tabula_2/2018 Gesundheitswahn – Ernährung als Religion

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2296-1127

ISSN 2296-1127

ISSN

9 772296 112705

Zeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft f체r Ern채hrung SGE

n째 2 /2018_CHF 11.00

Gesundheitswahn Ern채hrung als Religionsersatz

Wissen, was essen.


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Nationale Fachtagung der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE 2018 Ernährung am Arbeitsplatz: Mehr als ein Lunch! Dienstag, 11. September 2018, Inselspital Bern, 8 bis 17 Uhr

Programm: •

Betriebliches Gesundheitsmanagement BGM – Ein Konzept Reto Kälin, Gesundheitsförderung Schweiz

Ernährung – Stellenwert im BGM? Prof. Dr. Andreas Krause, FHNW, & Ronia Schiftan, SGE

Snacking & eating on the go Prof. Dr. Christine Brombach, ZHAW

Gemeinschaftsgastronomie Prof. Dr. Michael Siegrist, ETH Zürich

High Performance am Arbeitsplatz dank Ernährung? Prof. Pierre Maechler, Universität Genf

Kleines Gewissen Johanna Altenberger, Head Swiss Re Gastronomy

Wasserspender und Früchtekörbe - reicht das? Charlotte Weidmann & Ronia Schiftan, SGE

Programmdetails und Anmeldung unter: www.sge-ssn.ch/fachtagung Mit der Unterstützung von:

Wissen, was essen.


_ E d i t o r i al _ Kann man zu gesund leben? Diese Frage stellt man sich automatisch, wenn man die beiden Begriffe «Gesundheit» und «Wahn» miteinander kombiniert. Gesundheitswahn ist ein Phänomen unserer Zeit, das seinen Ursprung jedoch weit in der Vergangenheit hat, wie uns der Ernährungspsychologe Dr. Christoph Klotter im aktuellen Report dieser Ausgabe erklärt. Dabei beschäftigt man sich verstärkt mit seiner Ernährung und schafft sich seine eigene radikale Diät, die immer rigider werden kann. Man versucht, die Mitmenschen von seinen Ernährungsansichten zu überzeugen, isoliert sich in der Folge im sozialen Bereich, was das psychische Wohlbefinden stark beeinträchtigt. Die Verwissenschaftlichung des Essens, die vor rund 200 Jahren begonnen hat, trug massgeblich zur Bildung des Gesundheitswahns bei. Heute glauben wir zu wissen, welche Inhaltsstoffe in welchem Umfang wir zu uns nehmen müssen, um

gesund zu bleiben. Wer von diesen Empfehlungen abweicht, hat ein schlechtes Gewissen. Welche Rolle spielen hierbei Ernährungsorganisationen? Meine Sicht als Mitarbeiter der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE ist bestimmt subjektiv geprägt. Nichtsdestotrotz sehe ich bei uns neben den wissenschaftlich abgestützten Ernährungsempfehlungen auch immer wieder Verweise auf den Genuss und die Freude beim Essen sowie auf das Essen als sozialen Akt mit Freunden und Familie. Unsere Ernährungsfachleute plädieren für Toleranz und eine gewisse Gelassenheit, wenn es ums Essen geht. Schliesslich finden sich auch auf unserem Pausentisch mal Schokolade oder Guetzli, ohne dass wir uns gegenseitig verdammen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre der Reportage sowie der anderen spannenden Inhalte im aktuellen Heft. Thomas Krienbühl / SGE Leiter Redaktion tabula

04_ R ep o rt Gesundheitswahn

16_ unter der lupe Lebensmittelhanf

Damit ein Staat stark sein kann, besteht für die Bevölkerung eine Pflicht zur Gesundheit. Aus einer Pflicht kann leicht ein Zwang werden – ein Gesundheitswahn.

Hanf erlebt gerade ein Comeback in der Lebensmittelproduktion, obwohl dessen Anbau in der Schweiz weiterhin nicht subventioniert wird.

10_ aus dem leben v o n . . .

