liber sein können, zeigt nicht zuletzt die Gegenüberstellung der lateinischen Vita ­Beati und ihrer frühneuhochdeutschen Übersetzung.


1 Zu den Reliquien des Beatus siehe: Rudolf Steck: Zur Beatusfrage, S. 282; Gabriela Signori: Beat, der Schweizerapostel, S. 7.    2 Einführend zum Künstler Urs Graf siehe den Band: Urs Graf. Die Zeichnungen im Kupferstichkabinett Basel.   3 Unzählige frühe illustrierte Basler Drucke verzeichnen die beiden Ausstellungskataloge: Frank Hieronymus: Inkunabelholzschnitte; Frank Hieronymus: Basler Buchillustration.   4 Dazu Annika Rockenberger: Produktion und Drucküberlieferung der editio princeps von Sebastian Brants Narrenschiff (Basel 1494). Das Narrenschiff erhielt nach seiner Erstausgabe innerhalb weniger Jahre mehrere Neuauflagen und Übersetzungen: Bereits 1495 erschien in Basel die zweite Ausgabe, nachdem die erste schon an vier weiteren Orten reproduziert worden war. Wenig danach folgte die lateinische Übersetzung von Jacob Locher, die ebenfalls noch vor 1500 mehrfach aufgelegt wurde.   5 Erwähnenswert ist beispielsweise die von Sebastian Brant im Jahr 1501 herausgegebene, mit 330 Holzschnitten versehene Aesop-Ausgabe Esopi apologi sive mythologi cum quibusdam car­ minum et fabularum additionibus Sebastiani Brant (Basel: Jacob Wolff von Pforzheim 1501), die sich bereits in eine Tradition illustrierter Aesop-Ausgaben einreiht.  6 Die Melusine Thürings von Ringoltingen wurde in der editio princeps mit vielen Bildern ausgestattet, sie ist jüngst in einer Neu-Ausgabe erschienen: Thüring von Ringoltingen, Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74, hg. v. André Schnyder in Verbindung mit Ursula Rautenberg, Bd. 1: Edition, Übersetzung und Faksimile der Bildseiten, Wiesbaden 2006.   7 Als Beispiele lassen sich die um 1498 bei Michael Furter in Basel erschienene Ausgabe Postilla super epistolas et evangelia, die Holzschnitte eines nur durch die Initialen DS bekannten Meisters enthält, nennen oder der Druck Postilla Guillermi super Epistolas et Evangelia (Basel: Adam Petri 1511), der mit Holzschnitten von Urs Graf erschienen ist.   8 Die Sammlung trägt den Titel Epigrammata clarissimi disertissimique viri Thomae Mori Britanni, pleraque e Graecis versa (Basel: Johann Froben 1518) und ist in Verbindung mit der von Morus überarbeiteten dritten Auflage seines Gesellschaftsentwurfs Utopia erschienen.   9 Detaillierte Informationen über die frühe Verlagsgeschichte sowie zahlreiche Beispiele illustrierter Drucke aus der Werkstatt Adam Petris finden sich bei Frank Hieronymus: 1488 Petri – Schwabe 1988. 10 So nennt sich Agricola 1510 im Widmungsbrief des von ihm bei Adam Petri herausgegebenen Drucks zu den Quaestiones Magistrales des Johannes de Colonia mit dem nicht-latinisierten Namen Daniel Meyer. 11 Vgl. M[ichael] Bihl: Agricola (Daniel), S. 1022. 12 Vgl. Bernhard Riggenbach (Hg.): Das Chronikon des Konrad Pellikan. Zur vierten Säkularfeier der Universität Tübingen. Basel 1877, S. 40/41: Eodem anno jussus sum praeparare me ad orationem latinam, declamandam coram doctis studii Tubingensis, ubi erat celebrandum capitulum provinci­ ale Minoritarum post Pasca […]. Eam rescriptam et memoriae commendatam impetravi ob vere­ cundiam non dici, quandoquidem eximius alius praedicator, Daniel Agricola dictus, suam quoque declamationem dicens in choro, parum laudis et gloriae reportavit, me quoque deterruit, ne peric­ litarer magis verecundum. Pellikan berichtet hier, wie er selbst eine bereits einstudierte, lateinische Rede nicht gehalten habe, weil er dadurch abgeschreckt wurde, wie wenig Erfolg Daniel Agricola, den er als hervorragenden Prediger bezeichnet, mit seinem Vortrag gehabt habe.

