Programm-Magazin Nr. 5 Saison 14/15
Atmosphères Mittwoch, 4. FEbruar 2015
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Sinfoniekonzert ‹Atmosphères›
3 Programm 4 Interview mit Francesco Piemontesi 8 David Afkham 10 György Ligeti: Atmosphères für grosses Orchester 14 György Ligeti über Atmosphères 17 Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 3 21 Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr.10 Intermezzo
24 Vorlaut – Eine Serie von Alain Claude Sulzer 26 Casino-Geschichte(n), Teil 5 28 Phoebe Lin und Katarzyna Nawrotek im Gespräch Vorschau
31 Cube Session #10
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er fürchtet sich nicht vor einer Sackgasse? Eine gewaltige Wand aus Klängen erwartet den Konzertbesucher, wenn er György Ligetis Orchesterwerk Atmosphères zum ersten Mal hört. 87 Einzelstimmen umfasst die Partitur. Unser Ohr hat scheinbar keine Chance einen Weg zu finden: kein Metrum, kein Rhythmus, keine Motive oder hörbare Strukturen. Alles flirrt und rauscht in diesem unendlichen Klangdickicht. Und doch – je mehr man sich auf diesen Zustand der Strukturlosigkeit einlässt, desto faszinierender wird das Klangerlebnis. Ligeti schrieb im Zusammenhang mit seinen Atmosphères: «Manchmal zeigen uns gerade Sackgassen unversehens eine verdeckte Öffnung, die ins Freie führt.» Vielleicht war es ja das, was den Filmemacher Stanley Kubrick inspiriert hat, diese Musik in seinem Film über das unendliche Universum 2001 – A Space Odyssey zu verwenden. Für Dmitri Schostakowitsch war der unerwartete Tod Stalins ein Wendepunkt. Nach fast zehnjährigem Komponieren für die Schublade muss die Arbeit an seiner 10. Sinfonie geradezu ein Akt der Befreiung gewesen sein. Wir freuen uns sehr, dass der junge, aus Freiburg im Breisgau stammende Dirigent David Afkham zum ersten Mal unser Orchester dirigieren wird.
31 mini.musik: Beim Förster 32 Agenda
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Sinfoniekonzert SOB
Atmosphères
Mittwoch, 4. Februar 2015 19.30 Uhr, Musiksaal des Stadtcasinos Basel 18.45 Uhr: Einführung durch Annelis Berger
György Ligeti (1923–2006)
Atmosphères für grosses Orchester (1961)
Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll, op. 37 (1803 /04) 1. Allegro con brio 2. Largo 3. Rondo. Allegro – Presto
Pause
Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) Sinfonie Nr. 10 e-Moll, op. 93 (1953) 1. Moderato 2. Allegro 3. Allegretto 4. Andante – Allegro
Konzertende ca. 21.45 Uhr
Sinfonieorchester Basel Francesco Piemontesi, Klavier David Afkham, Leitung
Das Konzert wird von Radio SRF 2 Kultur aufgezeichnet.
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Interview mit Francesco Piemontesi
«Als Interpret verbringen wir das ganze Leben damit, die richtige Farbe und den richtigen Anschlag zu finden» Francesco Piemontesi über Bilder in der Musik, Literatur und den Steinway der Villa Wahnfried in Bayreuth aufgezeichnet von Hans-Georg Hofmann
Hans-Georg Hofmann: Es gibt Künstler, die sprechen gerne über Musik, wie der Pianist Rudolf Buchbinder. Andere, wie Martha Argerich, bevorzugen das Schweigen. Wie ist das bei Ihnen? Francesco Piemontesi: Ich kann beide Standpunkte sehr gut verstehen. Es ist einerseits wichtig, dass Interpreten, die sich den ganzen Tag mit Musik befassen, einem breiteren Publikum ihre Gedanken zu den musikalischen Werken mitteilen. Andererseits verstehe ich Martha Argerich. Es ist extrem schwierig, über Musik zu reden, weil sie gleichzeitig so viel ausdrückt. Es passiert so vieles auf rhythmischer, harmonischer und melodischer Ebene, und bei grossen Komponisten ist das alles mit vielen Emotionen verbunden. Es braucht vielleicht die Gabe eines Charles Rosen oder Ernst Gombrich, um über Kunst so präzise und eloquent zu reden. Vielleicht liege ich dabei irgendwo in der Mitte. Ich lese sehr viel über Mu-
sik, denke darüber nach und spreche gerne, aber doch nicht zu viel über Musik. Neben Studien bei Cécile Ousset und Arie Vardi haben Sie wichtige Impulse durch die Zusammenarbeit mit Alexis Weissenberg und Alfred Brendel erhalten. Wie kam es zur Begegnung mit Alfred Brendel? Er hat eine Aufnahme von mir gehört und mir geschrieben, dass ich ihn gerne einmal in London besuchen dürfe. Ich bin dann zwei Wochen später zu ihm gereist, und seitdem treffen wir uns regelmässig. Alfred Brendel ist übrigens jemand, der sehr gut über Musik reden und schreiben kann. Diese Freundschaft ist für mich gerade deshalb faszinierend, weil wir nicht immer derselben Meinung sind. Er hat einen klaren eigenen Standpunkt und eröffnet mir oft ganz neue Perspektiven. Es ist eine grosse Hilfe, mit einer anderen Auffassung konfrontiert zu werden.
Bild : Julien Mignot
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Spielen technische Fragen, wie zum Beispiel die des Anschlags, auch eine Rolle bei den Gesprächen? Der Pianist Igor Levit hat gesagt, dass der Anschlag von der Art des Sitzens abhängig sei und dass er aus der Hüfte heraus spiele. Wie ist das bei Ihnen? Ich arbeite viel mit dem Gehör. Das Physische hat mich nie so richtig interessiert. Auch bei Alfred Brendel habe ich nicht den Eindruck, dass er ein Verfechter der Anschlagtechnik ist. Bei Krystian Zimerman sieht dagegen alles so wunderbar ästhetisch aus. Ich habe mich immer sehr auf das Ergebnis konzentriert, auf das, was kommt. Das ist ein langer Prozess: Zuerst studiere ich die Entstehungsgeschichte eines Stücks, dann analysiere ich die Stimmführung und versuche herauszufinden, wie die Harmonik und die Phrasen aufgebaut sind. So kann ein Bild entstehen, das ich dann in klangliche Impressionen verwandeln kann. Der Klang ist eine Suche, ein Prozess. Deshalb ist es auch wichtig, dass der Anschlag flexibel ist. Ich kann von Beethoven nicht eine frühe Sonate und eine späte Sonate wie op. 110 mit demselben Anschlag spielen. Das funktioniert nicht. Das sind ganz andere Bilder, die man nicht mit einem Standard-Klang spielen kann. Man muss sich immer wieder anpassen. Wie wichtig ist Ihnen der biografische Hintergrund für die Interpretation einer Komposition? Man muss schon wissen, wer dieser Mensch war, woher er kam, mit wem er studiert hat und mit wem er befreundet gewesen ist. Im Falle von Beethoven finde ich es sehr interessant, dass er die Kontrapunktbücher von Johann Joseph Fux gut kannte. Oft studiere ich auch Gemälde von Komponisten, da sie in der Darstellung von Emotionen sehr unmittelbar sind. Ich kann sofort bestimmte Merkmale oder Gefühle in einem Bild entdecken. Das ist viel leichter als in der Musik, wo ich lange suchen muss, um herauszufinden, worum es da eigentlich geht. Die Bilder helfen mir, Spuren zu entdecken. Kann die Literatur auch bei dieser Suche helfen? Es gibt ein grossartiges Buch von Arnold Schering, in dem er die Sonaten von Beethoven den Komö-
dien und Tragödien von Shakespeare zuordnet. Ich habe vor ein paar Monaten mit Murray Perahia gesprochen. Er hat diesen starken Bezug bestätigt und mir erzählt, dass er sich für seine Interpretation der Appassionata eine Version mit verschiedenen Szenen aus Hamlet zusammengestellt hat. Man verliert am Klavier schnell den Blick für das Ganze, weil so viele Stimmen zu ordnen sind und technische Sachen erarbeitet werden müssen. Es besteht die Gefahr, dass man sich in Details verliert, statt Gefühle auszudrücken. Ein Bild oder eine bestimmte Geschichte, auch eine, die man sich selber ausdenkt, müsste man bei einem Konzert immer in sich tragen. Ich übe oft mit dem Notentext und habe links und rechts Bilder aus Kunstbüchern, die mir helfen, den richtigen Klang zu finden. Wie wichtig ist denn die Alte Musik für Sie? Ich habe an der Hochschule in Hannover viel Alte Musik studiert. Dabei habe ich erkannt, dass die Werke von Bach nicht gut auf dem Klavier klingen. Bach wusste genau, welches Stück er für welches Instrument geschrieben hat. Die Goldberg-Varia tionen kann man nur am Cembalo spielen. Ich habe sie mit Masaaki Suzuki am Cembalo gehört, und das war wunderschön. Warum sollte ich Bach auf einem modernen Flügel in der Öffentlichkeit spielen? Privat spiele ich gerne Alte Musik auf dem Cembalo. Ein anderer Aspekt der Alten Musik ist die Improvisation. Als Beethoven Ende des 18. Jahrhunderts nach Wien kam, hat man ihn in den Salons zunächst als Tastenvirtuosen gefeiert. Seine Art des Improvisierens faszinierte das Publikum. Die Fixierung der musikalischen Ideen auf ein Notenblatt für eine Druckausgabe könnte man heute auch als Einschränkung verstehen. Gibt es speziell im 3. Klavierkonzert noch Momente des Improvisierens? Ganz sicher – aber das 3. Klavierkonzert markiert schon einen Moment, wo Beethoven die Art der Improvisation verändert. Ich habe einmal ein Interview mit dem französischen Jazz-Pianisten Martial Solal gehört, der gesagt hat, dass es wahnsinnig schwer sei, Improvisationen auf Papier zu bringen. Ich kann mir vorstellen, dass Beethoven
