NETZWERK KULTURLANDSCHAFT
Kulturlandschaft ist ein Gemeinschaftswerk von Natur und Mensch Die Wirtschafts- und Lebensformen früherer Gesellschaften, ihre kulturellen Leistungen, haben sich sichtbar ins Territorium eingeschrieben, das dadurch zum Bedeutungsträger wird. Diese «Gebrauchsspuren der Erdoberfläche» können nicht der Wirtschafts- und Tourismusförderung oder dem Natur- und Landschaftsschutz allein überlassen werden. Als materielle Geschichtszeugnisse stehen historische Kulturlandschaften in engem Zusammenhang mit den Baudenkmälern und müssen wie diese dokumentiert und so weit als möglich erhalten werden. Jedoch: Für Kulturlandschaft als Ganzes scheint niemand zuständig zu sein – das begünstigt ihr lautloses Verschwinden. Nur in der Vernetzung von Geographie, Geschichte, Landschaftsarchitektur, Ökologie, Archäologie und nicht zuletzt der Denkmalpflege kann man ihrer Komplexität gerecht werden und ihr Entwicklungspotential bestimmen. Die Publikation vereinigt 14 Beiträge einer an der Universität Freiburg i.Ü. abgehaltenen Tagung, die das Thema in seiner ganzen Breite ausloten, von den Definitionen von Kulturlandschaft über deren Erfassung, Bewertung und Nutzung bis hin zu praktischen Beispielen ihrer Inwertsetzung. Ziel ist es, den Dialog zwischen den verschiedenen involvierten Fachrichtungen in Gang zu setzen und die Bedeutung historischer Kulturlandschaften im Bewusstsein von Fachleuten und Laien zu verankern. Die Publikation bildet den Auftakt einer neuen «Schriftenreihe zur Kulturgüter-Erhaltung», die den interdisziplinären Dialog im Bereich der Erhaltung des kulturellen Erbes verstärken und ausweiten soll.
Die Herausgeber Die 2010 gegründete «formation continue NIKE/BAK/ ICOMOS» ging aus einer Arbeitsgruppe hervor, die sich schon seit fast 20 Jahren in der interdiszi- plinären Weiterbildung im Bereich der Kulturgut- Erhaltung engagiert hatte. Ihr Grundsatz war und ist, regelmässige Fachtagungen zu organisieren und damit den Dialog unter allen an der Kulturgüter-
NETZWERK KULTURLANDSCHAFT
Erhaltung Beteiligten auch über die jeweiligen Fachgrenzen hinaus zu fördern. In ihrer heutigen Form wird die Gruppe gebildet von der Nationalen Informationsstelle für Kulturgüter-Erhaltung NIKE, der Sektion Heimatschutz und Denkmalpflege des Bundesamtes für Kultur BAK und der Schweizer Landesgruppe des International Council on Monu-
Auch eine Aufgabe für Archäologie und Denkmalpflege
ments and Sites ICOMOS (Internationaler Rat für Denkmalpflege).
I S B N 978-3-7965-2874-3
9
783796 528743
Schriftenreihe zur Kulturgüter-Erhaltung 1
NETZWERK KULTURLANDSCHAFT Auch eine Aufgabe für Archäologie und Denkmalpflege
Herausgegeben von:
FORM AT ION CONT INUE | WE I TERBILDUNG | FORM A Z IONE CONT INU A
Nationale Informationsstelle für Kulturgüter-Erhaltung Centre national d’information pour la conservation des biens culturels Centro nazionale d’informazione per la conservazione dei beni culturali
Schwabe Verlag Basel
International Coucil on Monuments and Sites
Für die Druckbeiträge danken wir dem Bundesamt für Kultur BAK
und der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW
Schriftenreihe zur Kulturgüter-Erhaltung 1 Netzwerk Kulturlandschaft enthält die Beiträge der gleichnamigen Tagung, die am 29. und 30. Oktober 2010 an der Universität Freiburg i.Ue. abgehalten wurde. Herausgeber: Arbeitsgruppe formation continue NIKE / BAK / ICOMOS Schriftleitung: Peter Baumgartner, Cordula M. Kessler, Johann Mürner, Boris Schibler Redaktion: Boris Schibler, Andrea Nützi Poller, Marion Wohlleben, Ivo Zemp Übersetzungen: Médiatrice Traductions, Alain Perrinjaquet, Le Noirmont Abbildung auf dem Umschlag: Gebrauchsspuren der Erdoberfläche: Stufen im Fels im Verzascatal (TI).
Copyright © 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Layout/Satz: Peter Kessler, Freiburg i.Ue. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2874-3 rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORTE 10 Kulturlandschaft ist ein Gemeinschaftswerk von Natur und Mensch 11 Den Dialog in Gang setzen 12 Der Reichtum unserer Kulturlandschaften muss erhalten bleiben 13 Ziel erreicht? 14 Kulturlandschaft ist ein Ausdruck der kulturellen Vielfalt
I. EINFÜHRUNG 16 Die Kulturlandschaft – ein Geschichtsbuch Dr. Brigitt Sigel, Kunsthistorikerin, Arbeitsgruppe formation continue NIKE/BAK/ICOMOS
II. GRUNDLAGEN 24 Die Erforschung historischer Kulturlandschaften Ein Gemeinschaftsprojekt von Historischer Geographie und Denkmalkunde – Entwicklungslinien und Trends Prof. Dr. Andreas Dix, Professor für Historische Geographie, Otto-Friedrichs-Universität Bamberg
30 Kulturlandschaft in der Denkmalpflege Geschichte – Erfassung – praktische Anwendung Volkmar Eidloth, Geograph, Denkmalpflege Baden-Württemberg
III. ERKENNEN – ERFASSEN – BEWERTEN 42 Landnutzung schafft Landschaft Relikte, Spuren und Bedeutung PD Dr. sc. nat. Matthias Bürgi, Eidg. Forschungsanstalt Wald, Schnee und Landschaft WSL
50 Kulturlandschaft als geschichteter Raum Bündelung von Interessen zum Schutz der historischen Dimension Dr. Elke Janssen-Schnabel, Architektin, Amt für Denkmalpflege Rheinland