13 Vgl. Anneliese Bieber: Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation, S. 66; András Vizkelety: Agricola, Daniel, S. 393. 14 Vgl. speziell zur Ausrichtung Daniel Agricolas Passio Domini Anneliese Bieber: Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation, S. 66–68. 15 Neben Michael Furter und Adam Petri druckten auch Johann Froben und Thomas Wolff die Passio domini Daniel Agricolas, zudem finden sich Ausgaben des Werks aus Köln, Leipzig oder Venedig: vgl. die laufend aktualisierte Online-Ausgabe des Verzeichnis der im deutschen Sprach­ bereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16) [http://www.bsb-muenchen.de/16Jahrhundert-VD-16.180.0.html]: VD16 E 4376, VD16 B 4697, VD16 E 4381, VD16 B 4701, VD16 E 4385, VD16 B 4704, VD16 E 4384, VD16 B 4703, VD16 E 4386, VD16 B 4708, VD16 E 4387, VD16 B 1975, VD16 P 882, VD16 E 4391, VD16 B 4709, VD16 E 4392, VD16 B 4713, VD16 E 4393, VD16 B 4717, VD16 E 4394, VD16 B 4718, VD16 E 4397, VD16 B 4721, VD16 E 4398, VD16 B 4722. Siehe zudem András Vizkelety: Agricola, Daniel, S. 393/394. 16 VD16 B 4762. 17 Das betreffende Exemplar des frühneuhochdeutschen Drucks befindet sich im Basler Kupferstichkabinett und dient in der vorliegenden Edition als Grundlage für die Transkription, die der neuhochdeutschen Übersetzung des lateinischen Texts synoptisch beigegeben ist. 18 Ihr Titel lautet: Das leben vnsers erledigers Jesu Christi / nach lauttuũg des heyligen Ewangeli / mit vil andechtiger berachtung [sic] / Auch mit beylauffung des lebens der junckfrawen Marie / von einem Parfuesser der obseruantz Also zusamẽ gesetzt / võ anfang der kindthait Cristi / biß auff sein himelfart / vol suesser vnd andechtiger leer vnd betrachtung (VD16 M 5079). 19 VD16 G 3133. 20 VD16 A 1837, VD16 A 1844, VD16 A 1851, VD16 A 1854, VD16 E 2549. 21 VD16 P 1872, VD16 P 1873. 22 VD16 G 4092. 23 VD16 J 622. 24 VD16 N 1500. 25 VD16 C 227. 26 VD16 N 66. 27 VD16 M 1286. 28 Guardian des Basler Barfüsserklosters war ab 1519 Konrad Pellikan, der bald zum Anhänger Luthers wurde und dessen Schriften kommentierte (vgl. Brigitte Degler-Spengler: Barfüsserkloster Basel, S. 133/134). 29 Vgl. Florenz Landmann: Zum Predigtwesen der Strassburger Franziskanerprovinz, S. 312. 30 Zur Geschichte des Kreuznacher Klosters und seiner Bücher siehe: Max Plassmann: Zur Bibliothek des Kreuznacher Franziskanerkonvents. 31 Vgl. András Vizkelety: Agricola, Daniel, S. 393; Florenz Landmann: Zum Predigtwesen der Strassburger Franziskanerprovinz, S. 312. 32 Vgl. die digitale Publikation: «Erspäht und ersteigert». Zwanzig Jahre Rheinische Landesbibliothek – zwanzig Jahre Handschriften-Erwerbung. Ausstellung vom 23. November 2007 bis 20. Dezember 2007 (http://www.lbz-rlp.de/cms/rlb/digitale-angebote/ausstellungskataloge/erspaeht/index.html); RLB-Signatur: H 95/30. 33 Dazu Gabriela Signori: Beat, der Schweizerapostel, S. 8.

