5 minute read

von Simone Hutmacher-Oesch

Next Article
DEMNÄCHST

DEMNÄCHST

ZUR THEOLOGIE VON WEISSAGUNG UND ERFÜLLUNG 1

VON SIMONE HUTMACHER-OESCH Der von Elisabeth Speiser-Sarasin (1861−1938) verfasste Text besteht aus einer Zusammenstellung von Bibelversen, die von alttestamentlichen Weissagungen über die Ankunft des erhofften Messias und deren neutestamentlichen Erfüllung durch die Geburt Jesu sprechen. Der Text ist mit evangelischen Kirchengesängen sowie Melodien aus geistlichen Volksliedern ergänzt und verfügt über keine freie Dichtung.

Das Oratorium beginnt mit den ersten drei Versen aus dem alttestamentlichen Jesaja 60. Ein Prophet verheisst das «Licht» und die «Herrlichkeit des Herrn», welche die «Finsternis» der Erde und das «Dunkel» über den Völkern überwinden werden. Diese Heilsbotschaft wird aus christlicher Sicht sinnbildlich für die Geburt Jesu gedeutet. Ergänzt wird diese Bibelstelle mit der ersten Strophe des beliebten Adventslieds Macht hoch die Tür, das in Vorbereitung auf Weihnachten Jesus als Erlöser preist. Inhaltlich paraphrasiert diese Liedstrophe den zweiten Vers aus Jesaja 60, wo ebenfalls die «Herrlichkeit des Herrn» verheissen wird. Den Schluss der Strophe finden wir im Oratorium in einer leicht veränderten Fassung vor, in welcher es heisst: «gelobet sei Jesus Christ, der mein Erlöser ist». Diese Änderung weist auf die persönliche und unmittelbare Beziehung zu Jesus hin, der den Menschen von Unheil und Leid erlöst.

Im 2. Satz erfolgt die neutestamentliche Verkündigung durch die Engel nach dem Lukas-Evangelium: Die alttestamentliche Weissagung ist erfüllt, der Heiland ist geboren. Die Szene mit der Herberge und der Krippe in Bethlehem wird übersprungen, es setzt direkt die Verkündigung ein. Bereichert wird diese Stelle durch den Lobgesang Allein Gott in der Höh sei Ehr. Inhaltlich korrespondiert dessen Liedtext mit den Worten aus dem Lukas-Evangeli-

ARTIKEL um, wo es in 2, 14 heisst: «Ehre sei Gott in der Höh». Der ersten Liedstrophe liegt als Textvorlage der lateinische Hymnus Gloria in excelsis Deo zugrunde, der inhaltlich ebenfalls auf Lukas 2, 14 basiert. Das Gloria ist ein liturgischer Bestandteil des römisch-katholischen Messordinariums, in welchem es als zweiter Satz unmittelbar dem Kyrie folgt. Huber hat nicht versäumt, dieses GloriaMotiv als instrumentales Leitmotiv in diesem 2. Satz musikalisch zu verarbeiten. Hier erklingt es in den Hörnern zu Beginn des Allegretto pastorale zum ersten Mal.

Im 3. Satz führt die Weihnachtserzählung hin zu den Weisen aus dem Morgenland. Im 2. Kapitel des Matthäus-Evangeliums wird Jesus als König bezeichnet. Die Rede vom König korrespondiert wiederum mit dem anfänglichen Choral Macht hoch die Tür im 1. Satz, in welchem von einem «König aller Königreich» die Rede ist. Im Matthäus-Evangelium steht Joseph im Zentrum der Erzählung. Für den Text des Männerchors verwertet Huber eine Melodie, die auf den Weihnachtshymnus Resonet in laudibus aus dem 14. Jahrhundert zurückgeht und die vielfach bearbeitet wurde. So findet sich die Melodie auch im evangelischen Weihnachtslied Joseph, lieber Joseph mein, was wiederum in Hubers Werk als Anspielung auf Joseph als zentrale Figur gedeutet werden kann. Im 4. Satz wird erneut der messianische Herrscher prophezeit. Gleichzeitig schafft die Weissagung in Micha 5 einen Rückbezug auf diejenige in Jesaja 60 aus dem 1. Satz.

Die Sätze 1 bis 4 sind inhaltlich eher konventionell gehalten. Weit origineller zeigt sich die Textauswahl in den Sätzen 5 bis 9. Der 5. Satz führt weiter zum Brief des Apostel Paulus an die Galater sowie zum ersten Brief des Johannes. Gemeinsam ist den beiden Bibel-Passagen die Thematisierung der Gotteskindschaft. Gott wird als derjenige beschrieben, der sich in der Person des gesandten Sohnes liebevoll den Menschen zuwendet.