20_ b ü cher

12_ rezept

22_ d i e S G E

14_ w i ssen , was essen

24_ A genda / P re v i ew N ° 3/2018

Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE Schwarztorstrasse 87 | Postfach 8333 | CH-3001 Bern T +41 31 385 00 00 | F +41 31 385 00 05 | info@sge-ssn.ch

in der Schweiz Ernährungsfragen nutrinfo | Info-Service fürGedruckt T +41 31 385 00 08 | nutrinfo-d@sge-ssn.ch | www.nutrinfo.ch Impressum: | Zeitschrift für Ernährung für Mitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE. Der Abonnementspreis ist im tabula tabula: Das offizielle Publikumsorgan Mitgliederbeitrag enthalten. Ein| www.tabula.ch Abonnement für Nicht-Mitglieder beträgt CHF 40.00_ERSCHEINUNG: Vierteljährlich / Ausgabe 2 Redaktion T +41 31 385 00 04 Juni 2018_Auflage: 6 150 Ex._HERAUSGEBERIN: Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE, Schwarztorstrasse 87, 3001 Bern, Tel. +41 31 385 00 00, SGE-Spendenkonto: PC 30-33105-8 / info@tabula.ch / www.tabula.ch_ c h e f RE D A K T O r : Thomas Krienbühl shop sge | T +41 58 268 14 14 | F +41 58 268 14 15 _ RE D A K T IONS­ K OMMISSION : Mariana Born / Bruna Crameri-Capelli / Marlies Lüthi / Muriel Jaquet /Annette Matzke / Nadia Schwestermann www.sge-ssn.ch/shop _LA Y O U T : Danijela Preradovic_ D R U C K : Erni Druck & Media, Kaltbrunn_ T i t e l b i l d : truc konzept u. gestaltung, Bern / Jörg Kühni

Wissen, was essen. sge-ssn.ch


Gesundheitswahn E r n ä h r u n g a l s Re l i g i o n s e r s a t z 

Seit ca. 200 Jahren hat die Ernährungswissenschaft den Auftrag, herauszufinden, welche Inhaltsstoffe in welchem Umfang ein Mensch zu sich nehmen muss, um gesund und leistungsfähig zu sein zum Wohle des jeweiligen Staates, auf dass dieser stärker sei als die anderen Länder. In der Moderne (seit ca. 200 Jahren) spielt die Bevölkerung eine zentrale Rolle. Von deren Gesundheit und Leistungsfähigkeit hängt die industrielle und militärische Stärke ab. Es entsteht für die gesamte Bevölkerung die Pflicht zur Gesundheit. Aus einer Pflicht kann leicht ein Zwang werden – ein Gesundheitswahn.

halten, das aus einer Mischung aus Anorexia nervosa

In der Regel gehen wir davon aus, dass die Lebensbe-

Essverhalten also nicht aufrechterhalten), wird immer

dingungen und das menschliche Verhalten durch die

depressiver, bis er sich fast vollständig verliert. Dies

jeweilige Epoche bestimmt werden. Aus dieser Pers-

veranschaulicht, dass Gesundheitswahn bezüglich des

pektive würden wir uns fragen, wie der Gesundheits-

Essens massive negative Konsequenzen zeitigen kann.

(Magersucht) und einem Zwangssystem in Verbindung mit der Nahrungsaufnahme besteht.1 Bezüglich seines eigenen Lebens veranschaulicht Bratman, wie er sich verstärkt um seine Ernährung kümmert und ein eigenes System der Nahrungsaufnahme entwickelt, das immer rigider wird. Er versucht, andere Menschen davon zu überzeugen, so zu essen wie er. Als er die anderen nicht davon überzeugen kann, isoliert er sich psychosozial, radikalisiert sein zwanghaftes System, erfährt Essdurchbrüche (kann sein zwanghaftes

wahn in unserer Zeit entstanden ist. Jedoch spielt die Rolle, als wir vermuten. Anfänge des Gesundheits-

Verwissenschaftlichung des Essens

wahns entdeckt man bereits in der Philosophie Platons

Essbezogener Gesundheitswahn fällt nicht vom Him-

vor 2500 Jahren. In der Moderne entwickelt sich der

mel. Er überzeichnet nur ein wenig unsere gesell-

Gesundheitsbegriff auf spezifische Weise weiter, um

schaftlich geprägte Einstellung zum Essen. Diese

dann in der Nachkriegszeit radikalisiert zu werden.

