tabula_1/2017 Essen am Arbeitsplatz

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Wissen, was essen.


_ E d i t o r ia l _ Ein Hungergefühl über Mittag? Da hilft das schnelle Sandwich. Zuckerschub angesagt? Ein Griff in die mit Comfort Food ausgerüstete Schublade, und schon kann ich mit Volldampf weiterarbeiten. – Wirklich? Der Stress am Arbeitsplatz scheint unser Essverhalten massgeblich zu beeinflussen. Aktuelle Daten sind alarmierend. Die Zahl «gestresster Personen», welche im Arbeitsleben stehen, nimmt zu, die Zahl übergewichtiger Personen in der Schweiz ebenso. Gibt es einen Zusammenhang? Wird unser Wohlbefinden durch unseren Arbeitsplatz, die Arbeitsbedingungen und die dortigen Strukturen und Gewohnheiten geprägt? Diesen Fragen geht der Report dieser Ausgabe nach. Wir widmen uns der spannenden, aber gleichzeitig wissenschaftlich noch wenig untersuchten Thematik «Ernährung am Arbeitsplatz». In einer Welt der immer flexibleren Arbeitsmodelle stellt sich die Frage, wie wir lernen, mit dieser neuen «Freiheit» umzugehen, trotz veränderter Essgewohnheiten gesund zu bleiben und unserem Körper Erholungszeiten und (Ess)pausen einzuräumen. Das neu aufgestellte Team der SGE im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) kombiniert Ernährungswissen mit Psychologie und unter-

stützt Unternehmen genau bei diesen Fragen: Was sind sinnvolle gesundheitsfördernde Massnahmen im Bereich Ernährung, wie können sie in Arbeitsteams bearbeitet werden? Denn die psychosozialen Aspekte dürfen bei der Evaluation nicht fehlen. Das Interview mit Ronia Schiftan, Verantwortliche für psychosoziale Aspekte im BGM der SGE, beleuchtet dazu weitere Aspekte. Ernährungswissen allein, das ist schon lange bekannt, ist nicht ausschlaggebend für ein stimmiges Körpergewicht und einen gesunden Lebenswandel. Auf Seite 10 tauchen Sie ein in das Handwerk von Le Sirupier de Berne – der lange als Kindergetränk abgestempelte Sirup hat es in renommierte Bars geschafft. Definitiv kein Kinderspiel also, sondern Leidenschaft, gepaart mit gesundem Innovationsgeist. Leidenschaft spürte ich auch in dieser Nudelbar in Seoul, und noch immer läuft mir das Wasser im Mund zusammen, wenn ich daran denke: der Chefkoch hochkonzentriert und mit Schweiss­ perlen im Gesicht – serviert werden im Minutentakt eiskalte Buchweizennudeln, gewürzt mit Chili, Algen, Rettich, Senf und Kimchi – Makguksu. Was Buchweizen sonst noch alles kann, erfahren Sie im Bericht von Nicole Huwyler ab Seite 16. renate drabek / SGE Betriebliches Gesundheitsmanagement

04_ Rep o r t Essen am Arbeitsplatz

16_ u n t e r d e r l upe Buchweizen

Die Flexibilisierung der Arbeitswelt und der Arbeitszeiten führt automatisch zu anderen Essgewohnheiten. Worauf müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer achten, um unter den neuen Bedingungen von erholsamen, gesundheitsfördernden Essenspausen zu profitieren?

Buchweizen wurde bis vor 80 Jahren in der Schweiz, insbesondere im Tessin und in Graubünden, angepflanzt. Warum ist Buchweizen aus der schweizerischen Landwirtschaft verschwunden? Welche Eigenschaften hat dieses leckere Korn, das mit Weizen nichts gemein hat und kein Getreide ist?

10_ aus d em l ebe n v o n . . .

20_ b ü c he r

12_ r ezep t

22_ d ie S G E

14_ w isse n , w as esse n

24_ A ge n d a / P r e v ie w N ° 2/2017

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Wissen, was essen. sge-ssn.ch


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_Report_

esse n a m a r b ei t sp l a t z Ist mein Sandwich Chefsache? 