IV. GESCHICHTSSPUREN ZWISCHEN NUTZUNG, ÜBERNUTZUNG UND SCHRUMPFUNG 60 Bewirtschaftung der hochalpinen Landschaft einst und heute – kein Problem? Die Sicht der Archäologie am Beispiel der hochalpinen Prospektion im Berner Oberland Dr. Daniel Gutscher, Kantonsarchäologe, Archäologischer Dienst des Kantons Bern
64 Itinéraires culturels en Suisse La valorisation d’un inventaire fédéral Sandro Benedetti, géographe, chef de projet ViaStoria Suisse romande
70 Unesco-Weltkulturerbe «Rhätische Bahn in der Landschaft Albula/Bernina» Ein Praxisbeispiel für Eingrenzung und Umsetzung Richard Atzmüller, Leiter Richtplanung, Amt für Raumplanung Graubünden
V. KULTURLANDSCHAFT IM SPANNUNGSFELD VERSCHIEDENER INTERESSEN 80 Kulturlandschaftskataster – Ergebnis der Zusammenarbeit Am Beispiel von Heimatvereinen und Fachbehörden in Schleswig-Holstein Dr. Holger Gerth, Vorstandsmitglied des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes
84 Pärke von nationaler Bedeutung Erhalt und Inwertsetzung von Natur und Landschaft im Einklang Simone Remund, Projektleiterin Pärke von nationaler Bedeutung, Bundesamt für Umwelt BAFU
90 Kulturlandschaft zwischen Ästhetik, Biodiversität und Geschichte Was ist eine schöne Landschaft? Dr. Dr. h. c. Raimund Rodewald, Biologe, Geschäftsführer der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz SL
96 Die fehlende vierte Dimension Beobachtungen aus dem Alltag eines Raumplaners Heinrich Hafner, lic. phil. nat., Geograph und Raumplaner
102 Erkannt, benannt, geschützt? Fragen der Denkmalpflege im täglichen Umgang mit der Kulturlandschaft Flurina Pescatore, Kantonale Denkmalpflegerin Schaffhausen
110 Landschaft als Ergebnis historischer Prozesse — und Ressource für die zukünftige Raumentwicklung Prof. Dr. Hans-Rudolf Egli, Geographisches Institut, Universität Bern
VI. RESOLUTION 120 Für einen schonungsvollen Umgang mit Kulturlandschaft 1 21 Pour un traitement soigneux des paysages culturels 122 Bildnachweis 123 Dank
VORWORTE
Kulturlandschaft ist ein Gemeinschaftswerk von Natur und Mensch
«M
ehr-Wert Kulturlandschaft» hieß
langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass
eine 1999 in Interlaken von der
Kulturlandschaft nur durch die Zusammenarbeit
Eidgenössischen Kommission für
verschiedener Disziplinen mit ihren
Denkmalpflege EKD und der Eidgenössischen
unterschiedlichen Methoden erfasst werden kann
Natur- und Heimatschutzkommission ENHK
und muss. In dieser Arbeitsgemeinschaft von
gemeinsam veranstaltete Tagung. Sie sollte ein
Geschichte, Geographie und Biologie müssen auch
Anfang zur Diskussion unter den Fachleuten
Archäologie und Denkmalpflege eine Stimme
der verschiedenen Disziplinen sein. Trotz der
haben. Denn sie haben eine lange Tradition in
zunehmenden Brisanz des Themas hat sich die
der Analyse und Bewertung von Sachzeugen
Denkmalpflege in der Schweiz seither jedoch
oder materiellen Quellen, und sie verfügen über
zu wenig in die Diskussion eingeschaltet.
Methoden und Techniken für ihre Vermittlung
Noch immer wird das Feld mehrheitlich von
und Erhaltung.
Fachleuten der Planung, Landschaftsarchitektur,
Die Vielfalt an vorliegenden Strukturen,
Geographie, Architektur sowie des Natur- und
Elementen und Relikten aus unterschiedlichen
Landschaftsschutzes bestimmt. Damit fehlt die
Zeiten erfordert ebenso wie die Tatsache, dass
Stimme, welche die geschichtlichen Aspekte
eine Kulturlandschaft kein statisches Gebilde
der vom Menschen geprägten Umwelt in ihrer
darstellt, die intensive Zusammenarbeit von
Vernetzung erfasst und verteidigt und deren
Archäologie und Denkmalpflege mit Geographie,
Bedeutung der Gesellschaft zu vermitteln sucht.
Landschaftsarchitektur, Planung, Ökologie sowie
Kulturlandschaft ist ein Gemeinschaftswerk
dem Natur- und Landschaftsschutz. Nur so ist
von Natur und Mensch. Naturgeschichtliche
es möglich, den Spuren der Vergangenheit in der
Vorgänge sowie die Wirtschafts- und
Zukunft der Kulturlandschaft einen angemessenen
Lebensformen früherer Gesellschaften haben
Platz und das Überleben zu sichern.
sie geprägt und sichtbare, unterschiedlich gut
Hauptziel unserer Tagung « NetzwerkKultur-
erhaltene Spuren hinterlassen. Der Beitrag des
landschaft – Auch eine Aufgabe für Archäologie
Menschen beschränkte sich dabei nicht auf
und Denkmalpflege» in Fribourg 2010 war es, die
das Hinzufügen pittoresker Einzelbauten und
Vertreter und Vertreterinnen von Archäologie
Siedlungen. Vielmehr veränderte er seinen
und Denkmalpflege für die Bedeutung der
Bedürfnissen entsprechend auch die weiche
Kulturlandschaft, ihre Erhaltung und sorgsame
Erdoberfläche oder den harten Fels, griff in die
Weiterentwicklung zu sensibilisieren und
natürliche Vegetation ein und formte so in einem
den in Interlaken angeregten Dialog mit den
andauernden Prozess das «Gesicht» der Erde – der
angrenzenden Disziplinen aufzunehmen und
Landschaft.
zu vertiefen. Durch die Verpflichtung von
Die komplexen Zusammenhänge, in
Referentinnen und Referenten aus verschiedenen
denen Kulturlandschaft entsteht und an
Fachbereichen aus dem In- und Ausland
denen natürliche Prozesse ebenso beteiligt
wurde ein weites Spektrum an Problemen und
sind wie menschliche Eingriffe, führen in der
Lösungsansätzen geboten sowie die Gelegenheit,
Wissenschaft wie auch auf Verwaltungsebene
das in der Praxis dringend benötigte Netzwerk zu
dazu, dass für die Kulturlandschaft als Ganze
knüpfen.