wurde durch die Verwissenschaftlichung des Essens

Gesundheitswahn liesse sich vorläufig als übertriebe-

vor ca. 200 Jahren definiert. Seither wissen wir, oder

ne Sorge um die eigene Gesundheit charakterisieren –

glauben wir zu wissen, welche Inhaltsstoffe in wel-

eine Sorge, die zu psychischen Beeinträchtigungen

chem Umfang wir zu uns zu nehmen haben. Und wehe,

führt. Der amerikanische Alternativmediziner Steven

wir weichen von den Ernährungsempfehlungen ab.

Bratman hat aufgrund der eigenen Leidensgeschichte

Dann fühlen wir uns schlecht und glauben, unserer

bezüglich des Essens den Begriff der «Orthorexia ner-

Gesundheit zu schaden. Die naturwissenschaftliche

vosa» geprägt und meinte damit ein gestörtes Essver-

Sichtweise auf das Essen ist im Prinzip das Modell

Tradition über Jahrtausende eine viel bedeutsamere

des Essens, das Bratman auch umgesetzt hat. Nur hat er ein eigenes Kostregime entwickelt, und er war deutlich radikaler als diejenigen, die sich nach den wissenschaftlichen Empfehlungen richten. Am Beispiel von Bratman lässt sich also beobachten und messen, was Gesundheitswahn bezüglich des Essens ist. Aber gegen diese Position sind fünf Einsprüche möglich: I. Zunächst ist es doch sehr begrüssenswert, wenn wir uns darum kümmern, was wir essen und trinken wollen. Wenn wir wissen, was bekömmlich

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tabula N° 2/2018


_Report_

CHOOSE

sere Vorfahren ein kurzes Leben lang fast immer dasselbe verzehrt, so sind wir in den Supermarktregalen unserer Tage mit mehr als 170 000 Lebensmittelprodukten konfrontiert, eine Menge, die Ängste verursacht. Es ist einfach zu viel. Eine neue, gewaltige

Unübersichtlichkeit.

Diese

ist und was nicht. Dieses bewusste Essen liesse sich

zwingt uns dazu, Komplexität zu reduzieren und be-

interpretieren als Teil der wichtigsten frühantiken Tu-

günstigt, dass sich Menschen relativ starre Kostregime

gend, der Sorge um sich. Wir befolgen dann nicht mehr

zimmern, um so Ordnung und Orientierung zu haben.

Ernährungsempfehlungen, sondern wir wissen, dass alle Menschen unterschiedlich verstoffwechseln und

IV. Der christliche Glaube hat sich in Europa ten-

für sich herausfinden müssen, was ihnen jeweils gut

denziell verflüchtigt, nicht jedoch notwendigerweise

tut. Bratmans Leiden wäre dann so zu verstehen, dass

die Sehnsucht nach Glauben. In einer individualisier-

einige, aber nur wenige, mit dieser Sorge um sich über-

ten Gesellschaft ohne verbindliche Glaubensgrund-

treiben.

sätze, denen wir als Gemeinschaft folgen, müssen wir einen individuellen Sinn des Lebens basteln. Wir

II. Wir leben im Zeitalter der Individualisierung –

müssen herausfinden, an was wir glauben wollen. So

seit ca. 200 Jahren. Wir haben in unserer Gesellschaft

können wir den Glauben an Gott durch den Glauben an

die Möglichkeit, einzigartige Menschen zu werden. Zu-

unseren Körper ersetzen. An unsere richtige, allein se-

gleich haben wir die Pflicht dazu. Sich ein eigenständi-

lig machende Ernährung. Sie verspricht uns gleichsam

ges, einzigartiges Kostregime zu kreieren, ist dann ein

Erlösung in einer nicht mehr transzendentalen Welt

Bestandteil der Selbstbestimmung. Individualisierung

und sie verspricht uns auf der unbewussten Ebene die

und Gesundheitswahn können nahe aneinander rü-

Unsterblichkeit. Schicksal und Tod können uns nichts

cken. Die Grenzen sind fliessend zwischen Selbstver-

mehr anhaben. Gesundheitswahn ist auf dieser Ebene

wirklichung und dem Zwang zu einer höchst individu-

gleichzusetzen mit einer religiösen Wunscherfüllung.