Die Schweizerinnen und Schweizer str(essen) sich durch ihren Alltag. Schnell und alles möglichst gleichzeitig, lautet die Devise. Früchtekorb oder doch eher Stressprävention? Das betriebliche Gesundheitsmanagement ist gefordert.

heute ihr Leben freier gestalten. Mit flexiblen Arbeitszeiten sitzt der Frühaufsteher bereits um 6:30 an seinem Arbeitsplatz, weil er dann weniger Stau auf der Autobahn hat. Er will aber spätestens um 15:30 aus dem gleichen Grund wieder zurück. Dafür ver-

Stress gehört zum menschlichen Leben und ist bis zu einem gewissen Masse normal und gesund. Positiver Stress kann Triebkraft zum Erfolg sein, wir arbeiten hochmotiviert und konzentriert. Doch laut den aktuellen Zahlen der Gesundheitsförderung Schweiz (2016) fühlt sich jeder fünfte Schweizer Arbeitnehmer durch seine Arbeit übermässig gestresst, kämpft mit Erschöpfungszuständen oder fühlt sich dem arbeitsbezogenen Zeitdruck nicht gewachsen. Dies verursacht den Arbeitgebern hohe Kosten, ca. 5,7 Milliarden Franken pro Jahr, lautet die Schätzung. Der Arbeitsrhythmus bestimmt zu einem grossen Teil das Essverhalten. Gerade am Arbeitsplatz und während der Arbeitszeit werden oft alle guten Vorsätze vergessen. Wir lassen unter Zeitdruck eine Mahlzeit aus, «verdrücken» schnell ein Sandwich vom Imbiss nebenan oder geben dem Heisshunger auf Schokolade stetig nach. Dabei spielt die gesunde Ernährung gerade dann eine Rolle, wenn wir leistungsfähig sein und bleiben wollen. Statt unseren Körper zu unterstützen, setzen wir ihn dem zusätzlichen «Stress» durch falsches, zu schnelles oder vergessenes Essen aus. Früher war es anders Das Mittagessen zu Hause in den frühen 1970erJahren gehört zu meinen wichtigen Kindheitserinnerungen: Mein Vater kam punkt 12:15 nach Hause, das Essen hatte genau dann auf dem Tisch zu stehen. Um 12:40 verschwand mein Papa im Schlafzimmer und ruhte genau 20 Minuten. Um 13:00 hatte meine Mama das Dessert und den Kaffee zu servieren, und um 13:30 sass der Vater wieder in seinem Büro, das einen angenehmen 15-Minuten-Fussmarsch von unserer Wohnung entfernt lag. Das Wort «Stress» gab es in unserem Vokabular nicht. Junge Schweizer können sich einen solchen Rhythmus nicht vorstellen. Seit den 1980er-Jahren können wir die Flexibilisierung der Arbeitswelt und der Arbeitszeiten beobachten. Sie ist Fluch und Segen zugleich. Arbeitnehmer können

zichtet er vielleicht sogar auf die Mittagspause. Der Langschläfer kommt dafür erst um 9:00, aber auch er will spätestens um 17:30 gehen, denn die Kinder müssen vor 18:00 von der Krippe abgeholt sein. Auch ihm reicht es nicht für ein adäquates ArbeitspausenManagement, denn der Arbeitsaufwand bleibt 100 Prozent. Damit kommen nicht nur die gesetzlichen Arbeitspausen zu kurz (siehe Kasten), sondern auch das gesunde, bewusste Essen bleibt auf der Strecke. Welche Bedeutung hat die Arbeit auf unser Ernährungsverhalten? Obwohl das Feld wissenschaftlich Schritt für Schritt erforscht wird, werden erst wenige Verbindungen zwischen ernährungspsychologischen Mechanismen und den spezifischen Arbeitssituationen gezogen. Wir versuchen, uns diesen zu nähern.

Was sagt das Gesetz? Die Arbeit ist von Gesetzes wegen durch Pausen von folgender Mindestdauer zu unterbrechen (Art. 15 ArG): Eine Viertelstunde bei einer täglichen Arbeitszeit von mehr als fünfeinhalb Stunden Eine halbe Stunde bei mehr als sieben Stunden Eine Stunde bei mehr als neun Stunden Pausen von mehr als einer halben Stunde dürfen aufgeteilt werden. Die Pausen sind um die Mitte der Arbeitszeit anzusetzen. Entsteht vor oder nach einer Pause eine Teilarbeitszeit von mehr als fünfeinhalb Stunden, so ist für diese eine zusätzliche Pause gemäss Artikel 15 des Gesetzes zu gewähren. (Art. 18 Abs. 2 ArGV 1) Die Pausen gelten nur dann als Arbeitszeit, wenn die Angestellten ihren Arbeitsplatz nicht verlassen dürfen. Die vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Arbeitspausen sind neben der Erholung explizit auch für die Nahrungsaufnahme zu nutzen.