15


34 Vgl. Gabriela Signori: Beat, der Schweizerapostel, S. 4–8. Was es an schriftlichen Zeugnissen zum Leben eines Heiligen namens Beatus am Thunersee vor Agricolas Vita gibt, siehe: Ernst von Känel: Streiflichter zur Christianisierung; Bernhard Stettler: Studien zur Geschichte des oberen Aareraums, S. 91–98; Rudolf Steck: Zur Beatusfrage; Gottfried Dumermuth: Der Schweizerapostel St. Beatus. 35 Acta Sanctorum, Mai Tom. II (9. Mai), Antwerpen 1680, S. 367f. Siehe dazu Henri Moretus: La Légende de Saint Béat, S. 423; Rudolf Steck: Zur Beatusfrage, S. 273/274. 36 Vgl. Henri Moretus: La Légende de Saint Béat, S. 427–429. Die Vita des Heiligen Beatus von Vendôme ist in drei Rezensionen überliefert und in der Bibliotheca Hagiographica Latina (BHL) unter den Nummern 1064, 1065 und 1066 erfasst (siehe Société des Bollandistes [Hg.]: Bibliotheca ­Hagiographica Latina. Antiquae et mediae aetatis. Brüssel 1992 [Nachdruck der Ausgaben: Brüssel 1898–1901]). Editionen dieser Rezensionen finden sich in: Acta Sanctorum, Mai Tom. II (9. Mai), Antwerpen 1680, S. 365/366 (Nr. 1064); Henri Moretus: La Légende de Saint Béat, S. 450–453 (Nr. 1065); Charles Métais: Saint Bienheuré de Vendôme, Vendôme 1888, S. 27–34 (Nr. 1066). 37 Vgl. Gabriela Signori: Beat, der Schweizerapostel, S. 9/10. 38 Auch der Gefährte von Aeneas heisst Achates (Vergil, Aeneis, I,120 und öfters), vgl. Henri ­M oretus: La Légende de Saint Béat, S. 430. Bereits Beatus Rhenanus hatte festgestellt, dass sich Agricola mit der Namenswahl Achates auf Vergil bezog (siehe unten S. 20/21 in diesem Band). In späteren Bearbeitungen der Legende des Beatus vom Thunersee heisst der Gefährte nicht mehr Achates, sondern Justus (vgl. Ernst von Känel: Streiflichter der Christianisierung, S. 21). 39 Dies suggeriert auch ein handschriftlicher Zusatz im Exemplar des Basler Kupferstichkabinetts. Bemerkenswert sind zudem markante, nicht genau zu datierende Lesespuren, die offensichtlich auf einen protestantischen Besitzer des Drucks zurückgehen: So ist beispielsweise das Wort bapst an sämtlichen Stellen durchgestrichen. 40 Allerdings ist üe in der Regel zu ü monophthongiert (z.B. demütig, gemüt, betrübt, berürt). Der Status von uo ist aufgrund der Graphie nicht definitiv zu entscheiden (zů, klůgheit). 41 Wie die antiken Metren in deutschsprachigen Texten benutzt werden, dies lehrt erst die normative Poetik des 17. Jahrhunderts. 42 Mit der volkssprachlichen Übersetzung der Vita Beati eröffnet sich auch die Reihe von Bearbeitungen des Stoffes, die in den folgenden zwei Jahrhunderten weitere deutsche Versionen dieser Legende zeitigte und wesentlich im Zeichen der Gegenreformation stand. Einen breiten Wirkungskreis erreichte die Bearbeitung des bedeutenden Jesuiten Petrus Canisius mit dem Titel Zwo warhaffte lustige recht Christliche Historien auß vilen alten Scribenten zusammen gezogen jetzunder aber auffs new gebessert unnd im Druck verfertiget. Die erste von dem ural­ ten Apostolischen Mann S. Beato erster Prediger im Schweitzerland. Die ander von dem berümten Abbt S. Fridolino, ersten Prediger zu Glaris und Seckingen, die 1590 in Freiburg (i. Ue.) bei Abraham Gemperlin erschien. Ebenfalls eine paränetische Absicht verfolgte der Karthäuser Heinrich Murer mit seiner Schrift Helvetia Sancta, Seu Paradisus Sanctorum Helvetiae Florum. Das ist Ein Heyliger lustiger Blumen-Garten unnd Paradeiß der Heyligen; Oder Beschreibung aller Heyli­ gen, so von anfang der Christenheit, biß auff unsere Zeit in Heyligkeit deß Lebens, und mancherley Wunderwercken, nicht allein in Schweitzerland, sondern auch angräntzenden Orthen geleuchtet, 1648 in Luzern erstmals veröffentlicht.