ellen Ernährungsform. V. Wir leben in einer Epoche, welche die Patho-

III. Individualisierung über Essen ist nur möglich

logisierung psychischer Auffälligkeiten liebt.2 Da-

in der sogenannten Überflussgesellschaft. Haben un-

her sollten wir vorsichtig sein mit dem Begriff des

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_Rezept_

Melonen-Reis-Salat Für 4 Personen. Zubereitung ca. 30 Min. 6 dl Gemüsebouillon / ca. 200 g Reis, z. B. TriColoRice (Langkornreis, Roter Camargue-Reis, Wildreis) / je 1 kleine grüne, gelbe und rote Peperoni, klein gewürfelt / ½ Melone, z. B. Galia, entkernt, geschält, in feine Spalten geschnitten / 1 Bundzwiebel, in Ringe geschnitten / ½ Bund Kerbel, abgezupfte Blättchen / Bouillon aufkochen. Reis zugeben, offen 18–20 Minuten kochen lassen, bis alle Flüssigkeit aufgesogen ist. Reis abkühlen lassen.

Sauce: 3–4 EL Apfelessig / 4 EL Rapsöl / Salz / Pfeffer aus der Mühle / Für die Sauce alle Zutaten verrühren, würzen. Kurz vor dem Servieren Reis, Gemüse, Melonen, Zwiebeln und Kerbel sorgfältig mit der Sauce mischen. Statt TriColoRice Langkornreis verwenden.

Rezept und Bild: Swissmilk

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Ernährungsbilanz

Ökobilanz

Melone: Sie wird im Alltag zu den Früchten gezählt, ist aus botanischer Sicht jedoch den Gemüsen zuzuordnen und verwandt mit der Gurke und dem Kürbis. Ursprünglich in Afrika und Indien heimisch, kennt man die Melone seit etwa 2000 Jahren in Europa, wobei sie in der Schweiz selten angebaut wird, da sie nur im warmen Klima wächst. Der Hauptbestandteil der Honigmelone ist mit einem Gehalt von rund 90 % das Wasser. Zudem spendet die Honigmelone eine nicht unbedeutende Menge an Vitamin C, wobei auch hier mit einer Portion ein Viertel des Tagesbedarfs abgedeckt werden kann. Kerbel: Aus seinem ursprünglichen griechischen Namen übersetzt heisst Kerbel eigentlich «das Blatt, an dem man sich erfreut». Mit der Petersilie verwandt, besitzt Kerbel einen ähnlichen Geschmack, allerdings mit einer zusätzlichen Anisnote. Da Kerbel beim Kochen schnell sein Aroma verliert, sollte er erst am Schluss der Zubereitung beigefügt werden. Kerbel ist reich an Calium und besonders an Calcium. Da es sich jedoch um ein Gewürz handelt, das in der Regel nur in kleinen Mengen verwendet wird, ist die effektive Zufuhr an diesen Nährstoffen vernachlässigbar. Tellermodell: Der Reis des Salates deckt die Stärkekomponente des Tellers vollständig ab. Auch der Gemüseanteil ergibt mit rund 180 g pro Person eine vollständige Portion, allerdings nur ganz knapp. Hier könnte man das Gericht mit einem passenden Blattsalat, zum Beispiel Ruccola, Kopf- oder Eichblattsalat bzw. einem beliebigen Sommergemüse weiter ergänzen. Die Proteinkomponente fehlt in diesem Rezept gänzlich. Eine Möglichkeit wäre, den Salat mit 240 g Frischkäse nach FetaArt oder Mozzarella zu ergänzen. Auch Fleisch vom Grill könnte dazu serviert werden.