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_Rezept_

K r au t s t ie l - Nuss - Wi c ke l Für 4 Personen. Zubereiten ca. 55 Min., Gratinieren ca. 40 Min. / Pro Person: 45 g Fett, 33 g Eiweiss, 9 g Kohlenhydrate, 581 kcal Füllung: 500 g Hackfleisch, z. B. Dreierlei / Bratbutter / 50 g Haselnüsse, gehackt / 200 g Krautstielstängel, klein gewürfelt / 1 Zwiebel, fein gehackt / 2 EL Mehl / 1 dl Weisswein oder Fleischbouillon / 1 dl Fleischbouillon / 2 EL glattblättrige Petersilie, gehackt / Salz / ­Pfeffer / 12–16 Krautstielblätter, blanchiert, kalt abgeschreckt / Weiteres: 1 ofenfeste Form von ca. 2 l Inhalt / Butter für die Form

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Fleisch in der heissen Bratbutter anbraten. Haselnüsse kurz mitbraten. Krautstiel und Zwiebel beifügen, mitdämpfen. Mit Mehl bestreuen, mit Wein und/oder Bouillon ablöschen, Flüssigkeit einkochen. Petersilie daruntermischen, würzen. Krautstielblätter je nach Grösse längs halbieren. Füllung darauf verteilen, aufwickeln und in die vorbereitete Form legen. Guss: 1 dl Saucenhalbrahm/ 1,5 dl Fleischbouillon / 100 g Gruyère AOP, gerieben / einige Haselnüsse, gehackt / glattblättrige Petersilie zum Garnieren / Rahm und Bouillon verrühren, darüber giessen. Gruyère und Haselnüsse darüber streuen. In der Mitte des auf 200 °C vorgeheizten Ofens 30–40 Minuten gratinieren. Rezept und Bild: Swissmilk

E r n ä h r u n gs b i l a n z

Ökobilanz

Krautstiel: Im Unterschied zum Schnittmangold hat der Krautstiel grössere Blätter und breitere Blattstiele. Er hat in der Schweiz Saison von März bis November. Krautstiel enthält nennenswerte Mengen von Betacarotin, einer Vorstufe von Vitamin A, Eisen, Calcium und Magnesium. Allerdings zählt er, wie auch Spinat und Rhabarber, zu den oxalsäurereichen Lebensmitteln. Oxalsäure hemmt die Resorption von Calcium, Eisen sowie Magnesium im Darm. Da der jährliche pro Kopf Konsum von Krautstielen in der Schweiz nur bei 360 g liegt (basierend auf Daten von 2014), fällt der Oxalsäuregehalt dieses Sommergemüses nicht ins Gewicht. Haselnuss: Die Türkei ist der weltweit grösste Produzent von Haselnüssen und hat über 70% der Weltproduktion inne. Haselnüsse stellen eine reichhaltige Quelle für Vitamin E, Mineralstoffe wie Kalium, Calcium, Magnesium, Phosphor und Eisen als auch von Ölsäure, der gleichen Fettsäure wie im Olivenöl, dar. Allerdings ist der Gehalt an Omega-3 Fettsäuren in den Haselnüssen relativ gering. Von allen Nüssen sind die Baumnüsse die reichsten an Omega-3 Fettsäuren. Tellermodell: Der Proteinanteil wird sowohl mit dem Hackfleisch als auch mit dem Käse geliefert. Die Gemüseportion wird nur knapp mit der Menge an Krautstiel abgedeckt, und die Stärkebeilage fehlt gänzlich. Positiv hervorzuheben ist der Gehalt an Nüssen im Rezept. Um das Gericht ausgewogen zu gestalten, sollte eine Stärkebeilage zum Gericht nicht fehlen. So könnten z.B. Kartoffeln oder Wildreis dazu gereicht werden. Um die Gemüseportion reichhaltiger ausfallen zu lassen, kann das Gericht noch mit einem gemischten Salat und einer Frucht oder einem Fruchtsalat als Dessert ergänzt werden. Der hohe Fettgehalt der Mahlzeit kann reduziert werden, indem das Hackfleisch ohne Fett angebraten wird, da es in der Regel bereits genug Eigenfett aufweist.