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beim Fixieren des Notentexts für den Notendruck gedacht hat, dass er die Improvisationen vereinfachen muss. Sänger sprechen bei Mozart und Beethoven immer wieder von der Schwierigkeit, die ideale Klangfarbe zu treffen. Kann man so etwas auch für die Klavierwerke sagen? Sänger haben das grosse Glück, dass sie eine Linie und einen Text singen, die bestimmte Emotionen zum Ausdruck bringen können. So eine Brücke haben wir Instrumentalisten leider nicht. Sänger haben bestimmt keine leichte Aufgabe, aber was das Treffen einer Klangfarbe angeht, da haben sie einen Vorteil. Es gibt so viele Werke für Klavier, aber es gibt bis in das 20. Jahrhundert hinein eigentlich keine Beschreibungen von dem, was gespielt werden soll. Als Interpret verbringen wir das ganze Leben damit, die richtige Farbe, den richtigen Anschlag zu finden. Es kommt noch eine Sache hinzu: Geiger haben ihre Stradivari, Cellisten ihr Guarneri, wie ist es für die Pianisten? Ständig lernen sie ein neues Instrument kennen. Wie baut man in der kurzen Vorbereitungszeit an immer wieder neuen Veranstaltungsorten eine Beziehung zu den Instrumenten auf? Ja, das ist schon nervend. Ich habe mir immer mehr angewöhnt, mit einem eigenen Instrument zu reisen. In England, wo die Qualität der Instrumente in den Konzertsälen schlecht ist, reise ich gerne mit einem Flügel des italienischen Klavierbauers Fazioli, der für mich in London bereitsteht. Bei Aufnahmen habe ich immer mit eigenen In strumenten gespielt. Welches ist Ihr Lieblingsinstrument? Mein allerliebstes Instrument ist der Steinway der Villa Wahnfried in Bayreuth. Der ist unglaublich. Er ist ein wenig länger als die anderen Steinways aus derselben Zeit, aber er ist wie ein Orchester – die letzten beiden Oktaven oben sternenklar, und in den tiefen Oktaven spielt ein Kontrabassregister mit Cellogruppe. In der Schweiz gibt es zwei wunderbare Instrumente. Eines hätte ich fast gekauft. Das war der Flügel von Edwin Fischer, der von Hug restauriert wurde. Der andere Flügel ist
der von Rachmaninov in seiner Villa in Hertenstein bei Weggis am Vierwaldstättersee. Im Roman des Basler Autors Alain Claude Sulzer Aus den Fugen spielt der Protagonist, ein international erfolg reicher Pianist, in einem Konzert Beethovens Hammer klavier-Sonate. Doch schon nach den ersten Takten hört er auf, schliesst das Klavier, verlässt den Saal und beginnt ein neues Leben. Hatten Sie schon mal so einen Gedanken? Ja, manchmal habe ich solche Gedanken … meine Leidenschaft für die Musik wird allerdings immer da sein. Aber die Vorstellung, einmal für eine bestimmte Zeit von der Bühne weg zu sein, weniger zu reisen, mehr in der Natur zu sein, die gefällt mir. Ich schlage einen Kompromiss vor: Ich mache zum Beispiel ein Sabbatical. ●
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David Afkham
Ein Mann voll von Musik von Christian Fluri
«
Musik kommt aus der Seele», sagt der junge Dirigent David Afkham in einer Art Werbespot für die Musik. Natürlich weiss er, dass sie genauso im Kopf entsteht. So beantwortet er in einem Fernsehinterview die Frage, wie ein Dirigent übe: «Partituren studieren und nochmals studieren, ergründen, was hinter den Noten steht.» Er versucht zum Beispiel herauszufinden, was die Tiefenschichten von Dmitri Schostakowitschs Musik erzählen. Oder was man bei Beethoven hinter den Noten lesen kann. Man brauche ein Leben, um das alles zu verstehen, fügt er an. Das was Afkham an Musik in seinem Inneren hört, soll aus dem Orchester klingen, das ist sein Bestreben. Der 31-jährige Deutsche persischer Abstammung, der seit dieser Saison Chefdirigent des Orquesta Nacional de España Madrid ist, will mit einem Orchester das Beste erreichen. Das sagt Afkham nicht nur, das hört und sieht man, wenn er dirigiert. Die Arbeit mit einem Orchester bezeichnet er als ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Sein Ausgangspunkt ist: «Die Orchestermitglieder brennen für die Musik.» Er erklärt: «Zuerst muss man reinhören ins Orchester und das Spiel dann von innen formen», sagt er. Wenn die Energien von ihm weg- und wieder zu ihm zurück fliessen, stelle sich der Zauber ein. Es gebe die wunderbaren Momente, in denen man loslassen, die Musik einfach entstehen lassen könne. Genauso gibt es auch Momente, sagt der Dirigent, da müsse man eingreifen, fordern. Afkham weiss, was er will, sagt es mit ruhigen Worten und doch bestimmt. Im Konzert ist der junge Dirigent in stetem Blickkontakt mit den Musikerinnen und Musikern, er-
zählt ihnen mit seinen sprechenden Augen und seiner klaren Gestik, wie es in seinem Inneren klingt. Er geht mit jeder melodischen Figur körperlich mit und strahlt doch eine hoch konzentrierte Ruhe aus. Das zeigt sich gut in Videos des schwedischen Gothenburg Symphony Orchestra, mit dem er gerne zusammenarbeitet und unter anderem Johannes Brahms Sinfonie Nr. 2 und Alban Bergs Violinkonzert, Im Andenken eines Engels (mit Alina Pogostkina als Solistin), aufgeführt hat. Er lässt die Musik für sich sprechen. Den verschiedenen Seiten und Aspekten, den unterschiedlichen Schichten einer Komposition will er musikalische Gestalt geben. Als sein eigentliches Zuhause, die Basis seiner musikalischen Arbeit, nennt Afkham das klassisch-romantische Repertoire mit Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms. Ebenso gross ist sein Interesse für das 20. Jahrhundert, für Prokofjew und Schostakowitsch oder Berg. Afkham ist ein ausgezeichneter Schostakowitsch-Interpret. In seinem Konzert mit dem Sinfonieorchester Basel werden wir die 10. Sinfonie hören. Und wie er Alban Bergs Violinkonzert tief ergreifend hat sprechen lassen, macht neugierig auf seinen Zugriff auf György Ligetis traumhaftes Werk Atmosphères. Afkham, der zur ersten Gilde der jungen Dirigenten gehört, stammt aus einer Familie, «in der es nur Ärzte und Musiker» gebe. Von klein auf gehörte Musik zu seinem Alltag. Er studierte bereits mit fünfzehn Jahren Klavier, Musiktheorie und Dirigieren in seiner Heimatstadt. Dass er nicht Pianist werden würde, war ihm von Anfang an klar, wie er in einem Interview erzählt. Er probierte mehrere berufliche
Bild : Julian Luebbert
Möglichkeiten aus, dachte auch daran, Schauspieler zu werden – bis er erkannte, dass seine Welt die Musik und das Dirigieren ist. Er schloss sein Dirigierstudium an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar ab. Unter anderem wurde er Stipendiat des Bernard Haitink Fund for Young Talent. Haitink wurde zu seinem Mentor. Erfolge feierte Afkham mit dem Gustav Mahler Jugendorchester, als er 2012 für den erkrankten Ingo Metzmacher einspringen musste und mit
einem anspruchsvollen Programm auf Tournee ging. Als 2010 erstmals der Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award ausgeschrieben wurde, wählte ihn die Jury aus einer Vielzahl von Kandidaten zum Preisträger. Dies hat ihm die Tore zu den grossen Orchestern geöffnet. Auf die Frage, was er mit dem Preisgeld mache, sagte der Mann, der so voll von Musik ist und sein Leben ganz der Musik verschrieben hat, er werde sicher viele Partituren kaufen. ●
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György Ligeti: Atmosphères für grosses Orchester
Sensationen in der Luft
Wie György Ligeti eine logische Tonsprache jenseits einer mathematisch-formalen Musikbehandlung findet. von Martin Hufner
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lrich Dibelius, ein wachsamer Begleiter der Neuen Musik seit den 50er-Jahren erinnert sich an die erste Aufführung von György Ligetis Atmosphères: «Die Uraufführung ... bei den Donaueschinger Musiktagen trug alle Anzeichen des Sensationellen. Denn diesem Grad von ‹Destruktion› nach zehn Jahren fleissiger Konstruktion [Dibelius meint damit alle Formen seriellen Komponierens, eines systematischen Umgangs mit Tondauern, Tonhöhen, Tonlagen, Lautstärken usw.] hatte bisher noch keiner zu verwirklichen gewagt.» Destruktion ist hier uneingeschränkt positiv gemeint: als das Öffnen einer Tür in neue musikalische Gestaltungs- und Klangbereiche. Zur gleichen Zeit verfasst der Philosoph, Soziologe, Komponist und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno seinen Aufsatz Vers une musique informelle, in welchem er die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer freien Musik stellt, die jenseits formaler, mathematischer oder traditioneller Musikbehandlung auf der Suche nach einer neuen Musiksprache ist: zum Beispiel einer Musik, die schlüssig ist, aber nicht in einer Wenn-dann-Logik, in der man immer nachweisen kann, dass dies aus jenem folge – also einer musikalischen Logik nachspürt, die nicht durch Ursache und Folge/Wirkung bestimmt ist; was
wäre denn auch die Ursache der Ursache? «Musique informelle wäre eine», schreibt Adorno, «in der das Ohr dem Material lebendig anhört, was daraus geworden ist.» Genauso ein Phänomen trägt sich in Ligetis Atmosphères zu. Das war sensationell, in der Tat. Wenn man sich die Studienpartitur einmal kurz vor Augen führt: Sie sieht aus wie ein miniaturisierter Wolkenkratzer, schmal und hoch, den gewöhn lichen Papierformaten nicht auch nur im Geringsten
ATMOSPHÈRES Besetzung: 4 Flöten, 4 Oboen, 4 Klarinetten, 3 Fagotte, Kontrafagott, 6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, Tuba, Klavier, Streicher Entstehung: Kompositionsauftrag des Südwestrundfunks Baden-Baden, 1961 Uraufführung: 22. Oktober 1961, Donaueschingen (SWF-Sinfonieorchester, Leitung: Hans Rosbaud) Dauer: ca. 9 Minuten Widmung: «In memoriam Mátyás Seiber»
György Ligeti unterrichtet in Darmstadt (1965)
Bild : Paul Sacher Stiftung Basel, Sammlung György Ligeti
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ähnlich. Notensysteme, bis zu 87 türmen sich übereinander, jedes System repräsentiert eine Stimme im Orchester und folgt einer eigenen, durchaus komplexen rhythmischen Struktur und Melodie. Das Stück scheint im Detail geradezu undurchschaubar. Anders der Effekt beim Hören: Es tritt auf wie eine grosse orchestrale Plastik. «Die Gesamtform des Stückes ist wie ein einziger weit gespannter Bogen zu realisieren, die einzelnen Abschnitte schmelzen zusammen und werden dem grossen Bogen untergeordnet», schreibt Ligeti in seinen Bemerkungen zur Einstudierung. Dieser Bogen reicht von einem ganz nebulösen Anfangsklang bis zum «Verschwinden im Nichts» in den Klavierklängen am Ende des Stückes. Auch das spiegelt die Partitur eigenartig ironisch wieder. Während auf allen Seiten der Partitur diese Systemtürme sind, ist auf der letzten ein ein ziges System übrig, welches nicht einmal die fünf Notenlinien benutzt, sondern aus nur einer Linie besteht, ganz dünn, denn der Rest der Partiturseite ist leer.