Reis: Reis inklusive der verwendeten Bouillon verursacht etwa 40 % der Gesamtumweltbelastung. Hier wird mit Daten für Reis aus den USA gerechnet. Die Umweltbelastung entsteht vor allem beim Anbau. Je nach Reissorte und Anbauart spielen dabei auch direkte Methan-Emissionen eine wichtige Rolle. Sie tragen zum Klimawandel bei. Dabei verursacht Reis aus Nassanbau eher höhere Emissionen. Wildreis ist eigentlich gar kein Reis, sondern eine Grasart, die an kanadischen Ufern wächst. Bisher gibt es zum Vergleich verschiedener vorgeschlagener Reissorten allerdings noch wenig verlässliche Informationen. Melonen: Für die Berechnung wird ein Gewicht von 1 kg pro Galia Melone angenommen. Die halbe Melone trägt etwa 14 % zur Gesamtbelastung bei. Der hohe Anteil ist auch aufgrund des hohen Gewichtsanteils zu erwarten. Wichtig ist bei diesem Rezept, dass auch die zweite Hälfte der Melone in den folgenden Tagen gegessen wird und nicht als Food Waste im Abfall landet. Peperoni, Kerbel und Zwiebeln: Die weiteren Zutaten zum Salat tragen etwa 18 % zur Gesamtbelastung bei. Wichtig wäre hier vor allem, je nach Jahreszeit auf Gemüse aus dem Gewächshaus zu verzichten. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist dies aber weniger problematisch. Säulendiagramm: Die Zubereitung von MelonenReis-Salat für vier Personen ist mit rund 4700 Umweltbelastungspunkten (UBP) verbunden. Verglichen mit der durchschnittlichen Umweltbelastung einer Hauptmahlzeit (5000 UBP pro Person) weist eine Portion Melonen-Reis-Salat mit etwa 1200 UBP also eine deutlich geringere Belastung auf. Reis ist aus ökologischer Sicht die wichtigste Zutat und verursacht etwa 40 % der Gesamtumweltbelastung. Wichtig ist bei diesem Rezept aber auch die Beilage wie z. B. ein Stück Fleisch vom Grill.

STéphanie Bieler / sge

Niels Jungbluth / esu-Services

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_Rezept_

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ni ro pe Pe

Rezept 1170

Ø 5000 UBP *

Swissmilk / Infografik: Truc, Bern

Zusammensetzung des Rezeptes im Vergleich zum optimal geschöpften Teller (oben rechts) Lebensmittelgruppen: = Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Eier & Tofu = Getreideprodukte, Kartoffeln & Hülsenfrüchte = Früchte & Gemüse

 *UMWELTBELASTUNGSPUNKTE Die Säulengrafik zeigt die Umweltbelastung durch das Rezept pro Person. Als Vergleich dazu ein grober Durchschnittswert einer zu Hause zubereiteten Hauptmahlzeit. Die Berechnung der Umweltbelastungspunkte fasst verschiedene Umweltbelastungen bei der Produktion der Lebensmittel zu einer einzigen Kenngrösse zusammen (je höher die Punktzahl, desto grösser die Umweltbelastung). Quelle: ESU–services.

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_Unter der Lupe_

Lebensmittelhanf Alte Kulturpflanze neu entdeckt

Es war einmal eine Pflanze, die in der Schweiz angebaut wurde. Aus ihren Fasern wurden Seile geflochten und Tücher gewoben, ihre Samen dienten Mensch und Tier zur Nahrung, ihre Blätter und Blüten wurden zu Medizin verarbeitet. Der Anbau verbesserte den Boden. Infolge Kriminalisierung als Droge verschwand die Pflanze aus der Landwirtschaft. Heute erlebt sie ein Comeback in der Lebensmittelproduktion.

und unentbehrlicher Rohstoff zur Herstellung einer Vielzahl von Gegenständen: Kleidung, Hanfseile, Taue und Takelagen für Schiffe, Verbandsstoffe und Papier. Die Samenkörner dienten zur Herstellung von Speiseöl, Lampenöl, Farbwaren und als Viehfutter, Blätter und Blüten als Medizin. Die einst blühende Schweizer Herstellung von Hanfgewebe wurde ab 1820 von der industriellen Verarbeitung von Baumwolle, Seide und Wolle abgelöst. Mit der Industrialisierung verdräng-