Hackfleisch: Im Rezept wurde eine Fleischmischung aus je einem Drittel Rinds-, Schweins- und GeflügelHack angenommen. Diese Drittel sind verantwortlich für 33%, 14% und 25% der Gesamtumweltbelastung des Gerichtes. Die unterschiedliche Höhe der Umweltbelastungen dieser Fleischsorten hängt davon ab, womit die entsprechenden Tiere gefüttert wurden, wie dieses Futtermittel hergestellt und wieviel Landfläche für die Aufzucht benötigt wurde. Indem der Fleischanteil gesenkt würde, liessen sich in diesem Rezept am meisten Umweltbelastungen reduzieren. Idealerweise besteht ein Fleischersatz aus pflanzlichen Zutaten. Eine Möglichkeit ,einen Teil des Fleisches zu ersetzen, z.B. mit trockenem Brot vom Vortag, welches sonst im Abfall landen würde. Dieses könnte in Wasser eingeweicht, zerdrückt, leicht ausgepresst und mit den restlichen Zutaten vermischt werden. Weisswein: Der Weisswein macht etwa 6% der Umweltbelastungen am Gesamtrezept aus. Die Hauptumweltbelastungen beim Weinanbau entstehen durch Schwermetalleintrag in die Böden zur Pilzbekämpfung (Kupfer) sowie durch Pestizideinsatz. Ein besonders umweltschonender Wein wird aus pilzresistenten Rebsorten im Bioanbau produziert. Säulendiagramm: Krautstiel-Nuss-Wickel verursachen pro Person 6 100 Umweltbelastungspunkte (UBP) und liegen damit über den durchschnittlichen UBP einer Hauptmahlzeit. Aus Umweltsicht ist das Hackfleisch mit 72% Anteil an der Gesamtbelastung die bedeutendste Zutat. Weisswein, Käse, Rahm und Butter folgen auf den nächsten Plätzen und haben zusammen 16% Anteil an der Gesamtbelastung. Der saisonale Krautstiel, welcher etwa 40% des Gesamtgewichts im Gericht ausmacht, tritt in der Umweltbilanz nur mit 2% Anteil an der Gesamtbelastung als umweltfreundliches Leichtgewicht auf. Weitere Zutaten und Faktoren tragen nur einen untergeordneten Beitrag zur Gesamtumweltbelastung bei.

s a b i n e o b e r r a uch / sge

C h r is t oph M ei l i , Nie l s J u n g b l u t h / esu

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ch is le kf ac H nd Ri

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9 19

Ø 5000 UBP *

Rezept 6096

Swissmilk / Infografik: Truc, Bern

Zusammensetzung des Rezeptes im Vergleich zum optimal geschöpften Teller (oben rechts) Lebensmittelgruppen: = Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Eier & Tofu = Getreideprodukte, Kartoffeln & Hülsenfrüchte = Früchte & Gemüse

ch is le kf ac H

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l1 ge flü Ge ch is le kf ac H g 7 38 50 lun 33 84 87 3 4 6 n üh rt 2 n n e ei ei kt te , K po ta du hw sw ng ns is Zu ro Sc itu ra e hp re d T he W ilc lic be un M st Zu Re

Die Säulengrafik zeigt die Umweltbelastung durch das Rezept pro Person. Als Vergleich dazu ein grober Durchschnittswert einer zu Hause zubereiteten Hauptmahlzeit. Die Berechnung der Umweltbelastungspunkte fasst verschiedene Umweltbelastungen bei der Produktion der Lebensmittel zu einer einzigen Kenngrösse zusammen (je höher die Punktzahl, desto grösser die Umweltbelastung). Quelle: ESU–services.

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Foto: iStock


_Unter der Lupe_

vor allem von ­ Zöliakie-Patienten geschätzt. Dazu der 20-jährige Silvan Hässig aus Jona, der den Blog www.glutenfreiewelt.ch betreibt und selber ­Zöliakie hat:

«Buchweizenbier

ist

nicht

mit

normalen

08:15-Bieren zu vergleichen, aufgrund seines sehr speziellen Geschmacks. Aber ich mag es.» Im Standby-Modus in der Schweiz Aufgrund der Tatsache, dass das Scheingetreide Foto: iStock

­glutenfrei ist, wird es heute bei uns zwar in Spezialgeschäften häufiger von Kunden verlangt, spielt aber mit einer jährlich eher kleinen Importmenge von ca. 200 Tonnen eine marginale Rolle. Dies be-