niemand zuständig ist. Das begünstigt die
10
einseitige Vereinnahmung durch Einzelinteressen
Für die Arbeitsgruppe formation continue
bis hin zum lautlosen Verschwinden der
NIKE / BAK / ICOMOS
historischen Kulturlandschaften. Nur
Brigitt Sigel und Marion Wohlleben
Netzwerk Kulturlandschaft 2012
Den Dialog in Gang setzen
D
as Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt
1
definiert die Kulturlandschaft als
«gemeinsames Werk von Natur und Mensch». Diese Wechselwirkung zwischen dem Menschen
•• Das verkaufte Paradies – Tourismus und Denkmalpflege: fruchtbare Zusammenarbeit oder misstrauische Distanz?, 26. bis 28. Oktober 2000 in Luzern •• Einst vergessen – bald verschandelt?
und seiner natürlichen Umwelt umfasst eine
Zum Umgang mit alpwirtschaftlichen Gebäu-
Vielzahl von Erscheinungsformen: Dörfer, Gärten,
den und Siedlungen,
archäologische Stätten und vieles mehr. Diese
13. und 14. November 2002 in Elm
Zeugen der menschlichen Entwicklung und
Das nachhaltige Echo auf diese Veranstaltungen
Geschichte bilden einen außerordentlich wichtigen
ist bis heute ausgeblieben. Nach wie vor wird
Teil unserer Identität.
die Kulturlandschaft sektoriell wahrgenommen,
Die Schweiz mit ihren Kulturregionen,
offenbar fühlt sich niemand für sie als Ganzes
Sprachen, mit ihrer Kleinräumigkeit und
zuständig. Mit Blick auf die Raumentwicklung der
Topographie müsste der Kulturlandschaft
Schweiz gibt dieser Umstand Anlass zur Sorge.
ein besonderes Augenmerk schenken. Dabei
Mit der Tagung «Netzwerk Kulturlandschaft»
geht es nicht nur um einzelne Objekte von
sollte der Dialog zwischen Fachrichtungen
herausragendem Wert, wie das Weinbaugebiet
wie Denkmalpflege, Archäologie, Geographie,
Lavaux, die Rhätische Bahn in der Landschaft
Geschichte, Landschaftsschutz, Touristik und
Albula/Bernina oder die Burgen und
Raumplanung verstärkt in Gang gesetzt werden.
Stadtbefestigung von Bellinzona, es geht vielmehr
Es bleibt zu hoffen, dass die vorliegende
um das gesamte Mosaik, welches für unser Land
Publikation der Referate ihren Teil dazu beitragen
charakteristisch ist.
kann.
Verschiedene Tagungen haben sich in der Vergangenheit mit dem Thema näher befasst: •• Mehr-Wert Kulturlandschaft, 21. und 22. Oktober 1999 in Interlaken
1
Johann Mürner, Chef der Sektion Heimatschutz und Denkmalpflege, Bundesamt für Kultur
Welterbekonvention der Unesco von 1972.
Vorworte
11
Der Reichtum unserer Kulturlandschaften muss erhalten bleiben
D
em Gelehrten Isaac Newton, der
die im Einklang mit der Natur stehen, kommen
grübelnd in einem Obstgarten saß, soll
unter Druck durch das Streben unserer Zeit
– so will es die Legende – ein Apfel auf
nach weiträumiger Vernetzung, ökonomischer
den Kopf gefallen sein. Dies habe ihn auf die
Optimierung, rasch fortschreitender Entwicklung
Idee gebracht, die Himmelsmechanik beruhe
der Technik und durch die Sorglosigkeit unserer
auf derselben Ursache wie die herabfallende
Wegwerfgesellschaft.
Frucht. Ob die Episode sich so zugetragen hat,
Wer im BLN, dem Bundesinventar der
bleibt mehr als fraglich. Es wird gar vermutet,
Landschaften und Naturdenkmäler von
Newton selbst könnte in späteren Jahren die
nationaler Bedeutung, blättert, wird gewahr,
Geschichte erfunden haben, um darzulegen,
welch hohen Stellenwert Kulturlandschaften
wie naturwissenschaftliche Einsichten aus
in unserem Land haben. Ja, selbst klassische
Beobachtungen im Alltag gewonnen werden
Naturlandschaften wie das Aletsch-Bietschhorn-
können.
Gebiet sind nicht frei von menschlichen und
Uns soll das Bild des auf das Haupt des
damit kulturgeschichtlichen Zeugnissen. Suonen,
Naturforschers und Philosophen herabfallenden
kühn angelegte Bewässerungssysteme, machen
Apfels für die grundlegenden Aspekte einer
die Bedeutung dieser großartigen Landschaft
Kulturlandschaft stehen, die von Mensch
mit aus. Der Blick ins BLN verrät aber auch,
und Natur gemeinsam geprägt worden ist.
wie vielfältig unsere Kulturlandschaften in
Ausgangspunkt einer solchen Entwicklung ist
Gestalt und Geschichte sind. Sie umfassen
stets die unberührte Natur mit all ihren Gefahren,
historische Ortsbilder unterschiedlichster
Chancen und Herausforderungen, in die der
Prägung ebenso wie Streusiedlungsgebiete und
Mensch seinen Fuß setzt, wo er seine Hand
markante Einzelbauten. Es finden sich Flächen,
anlegt, denkt, erkennt und eingreift, kreativ tätig
die von traditionellen landwirtschaftlichen
wird, Veränderungen erwirkt und Generation für
Bewirtschaftungsformen zeugen nebst
Generation eine Entwicklung herbeiführt.
historischen Bergbaugebieten. Verkehrswege
Geschichtliche Spuren solcher Prozesse sind unabdingbarer Bestandteil jeder Kulturlandschaft, sie machen einen wesentlichen
gehören ebenso dazu wie touristische Bauten und die Spuren abgegangener Alpsiedlungen. Möge diese Publikation dazu beitragen, dass
Wert von ihr aus, den es in seiner ganzen
der Reichtum unserer Kulturlandschaften, von
Vielschichtigkeit materiell zu bewahren gilt. Das
denen jede einzigartig und unverwechselbar
fragile Gleichgewicht zwischen Naturwerten
ist, auch kommenden Generationen möglichst
und menschlichen Eingriffen, zwischen
unverfälscht erhalten bleibe.
lebendiger Tradition und kontinuierlicher, sorgsamer Entwicklung ist heute in vielen
Eduard Müller,
Kulturlandschaften bedroht. Traditionell langsam
Präsident ICOMOS Suisse
ablaufende, lokale und nachhaltige Prozesse,
12
Netzwerk Kulturlandschaft 2012
Ziel erreicht?