Cluster, Farben und Klangwolken Ligetis Stück ist zwar keine Programmmusik, aber sie scheint bildliche Struktur zu haben. Das Orchester ist in lauter Einzelstimmen zerlegt, wobei deren Töne dicht an dicht (chromatisch, in Halbtonabständen nebeneinander) liegen. Solche Tontrauben nennt man ‹Cluster›. Diese Cluster sind bei Ligeti permanent in Bewegung, werden umgeschichtet, geweitet oder verengt, als ob sie durch einen Trichter durchgepresst würden. Den schwebenden Charakter erhält Atmosphères dadurch, dass, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, jeder Stimmeneinsatz unbemerkt zu erfolgen hat, die Töne also gewissermassen immer aus dem Nichts kommen («unmerklich», «noch leiser als möglich» schreibt Ligeti). Vielleicht hilft beim Hören dieser Musik das folgende Bild, das Ligeti selbst in seinen Bemerkungen zur Einstudierung erwähnt («alle sollen zu einer zarten Klangwolke verschmelzen»): So mag man sich vorstellen, dass diese Cluster sich wie ein Wolkenspiel verhalten, das man aus der Ferne verfolgt. Es gibt unterschiedliche
Wolken in diesem Stück, die sich gegenseitig durchdringen. Für Cluster der Streicher nehme man vielleicht die Farbe orange-braun, für die Blechbläser meinethalben gold und für die Holzbläser beispielsweise weiss. Mal sieht man dieses komplette Gemisch und dann doch immer wieder, wie sich eine goldene Wolke herausschält, wie sie bald jedoch wieder überlagert wird und ein neues Wolkengemisch entsteht, das an- und ausdauernd verschiedenfarbig schimmert und schillert. Selten sind die Farben eindeutig, die Wolkenformen selbst verändern sich ständig und auch die Tempi, mit denen sich die Wolken in- oder gegeneinander bewegen. Etwa in der Mitte des Stückes gibt es eine ganz deutliche Kontrastbildung, wenn die Querflöten eine kleine Tonwolke immer weiter in der Tonhöhe nach oben schrauben oder schieben, lauter und lauter werden, die dann von einer tiefen Tonwolke der Kontrabässe abgelöst wird. Gerade so wie bei einem filmischen Umschnitt von Tagessonnenlicht zu Nachtmondlicht, von direktem Licht zu indirektem Widerscheinlicht. Das gesamte Stück wird in diesem Bild hoch differenziert in der Substanz wie zugleich intuitiv nachverfolgbar auf der Oberfläche des Gesamtklanges. Alles wirkt plausibel, und man fühlt keine Not, im Detail erklären zu wollen, warum die Klanggemische sich mal hier-, mal dorthin bewegen – so, wie wenn man sich dem tatsächlichen Wolkenspiel am Himmel hingibt.
Luft, Weltraum und Geschwindigkeit Sensationell, überraschend, ungewöhnlich, sonderbar: So hat dieses Stück damals gewirkt. Die Jahre um die Uraufführung waren auch ausserhalb der Musik teilweise sensationell. Der amerikanische Soziologe Daniel Bell beschrieb einmal den Übergang zwischen den 1950er- in die 1960er-Jahren als einen Sprung zwischen einer Zeit der Stille (Beckett und Cage) hin zu einer Zeit der Lärms. Damit meinte er sowohl die sich über weite Publikumsschichten ausbreitende Popularkunst als auch die politische Haltung zur Rebellion. In seinem Buch Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit
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aus dem Jahr 1976 schreibt er: «Die 50er-Jahre, so möchte man fast sagen, waren, was die Sensibilität angeht, eine Zeit der Stille gewesen. Die Stücke von Samuel Beckett suchen ein Gefühl der Stille zu vermitteln, die Musik von John Cage strebte sogar eine Ästhetik der Stille an. Die 60er-Jahre hingegen waren vorwiegend eine Zeit des Lärms und der Unruhe. Angefangen mit dem ‹neuen Sound› der Beatles [...] erklomm die Rockmusik solch tosendes Crescendo, dass es schier unmöglich wurde, sein eigenes Denken zu hören, und dies mag in der Tat Absicht gewesen sein.» Neben die Beatles mag man auch Atmosphères stellen, allerdings mit der genau umgekehrten Folge: Hier konnte man gerade wieder beginnen, das musikalische Denken zu hören. Darin trifft sich auf
GYÖRGY LIGETI Der 1923 geborene österreichische Komponist rumä nisch-ungarisch-jüdischer Herkunft begann im Alter von dreizehn Jahren Klavier zu spielen und versuchte sich schon kurz darauf an ersten sinfonischen Kompositionen. Das von ihm angestrebte Physik- und Mathematik-Studium wurde ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft verwehrt. So begann er eine musikalische Ausbildung am Konservatorium von Klausenburg. 1944 wurde er zum Arbeitsdienst in die ungarische Armee einberufen. Ligeti geriet in sowjetische Gefangenschaft, konnte aber während eines Bombenangriffs fliehen. Nach dem Krieg beendet er seine Studien und arbeitete völlig abgeschnitten von den Nachkriegsentwicklungen eine Zeit lang als Lehrer für Harmonielehre, Kontrapunkt und Musikanalyse in Budapest. Um 1956, nach dem Volksaufstand in Ungarn, floh Ligeti mit seiner späteren Ehefrau Vera Spitz unter dramatischen Umständen nach Wien. In Köln begegnete er zum ersten Mal den elektronischen Möglichkeiten und der Neuen Musik Anton Weberns. Die neuen technischen Möglichkeiten in der Musik inspirierten Ligeti, und auch wenn er sich später auf Instrumental- und Volksmusik konzentrierte, war er in seiner Denkweise doch durch die elektronische Musik geprägt.
einer dialektischen Ebene das beginnende Zusammengehen von sogenannter hoher und niedriger Kunst, aber auch die neue Vermischung von Kunst und Politik, die so sehr Kennzeichen der 60er-Jahre wurde. «Dies alles bedeutete ‹Demokratisierung› der Kultur, eine Demokratisierung, die nichts mehr als hoch oder niedrig durchgehen liess, ein Synkretismus der Stile, der alle Sinneserregungen vermischte und eine Welt der Sensibilität schuf, die allen zugänglich war», schreibt Daniel Bell. Ligetis Atmosphères entsteht genau in dieser Umbruchphase, und so ist es kein Zufall, dass dieses Stück später in Stanley Kubricks Film 2001 – A Space Odyssey Verwendung fand (übrigens ohne Wissen des Komponisten): ein Film, den Ligeti offenbar sehr schätzte. In einem Interview in die Welt aus dem Jahr 2001 sagte Ligeti: «Als ich diese Stücke komponierte, habe ich nicht an kosmische Dinge gedacht. Atmosphères meint nur die Luft. Meine Musik – in Kubricks Auswahl – passt ideal zu diesen Weltraum- und Geschwindigkeitsfantasien.» Der neue Klang von Ligetis Atmosphères korrespondierte wunderbar mit dem neuen Klang der Welt der aufbrechenden 60er-Jahre. ●
Impressum Sinfonieorchester Basel, Steinenberg 14, 4051 Basel, +41 ( 0 )61 205 00 95, info@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch, www.facebook.com/ sinfonieorchesterbasel, twitter.com/symphonybasel Geschäftsleitung : Franziskus Theurillat Künstlerische Planung, Dramaturgie und Vermittlung : Dr. Hans-Georg Hofmann Konzeption und Redaktion Programm-Magazin : Simon Niederhauser, Simone Staehelin Korrektorat: Ulrich Hechtfischer Gestaltung : Neeser & Müller, Basel Druck : Schwabe AG, Basel/Muttenz Auflage : 6000 Exemplare
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György Ligeti über Atmosphères
«Das Rhythmische wird ausser Kraft gesetzt»
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as Orchesterstück Atmosphères entstand im Frühjahr und Frühsommer 1961 als Auftragswerk des Südwestfunks für die Donaueschinger Musiktage. […] Die kompositorische Idee, die ich in Atmosphères zu verwirklichen versuchte, bedeutete einerseits die Überwindung des ‹strukturellen› kompositorischen Denkens […] und stellte andererseits eine Absage an jegliche Dialektik innerhalb der musikalischen Form dar. Es gibt in einer derart konzipierten Form keine gegensätzlichen Elemente und keine Wechselwirkungen mehr: Die verschiedenen Zustände des musikalischen Materials lösen einander ab oder verwandeln sich unmerklich einer in den anderen, ohne dass es zu kausalen Zusammenhängen innerhalb des Formverlaufs käme. Mit der Beseitigung aller deutlichen Einzelereignisse und Konturen und jeder ‹Struktur› werden die beiden musikalischen Elemente, die bisher die Hauptrolle spielten, nämlich Tonhöhe und Rhythmus, auf eine sekundäre Ebene zurückgedrängt. […] Das Rhythmische wird dadurch ausser Kraft gesetzt, dass sich in den ‹bewegten› Stellen des Stückes zahlreiche verschieden rhythmisierte Einzelstimmen überlagern, die so ineinander verknäuelt sind, dass man sie nicht mehr gesondert wahrnehmen kann. Durch die Verschleierung von Harmonik und Rhythmik treten zwei andere Elemente in den Vordergrund, und zwar Klangfarbe und Dynamik. Vor allem was die Klangfarbe betrifft, gibt es in Atmosphères Ansätze zur Erschliessung neuer kompositorischer Bereiche. […] Es gibt nämlich in Atmosphères Sonoritäten, die nicht aus der hier beschriebenen Übereinanderschichtung und Mischung resultieren, sondern aus der Verwebungsart der einzelnen, in sich bewegten Instrumentalstimmen. […] Man könnte also von einer ‹Bewegungsfarbe› sprechen, denn
die Klangfarbe hat eine rhythmische, genauer gesagt mikrorhythmische Komponente. Der Rhythmus wird, da er seine Funktion als selbständiges musikalisches Element verliert, mit der Klangfarbe fast völlig identisch. […] Aus allem Gesagten geht hervor, dass die formale Gliederung des gesamten Stückes keinem der traditionellen Formschemata folgen kann; es muss sich vielmehr um eine ihrer Erscheinung nach einmalige Form handeln, die aus der Balance und dem Wechsel verschiedener Zustände des globalen, chromatisch geschichteten Klanggebildes entsteht. Die Reihenfolge der teils kontrastierenden, teils ineinander gleitenden klanglichen Zustände ist scheinbar zufällig, allerdings nur scheinbar: Dem Formverlauf liegt eine genau festgelegte Planung zugrunde, die die zeitlichen Proportionen der einzelnen Zustände, die Proportionen von Ambitus und Lautstärke sowie die Veränderungen der Klangfarbe (in all ihren Bedeutungen) und der Verwebungsmuster betrifft. Obwohl diese Planung für die Konstruktion entscheidend ist, hat sie für das Hörerlebnis nur indirekt Bedeutung. Sie erfüllt ihre Funktion gleichsam unter der klanglichen Oberfläche, indem sie die hörbare musikalische Form, die für die Erscheinung der Komposition einzig massgebend ist, von innen her artikuliert – eine Form, die in ihrer Veränderung Unveränder liches widerspiegelt: in ihrer Bewegung Stillstand, in ihrer Endlichkeit Unbegrenztheit der Zeit. ● Geschrieben 1962 (?) als Manuskript für eine Sendung des Bayerischen Rundfunks am 27. Mai 1963 [Aus György Ligeti, Gesammelte Schriften, hrsg. von M. Lichtenfeld, Bd. 2, Schott, Mainz 2007, Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, 10,2 ].