Von monika müller

ten billige Baumwollprodukte die qualitativ überlegene Hanffaser. Die Anbaufläche verringerte sich

Hanf, mit lateinischem Namen Cannabis sativa,

massiv. Allerdings hatte Hanf immer noch eine wich-

stammt aus Asien und zählt zu den ältesten Nutz-

tige Bedeutung zur Produktion von Seilen. Hanftink-

pflanzen der Erde. Kulturhanf ist als Nutzpflanze

tur war das meistverkaufte Medikament weltweit.

erstmals um 2800 v. Chr. in China in Gebrauch ge-

1928 wurde Hanf in England verboten, in den USA

kommen, das älteste erhaltene Hanfprodukt ist ein

erstmals 1937. Zu diesem Zeitpunkt enthielten welt-

Textilfragment aus einem Grab der Chou-Dynastie

weit immer noch ein Drittel aller käuflichen Medika-

(1122 bis 249 v. Chr.). Pollenkornanalysen, die 1996

mente Hanfanteile. In der Schweiz ist das Hanfverbot

durchgeführt wurden, haben ergeben, dass die

ein Erbe des Zweiten Weltkrieges. Seit dem 3. Okto-

Cannabaceae-Arten in den Regionen der Schweizer

ber 1951 gilt Cannabis in der Schweiz rechtlich als

Alpen seit etwa 6500 Jahren ständig präsent sind.

Betäubungsmittel. Dabei wurde in einem Rundum-

Fundstücke von Cannabis hat man in einer mero-

schlag Hanf generell in die Liste der Betäubungsmit-

wingischen Siedlungsstätte bei Develier-Courtétel-

tel aufgenommen und kriminalisiert, ohne zwischen

le im Kanton Jura gefunden; sie datieren aus dem

der Nutzung zu unterscheiden. Die Verbreitung von

5. bis 7. nachchristlichen Jahrhundert. Aus den ver-

Cannabis im Zuge der 68er-Bewegung hat die Repres-

fügbaren Belegen ergibt sich, dass sich in weiten

sionsbemühungen politisch zusätzlich verschärft,

Teilen Europas bis zum 14. oder 15. Jahrhundert

und das Verbot wurde 1973 nochmals politisch bestä-

eine lebhafte Hanfbranche entwickelt hatte. Re-

tigt. In den Jahren nach 1985 kam es wieder zu einem

gionale Schwerpunkte des Anbaus und der Verar-

vermehrten Anbau von Nutzhanf in Europa und Ka-

beitung gab es in der Schweiz, in Norditalien und

nada. Durch Züchtung wurden einhäusige Pflanzen

in vielen Teilen Frankreichs und Deutschlands. Die

entwickelt, die nun einfacher zu ernten waren als die

Hanfpflanze, mit dem Hopfen verwandt, ist eine ein-

zweihäusigen und kaum noch psychoaktives Tetrahy-

jährige Pflanze, die ursprünglich zweihäusig war.

drocannabiol (THC) in den Blüten entwickelten. Diese

Das heisst, es gibt rein männliche und rein weibli-

Pflanzen können doppelt genutzt werden – die Samen-

che Pflanzen.

körner zur Produktion von Öl und proteinreichem Mehl, die Stängel für die Hanffasern. Im Zuge dieser

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Von der geschätzten Kulturpflanze zur krimi-

Hanfwelle setzten sich immer mehr Exponenten aus

nalisierten Droge

Forschung, Landwirtschaft und Politik für eine Nor-

Die Hanfbranche war von grosser wirtschaftlicher

malisierung der gesetzlichen Lage ein. In der Schweiz

Bedeutung und blieb es bis zum Höhepunkt der in-

sind bisher jedoch die Versuche der Entkriminalisie-

dustriellen Revolution, die ab dem späten 18. Jahr-

rung gescheitert – 2001 auf parlamentarischem Weg

hundert Europa prägte. Hanf war ein anerkannter

und 2006 mittels Volksinitiative.

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Bild: shutterstock


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