D
as einzig Sichere bezüglich unserer
finanziell zu sichern. Dies ist insofern gelungen,
Kulturlandschaft ist deren permanente
als sich das BAK nach längeren intensiven
Veränderung. Trotzdem ist ihr Bestand,
Gesprächen bereit erklärte, in Zukunft neben
ob uns dies gefällt oder nicht, im Grundsatz
einem namhaften Beitrag an die jeweiligen
nicht gefährdet. Ähnlich geht es auch unserer
Fachtagungen auch die Kosten für die Publikation
Arbeitsgruppe. Obwohl in dauernder Veränderung,
der Tagungsakten zu übernehmen. Als eine
sowohl personell wie auch bezüglich der
Folge davon fand die Arbeit der Arbeitsgruppe
jeweiligen Trägerschaften, wird alle zwei Jahre
auch Eingang in die jüngste Kulturbotschaft des
eine Tagung zu einem für die Kulturgüter-
Bundes.
Erhaltung relevanten Thema organisiert. Dies
Vereinsmässig wird die Arbeitsgruppe in
ist nicht selbstverständlich und den vielen
Zukunft nicht mehr im ICOMOS, sondern bei
engagierten Mitgliedern geschuldet, die es auf sich
der NIKE beheimatet sein. Dies bedeutet unter
genommen haben, respektive auf sich nehmen,
anderem eine bessere und professionellere
einen Teil ihrer Arbeits- oder sogar Freizeit für
Einbindung in den Bereichen des Sekretariats,
diesen spezifischen Wissenstransfer einzusetzen.
der Organisation, der Öffentlichkeitsarbeit sowie
Nächstes Jahr sind es genau zwanzig Jahre
der Rechnungsführung. Auch unter dem leicht
her, seit die Arbeitsgruppe «Weiterbildung in
geänderten Namen, als Arbeitsgruppe «formation
den Fachbereichen Archäologie, Denkmalpflege,
continue NIKE/BAK/ICOMOS», werden wir in
Konservierung und Technologie» unter der
der Zusammenarbeit mit den drei genannten
Schirmherrschaft der ETH (Prof. Sennhauser)
Trägerschaften weiterhin die Postulate der
gebildet wurde.
Interdisziplinarität sehr hoch halten.
Zwar sind nur noch drei Mitglieder aus
Ein weiteres wichtiges Anliegen war und ist
der Gründungszeit aktiv, aber die damaligen
die Ausweitung respektive die Ausgestaltung der
Grundsätze gelten noch heute, nämlich
Aktivitäten unserer Arbeitsgruppe auch in die
Fachtagungen zu organisieren und damit den
Romandie. So ist geplant, dass die Tagung 2012
Dialog unter allen an der Kulturgüter-Erhaltung
sowohl in der französischsprachigen Schweiz
Beteiligten auch über die eigenen Fachgrenzen
stattfinden soll als auch unter Einbezug von
hinaus zu fördern. Dieses Ziel wurde klar erreicht,
Westschweizer Fachleuten organisiert werden
sind derzeit doch wesentlich mehr Institutionen
wird.
und Verbände an der vielfältigen Unterstützung
Um nochmals auf die eingangs gestellte Frage
dieser spezifischen Weiterbildung beteiligt als
zurückzukommen: Ein weiteres wesentliches
damals. Es sind dies neben den Mitgliedern der
Ziel haben wir mit der vorliegenden Schrift
Arbeitsgruppe aus den jeweiligen Fachgebieten
tatsächlich erreicht, nämlich die erste Publikation
namentlich die Nationale Informationsstelle
von Referaten aus einer unserer Tagungen,
für Kulturgüter-Erhaltung NIKE, das Bundesamt
hier zum Thema «Netzwerk Kulturlandschaft».
für Kultur BAK und ICOMOS Suisse sowie die
Dafür, dass dies möglich war, möchten wir von
Schweizerische Akademie für Geistes- und
der Arbeitsgruppe uns bei allen Beteiligten ganz
Sozialwissenschaften SAGW, Pro Patria und der
herzlich bedanken.
Schweizerische Verband für Konservierung und Restaurierung SKR. Eine wichtige Aufgabe war es, die
Peter Baumgartner, Leiter der Arbeitsgruppe formation continue NIKE/BAK/ICOMOS
Arbeitsgruppe Weiterbildung längerfristig
Vorworte
13
Kulturlandschaft ist ein Ausdruck der kulturellen Vielfalt
L
andschaft und Mensch formen
Um die kulturelle Vielfalt auch im Bereich
sich gegenseitig. Durch die Art
der Landschaft zu erhalten – die entsprechenden
der Bewirtschaftung, welche sich
Unesco-Konventionen hat die Schweiz im
stets nach ganz spezifischen örtlichen
Jahr 2008 ratifiziert –, müssen zunächst
Gegebenheiten richtete, entstanden bestimmte
überhaupt erst Strukturen und Werkzeuge
Landschaftsformen. Nicht selten sind diese
entwickelt werden. Die Unesco-Konvention
örtlich begrenzt und haben sehr individuellen
sowie die daraus abgeleiteten Vorschläge zur
Charakter. Man spricht von Kulturlandschaft.
Umsetzung liefern dafür den Rahmen. Die von
Umgekehrt hat auch die Landschaft, haben die
der Arbeitsgruppe «formation continue NIKE/BAK/
Gegebenheiten der Natur die in ihr wohnenden
ICOMOS» veranstaltete Tagung und die daraus
Menschen geprägt. Charakterlich auf jeden Fall
hervorgegangene Publikation ergänzen diesen
und manchmal – so der Eindruck – auch physisch.