György Ligeti, Atmosphères (1961), Reinschrift, S. 13
Bild : Paul Sacher Stiftung, Copyright Universal Edition, Wien, 1963
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Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 3
«in Absicht auf Geist und Effekt eins der vorzüglichsten» In einem Zeitraum von acht Jahren komponiert Ludwig van Beethoven ein Klavierkonzert, das die Gattung neu definiert. Erstmals ist das Soloinstrument vollkommen in den orchestralen Fluss eingebettet. von Walter-Wolfgang Sparrer
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ie Gattung des Klavierkonzerts hatte Mozart zu einer unvergleichlichen Höhe der grossen klassischen Instrumentalmusik geführt. Formal bedeutsam war dabei die Verbindung von Prinzipien des vorklassischen Konzerts – dem Wechsel von Tutti- und Soloepisoden – mit solchen der Sonatenform, d. h. der Entfaltung gegensätzlicher Tonartenverhältnisse sowie vielfältiger Charaktere. Für Beethoven nicht erreichbar (und daher auch nicht erstrebenswert) war jedoch Mozarts souverän, doch stets diskret ausgespielte Welthaltigkeit: «Während Mozart festgeprägte, anthropomorphe musikalische Gestalten wie Bühnenfiguren gegeneinanderstellt, und zwar in gewaltloser Integration, die zu seinen Formgeheimnissen gehört, entwickelt Beethoven sein Satzgeschehen aus absichtlich einfachen Motiven, die erst im weiteren Verlauf enthüllen, was in ihnen an Potenzial verborgen liegt.» (Dietmar Holland, 1987) Beethoven, der seine Karriere in Wien, wohin er Ende 1792 übersiedelt war, zunächst auch als Klaviervirtuose begründet hatte, hatte insbesondere Mozarts grosse Moll-Konzerte (c-Moll und d-Moll) gespielt, weil sie seiner energisch zusammengefassten ‹ungestümen› Natur entgegenkamen. Und in seinem 3. Klavierkonzert, zugleich seinem einzigen Konzert
in Moll, hallt im weitesten Sinn die Orientierung an Mozarts Klavierkonzert in c-Moll, KV 491, nach. Es gehört aber auch in die Gruppe jener höchst individualisierten c-Moll-Werke Beethovens, deren Komposition seit etwa 1798 sprunghaft zunimmt: Streich-
Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll, op. 37 Besetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauken, Streicher Entstehung: Erste Skizzen im Jahr 1796, usarbeitungen des 1. und 2. Satzes um 1799 / 1800, A vorläufige Fertigstellung um 1802/03 und eine letzte Überarbeitung im Jahr 1804. Die Kadenz zum 1. Satz entstand wahrscheinlich 1809 für Erzherzog Rudolph. Uraufführung: 5. April 1803, Wien, Beethovens Akademie im Theater an der Wien Dauer: ca. 35 Minuten Widmung: Prinz Louis Ferdinand von Preussen
Bild : Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
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«Der Styl und Charakter dieses Concerts ist weit ernster und grossartiger als in beiden frühern.» Das c-Moll-Konzert ist Beethovens erstes sinfonisches Konzert, das heisst, es ist sein erstes Instrumentalkonzert (wie auch das erste in der Geschichte der Musik überhaupt), in dem das Soloinstrument in den orchestralen Fluss vollkommen eingebettet ist. Auch insofern gilt es als den späteren Klavierkonzerten in G-Dur, op. 58 (1805 /06) und Es-Dur, op. 73 (1808 /09) ebenbürtiges Werk. Es steht – wie die Egmont- Ouvertüre – an der Schwelle zweier Schaffensperioden, krönt eher die erste Wiener Phase als dass es Ausdruck der ‹mittleren› Periode Beethovens wäre, in welcher er auf sinfonischem Gebiet einen «hero ischen Stil» (Romain Rolland) entfaltete, zu dem einerseits nach aussen gekehrtes Pathos sowie andererseits latente, meist chromatisch durchsetzte strukturelle Zusammenhänge gehören.
Entstehung und Widmung
Ludwig van Beethoven (Druck nach einer Zeichnung von Johann Peter Lyser)
trio, op. 9 Nr. 3 (1798), Klaviersonaten, op. 10 Nr. 1 (1796/98) und op. 13 (Pathétique, 1798/99), Streichquartett, op. 18 Nr. 4 (1799), Violinsonate, op. 30 Nr. 2 (1802) bis hin zur 5. Sinfonie, deren erste Skizzen ab 1803 entstehen. Dem dritten Klavierkonzert vorausgegangen waren ein Jugendkonzert des Vierzehnjährigen in EsDur (WoO 4, 1784), das nur im Klavierauszug überliefert ist, sowie die beiden Konzerte op. 15 (C-Dur, 1795–1800) und op. 19 (B-Dur, ca. 1790–1798). Treffend schrieb 1846 Beethovens Schüler Carl Czerny:
Die Entstehungsgeschichte ist verwickelt und reicht von 1796 bis 1804. «Concerto 1803» schrieb Beethoven über die erste fertige Niederschrift für die Uraufführung im Theater an der Wien am 5. April 1803, wobei der Komponist den Solopart selber spielte. In diesem Autograph sind drei Arbeitsstufen in drei verschiedenen Tinten dokumentiert. Ursprünglich hatte Beethoven die Absicht, das Konzert in c-Moll in seinem ersten Benefizkonzert am 2. April 1800 im Hofburgtheater aufzuführen. Aus dem Autograph wird aber deutlich, «dass für den 2. April 1800 nicht mehr als der erste Satz in ungefährer Endversion und der zweite bloss rudimentär mit einer erster Tinte zu Papier gebracht wurde. Beethoven war deshalb gezwungen, auf sein Konzert in C-Dur zurückzugreifen, das er nun nicht mehr nach dessen erster, sondern nach der aus diesem Anlass neu geschriebenen Endversion darbot.» Versuche, das c-Moll-Werk in den Jahren 1801 oder 1802 zur Aufführung zu bringen, schlugen fehl, weil die Termine für die Fastenakademien in der Hofburg bereits vergeben waren, doch führte ein solcher Versuch im Jahr 1802 Beethoven zur Überarbeitung des Kopfsatzes. Für die erste Aufführung im Jahr 1803 arbeitete er dann den zweiten
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Satz aus und schrieb den dritten Satz erstmals nieder («Concerto 1803»). Der Solopart war nun «zwar kontinuierlich und in seinem Ablauf beinahe endgültig, aber bei weitem noch nicht für beide Hände vollständig notiert» (Hans-Werner Küthen im Vorwort zur Neuausgabe der Partitur, 1987.) Am 19. Juli 1804 erfuhr das c-Moll-Konzert eine zweite Aufführung durch Beethovens Schüler Ferdinand Ries, der sich mit diesem Werk in Schuppanzighs Augarten-Konzerten erstmals öffentlich präsentierte. Aus diesem Anlass wurde der Solopart des «Concerto 1803» in allen drei Sätzen mit einer dritten Tinte von neuem überarbeitet, wobei Beethoven den 3 4 «ursprünglich mit g begrenzten Tonraum bis c erweiterte» (Hans-Werner Küthen, 1987). Zugleich entstand ein separates Solostimmheft für Ferdinand Ries, der sich 1838 erinnerte: «Die Clavierstimme des C Moll Concerts hat nie vollständig in der Partitur gestanden. Beethoven hatte sie eigens für mich in einzelnen Blättern niedergeschrieben.» Die (heute verschollene) Klavierstimme von Ries fungierte dann als Stichvorlage für die Originalausgabe im Bureau des Arts et d’Industrie im November 1804. Die erste Idee zu einem Konzert in c-Moll notierte Beethoven jedoch bereits während seiner grossen Tournee im Jahr 1796, wahrscheinlich im Mai oder Juni, nach einem Hofkonzert in Berlin. Während dieses Berlin-Aufenthalts lernte Beethoven auch den späteren Widmungsträger des c-Moll-Konzerts kennen, Prinz Louis Ferdinand von Preussen (1772–1806), Neffe Friedrichs des Zweiten. Wie Ferdinand Ries berichtet, machte Beethoven dem jungen Offizier «ein grosses Kompliment, als er ihm einst [damals] sagte: er spiele gar nicht königlich oder prinzlich, sondern wie ein tüchtiger Clavierspieler».