 Buchweizenpflanze

stätigt auch Jürg Hiltbrunner, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter Alternative Kulturen

heimische und traditionelle Pizzoccheri-Gericht:

der ­ Forschungsanstalt Agroscope. «Erst kürzlich

Buchweizennudeln, Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch

habe ich in einer wissenschaftlichen Abhandlung

und Wirz, vermischt mit Käse und abgeschmeckt mit

von 1973 gelesen, dass sich Buchweizen, durch

Butter und Salbei. Das nahrhafte Gericht findet sich

die ­ makrobiotische Ernährungslehre bedingt, im-

heute noch in ganz Graubünden auf Speisekarten.

mer mehr verbreitet. Diese Aussage liess mich

In Frankreich hingegen, vor allem in der Bretagne,

schmunzeln, steht sie doch symptomatisch dafür, ­

trifft man weniger auf Eintopfgerichte, sondern auf

dass Buchweizen seit Längerem und aus diesem

Buchweizen-Crêpes, die sogenannten Galettes. In der

­Dokument ersichtlich auch in den 1970er-Jahren aus

Crêperie le Caroussel in der Berner Länggasse, berei-

seiner Nebenrolle schlüpfen will, es ihm aber in der

ten Daniel Stähli und sein Team vorwiegend bretoni-

heutigen Zeit leider nie gelingt», berichtet H ­ iltbrunner.

sche Buchweizengalettes zu. «Den Galettes aus der

Früher war dieser Stellenwert ein anderer. Der Buch-

Bretagne sagt man nach, sie seien im 15. Jahrhundert

weizen wurde teilweise als Absicherung für die

ein Geschenk der Herzogin Anne an die damalig an-

­Ernährung verwendet. Aus alten Aufzeichnungen

sässige Landbevölkerung gewesen. Auf Buchweizen

kann geschlossen werden, dass der Buchweizen in

erhoben die Mächtigen keine Steuern und so setzte

vielen Teilen der Schweiz bekannt war und als Zweit-

sich dieser bald als 'Pizza der Armen' in Nordfrank-

kultur angebaut wurde. Das heisst, wenn Roggen,

reich durch», berichtet Stähli. Weitere Buchweizen-

Gerste oder Weizen geerntet waren, säte man noch

gerichte sind in den USA Buckwheat-Pancakes oder

kurzfristig Buchweizen auf demselben Feld aus. Falls

in Russland Blinis, Buchweizenbreie (gretschnewaya

der Frost dann nicht zu früh kam, konnten die Körner

kascha) und Eintopfgerichte mit Fleisch in einem

geerntet werden. Wenn der Winter früher einsetzte,

kleinen Tontopf angerichtet. Nicht nur auf den Tel-

diente das Pflanzen der Gründüngung. Im Tessin und

lern und Töpfen ist Buchweizen zugegen. Selbst in

Graubünden war Buchweizen am häufigsten anzu-

der Märchensammlung von Hans Christian Andersen

treffen, als Buchweizenpolenta oder als die an Hoch-

(1805-1875) begegnet man dem Gewächs. Andersen

zeiten gereichte «Polenta in flur», einem Buchweizen-

beschrieb Buchweizen als eine Pflanze mit Hochmut

brei mit Rahm, Milch und Korinthen. Erste Aufzeich-

und Stolz. Im Gegensatz zu den anderen Getreiden

nungen zeigen, dass der Buchweizen, vermutlich via

und Pflanzen, denen der Dichter Demut zuschrieb.

Süddeutschland und Frankreich im 15. Jahrhundert

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zu uns gelangte. Da die Körner fast ausschliesslich

Schein und Sein

der Selbstversorgung der Bauern dienten, finden sich

Selbstbewusst und stolz im Märchentext beschrie-

nur wenige historische Aufzeichnungen. Auch in frü-

ben, dürfen sich die ernährungsphysiologischen

heren Handelsstatistiken des Kantons Tessin wird

Eigenschaften des Buchweizens durchaus sehen

Buchweizen nicht erwähnt, denn Mehl, Griess und

lassen. Aufgrund des Wortes «Weizen» in seinem

Grütze aus Weizen waren abgabepflichtig, Buchwei-

Namen als Scheingetreide bezeichnet, steht er an-

zen hingegen nicht. Am bekanntesten ist Buchweizen

deren Getreidesorten in nichts nach. Im Gegenteil,

heute noch im Puschlav. Dies erklärt auch das dort

Buchweizen schmeckt leicht nussig, ist glutenfrei

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