Rahmen mit konkreten Anregungen für die
Den individuellen Typen von Kulturlandschaft
Erhaltung von Kulturlandschaft.
entsprechen individuelle Charaktere und Typen bei den Menschen. Kulturlandschaft ist das Gegenteil von
Ein Ziel wurde damit bereits erreicht, nämlich die Schaffung eines interdisziplinären Dialogs und Netzwerks, welches für die Erhaltung der
Zersiedelung, ist die Antithese zur nicht
komplexen Kulturlandschaft unabdingbar
endenden Bandagglomeration, die der Reisende
ist. Ebenso wichtig ist die Sensibilisierung
vor dem Zugfenster vorbeiziehen sieht:
von Fachleuten und Laien für die Bedeutung
keine Unterschiede mehr zwischen Stadt
historischer Landschaften. Beide Bereiche
und Land, keine Siedlungsgrenzen, kaum
sind für die Nationale Informationsstelle
unterschiedliche Siedlungsformen. Die negativen
für Kulturgüter-Erhaltung NIKE Auftrag und
Begleiterscheinungen einer globalisierten
Verpflichtung. Ihre Tätigkeit gründet auf den
Gesellschaft spiegeln sich auch in deren Umwelt
Schwerpunkten Sensibilisierung, Koordination,
wider: Das Verschwinden der kulturellen Vielfalt
Weiterbildung und kulturpolitische Arbeit.
ereignet sich auch in der (Kultur-)Landschaft. Deren charakterliche Ausprägungen werden
Cordula M. Kessler, Boris Schibler
immer weniger, zu Gunsten eines Einheitsbreis.
Nationale Informationsstelle für Kulturgüter-Erhaltung
Landschaft aber ist um nichts weniger eine
NIKE
kulturelle Ausdrucksform wie Bildende Kunst, Musik oder Film.
14
Netzwerk Kulturlandschaft 2012
I. EINFÜHRUNG
DIE KULTURLANDSCHAFT — EIN GESCHICHTSBUCH
Dr. Brigitt Sigel Kunsthistorikerin, Arbeitsgruppe formation continue NIKE/BAK/ICOMOS
Bereits 1981 hat Tilmann Breuer als Leiter der Bayerischen
sollte nicht auf die Politik reduziert, sondern auf
Denkmalinventarisation die Frage gestellt, ob man es nicht besser
die ganze Breite menschlichen Handelns ausge-
unterlassen sollte, «das endlose Geschichtsbuch, das unsere
weitet werden. 3
Landschaft vor uns aufschlägt, lesen zu wollen».1 Auch der
Lesen im Buch der Landschaft
Städtebauhistoriker André Corboz bedient sich der Metapher von
Ein Klassiker aus der Feder eines «Annales»-His-
der Landschaft als Buch, wenn er 1983 in einem Aufsatz schreibt:
torikers ist Fernand Braudels über tausend Seiten
«Die neuen mikroanalytischen Untersuchungen haben diese vor Ort ausgebildeten Historiker dazu gebracht, die alten Kataster
umfassende Abhandlung «La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II» – erstmals erschienen 1949, die deutsche Ausgabe
durchzuarbeiten und mit der Untersuchung ganzer Regionen noch
1990.4 Im Zentrum der Untersuchung stehen nicht
einmal von vorne zu beginnen. Manchmal kam die geduldige
etwa König Philipp II. oder die Schlacht von Le-
Entschlüsselung der Verbindungen zwischen den Wegführungen, der
panto, sondern das Mittelmeer. Der ganze, fünf-
Aufteilung in Parzellen und ihren geologischen Grundlagen ebenso hinzu wie die Interpretation von Projekten, die in der Vergangenheit
hundert Seiten umfassende erste Teil mit dem Titel «Die Rolle des Milieus» ist diesem geographischen Raum gewidmet – dem Meer, den Küsten,
nicht verwirklicht worden waren. Das Ergebnis davon war eine ganz
den Bergen, Tälern und Ebenen – diesem Raum,
neue Art und Weise, das Territorium zu entziffern.»2
den sich Menschen zum Lebensraum gemacht haben. Braudel ��������������������������������������������� schreibt, dass die Quellen in den Archiven zwar überreich gewesen seien, aber doch
16
Wichtige Voraussetzungen für diese «ganz neue
viele Fragen offen gelassen hätten. Antworten auf
Art und Weise, das Territorium zu entziffern»,
diese Fragen hat er zum Teil im Buch der Land-
schuf die französische Historikerschule der An-
schaft gefunden, wenn er im Vorwort festhält:
nales – benannt nach der 1929 gegründeten Zeit-
«Ich glaube, dass jenes Meer, das man sehen und
schrift «Annales d’histoire économique et so-
lieben kann, immer noch das größte Dokument
ciale». Geschichte sollte sich nicht länger im
seines vergangenen Lebens ist. Wenn ich aus dem
Erzählen von Ereignissen erschöpfen, sondern
Unterricht der Geographen, die an der Sorbonne
sich mit der Analyse der hinter den Ereignissen
meine Lehrer waren, überhaupt eine Lektion be-
stehenden Probleme befassen. Und Geschichte
halten habe, dann war es diese.»5
1 Tilmann Breuer. Ergebnisse, Probleme und Desiderate der Denkma-
3 Vgl. zur Geschichte der Annales-Schule: Claudia Honegger. Geschichte
lerfassung auf dem Lande. In: Bauen und Bewahren auf dem Lande: Dokumentation zur 7. Pressefahrt des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz in Verbindung mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, 23.– 24. September 1981. Bonn 1981, S. 16–17, hier S. 17. 2 André Corboz. Das Territorium als Palimpsest. In: André Corboz. Die Kunst Stadt und Land zum sprechen zu bringen. Basel, Boston, Berlin 2001 (Bauwelt Fundamente, 123), S. 143– 164, hier S. 163. Der Aufsatz erschien erstmals in französischer Sprache in: Diogeste, Diogène Nr. 121, Janvier– Mars 1983.
im Entstehen. Notizen zum Werdegang der Annales. In: M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a. Schrift und Materie in der Geschichte. Vorschläge zur Aneignung historischer Prozesse. Herausgegeben von Claudia Honegger. Frankfurt a.M. 1977, S. 7–44. – Peter Burke. Offene Geschichte. Die Schule der «Annales». Frankfurt a.M. 1998. 4 Fernand Braudel. La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. Paris 1949. – Deutsche Ausgabe: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1990. 5 Braudel 1990 (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 31.
Netzwerk Kulturlandschaft 2012
Um das Dokument Landschaft lesen und verstehen zu können, bedurfte es aber anderer Kenntnisse und Methoden, als sie der traditionelle Historiker mitbringt. Es bedurfte der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, insbesondere der Geographie, aber auch der Archäologie, die mit ihrer frühen Zuwendung zur Alltagsgeschichte wichtiges Quellenmaterial beisteuern konnte.6 So traten neben die schriftlichen Quellen die Sachquellen und die «Gebrauchsspuren der Erdoberfläche».7 Im Folgenden blättern wir in der Landschaftsgeschichte des Oberen Hauensteins, eines jener zahlreichen Juraübergänge zwischen den Kantonen Solothurn und Baselland, und greifen einige zufällige Spuren dieser Geschichte heraus, die sich alle auf dem Gebiet der Gemeinde Langenbruck befinden.