«Zum Concert aus C moll pauke bej der Cadent» Beethovens erste, in Berlin 1796 niedergeschriebene Notiz besteht nur aus einer einzigen – für die Konzeption des Kopfsatzes jedoch entscheidenden – Bemerkung: «Zum Concert aus C moll pauke bej der Cadent». Die erste viertaktige Phrase exponiert den aufwärts geführten c-Moll-Dreiklang samt diatoni-
schem Quintgang abwärts. Der wieder erreichte Grundton wird bestätigt durch ein zweitöniges Motiv im punktierten Rhythmus: Dieses sog. ‹Pauken›oder ‹Pochmotiv›, gelegentlich auch ‹Klopfmotiv› genannt, schliesst die Kreisbewegung der ersten Phrase wieder auf c und fungiert, wie der weitere Verlauf zeigt, als eine der formbildenden Zellen des ersten Satzes. Die Bläser wiederholen das viertaktige Modell; in kontrastierender Ableitung entwickeln die Streicher das Material des Hauptsatzes bis zur ersten Kadenz. Die Tutti-Exposition ist mit 111 Takten die längste (und umfassendste) aller Orchestereinleitungen von Beethoven sowie aller Instrumentalkonzerte bis zum frühen 19. Jahrhundert. Sie bringt wiederum einen Kreislauf, ein in sich geschlossenes System, das in c-Moll beginnt und mit c-Moll endet: Auf den piano eingeführten Hauptsatz (in der Grundtonart c-Moll) folgt nach einer kurzen Überleitung eben nicht der Seitensatz, sondern zunächst eine variierte Wiederholung des Hauptsatzes (in Es-Dur und esMoll, mit verarbeitender Dramatik). Für den Seitensatz (Es-Dur) adaptiert und modifiziert Beethoven ein liedhaftes Thema von Franz Xaver Sterkel (1750 – 1817), das hier über c-Moll (pianissimo geflüstert) in der Piano-Region eines mit Pauken und Trompeten begleiteten C-Dur aufleuchtet. Als Überleitung zur Schlussgruppe erklingt dreimal der (um das Pochmotiv verkürzte) Hauptgedanke. Innerhalb der Schlussgruppe – mit Tonrepetitionen piano con espressione durch die Holzbläser eingeleitet – taucht das Dreiklang- bzw. Kopfmotiv wie auch das Poch- oder Klopfmotiv erneut auf, erst fragmentarisch, dann unisono zusammengefasst im ganzen Orchester. Nicht weniger ausgedehnt ist die Solo-Exposi tion: eine in ihrem Ablauf geringfügig variierte, vor allem aber vom Klavier ornamentierte Wiederholung der Tutti-Exposition, die mit einem dreimaligen Anlauf des Solisten im fast martialischen forte einsetzt, mit heftigem sforzato jeweils in der höheren Oktav mündend. Die variierte Wiederholung des Hauptthemas fungiert hier (zunächst mit kurzen Dialogen zwischen Tutti und Solo) als Überleitung zum Seitensatz. Durch reiche Figurationen des Klaviers wird die (das Pochmotiv enthaltende) Schlussgruppe ungewöhnlich ausgedehnt.
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Ein zweites, kurzes Tutti (mit dem Pochmotiv sowie dem der Schlussgruppe) leitet über zur Durchführung, die wie die Solo-Exposition mit einem energischen Tonleiter-Eingang im Klavier (nun in D-Dur) beginnt. Der Hauptgedanke kehrt zunächst wie eine Scheinreprise in g-Moll wieder und wird sodann in steter Begleitung durch das Pochmotiv verarbeitet. Vom Klavier flankierte Seufzer der Holzbläser führen zur Reprise im schweren Fortissimo. Von nun an gibt es ständige Wechsel von Solo und Tutti. Erneut eine Kreisfigur umschreibt die Kadenz, die Beethoven wahrscheinlich 1809 für den Erzherzog Rudolph komponierte. Er verarbeitet hier den Hauptgedanken, sodann das Seitenthema, kehrt schliesslich in dramatischer Steigerung presto zum aufbegehrenden Gestus des Kopfmotivs und zuletzt zum Klopf- oder Pochmotiv zurück.
Wie Gebet und Wandlung Überraschend – und neu – erscheint der langsame Satz im idyllisch-erhabenen E-Dur. Den extremen Tonarten-Gegensatz begründete Christian Martin Schmidt 1994 mit der Tonartendisposition des gesamten Konzerts, dem Grossterz-Zyklus C-E-As-C (As-Dur erklingt im 2. Couplet des Finalrondos) bzw. (bezogen auf die sekundär wesentlichen Tonarten) Es-G-H-Es. Das Largo kann als dreiteilige Liedform gelesen werden, wobei Beethoven aus zwölftaktigen bzw. je zwei zwölftaktigen Einheiten ein strophisches Prinzip entfaltet (A A‘ B A‘‘ plus Coda). Der Beginn – zwölf Takte Klavier solo – wird im Allgemeinen als Reflex von Beethovens improvisatorischem Klavierspiel und seiner Kunst der Ornamentierung gewürdigt. Ungewöhnlich ist hier vor allem der harmonische Gang, der über die Tonika-Parallele cis-Moll hinaus auch entfernte G- und C-Dur-Klänge einbezieht. Labyrinthische Harmonik wie seufzende Vorhaltsmelodik kennzeichnen diesen kontemplativen Beginn, der vielleicht als ‹preghiera›, als Gebet, verstanden werden kann. Vergleichsweise konventionell ist das Tutti, das dem Solisten antwortet, wie auch das nächste, sehr figurative Solo in H-Dur mit «Melismen […], in denen man etwas vom italiänischen Melodiestyl finden
kann» (Wilhelm von Lenz, 1860). Nur zwei Tutti-Takte blenden in den Mittelteil, der von der extrem kontrastierenden Tonart G-Dur aus nach E-Dur zurückmoduliert. Der veränderten Wiederkehr des Beginns folgt eine Coda, die von «mit Mordenten heruntertröpfelnden Gruppetti» (Wilhelm von Lenz, 1860) über eine kleine Solokadenz zu einem Ausklang «wie in Schlummermotiven» (Hermann Kretzschmar) führt. «Nur hat Beethoven diesen Schlusseindruck in einem der wunderlichen Humore, die von seiner Person nicht zu trennen sind, durch einen letzten erschreckenden Akkordschlag im ff zerstört.» (Kretzschmar)
Lieto Finale Der abschliessende dritte Satz, ein Sonatensatz-Rondo, zeigt nun erstmals gehäuft die Rundung periodisierter Formulierungen. Der festgefügte Gestus des Kopfsatzes, gleichsam Aufbegehren und Zurückfallen, erscheint hier verwandelt und verflüssigt in pulsierende Achtelbewegung mit immer wieder präsenten Sechzehntelgruppen. Ungewöhnlich lang (55 Takte) ist der Refrain, der erste Themenkomplex (mit einer kleinen Solokadenz des Klaviers in der Mitte), dessen Eckteile zunächst vom Klavier vorgestellt und dann vom Orchester wiederholt werden; charakteristisch das Changieren zwischen c-Moll und C-Dur. Punktierte Bläserrhythmen – Klopfrhythmen – künden das 1. Couplet in Es-Dur an, das im Klavier im ‹hüpfenden› lombardischen Rhythmus einsetzt. Ein erstes knappes Fugato leitet die Wiederkehr des Refrains ein. Mit einem Klarinettensolo beginnt das 2. Couplet bzw. der Seitensatz in As-Dur; die Kantabilität des Klavierparts scheint Chopin fast schon vorauszunehmen. Mit dem unmittelbar anschliessenden Fugato setzt der Refrain ein, in dem das Hauptthema durch die Tonarten geführt wird. Die Reprise bringt die Wiederkehr des 1. Couplets in c-Moll, beginnend mit den Klopfrhythmen der Bläser. Im letzten Refrain mündet das Rondothema in einen kleinen solistischen Auftakt zum lieto finale, dem glücklichen Ausgang im tänzerisch-wirbelnden C-Dur-Presto. ● Mit freundlicher Genehmigung der Münchner Philharmoniker.