16

43 Insbesondere im 17. Jahrhundert erlebte die Gattung der Emblematik ihren eigentlichen Höhepunkt. Embleme wurden als Stammbucheinträge gewählt, zierten Sterbebüchlein, sprachen auf Einblattdrucken zu Hochzeiten und Geburtstagen Glückwünsche aus, spendeten Trost bei Begräbnissen. Embleme setzten Bibelstellen ins Bild und dienten so als Ausgangspunkt für Predigten, in Erbauungsbüchern unterstützten sie die häusliche Andacht. Eine besondere Bedeutung erhielt die Gattung auch in der barocken Festkultur: Während der feierlichen Prozessionen wurden emblematische Text-Bild-Konfigurationen zur Schau getragen, auch schmückten sie die Aufbauten der ephemeren Festarchitektur. Als wichtige Bestandteile der Festberichte hielten sie die feierlichen Ereignisse für die Nachwelt fest. In Kirchen, Kreuzgängen und Klosterbibliotheken wurden Emblemzyklen als Wand- oder Deckenschmuck angebracht und waren Teil der religiösen Unterweisung. In Schlössern, Rathäusern oder anderen profanen Gebäuden diente die emblematische Ausstattung der Selbstdarstellung der Adelshäuser oder der Demonstration städtischen Standesbewusstseins. Selbst auf Möbeln, Gefässen und anderen Gegenständen des öffentlichen und des privaten Lebens bereicherten Embleme den damaligen Alltag. 44 Nicht sicher entschieden ist bis heute die Frage, ob der Auftrag zu den Illustrationen durch Alciato selbst oder aber durch den Augsburger Drucker Heinrich Steiner erteilt wurde. Siehe zu dieser Frage: Hessel Miedema: The Term Emblema in Alciati; Frederik Willem Gerard Leeman: Alciatus’ Emblemata; Johannes Köhler: Der Emblematum liber von Andreas Alciatus, S. 14–24; Vera Sack: ‹Glauben› im Zeitalter des Glaubenskampfes, S. 126–149; Joachim Knape: Mnemonik, Bildbuch und Emblematik, S. 149–152. 45 Von 1531 bis 1661 können über 170 Neuauflagen und Übersetzungen gezählt werden (vgl. Henry Green: Andrea Alciati and His Book of Emblems). 46 Das lateinische Wort inscriptio, das sich als Bezeichnung des jeweiligen Mottos der Embleme findet, heisst zunächst einfach Überschrift. 47 Die Forschung hat sich in den letzten vierzig Jahren sehr um die Emblematik bemüht. Als wichtige frühe Nachschlagewerke bezüglich Emblembüchern und ihren Auflagen sind zu nennen: Mario Praz: Studies in Seventeenth-Century Imagery; John Landwehr: German emblem books 1531–1888; John Landwehr: French, Italian, Spanish and Portuguese books of devices and emblems 1534–1827; John Landwehr: Emblem and fable books printed in the Low Countries 1542–1813. Sammlungen von Emblemen bieten: Arthur Henkel / Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata; Peter M. Daly / G. Richard Dimler (Hg.): The Jesuit series. Während der letzten Jahre sind zudem an diversen Bibliotheken Digitalisierungsprojekte realisiert worden, welche Emblembücher über Internet zugänglich machen, so etwa das Projekt «Emblematica Online» der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel oder die «Emblembücher der Frühen Neuzeit» der Baye­ rischen Staatsbibliothek. 48 Das Wort emblema ist ursprünglich griechisch und bezeichnet alles, was angesetzt oder eingelegt ist; in der latinisierten Form war der Begriff auch im Mittelalter bekannt und bezeichnete dann vor allem Intarsien- und Mosaikarbeiten (vgl. William S. Heckscher, Karl-August Wirth: Emblem, Emblembuch, Sp. 85). Alciato hat seine Epigrammsammlung allerdings nicht bezüglich der dreiteiligen Erscheinungsform, in der die Texte publiziert worden sind, so bezeichnet, sondern aufgrund der von ihm vorgesehenen Zwecksetzung, dass die teils aus der Anthologia Pla­ nudea und aus anderen Vorlagen übersetzten, teils selbst gedichteten Epigramme von Kunst-