Abseits der modernen Passstraße, in einem Seitental liegt die kleine Gebäudegruppe des ehemaligen Klosters Schönthal. In der Mitte des 12. Jahrhunderts von den Grafen von Frohburg gegründet, hat sich die Kirche, vor allem ihre Westfassade, trotz jahrhundertelanger profaner Nutzung erhalten, und in der Anordnung der nachreformatorischen Gebäude ist das einstige Klostergeviert noch gut ablesbar.8 Ebenfalls ablesbar geblieben sind die Waldrodungen der Benediktinermönche, die das Gesicht dieser Landschaft noch heute prägen. Abb. 1: Kloster Schönthal (BL).
Das einst dicht bewaldete Gebiet urbar zu machen, war eine der Absichten für die Klostergründung.9 Die weniger steilen Hänge wurden gerodet und dienten als Viehweiden, während die Klosterleute in den einfachen, nur im Sommer bewohnten Hütten Käse produzierten. Schon gegen Ende der Klosterzeit (1529) waren die meisten dieser Senn- oder Alphöfe ganzjährig bewohnt, und der Boden wurde je nach Lage auch für Graswirtschaft und bescheidenen Ackerbau genutzt. Die aus Topographie und angepasster Nutzung erwachsene abwechslungsreiche, kleinkammerige Landschaftsstruktur mit
Abb. 2: Einzugsgebiet des Klosters Schönthal (BL).
den verstreuten Höfen hat sich weitgehend erhalten.10
6 Burke 1998 (wie Anm. 3), S. 53–54. 7 Diese Bezeichnung für Hangterrassen, Wölbäcker, Kohlerplätze und
ähnliche historische Spuren in der Landschaft wurde von einem Kollegen Tilmann Breuers in abschätziger Weise verwendet. Der Projektgruppe schien sie besonders gut zu umschreiben, worum es an dieser Tagung gehen sollte. 8 Rudolf Wackernagel. Geschichte des Schönthals. In: Basler Jahrbuch 1932, Basel 1931, S. 1–48. – Carola Jäggi, Hans-Rudolf Meier. Löwe, Drache, Ritter und Madonna. Zur Ikonographie der Schönthaler Fassadenskulptur. In: Unsere Kunstdenkmäler 40, 1989, Nr. 4, S. 354–433.
Brigitt Sigel | Die Kulturlandschaft – ein Geschichtsbuch
9 Wackernagel 1931 (wie Anm. 10), S. 2. – Paul Jenni. Heimatkunde von
Langenbruck. Liestal 1992, S. 15. 10 Peter Suter. Die Einzelhöfe von Baselland. Liestal 1969, S. 60.
17
Viele dieser Rodungsflächen werden bis heute als Weiden genutzt und sind gelegentlich noch mit Lebhägen (Hecken) eingezäunt, deren Pflege durch ein Naturschutzprogramm gesichert wird. Die hangparallelen Kuhweglein und das unregelmäßig abgerupfte Gras ergeben eine streifige, raue Oberflächenstruktur, die sich im Streiflicht besonders gut von der glatten Oberfläche der Mähwiesen unterscheidet.
Abb. 3: Rodungsflächen werden als Weiden genutzt.
Auf der Spittelweid liegen da und dort rötlich gefärbte Steinbrocken herum, deren Oberfläche mit kleinen, etwa einen Millimeter grossen Kügelchen übersäht ist, die stark eisenhaltig sind. In Mähwiesen werden Steine dieser Größe noch heute auf Lesesteinhaufen zusammengetragen. Auf einer Weide, wo sie nicht stören, lässt man sie liegen. Diese Eisenrogensteine sind ein deutlicher Hinweis auf den Eisenerzabbau in dieser Region.
Abb. 4: Eisenhaltige Steinbrocken.
Auf der Spittelweid, aber auch am Erzenberg im nahen Dürsteltal fällt neben den Eisenrogensteinen eine Reihe hangparallel verlaufender Gruben auf, so genannte Pingen, oberflächliche Erdeinbrüche, wie sie nach der Gewinnung von Eisenerz im Tagbau entstanden sind. Die Pingen veranlassten die Archäologen zu einer intensiveren «Lektüre» des Geländes, die im Dürsteltal zur Entdeckung eines Rennofens aus dem 12./13. Jahrhundert und eines nur wenig jüngeren Hochofens führte.11 Abb: 5: Pingen auf der Spittelweid.
18
11 Jürg Tauber. Das Eisengewerbe im Schweizerischen Jura – Ergebnisse
16 Gesellschaft der Ludw. von Roll’schen Eisenwerke A.G. Entstehung
der neueren Forschung. In: Arts and Crafts in Medieval Rural Environment. Ruralia VI, 22nd–29th September 2005, Szentendre – Dobogókö, Hungary. Turnhout 2007, S. 17–29, hier S. 26–28. 12 Jean-François Bergier. Pour une histoire des Alpes. Moyen Âge et Temps modernes. Aldershot 1997 (Variorum Collected Studies Series, CS587), S. X. 13 Braudel 1990 (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 20. 1 4 Thomas Reitmaier. Letzte Jäger, erste Hirten. Rückwege 2007–2010, ein Zwischenbericht. In: Letzte Jäger, erste Hirten. Hochalpine Archäologie in der Silvretta. Zürich 2010. 15 Tauber 2007 (wie Anm. 13), S. 28. – Jürg Tauber. Das Mittelalter – Siedlungsgeschichte und Herrschaftsbildung. In: Jürg Ewald, Jürg Tauber. Tatort Vergangenheit. Basel 1998, S. 481–531, hier S. 512–515.
und Entwicklung des Unternehmens – Die Werke – Das Unternehmen als Arbeitgeber. Gerlafingen 1948. 17 Daniel Krämer, Stephanie Summermatter. Nachhaltige Geschichte – eine Einleitung. In: André Kirchhofer et al. (Hrsg.). Nachhaltige Geschichte. Festschrift für Christian Pfister. Zürich 2009, S. 11– 20, hier S. 15–16. – Den Hinweis auf diese Publikation verdanke ich Heinrich Hafner, Bern. 18 Klaus C. Ewald, Gregor Klaus. Die ausgewechselte Landschaft. Vom Umgang der Schweiz mit ihrer wichtigsten natürlichen Ressource. Bern, Stuttgart, Wien 2009.