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Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 10 e-Moll, op. 93
Eine monumentale viersätzige Komposition von Michael Tegethoff
A
m 5. März 1953 starben in Moskau Josef Stalin und Sergei Prokofjew. Der Diktator war radikal gegen jede Art von Opposition vorgegangen und hatte der Durchsetzung seiner Ziele Millionen von Menschen geopfert. Der Tod des Oberbefehlshabers über die sowjetischen Streitkräfte beschäftigte die Menschen deshalb nicht nur in der Sowjetunion, der Tod des Komponisten Sergei Prokofjew wurde weitaus weniger beachtet. Dass der Diktator Josef Stalin seine Macht über das politische Geschehen hinaus ausgedehnt hatte und selbst das kulturelle Leben seines Landes kontrollierte, bekam auch der Komponist Dmitri Schostakowitsch zu spüren. Schostakowitsch war fünfzehn Jahre jünger als Prokofjew, und nachdem seine Oper Lady Macbeth von Mzensk 1934 in Leningrad uraufgeführt worden war, fand das Werk zunächst immer weitere Verbreitung. Das änderte sich schlagartig, als der Diktator 1936 eine Aufführung der Oper besuchte. Wenig später erschien der berühmt gewordene Prawda-Artikel ‹Chaos statt Musik›, und der Komponist erinnerte sich: «Diesen Tag werde ich nie vergessen. Er ist vielleicht der denkwürdigste in meinem ganzen Leben. Der Artikel auf der dritten Prawda-Seite veränderte ein für allemal meine ganze Existenz. Er trug keine Unterschrift, war also als re-
daktionseigener Artikel gedruckt. Das heisst, er verkündete die Meinung der Partei. In Wirklichkeit die Stalins, und das wog bedeutend mehr.» Mit einem Male galt Schostakowitsch als Volksfeind. Seine Werke durften nicht mehr gespielt werden, der Komponist fürchtete sogar um sein Leben. In den Jahren 1936 bis 1953 wechselten sich die Extremsituationen ab. Mit der fünften und der siebten Sinfonie (1937 bzw. 1942) gelang dem Komponisten die Rehabilitierung, aber andere Werke gerieten
Sinfonie Nr. 10 e-Moll, op. 93 Besetzung: 3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug, Xylophon, Streicher Entstehung: Juni bis Oktober 1953 Uraufführung: 17. Dezember 1953, Leningrad (Leningrader Philharmonie, Dirigent: Jewgeni Mrawinski) Dauer: ca. 50 min
in Misskredit oder wurden ängstlich zurückgehalten. Zuletzt gerieten Schostakowitsch und seine Familie sogar in existenzielle Not. Diese Situation änderte sich mit Stalins Tod. Dmitri Schostakowitsch begann zwei Monate später mit der Komposition seiner zehnten Sinfonie. Acht Jahre hatte Dmitri Schostakowitsch die Arbeit an einer neuen Sinfonie aufgeschoben: Die neunte Sinfonie war 1945 vorgestellt worden, doch wollte sie so gar nicht die an sie gerichteten Erwartungen erfüllen. Sie war knapp dimensioniert und kam mit einer reduzierten Besetzung aus, doch vor allem irritierten die ironischen Züge, wo man doch zumindest bei einer Neunten Pathos erwartet hätte. Monumentalen Charakter besassen dagegen die achte Sinfonie von 1943 und vor allem die Leningrader Sinfonie Nr. 7 von 1942, von denen aber lediglich die Leningrader grosse Popularität erlangte. Tatsächlich schliesst die neue Komposition wieder mehr an die siebte und achte Sinfonie an als an die knappe Neunte. Die Zehnte ist wieder eine monumentale viersätzige Komposition, aber sie ist persönlicher gehalten als einige Vorgängerwerke. Dmitri Schostakowitsch begann die Beschäftigung mit der zehnten Sinfonie im Juni 1953. Zunächst kam der Komponist mit der Arbeit nur mühsam voran. Schwierigkeiten bereitete vor allem die Ausarbeitung des Kopfsatzes, und Schostakowitsch wusste zunächst nicht, wie es mit dem Werk weitergehen sollte. Klingt der erste Satz noch lastend und suchend, so nimmt das Orchesterwerk in den weiteren Sätzen eine völlig andere Wendung. Allmählich ging dem Komponisten die Arbeit an der Sinfonie auch immer schneller von der Hand: Nach der Vollendung des Kopfsatzes am 5. August lag am 27. August bereits das Scherzo vor, die beiden folgenden Sätze wurden am 8. Oktober beziehungsweise am 25. Oktober vollendet. Bei oberflächlicher Beschäftigung wirkt die zehnte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch wie eine regelmässige viersätzige Sinfonie. Doch die Eigentümlichkeiten tun sich bei näherer Betrachtung schnell auf. So erreicht der Kopfsatz fast schon die Länge der halben Sinfonie, noch dazu ist er im langsamen Tempo gehalten. Der zweite Satz wiederum ist der kürzeste Scherzo-Satz, den Schostakowitsch jemals geschrieben hat. Lediglich die beiden Schlusssätze
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Dmitri Schostakowitsch (um 1942)
entsprechen den Dimensionen, wie man sie von einer knapp einstündigen Sinfonie erwartet. Der eröffnende Moderato-Satz hat einen pessimistischen, fast tragisch zu nennenden Charakter. Der Satz steht ganz regelmässig in der Sonatenform. Die Abschnitte Exposition, Durchführung und Reprise sind deutlich zu erkennen, denn die beiden Rahmenteile sind äusserst sparsam instrumentiert, während die Durchführung unablässig auf einen Höhepunkt zusteuert. Zunächst aber werden verschiedene Themen vorgestellt: das gequält in tiefer Lage sich seinen Weg bahnende erste Thema, das von der Klarinette begonnene zweite Thema und ein viel leichter wirkendes drittes Thema, bei dem die Flöte die Führung übernimmt. Dem sich langsam ausbreitenden Kopfsatz schliesst sich ein kurzer Allegro-Satz von beispiel loser Brutalität und Härte an. Erst spät hat Schostakowitsch sich über das mit diesem Satz Gemeinte
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geäussert: «Und niemand hat bis heute erraten, worum es in dieser Symphonie geht: um Stalin und die Stalin-Ära. Der zweite Satz, ein Scherzo, ist, grob gesagt, ein musikalisches Porträt von Stalin. Natürlich enthält dieser Satz auch noch sehr viel anderes. Aber er basiert auf diesem Porträt.» Dazu hat der Schostakowitsch-Biograph Krzysztof Meyer ein Zitat aus der Oper Boris Godunow erkannt: Es handelt sich um ein Thema aus dem Prolog, bei dem das Volk mit der Peitsche zur Huldigung des neuen Zaren gezwungen wird. Jedenfalls nimmt der Sinfoniesatz immer härtere Züge an, wobei die kleine Trommel sich unbarmherzig einmischt, immer weitere Dissonanzen hinzugefügt werden und die Lautstärke gegen Ende immer noch um weitere Grade zunimmt. Es ist ein äusserst verstörender und ungemütlicher Satz. In die beiden Schlusssätze nimmt Dmitri Schostakowitsch dann sein tönendes Monogramm ‹D-EsC-H› hinein. Dieses Motiv kommt in verschiedenen Werken vor. Am bekanntesten ist das Beispiel des achten Streichquartetts, das den Opfern des Faschismus und des Krieges gewidmet wurde und hier wie dort einen persönlich-autobiographischen Charakter impliziert. Als weiteres Motiv mit Zitatcharakter ist der bedeutungsvolle Hornruf zu nennen, der womöglich ebenfalls Mussorgskys Oper Boris Godunow entlehnt ist: Ganz ähnlich tritt im letzten Akt der Oper der Mönch Pimen auf, bevor der Wahnsinn des Zaren einsetzt. Zwanghaft verzweifelter Optimismus spricht aus dem Schluss des Satzes, bei dem das ‹D-Es-C-H›-Motiv mehrfach wiederkehrt. Schliesslich schwindet im Finale nach einer langsamen Einleitung die gedrückte Stimmung. Der Allegro-Teil vermittelt zunächst den Ausdruck gelöster Heiterkeit. Doch Vorsicht: Ungebrochen bleibt auch dieses Finale nicht. Anklänge aus den vorangegangenen Sätzen tauchen erneut auf, selbst das ungemütliche Scherzo kehrt wieder zurück. Aber auch das ‹D-Es-C-H›-Motiv wird zum Schluss zu einem bestimmenden Bestandteil. Persönlicher Ausdruck ist also wieder angestrebt, doch wieder mischen sich einige Störungen ein, ist der Charakter zuletzt nicht mehr so ungetrübt wie bei seinem gefälligen Beginn. Die Uraufführung der zehnten Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch fand am 17. Dezember 1953 in Leningrad statt. Es spielte die Leningrader Phil-
harmonie, die musikalische Leitung hatte Jewgeni Mrawinski. Bald nahmen sich auch weitere Interpreten der Sinfonie an. Schostakowitschs Zehnte wurde auch in Moskau gespielt und im Westen vorgestellt. Dmitri Mitropoulos, Leopold Stokowski und Eugene Ormandy machten das Werk in Amerika bekannt. Die Sinfonie erklang 1956 zur Eröffnung des Warschauer Herbstes, und Herbert von Karajan dirigierte das Werk im März 1959 in Berlin, machte 1966 eine bis heute sehr geschätzte Aufnahme und leitete 1969 bei einem Gastspiel der Berliner Philharmoniker in Moskau eine Aufführung in Anwesenheit des Komponisten. ●
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Vorlaut – Eine Serie
Vom Undank grosser Männer von Alain Claude Sulzer
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on manchen Musikern despektierlich als Blattläuse bezeichnet, gibt es doch keinen, der nicht selber einer ist: Notenwender in Zeiten der Not. Not ist immer dann am Mann, wenn ohne Unterbrechung weitergespielt werden muss, notfalls bei kurzzeitig fast halbierter Musikerzahl. Ungezählt sind die Augenblicke, in denen einer von zwei Orchestermusikern an einem Pult umblättern muss, damit zumindest der andere, der gerade spielt, weiss, wie es weiter geht. Insofern kann man von einem ganzen Heer von sinfonischen Blattläusen sprechen. Meist aber ist damit jene im Zwielicht verschwimmende Gestalt im Faltenwurf des Solisten gemeint, die stets zeitverzögert nach dem Pianisten auftritt und vor ihm abgeht, indes dieser den Applaus entgegennimmt, von dem kein bisschen auf den aufmerksam gefügigen Assistenten abfärbt, dessen Daseinsberechtigung sich im Dienen erschöpft. Selbst seine Anwesenheit scheint der Güte des gastfreundlichen Musikers geschuldet, der – so glaubt jeder zu wissen – seine Noten zur Not auch ohne ihn in Töne umsetzen könnte, so wie sich ja auch der Schauspieler gegebenenfalls ohne Souffleur weiterzuhelfen weiss. Spielen ist schliesslich auch immer Improvisation (das Wort stammt vom italienischen ‹improvviso›, was nichts anderes als ‹unvorhergesehen› bedeutet). Viel Unvorhergesehenes erwartete offenbar auch Beethovens Freund Ignaz Xaver von Seyfried bei der Erstaufführung des dritten Klavierkonzerts am 5. April 1803. Seyfried, der nicht als Komponist von Opern, Messen und Sinfonien, sondern als Uraufführungsdirigent des Fidelio (und als Fälscher von Beethovens Studien im Generalbass) in die Musikgeschichte einging, blätterte an jenem Abend zu des Meisters Linken um. Doch viel zu blättern gab es nicht, wie er uns überliefert hat, weshalb man sich natürlich fragen
kann, weshalb er überhaupt auf dem Podium sass. Doch wohl nicht deshalb, um der Nachwelt wenigstens als Notenwender im Schatten Beethovens in Erinnerung zu bleiben? Laut Seyfrieds Aussage – die Worte eines nicht durchweg um die Wahrheit bemühten Mannes – war das Notenpapier, auf das er seine Augen richtete, bis auf ein paar «mir rein unverständliche Hieroglyphen» nämlich leer. Viele Gelegenheiten, zu früh oder zu spät umzublättern und damit den Zorn des ertaubenden Eigenbrötlers (als der Beethoven gern dargestellt wird) auf sich zu ziehen, gab es also nicht. So dürfen wir uns diesen Umblätterer als geneigten intimen Zuhörer vorstellen, der der Verfertigung der Gedanken und Töne aus nächster Nähe beiwohnte. Wenn er als Notenwender schon überflüssig war, hätte er sich zumindest ein paar Notizen über den Verlauf des Abends machen können, über die Übereinkünfte, die Beethoven mit den ihn begleitendenden Musikern getroffen hatte, oder über die Art der Improvisationen, Verzierungen und Tempi. Nichts dergleichen ist aus Seyfrieds Feder von diesem Abend überliefert. Dass Seyfried den Widmungsträger Prinz Louis Ferdinand von Preussen, der ein höchst talentierter Pianist (und Komponist) war, nicht erwähnte, ist hingegen verständlich. Beethoven widmete ihm sein drittes Klavierkonzert erst ein Jahr nach der Uraufführung, zu einem Zeitpunkt also, da die Hieroglyphen die Form von Noten angenommen hatten, die nachzuspielen der ‹preussische Apoll› allerdings nicht mehr viel Zeit hatte. Er starb im Alter von 33 Jahren durch die Hand eines französischen Unteroffiziers, dem die Tat allerdings so wenig gedankt wurde wie Seyfried das Umblättern. Napoleon wäre ein gefangener Prinz lieber gewesen, weswegen der Mörder Louis Ferdinands nicht einmal befördert wurde. ●
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Ignaz Seyfried (Lithographie von Josef Kriehuber, 1829)
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Casino-Geschichte(n), Teil 5
Wie Joggi Herzog das Casino stürmte von Sigfried Schibli
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Bild : Schweizerisches Sozialarchiv
ürich hatte die Opernhaus-Krawalle, und Basel hatte den Casino-Krawall. Diese beiden Ereignisse liegen zwar 62 Jahre auseinander, aber man darf den Vergleich trotzdem ziehen. Denn 1918 ereignete sich in Basel etwas Ähnliches wie in Zürich 1980 – der Kampf der Strasse gegen das Kulturbürgertum und seine Symbolorte. Im Zentrum stand das Stadtcasino Basel als Treffpunkt des eta blierten Bürgertums. Hier ging man vornehm speisen, hier trafen sich die Burckhardts und Staehelins, die Vischers und VonderMühlls, die Paravicinis und Koechlins. Dass zwischen den Architekten aus der Familie Stehlin und den Vorständen der Casino-Gesellschaft enge Verflechtungen bestanden, war völlig normal.