handwerkern bei der Anfertigung von Gebrauchsgegenständen Verwendung finden könnten (siehe zum Begriff emblema bei Alciato: Hessel Miedema: The Term Emblema in Alciati; Bernhard F. Scholz: Libellum composui epigrammaton cui titulum feci Emblemata, S. 213–226). 49 Ob sich Texte und Bilder als Medien bezeichnen lassen, hängt von der Verwendung des Medien­ begriffs ab. Die Bestimmung des Begriffs bewegt sich in jüngeren Publikationen zwischen ­einem technisch-materialen Verständnis – Medium als physischer Träger eines Zeichensystems – und einem ästhetischen, auf Wahrnehmungskategorien und Kommunikationsformen ausgerichteten Begriff. Letzterer hat sich da einschlägig durchgesetzt, wo vom Medium Bild und vom Medium Schrift gesprochen wird, wie es in zahlreichen Forschungsbeiträgen der letzten Jahre geschieht. Werden Phänomene beleuchtet, die Text und Bild in irgendeiner Form verbinden, ist dementsprechend auch von Bimedialität die Rede. 50 Die Kapitelüberschrift kann übersetzt werden als: «Die ertragreiche Taufe von Gläubigen». 51 Siehe Mt 19,28; Tit 3,5; Augustin. de civ. dei 15,16,3; Augustin. de civ. dei 20,5,2. 52 Das Epigramm lässt sich wie folgt übersetzen: «Vertreibt die verblendete Sünde durch Unterweisung in der Tugend, damit die seligen Herzen den wahren Glauben verstehen. Niemand vermittelt den rechten Glauben an Christus in Sünde. Jesus selbst bezeichnet diese als Nachfolger eines falschen Christus.» 53 Die Übersetzung der Kapitelüberschrift lautet: «Das wachsame Aufsuchen des Drachen». 54 In deutscher Übersetzung: «Der entsetzliche Drache voller Schuppen ermuntert zur Sünde. Im Verborgenen wütet der Drache, offen aber der Löwe. Stopfe dem brüllenden Löwen das Maul, zerschlage die Kehle des Drachen, der die Elenden täuscht mit seiner List.» 55 Diese Kapitelüberschrift lässt sich übersetzen mit: «Die beherzte Vertreibung des Drachen». 56 In deutscher Übersetzung: «Was immer wir beim Beten von Herzen verlangen, wird geschehen, wenn es ums Seelenheil geht, wenn du es mit Verstand verlangst. Demütige Bitten steigen auf zum erhabenen Himmel. Die Tugenden des reich Erfüllten bezwingen das Wilde und Stumpfsinnige.» 57 Friedrich Ohly unterscheidet drei Grundtypen in der Allegorese-Lexikographie: Wörterbücher, die sich an einen ausgewählten Text anlehnen und dessen Gehalt in der Art eines Kommentars fortlaufend auslegen; Wörterbücher, die dem Alphabet nach geordnet sind und am besten als allgemeine Nachschlagewerke benutzt werden konnten; und drittens Übersichten, welche die auszulegenden Dinge nach Sachgruppen auflisten (Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes, S. 21ff.). Eine Zusammenstellung der allegorischen Nachschlagewerke und Summen von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit bietet Jean Baptiste Pitra. Er zählt 150 verschiedene Wörterbücher, die meisten von ihnen sind zwischen dem 11. und dem 17. Jahrhundert entstanden bzw. erschienen (Jean Baptiste Pitra: Spicilegium Solesmense, Bd. 3, S. LXXXIff.). 58 Siehe etwa Hieronymus Lauretus: Silva allegoriarum totius sacrae scripturae. Barcelona 1570. Fotomechanischer Nachdruck der zehnten Ausgabe Köln 1681, hg. v. Friedrich Ohly, München 1971, S. 365. 59 Vgl. etwa Ingrid Höpel: Emblem und Sinnbild; Dietmar Peil: Zur ‹angewandten Emblematik› in protestantischen Erbauungsbüchern. 60 Mario Praz: Studies in Seventeenth-Century Imagery, S. 18. 61 Ebenda. 62 Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama, S. 40.

63 Albrecht Schöne: Emblematik und Drama, S. 21. 64 Albrecht Schöne: Emblematik und Drama, S. 45. 65 Albrecht Schöne: Emblematik und Drama, S. 33. 66 Die dreiteilige Form ist in der Emblematik zwar häufig, aber keineswegs zwingend. Abgesehen von mehrsprachigen Beispielen, die je nachdem mehrere Motti oder Epigramme besitzen, treten Embleme mit Motto und zusätzlichem Bibelspruch oder Titel auf. Vielfach finden sich des Weiteren sogenannte nackte Embleme, die sich dadurch auszeichnen, dass bei ihnen die Pictura nicht ausgeführt ist. Am weitaus beliebtesten jedoch ist neben der dreiteiligen Form diejenige Variante, bei der die Subscriptio weggelassen ist. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Emblemdefinitionen von Mario Praz und Albrecht Schöne sowie der in der jüngeren Forschung geleisteten Kritik findet sich bei Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik, S. 271–288. 67 Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik, S. 288. 68 Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik, S. 290. 69 Ebenda. 70 Allerdings ist auch Scholz’ Terminus «Normalform» nicht glücklich gewählt, da er ebenfalls nicht völlig wertfrei ist. 71 Eine Ausnahme bilden das zweite und dritte Kapitel der lateinischen Heiligenlegende, in denen Beatus in den jeweiligen Überschriften als Person genannt wird, wobei in der Kombination mit den Epigrammen trotzdem der verallgemeinernde Charakter bewahrt wird. 72 Albrecht Schöne: Emblematik und Drama, S. 21. 73 Der Druck eignet sich mit der ausführlichen Bebilderung bestens dazu, die Beatuslegende im kleinen Kreis vorzulesen oder auch nur zu erzählen. 74 Welche Rolle die Ars memorativa bei der Erschaffung der Emblematik spielte, behandelt Wolfgang Neuber: Locus, Lemma, Motto. 75 Die Formulierung «emblematum pater et princeps» taucht erstmals im 17. Jahrhundert auf (vgl. Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik, S. 169). 76 Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik, S. 170. 77 Joachim Knape hat gezeigt, welche direkten Linien sich von der oberrheinischen illustrierten Buchkunst zum Emblematum liber Alciatos ziehen lassen (Joachim Knape: Mnemonik, Bildbuch und Emblematik).