Netzwerk Kulturlandschaft 2012
Geschichte der «longue durée»
zu Gebrauchsgegenständen geschmiedet. Entlang
Sehr direkt in der Tradition der «Annales»-Histori-
der Passstraße, aber auch in der Region bestand
ker stand Jean-François Bergier, der sich in seiner
ein kontinuierlicher Bedarf an Hufeisen, Nägeln,
langjährigen Beschäftigung mit den Alpen auch
Radreifen und anderen Gegenständen aus Eisen.
einem typischen Annales-Thema zugewandt hat-
Auch das ein Kreislauf, der immer wieder neu
te – ermuntert und unterstützt von Fernand Brau-
begann. Erst 1810, mit der Gründung der Firma
del, der in Paris sein Lehrer gewesen war.12 Wie
Ludwig von Roll & Cie. (ab 1823 Gesellschaft der
Bergier und andere Forscher gezeigt haben, sind
Ludwig von Roll’schen Eisenwerke), die in Gäns-
die Alpen ein Musterbeispiel für jene von Braudel
brunnen und in der Klus bei Balsthal, am süd-
formulierte Geschichte der «longue durée», jene
lichen Fuß des Oberen Hauensteins, Hochöfen,
Geschichte «des Menschen in seinen Beziehun-
Hammerschmieden und Gießereien errichtete, be-
gen zum umgebenden Milieu, eine träge dahinflie-
gann für das lokale Eisengewerbe endgültig eine
ßende Geschichte, die nur langsame Wandlungen
neue Zeit.
kennt, in der die Dinge beharrlich wiederkehren
Die Rohmaterialien wurden je länger, je weni-
und die Kreisläufe immer wieder neu beginnen».13
ger aus der Region bezogen, und die Produkte be-
Unter den Voraussetzungen dieser träge dahin-
dienten einen Markt, der sich auch jenseits der
fließenden Geschichte haben sich auch Gebrauchs-
Landesgrenzen befinden konnte.16
spuren der Eroberfläche von beträchtlichem Alter erhalten – etwa Zeugen einer Wanderlandwirt-
Beschleunigung der Geschichte
schaft, wie sie schon vor 5000 Jahren betrieben
Dem Ideal einer problemorientierten Geschichts-
wurde und mit der Alpsömmerung des Viehs noch
schreibung sind auch die Klimaforschungen des
immer – wenn auch sozial verändert und zuneh-
Berner Historikers Christian Pfister verpflichtet.17
mend gefährdet – stattfindet.
Indem er das Klima nicht als isoliertes Phänomen,
14
Auch die Verhüttung von Eisenerz gehört zu die-
sondern in seinen Auswirkungen auf die Agrar-,
ser Geschichte der «longue durée», der Geschichte
Wirtschafts- und Sozialgeschichte untersucht,
der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner
wird deutlich, dass nicht der Mensch allein, son-
natürlichen Umgebung. Doch während der Renn-
dern die Natur mit ihm oder gegen ihn den Gang
ofen eine während Jahrhunderten gängige Technik
der Geschichte und die Gestalt der Erdoberfläche
dokumentiert, war die Verhüttung in einem Hoch-
beeinflusst. Kulturlandschaft – als vom Menschen
ofen eine im Hochmittelalter noch wenig verbreite-
mitgeformt – kann deshalb vom Menschen nicht
te Neuheit, die ein hohes technisches Wissen und
zerstört, sondern nur verändert oder «ausgewech-
einen finanzkräftigen Investor voraussetzte. Für
selt» werden.
beides, den Einkauf entsprechender Fachkräfte und
Mit der Publikation «Die ausgewechselte Land-
das notwendige Kapital, kommen hier, am Oberen
schaft» zeigen Klaus Ewald, bis 2006 Professor für
Hauenstein, eigentlich nur die Territorialherren, die
Natur- und Landschaftsschutz an der ETH Zü-
Grafen von Frohburg, in Frage, denn das Schönthal
rich, und sein Mitautor Gregor Klaus, dass die in
war ab 1266 Frauenkloster, und der Hochofen be-
Jahrhunderten langsam geprägte, ländliche Kul-
findet sich knapp außerhalb des einstigen klöster-
turlandschaft durch die stürmische Entwicklung
lichen Grundbesitzes.
der letzten Jahrzehnte buchstäblich hinweggefegt
Die unscheinbaren Pingen und die im Erdreich
wurde.18 Meliorationen sowie der Siedlungs- und
liegenden Reste des Hochofens geben Einblick in die
Straßenbau haben Veränderungen gebracht, die in
hochmittelalterliche Bergbaugeschichte und könn-
ihrem Tempo und in ihrer Totalität denjenigen vor
ten ein Hinweis darauf sein, dass neben Klöstern
dem Opernhaus in Zürich entsprechen, wo innert
auch die mächtigen Geschlechter einer Region als
sechs Monaten Kulturschichten aus 5000 Jahren
Vermittler und Förderer von technischen Neuerun-
abgetragen wurden, mit dem Unterschied aller-
gen in Betracht zu ziehen sind – beides Themen, zu
dings, dass diese Schichten untersucht und doku-
denen schriftliche Quellen der Zeit noch wenig Aus-
mentiert worden sind.
kunft geben.15
Auch die Kulturlandschaft braucht gesetzli-
So geht nicht nur die Urbarmachung des Ge-
che Vorgaben, die bei allen bewilligungspflich-
meindegebietes von Langenbruck auf die Frohbur-
tigen Veränderungen eine Untersuchung und
ger zurück, sondern vermutlich auch die Anfänge
Dokumentation aller geschichtlichen Spuren in
einer «industriellen» Eisenverarbeitung. Während
ihrer Vernetzung vorschreiben, die anschließend
Jahrhunderten wurde am Oberen Hauenstein Erz
in die Abwägung der Interessen einbezogen wer-
abgebaut, wurden Wälder zur Holzkohleherstel-
den müssen.