Jakob Joggi Herzog (Fotografie von Edy Meyer, 1922)
Das Jahr 1918 war ein ‹rotes› Jahr, nicht nur in der Sowjetunion, die im Jahr zuvor mit der Oktoberrevolution einen massiven historischen Schnitt vollzogen hatte. In Deutschland rief Philipp Scheidemann die Republik aus. Ebenfalls im November brach in der Schweiz ein Generalstreik aus, der das gesamte Land erfasste und von der Armee unterdrückt wurde. Anzeichen für ein gesellschaftliches Gären gab es schon früher. Im Juni hatte eine Protestbewegung das beschauliche Basel erschüttert. Die Sozialdemokratische Partei hatte am 20. Juni 1918 auf dem Marktplatz eine Demonstration gegen die mangelhafte Lebensmittelversorgung der Bevölkerung organisiert. Es sollen sich zwölf- bis fünfzehntausend Personen an der Kundgebung beteiligt haben. Den gemässigten Reden sozialdemokratischer Funktionäre folgten die Aktivitäten einer «Rotte junger Leute», wie das Basler Stadtbuch von 1919 sie nennt. Die Basler Nachrichten vom 21. Juni 1918 berichteten ausführlich, wie die «Jungburschen» den Trambetrieb lahmlegten, die Führung der Demon stration an sich rissen und «unter Absingung eines Kampfliedes» zum Stadtcasino zogen. Dort kam es zum «Sturm auf die Terrasse» des Casino-Restaurants. Die Demonstranten forderten die Gäste des Glaspavillons zum Gehen auf. Als niemand dieser Forderung nachkam, begann die Zerstörung des Mobiliars. «In wenigen Minuten», berichtet der Lokaljournalist, «war das Innere der Terrasse ein wirrer Trümmerhaufen». Fensterscheiben, Gläser und Geschirr gingen zu Bruch. Der Protestzug zog weiter ins St. Albanquartier, wo sich die Wohnhäuser wohlhabender Basler befanden. Die Polizei schaute hilflos zu, bis sie kurz vor Mitternacht einige der Demonstranten verhaftete. «Nun hat auch Basel seine Revolution», hiess es am Tag darauf in den Basler Nachrichten. Die Zeitung
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Ausschnitt aus den Basler Nachrichten (21. Juni 1918)
verurteilte diese Vorkommnisse scharf und forderte die Behörden auf, «mit allen Mitteln für Aufrecht erhaltung von Ruhe und Ordnung und für ausgiebigen Schutz des Privateigentums zu sorgen». Sie warf den Sozialdemokraten vor, durch «hetzerische und aufwieglerische Reden» in jungen Köpfen ein «Revolutionsfieber» entfacht zu haben. «Die Bewegung kam nach den Reden zum Ausbruch und wuchs den Führern über den Kopf.» Die National-Zeitung berichtete ähnlich ausführlich, brachte aber mehr Verständnis für die Anliegen der Demonstranten auf und kritisierte heftig die überforderte Basler Polizei. Verletzte gab es übrigens keine. Paul Thalmann erinnert in seinem Buch Wo die Freiheit stirbt an den Casino-Krawall. Ein Anführer des gewaltsamen Protests hiess Mamie, ein anderer war Jakob oder Joggi Herzog, ein Schreiner aus Beromünster, der in Zürich Bekanntschaft mit Lenin geschlossen hatte und 1919 erster Zentralpräsident der Kommunistischen Partei der Schweiz wurde. Thalmann beschreibt dessen Auftritt so: «Auf dem Barfüsserplatz schwang sich der Zürcher Jungbursche
Joggi Herzog auf einen Sockel, zog seine Uhr aus der Tasche und verkündete laut: ‹Wir geben den Spiessern drei Minuten Zeit, das Lokal zu räumen, dann wird es gestürmt.›» Die Restaurantgäste flohen ins Innere des Lokals. «Wildes Handgemenge entstand, Stühle und Tische zerkrachten, der grosse Kronleuchter an der Decke wurde mit allen erreichbaren Gegenständen bombardiert, bis er klirrend zu Boden sauste.» Als einziger der Rädelsführer wurde Joggi Herzog zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Das Musikleben im Stadtcasino wurde von diesen Vorfällen nicht tangiert – schon deshalb, weil zwischen Ende Mai und Mitte Oktober eine lange Konzertpause klaffte. Das Basler Streichquartett hatte die Saison 1917/18 der Allgemeinen Musikgesellschaft mit einem Zyklus beendet, der an sechs Abenden sämtliche Streichquartette von Beethoven zu Gehör brachte. Das Konzertjahr 1918/19 begann mit Kammermusik von Schubert und wurde mit einem Orchesterkonzert mit Werken von Schubert, Grieg, Jaques-Dalcroze, Franck und Berlioz eröffnet. Der Pulverdampf der Arbeiterunruhen hatte sich verzogen. ●
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Phoebe Lin und Katarzyna Nawrotek im Gespräch
«Du bist die Antithese eines Orchestermusikers» Phoebe Lin, stellvertretende Solo-Cellistin, und Katarzyna Nawrotek, Stimmführerin der 2. Violinen, unterhalten sich über ehrliche Porträts, Interior Design und Tom Waits. aufgezeichnet von Simone Staehelin
Katarzyna Nawrotek: Du hast mir einmal während einer Zugfahrt erzählt, wie du zur Musik gekommen bist. Du wusstest genau, was du wolltest, aber es war kein einfacher Weg für dich … Phoebe Lin: Ja, es war schwierig. In Taiwan hat klassische Musik keinen hohen Stellenwert. In der Schule sind Punkte und Noten viel wichtiger. Und die Art und Weise, wie in den Schulen Musik unterrichtet wird, widerstrebt mir. Es geht dabei nur um Noten, nicht um Kreativität. Du hast sehr früh mit dem Gedanken gespielt, nach Amerika zu gehen. Deine Eltern haben dich, soweit ich weiss, darin unterstützt, aber es war deine Idee, und du warst sehr jung, als du gegangen bist. Ja, ich war erst fünfzehn, als ich ausgewandert bin. Die – in einem negativen Sinn – wettbewerbsorientierte Musikausbildung in Taiwan deprimierte mich. Es war auch schwierig für meine Eltern. Sie hatten nie etwas mit Musik zu tun gehabt, und auf einmal war ich Teil dieser sehr kompetitiven Welt. Ich war nahe daran, mit dem Musikmachen aufzuhören. Einer meiner Freunde und mein Lehrer empfahlen mir dann, in die USA zu gehen, wegen der besseren Möglichkeiten im Bereich der klassischen Musik. Ich
habe viel darüber nachgedacht, und meine Eltern lies sen mich dabei völlig frei entscheiden. Du musstest dir dein Studium in Amerika auch selbst finanzieren. Wie hast du das gemacht? Meine Eltern haben mich in diesem Prozess sehr unterstützt. Aber es stimmt: Ich musste zuerst für das Probespiel nach Amerika, um zu sehen, ob die Lehrer mich überhaupt unterrichten würden. Und dann habe ich mich um ein Stipendium beworben. Im Vergleich zu meiner eigenen Ausbildung war das wirklich ein schwieriger Weg! Du weisst ja, wie die Schulen damals in Polen waren, überhaupt im Ostblock. Das frühe Fördern der Künste war glaube ich das einzig Gute an dem damaligen Regime. Im Kindergarten wurden Tests im Rhythmusklopfen und Singen veranstaltet, um die musikalisch begabten Kinder möglichst früh zu fördern. Es gab
Phoebe Lin wurde 1984 in Taiwan geboren. Ihr Studium hat sie hauptsächlich in den USA und dort u.a. an der Juilliard School absolviert. Seit 2012 lebt Phoebe Lin in Basel und ist stv. Solo-Cellistin beim SOB.