17



Historische Kontexte zur Beatuslegende von Daniel Agricola Von Jürgen Mischke Im Erscheinungsjahr 1511 der Vita Beati wurde der Vorsteher des Basler Franziskanerkonvents Georg Feringer, unter dem Daniel Agricola wohl den Auftrag zur Bearbeitung der Beatuslegende ausführte, durch Bartholomäus Weyer ersetzt, dessen Nachfolger wiederum der Luther-Anhänger Konrad Pellikan war. 1 Die Schaffenszeit Agricolas fällt damit in die unmittelbare Vorzeit der ersten reformatorischen Predigten in Basel in der Barfüsserkirche ab dem Jahre 1518. 2 Nicht weit von dieser Kirche entfernt im Haus genannt Zum Langen Pfeffer in der ­Weissen Gasse lebte und arbeitete Adam Petri, der seit 1507 das Basler Bürgerrecht erworben hatte3 und in den 1510er Jahren nicht nur eng mit Daniel Agricola zusammenarbeitete,4 sondern auch diverse Schriften anderer Franziskaner veröffentlichte. Die Verbindung des Druckers zum Barfüsserkloster war jedoch nicht nur eine geschäftliche, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass er nach seinem Ableben in dessen Kirche begraben wurde, wie den Basler Spitalakten zu entnehmen ist.5 Als Folge der Reformation 1529 verschwanden die vielen Klöster Basels allmählich, so auch der Barfüsserkonvent, dessen Mönche die Stadt bis 1531 vollständig verliessen.6 Wegen der anschliessenden Teilsäkularisierung und Eingliederung der Klostergebäude in die Verwaltung des anliegenden Spitals an der Freien Strasse ist die Quellenlage für die letzten Dekaden des Minoritenklosters heute sehr schlecht, so dass es keine Dokumente gibt, die Auskunft über Daniel Agricolas dort verbrachte Zeit geben würden. 7 Etwas besser sieht es für das Augustinerchorherrenstift Interlaken aus, von dessen Propst der Basler Franziskaner den Auftrag für die Ausarbeitung der Beatuslegende erhalten haben will. Dieser dürfte mit Konrad von Weingarten zu identifizieren sein, der dem Konvent von 1505 bis 1518 vorstand. 8 Zu dieser Zeit befand sich das Kloster in einer schwierigen Situation, die einerseits durch bereits mehrere Jahrzehnte andauernde, innere Spannungen und andererseits durch den drückenden Machtanspruch Berns, das das Kast­ vogtrecht über Interlaken innehatte, geprägt war. 9 Schon seit dem 14. Jahrhundert hatte die Propstei, der ein Frauenkonvent angegliedert war, immer wieder Missstände und die Nichteinhaltung der Ordensregeln zu beklagen; bei der Reform des Stifts, die durch Burkard Stör, Vorsteher des benachbarten Klosters Amsoldingen, im Jahre 1475 vollendet wurde, anerkannte der Papst