lung gerodet, das Eisenerz verhüttet und das Eisen
Brigitt Sigel | Die Kulturlandschaft – ein Geschichtsbuch
19
Aufgabe der Denkmalpflege
gehören zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigun-
Es ist naheliegend, dafür die Denkmalpflege in die
gen der Schweizer Bevölkerung. Eine angemessene
Pflicht zu nehmen. Sie wird dabei auf die Zusam-
Vermittlung auch der geschichtlichen Aspekte ei-
menarbeit mit anderen Disziplinen wie der Archäo-
ner Kulturlandschaft ist deshalb besonders wichtig.
logie, der Geographie, der Industrie- oder der Agrar-
Gerade in diesem Bereich ist in jüngster Zeit
geschichte angewiesen sein. Ihr fachspezifischer
eine erfreuliche Entwicklung zu beobachten.22 Un-
Beitrag liegt in der Bündelung der Einzeluntersu-
ter den neueren Wanderführern, die Landschaft
chungen, in der Beschreibung des Schutzgutes und
als einen von Natur und Mensch beeinflussten ge-
in der nachvollziehbaren Begründung eines Unter-
schichtlichen Prozess darstellen, sei derjenige des
schutzstellungsantrages oder – nach angemesse-
Kantonsmuseums Baselland erwähnt, der uns auf
ner Dokumentation – im Verzicht auf das Zeugnis.
den Oberen Hauenstein zum Kloster Schönthal
Die eingangs zitierte Frage von Tilmann Breuer, ob
und der langen Geschichte des Eisengewerbes ge-
man denn «das endlose Geschichtsbuch, das un-
führt hat. 23
sere Landschaft vor uns aufschlägt, lesen» wolle,
«Natur nah» lautet der Titel dieser Publikation,
wird von ihm natürlich bejaht, denn es gehe darum
die neben Wanderungen in Naturschutzgebieten –
zu wissen, was man opfert, um «einem Neuen eine
auch sie häufig auf menschliche Eingriffe zurückge-
Chance zu geben».19
hend – auch die Salzlager und die Salzausbeutung
Die Erkenntnis, dass nicht nur Schriftquellen,
zwischen Augst und Schweizerhalle sowie die dar-
sondern auch Werke der Architektur und Kunst In-
aus folgende Ansiedlung der chemischen Industrie
formationen vergangener Zeiten überliefern, reicht
beschreibt, die zu einem tiefgreifenden Verände-
ins 18. Jahrhundert zurück, wo auch die Anfänge
rungsprozess der Kulturlandschaft geführt hat. Öko-
der Denkmalpflege liegen. Und 1851 schreibt Jacob
logie und Ästhetik wurden fast ganz «ausgewech-
Burckhardt: «Alles Erhaltene wird zum redenden
selt», ersetzt durch etwas, das vielleicht einmal ein
Zeugnis, zum Momument.»20 Die Hinwendung der
ungeliebtes Denkmal wird.24
Historiker zu einem umfassenden Geschichtsver-
Kulturlandschaft ist ein wertneutraler Begriff,
ständnis, das auch die Geschichte des vom Men-
der lediglich signalisiert, dass menschliche Kräfte
schen mitgeprägten geographischen Raums einbe-
das Gesicht der Landschaft mitgeprägt haben. Des-
zieht, ist ein weiterer Schritt dieser Entwicklung.
halb entscheiden nicht ökologische oder ästhetische
Und es ist eine logische Konsequenz, dass die Denk-
Aspekte über den (denkmalpflegerischen) Wert ei-
malpflege diesen Schritt nachvollzieht.
ner Kulturlandschaft, sondern die geschichtlichen
Das denkmalpflegerische Engagement wird die
Spuren. Diese mögen wenig attraktiv sein, doch hat
gleiche Kulturlandschaft, oft die gleichen kultur-
die Denkmalpflege in den letzten Jahrzehnten ge-
landschaftlichen Elemente und Strukturen betref-
lernt, sich auch für die Erhaltung solcher Objekte
fen, um deren Erhaltung sich auch der Natur- und
einzusetzen.
Landschaftsschutz bemüht, denn es waren vom
Zum Abschluss sei noch einmal Fernand Brau-
Menschen mitverursachte geschichtliche Prozesse,
dels Überzeugung zitiert: «Ich glaube, dass jenes
die zur Entstehung dieser Elemente und Strukturen
Meer, das man sehen und lieben kann, immer noch
in der Landschaft geführt haben. Doch wenn ne-
das denkbar größte Dokument seines vergange-
ben dem ökologischen und ästhetischen ausdrück-
nen Lebens ist» – ein Satz, der auch für Archäologie
lich auch der historische Wert berücksichtigt wird,
und Denkmalpflege Ansporn sein soll, sich für den
liegt darin die Chance, auch eine zusätzliche Lobby
Schutz des «größten Dokumentes», nämlich der Kul-
für die Verteidigung der Kulturlandschaft zu gewin-
turlandschaft selbst, einzusetzen – solange sie noch
nen: Wandern und der Besuch historischer Stätten21
von geschichtlichen Spuren geprägt ist.
19 Breuer 1981 (wie Anm. 1), S. 17. 20 Jacob Burckhardt. Über das Studium der Geschichte. Der Text der
24 Marion Wohlleben. Ungeliebte Denkmäler – Ein Plädoyer für das
«Weltgeschichtlichen Betrachtungen», auf Grund von Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften herausgegeben von Peter Ganz. München 1982, S. 84. 21 Boris Schibler. Denkmäler ohne Lobby? In: NIKE Bulletin 2009, Nr. 5, S. 3. 2 2 Sabine Bolliger. Was macht einen guten (Kulturlandschafts-)Reiseführer aus? In: Wege und Geschichte 2010, Nr. 1, S. 22–26. 2 3 Pascal Favre (Hrsg.). Natur nah. 14 Ausflüge in die Landschaft Basel. Basel 2002. Darin enthalten: Jürg Tauber. Langenbruck. Holzschlag, Erzabbau und Verhüttung (S. 43–57).
•
Einfache, das Schwierige und das Andere. In: Achim Hubel, Hermann Wirth (Hrsg.). Denkmale und Gedenkstätten. Weimar 1995 (= Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar = Jahrestagung des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege, Weimar 1994), S. 157–166. Dank Für wichtige Ratschläge und kollegiale Unterstützung bei der Planung der Tagung sowie für einen inspirierenden Rundgang im Schönthal und den daraus erwachsenen lebhaften Gedankenaustausch danke ich dem Landschaftshistoriker Karl Martin Tanner, Seltisberg, ganz herzlich.
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Netzwerk Kulturlandschaft 2012