Bild : Jean-François Taillard
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Katarzyna Nawrotek und Phoebe Lin
Katarzyna Nawrotek wurde in Bytom (Polen) geboren und studierte in Katowice. 1991 ist sie mit ihrer Familie in die Schweiz ausgewandert und hat nach einer vierjährigen Kinderpause beim Sinfonieorchester Basel mit einer Tutti-Stelle angefangen. Sie war zwölf Jahre lang im Amati Quartett Zürich und spielt seit 2003 2. Violine Solo beim SOB.
Kommissionen, die uns Fünfjährige untersucht haben, um danach Empfehlungen abzugeben. In so einer Schule hast du dann alles bekommen, gratis, von der ersten Klasse an: Morgens gab es normalen Unterricht und nachmittags die Musikfächer. Zweimal pro Woche erhielten wir Instrumentalunterricht, und schon mit sechs Jahren haben wir Solfège und Musikgeschichte gelernt. Und das zwölf Jahre lang!
Und hast du selber entschieden, Geige zu spielen? Ja, ich habe mich schon früh für die Geige entschieden. Und wie gesagt, es war für mich ein einfacher Weg. Du hast dich zwar für das Cello entschieden, aber du machst ja auch noch viele andere spannende Sachen: Malen, Zeichnen, DJing … zeig mir dein iPhone (lacht). Da findet man keine Arien aus Hoffmans Erzählungen drauf, oder? Ja, du hast Recht. Ich habe einen Intensivkurs im DJing absolviert, weil ich wissen wollte, was die DJs an den Turntables eigentlich machen. Ich habe gelernt, wie die Maschinen funktionieren und wie man von einem Track zum nächsten kommt. Auf meinem iPhone habe ich ganz unterschiedliche Musik. Für mich gibt es nicht nur klassische Musik, darum mag ich unsere Cube Sessions auch so gern.
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Mir gefallen die Cube Sessions auch. Vielleicht sind sie für einige Kollegen etwas gewöhnungsbedürftig. Aber sie sind eine grosse Chance, nicht nur fürs Publikum, sondern auch für uns. Es bringt uns als Orchester näher zusammen. Man muss einfach offen sein dafür. Für mich bist du, Phoebe, die Antithese eines typischen Orchestermusikers. Du übst dich als DJ, spielst wunderschöne Soli, scheust dich aber auch nicht, mal im letzten Pult zu sitzen, trägst Jeans mit Löchern … Viele Leute haben Vorurteile gegenüber klassischen Musikern. Ich möchte gerne herausfinden, weshalb, und versuchen, diese zu ändern. Genau – das eine schliesst das andere nicht aus. Du malst ja auch oft Karikaturen von den Dirigenten, sehen die die? Bei manchen hoffe ich es nicht, bei den anderen ist es mir egal (lacht). Die Porträts, die ich zeichne, sind immer sehr ehrlich. Meistens kann man aus ihnen herauslesen, wie ich über die porträtierten Menschen denke. Aber eigentlich freue ich mich schon, wenn die Dirigenten die Zeichnungen sehen. Aber du, Kasia, machst ja auch noch mehr als nur Musik. Ich habe gehört, dass du diplomierte Innendekorateurin bist. Ja, das stimmt. Ich habe vor Kurzem ein Fernfachhochschulstudium in Innenarchitektur absolviert. Ich interessiere mich schon lange für Interior Design und wurde oft auch von Freunden um Rat gebeten. Als ich mit dem Studium angefangen habe, war ich bereits seit siebzehn Jahren im Orchester. Ich wollte einfach einmal etwas anderes machen, etwas, das nichts mit Musik zu tun hat. Im Moment mache ich nichts in dem Bereich, habe mir jedoch den Plan für meine umgebaute Wohnung selbst gezeichnet. Aber wer weiss, was in zwanzig Jahren ist ...
Ehrlich gesagt, hatte ich keine Ahnung, wo Basel überhaupt liegt, bevor ich zum Probespiel angereist bin. Ich habe zwei Jahre lang in Hamburg studiert, ein Praktikum absolviert und mich dann in Basel beworben. Und an diesem Tag hatte ich wohl einfach Glück, und ihr habt mich ins Orchester aufgenommen (lacht). Es war auch für uns ein Glück! Das war so beeindruckend: Innerhalb kurzer Zeit kamen viele neue, junge Leute ins Orchester. Am Anfang dachte ich mir: Die kennen sich ja schon alle! Ihr habt sehr schnell Freundschaften geschlossen, und es gab auf einmal eine ganz andere Vertrautheit im Orchester. Die Atmosphäre hat sich sehr verändert. Manchmal sehe ich meine älteren Kollegen und bin ganz begeistert, auf was für Sachen sie sich einlassen. Hörst du denn auch andere Musik ausser Klassik? Im Moment habe ich eine stille Phase und sage meinen Kindern, dass mein Lieblingsstück 4’33 von John Cage ist (lacht). Wir haben gerade so viel zu tun und spielen drei bis vier verschiedene Programme, da tut Ruhe gut. Die Stille ist genauso wichtig wie die Pausen in der Musik. Es ist ein Traum von mir, einmal wirklich stille, hustenfreie Pausen und Fermaten während eines Konzerts zu erleben. Wie hälst du es denn mit dem Musikhören? Du wolltest mir ja noch deine Tracklist zeigen … Bei mir gibt es fast gar keine klassische Musik zu Hause. Manchmal, wenn ich etwas Klassisches lernen muss, höre ich mir zu Hause das Stück an. Aber normalerweise höre ich gerne andere Stilrichtungen. Als ich auf der Highschool war, hörte ich Justin Timberlake, NSync und Britney Spears. Danach kam HipHop, Old School HipHop. Und elektronische Musik, auch Techno. Ich liebe Musik mit einem starken Beat, zu dem ich tanzen kann. Und auch ältere Musik.
Wie bist du denn überhaupt nach Basel gekommen? Kennst du Tom Waits? Ganz profan: über meine Familie. Ich war in Basel wegen meiner Familie und bin so zum Orchester gekommen. Wie war das bei dir?
Ähm … (lautes Lachen) Du kennst Tom Waits nicht? Den solltest du dir mal anhören! ●
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Vorschau mini.musik Beim Förster
Ein pulsierender Mix aus Klassik und Elektronik
Der Förster im Wald
In den viermal jährlich stattfindenden Cube Sessions in der Kuppel Basel treffen klassische und elektronische Musik aufeinander. In der Session #10 kommen Bachs Brandenburgische Konzerte Nr. 2 und Nr. 4 zur Aufführung. Die Band Amped & Wired führt Bachs Musik weiter, und es kommt zur explosiven Fusion. Das Konzert mündet in eine tanzbare Afterparty.
Im zweiten mini.musik-Konzert dieser Saison suchen Musikerinnen und Musiker des Sinfonieorchesters Basel nach dem höchsten und mächtigsten Baum. Der Förster hegt und pflegt den Wald und führt die Kinder durchs Dickicht zu einer Lichtung, wo sie die Geheimnisse des Waldes entdecken: Musik von Mozart, Brahms, Koechlin und Ligeti, gespielt auf Flöte, Horn, Violine und Klavier. Ein Konzert für Familien mit Geschichten und Tanz. Die Kinder sind aktiv ins Konzertgeschehen eingebunden. Mit Mitgliedern des SOB und Irena Müller-Brozovic (Konzept und Moderation) und Norbert Steinwarz (Choreografie und Tanz).
Bild : Kim Hoss
Bild : Benno Hunziker
Cube Session #10 Chasing Johann Sebastian
Donnerstag, 5. Februar 2015 21.00 Uhr, Kuppel Basel
Samstag, 7. Februar 2015 16.00 Uhr, Stadtcasino, Grosser Festsaal
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Agenda DI 03.02. 12.00–12.30
Punkt 12: Offene Orchesterprobe SOB / David Afkham
Stadtcasino, Musiksaal Eintritt frei
Mi 04.02. 19.30
Sinfoniekonzert SOB: Atmosphères György Ligeti: Atmosphères Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll, op. 37 Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 10 e-Moll, op. 93 SOB / Francesco Piemontesi / David Afkham
Stadtcasino, Musiksaal
DO 05.02. 21.00
Cube Session #10: Chasing Johann Sebastian Johann Sebastian Bach: Brandenburgische Konzerte Nr. 2 und Nr. 4 Mitglieder des SOB feat. Amped & Wired
Kuppel Basel VV: starticket.ch
SA 07.02. 16.00
mini.musik: Beim Förster Mitglieder des SOB
Stadtcasino, Grosser Festsaal
DO 12.02. 18.15
Cocktailkonzert: Salon de Cuivres Blechbläser des SOB / Robert Emery
Stadtcasino, Grosser Festsaal
MI 04.03. 19.30
Sinfoniekonzert SOB: Bruckner 4 Wolfgang Amadé Mozart: Sinfonie Nr. 34 C-Dur Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 4 Es-Dur, Romantische SOB / Stanisław Skrowaczewski
Stadtcasino, Musiksaal
DO 05.03.
Zu Gast in Strassburg Werke von Wolfgang Amadé Mozart und Anton Bruckner SOB / Stanisław Skrowaczewski
Palais de la Musique et des Congrès Strassburg
MI 11.03. DO 12.03. 19.30
Viertes Coop-/Volkssinfoniekonzert Werke von Wolfgang Amadé Mozart, Gioacchino Rossini und Ludwig van Beethoven SOB / Amira Elmadfa / Pietari Inkinen
Stadtcasino, Musiksaal
SA 14.03. 17.00
Schwarz auf Weiss: Echoes of the Jazz Age Musik von George Gershwin, Cole Porter und Erik Satie, Ausschnitte aus Tender is the night (englisch) von F. Scott Fitzgerald Mitglieder des SOB / Christian Sutter / Marissa Blair
Basler Papiermühle
SO 15.03. 17.00
Schwarz auf Weiss: Echos des Jazz Age Musik von George Gershwin, Cole Porter und Erik Satie, Ausschnitte aus Zärtlich ist die Nacht (deutsch) von F. Scott Fitzgerald Mitglieder des SOB / Christian Sutter
Basler Papiermühle
Vorverkauf ( falls nicht anders angegeben ) : Bider & Tanner, Ihr Kulturhaus mit Musik Wyler, Aeschenvorstadt 2, 4010 Basel, 061 206 99 96 Detaillierte Informationen und Online-Verkauf : www.sinfonieorchesterbasel.ch
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