die Stadt Bern offiziell als Protektorin, 10 so dass die Interlakener Augustinerpropstei ihr ­a utonomes Wahlrecht verlor. Zudem wurde der Frauenkonvent 1484 aufgelöst. 11 Um 1500 besass das Kloster, obwohl es sich im Laufe des Mittelalters zum grössten Grundbesitzer im Berner Oberland entwickelt hatte, kaum mehr an Einfluss, nicht zuletzt deshalb, weil es an adligen und universitär gebildeten Mitgliedern fehlte.12 Verbindungen zu Basel, wohin der Auftrag zur Ausarbeitung der Beatuslegende vergeben wurde, sind kaum bezeugt, lediglich für das Jahr 1474 lässt sich der Aufenthalt des Interlakener Propstes Heinrich Blumen in der Stadt am Rheinknie nachweisen.13 Die näheren Umstände der Produktionsbedingungen des Auftragswerks sind also nicht bekannt und können bei der aktuellen Quellenlage kaum weiter erhellt werden. Eine Annäherung an die historischen Gegebenheiten soll in der Folge trotzdem gewagt werden, indem den zeitgenössischen Verhältnissen der Beatus-Verehrung am Thunersee nachgegangen wird. Die Lebensbeschreibung des Heiligen durch Daniel Agricola hat zwar zweifelsohne eine starke Rezeption nach sich gezogen, da die Vita Beatus zum eigentlichen Schweizer Apostel stilisierte, doch steht Agricolas Werk nicht am Anfang der Veneration, sondern geht auf eine lange kultische Tradition zurück. 14 Die ersten Nachrichten eines Heiligen Beatus in der Schweiz stammen aus dem Kloster St. Gallen, das in der Zeit um 900 eine Beatusvita besessen haben soll.15 Im 12. Jahrhundert werden im Kloster Engelberg Reliquien des Heiligen Beatus in einem Verzeichnis aufgeführt.16 Am Thunersee begegnet uns ein Hinweis auf den Heiligen erst in einem Dokument vom 21. März 1231. In einer Urkunde über die Beseitigung des Streites zwischen dem Kloster Interlaken und dem Ritter Arnold von Ried ist ein Priester H[einrich?] der Pfarrkirche St. Beat als einer der Zeugen aufgeführt.17 Ebenso erscheint ein von dort stammender Priester Konrad auf einer Urkunde aus dem Jahre 1246.18 1263 erhält die Interlakener Propstei die Hälfte des Patronatsrechts über die Kirche vom Freiherrn Walther von Eschenbach zum Heil seiner Seele geschenkt, 19 was vom Konstanzer Bischof 1280 bestätigt wurde.20 Wir können also schon für das 13. Jahrhundert von einer lebendigen, dem Heiligen Beat geweihten Pfarrkirche am Thunersee ausgehen. Über deren Entstehung oder Verbindung zu den älteren Beatushinweisen in der Schweiz gibt es zwar keine Quellen, doch ist unwahrscheinlich, dass die Pfarrkirche vor der Gründung des Klosters Interlaken im frühen 12. Jahrhundert schon bestand.21 Bis zur Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert reissen die Erwähnungen der Kirche in den Urkunden nicht ab.22 19


Mit Bezug auf das Jahr 1439 ist erstmals explizit von Wallfahrten zu Höhle und Kirche die Rede: Wegen einer starken Pestwelle wandte sich der Berner Rat an die Stadt Thun mit der Bitte um Bereithaltung von Schiffen, die die Gebrechlichen über den See zur Höhle fahren sollten. 23 Solche Pilgerfahrten setzen das Vorhandensein von Reliquien voraus, über deren Ankunft bei der Kirche jedoch keine Nachrichten existieren, was zu der – in Agricolas Vita propagierten – Vorstellung passt, in Beatus einen lokalen Heiligen zu verehren. 1494 sollen jedenfalls sterbliche Überreste mit Silberdraht verbunden und in einem silberbeschlagenen Sarg in der Höhlenkapelle beigesetzt worden sein. 24 In der selben Zeit erwähnt Conrad Türst in seiner geographisch-historischen Beschreibung der Eidgenossenschaft die herrlichen Wunder, die bei der Höhle geschähen, weist den Heiligen Beatus zudem als Schüler des Petrus aus: In latere laci inferioris ad or­ tum specus, ubi discipulus Petri s. Beatus Deo famulatus est, miraculis clarens mul­ tos nunc in annos.25 Von der damaligen Beliebtheit der Wallfahrtsstätte zeugt darüber hinaus auch archäologisches Fundgut aus dem Gebiet der Beatushöhle, so eine Glocke, Mauerreste, zahlreiche Bestattungen, ein Wallfahrtspfennig von 1430 und ein Pilgermedaillon.26 Der sächsische Junker und Wallfahrer Hans von Waldheim gibt im Bericht seiner Pilgerreise im Jahr 1474 ein anschauliches Bild vom Besuch der Kultstätte am Thunersee, bei der das steinerne Grab des Heiligen zu sehen gewesen sein soll;27 nebenbei erwähnt er das dortige, offenbar gut ausgestattete Wirtshaus, das sogar einen wasserbetriebenen Bratspiess installiert hatte: Item. Czu Thüna ym Frienhofe lissen wir vnssere pferde sten vnd ich dingitte eyn groß schiff vnd wir furen den sehe hyn uff ad beatum Beatüm; den liebin hern vnd heyligin nennen sie zcu sandte Patten. Der liebe herre sanctus Beatus ist gewest eyn herre von Franckrich vnd ist in bru­ der wise alzo eyn walbruder in die land kommen, vnd her had eynen engistlichin grusamen tra­ chen getotit, der den menschin gar vile schaden tad. Der liebe herre beatus Beatus had ouch von Gote sulche gnade erworbin: wer on erit, anrüffit vnd yme dynet, den beward her vor den pes­ tilecien vnd vor den drusen etc. Item. Beatus Beatus lyd liphaftig uff eynem hochen berge, do ist in eyner steyn kluft syn werdiger lichnam vnd gebeyne vormürit, alzo man das gebeyne do eygintlichin sehit. […] Item. Czu sandte Patte ist in der kuchen an dem herde eyn bradspiß, den triben die bornqwel vnd ryuer, die uß den bergen loüffen etc.28

Der ausgeprägte Beatuskult am Ende des 15. Jahrhunderts, wie er bei Waldheim beschrieben wird, bildet den Hintergrund für die Herausgabe der Heiligenvita im Jahr 1511.29 Offenkundige Basis und implizites Ziel des Auftrags des Interlakener Propstes an Daniel Agricola zur Erstellung des lateinischen Drucks war 20

die weiträumige Popularisierung des Kultes, wie sich nicht zuletzt im 14. Kapitel De Ostensione miraculosa zeigt, das auf ein aktuelles Beispiel eines Heilungswunders Bezug nimmt.30 Aus den anschliessenden konfliktreichen Dezennien des sich reformierenden Bern sind weiterhin Nachrichten zum Wallfahrtsort am Thunersee zu vernehmen, der für viele Menschen nichts von seiner Anziehungskraft verlor. So berichtet die Berner Chronik des Anshelm Valerius für den 18. Mai 1528, man habe sant Batten gebein unverwegt gefunden und uss sinem wilden drackenloch in das zam kloster gefiert und bewaret, nuwe abgotterî zů verkommen, so an einer wun­ dersichtigen wilde vil jar mit grossem, aber s. Batten ganz unglichem pfaffenlust und gwin volbracht.31 Der Reformationsbefürworter verurteilt die Heiligenverehrung der nahen Vergangenheit und meint auch zu wissen, welche Umstände für deren Erfolg verantwortlich gewesen seien: Man habe die Kunde von Beatus vor wenig jaren erst gestarkt und witer ussgespreit, mit nuwer legend, ja lugend, durch einen poetischen observanz-Parfůssen zů Basel gedicht, zům quest ufgemuzt, gebil­ det und getrukt.32 Die Rede ist hier natürlich von der Beatusvita Daniel Agricolas. Trotz der Reformation blieb der Wallfahrtsort denn auch so beliebt, dass der Eingang der Höhle zugemauert werden musste, um die Verehrung einzudämmen; zugleich wurde die Kirche weg von der Höhle auf den Beatenberg versetzt, wie die gleiche Chronik für das Jahr 1534 berichtet.33 Allerdings wurde die betreffende Mauer offenbar bald wieder eingerissen und noch Ende des 19. Jahrhunderts konnte man Reste von ihr und anderen Gebäuden sehen. 34 Kritik an Agricolas Legende wurde aber nicht nur aus dem religiösen Lager laut, sondern schon 1531 äusserte sich Beatus Rhenanus zur Lebensbeschreibung des Heiligen aus humanistischem Interesse. Neugierig hatte Rhenanus den Belegen des Minoriten nachgehen wollen, die dieser bei der Ausarbeitung der Vita benutzt haben konnte, dabei aber feststellen müssen, dass Agricolas Quellenumgang als höchst problematisch einzuschätzen sei: e

e

e

e

[Es] hat auch jemand in den letzten Jahren, der, wie ich höre, noch lebt, in seiner Biographie des heiligen Beatus, der nach der Volkssage ein Einsiedler in der Schweiz war, erfunden, dass dieser Suetonius geheissen habe und einen Begleiter namens Achates gehabt habe. Ich bin zu dem Mann hingegangen, um ihn zu fragen, woher er das so genau wisse; ich dachte nämlich, er würde solches nicht behaupten, ohne eine Quelle zu haben. Aber hör’ sich einer diese Frechheit an! Er sagte: ‹Ich habe deswegen hinzugefügt, er sei Suetonius genannt worden, weil ich gelesen habe, er sei aus Schweden gebürtig, und weil bei Vergil Achates stets der treue Begleiter des Aeneas ist, habe ich seinem Gefährten diesen Namen gegeben, sonst wäre er doch namenlos geblieben!› Und doch ist diese Geschichte, wenn sie über-


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.