So auch im 6. Satz, in welchem das Wort im Zentrum steht: Gott hat sein Wort erfüllt, er wurde durch die Geburt zum Menschen. Hier wird die Menschwerdung Gottes nicht als eine naturgesetzliche Notwendigkeit verstanden, sondern als ein freier Akt der Barmherzigkeit.

SIMONE HUTMACHER-OESCH

23 Im 7. Satz wird auf den Glauben hingewiesen. Die Erfüllung der Weissagung, die im Geist gerechtfertigt und in der Welt geglaubt ist, wird hier nochmals bekräftigt. Die aus der Bergpredigt stammende Seligpreisung im 8. Satz zielt auf das reine Herz des Menschen. Das Wort ‹rein› ist nicht als rituelle Reinheit zu verstehen, sondern kann als das interpretiert werden, was dem menschlichen Herzen entspringt. Das Herz fasst den Menschen in seiner Ganzheit und in der Einheit von Leib und Seele zusammen. Huber vertonte die Seligpreisung unter Verwendung der Choralmelodie von Ich hab von Ferne, Herr deinen Thron erblickt. Der Text dieses Chorals geht auf ein Gedicht des evangelischen Theologen Johann Timotheus Hermes (1738−1821) zurück. Das lyrische Ich drückt seine Sehnsucht nach dem Thron Gottes aus, indem es bedauert: «Ich bin noch nicht genug gereinigt, oder ich bin schon selig, seitdem ich das entdeckt». Hier zeigt sich eine inhaltliche Verbindung zwischen dem Text dieses Gedichts und der Seligpreisung im 8. Satz von Hubers Oratorium. Im 9. und finalen Satz kommt es zur letzten Verheissung und endgültigen Erfüllung: «Siehe, ich mache alles neu». Auch dies lässt sich inhaltlich wieder auf die Heilsverheissung in Jesaja 60 zu Beginn des Oratoriums zurückführen. Der biblische Spannungsbogen der oratorischen Erzählung ist hiermit geschlossen. Doch das Oratorium ist noch nicht zu Ende: Zu guter Letzt lässt Huber den Knabenchor einsetzen, der in einem krönenden Schlussgesang die erste Strophe des evangelischen Chorals Jerusalem, du hochgebaute Stadt verkündet und so erneut einen theologischen Rückbezug zum Anfang des Oratoriums schafft. Jerusalem als die Stadt, die von Propheten und Theologen zum Ort der Begegnung Gottes mit seinem Volk verklärt und zum Gegenstand endzeitlicher Hoffnung gemacht wurde. Im Anschluss an die Lobpreisung lässt Huber das Oratorium mit dem GloriaMotiv instrumental ausklingen. Neben dem GloriaMotiv verwendet er zu Beginn des 9. Satzes jedoch auch ein musikalisches Credo-Motiv aus dem Kyriale Romanum, welches er mit Vers 21, 5 aus der Offenbarung verbindet. Der im apostolischen Glaubensbekenntnis vergewisserte Glaube an Gott bewahrheitet sich in der endgültigen

ARTIKEL neutestamentlichen Erfüllung der im Alten Testament verheissenen Worte.

Die im Oratorium in sich stimmigen und theologisch kohärenten Bibeltexte mit Einbezug von evangelischen Kirchen- und Volksliedern werden von Anfang bis Ende von einem theologischen Spannungsbogen umfasst. Das Werk ist Zeugnis fundierter Bibelkenntnisse seitens Elisabeth Speiser-Sarasin und ihrer durch protestantische Ethik geprägten Frömmigkeit. Der Text reflektiert zudem den frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund des grossbürgerlichen Umfelds der Verfasserin, in welchem neben der Bibel auch das Gesangbuch als wichtige Quelle für das spirituelle Leben diente.

Im Vergleich mit früher und zeitgleich entstandenen Weihnachtsoratorien anderer Komponisten sind die ersten 4 Sätze von Weissagung und Erfüllung mit Israels Erwartung des Messias, der Verkündigung der Geburt durch die Engel sowie der Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland theologisch konventionell gehalten. Die Sätze 5 bis 9 hingegen sind aufgrund der pietistisch zu deutenden Textauswahl singulär. Dennoch lassen sich auch in diesen Sätzen biblische Parallelen zu anderen Werken ausfindig machen, etwa in der Auswahl von Versen aus der Seligpreisung der Bergpredigt oder bei Zitaten aus der Offenbarung. Durch die Verwendung von evangelischen Bibelquellen und Kirchenliedern ist Weissagung und Erfüllung in seiner Grundaussage evangelisch gehalten. Allerdings hat der katholisch sozialisierte Komponist Hans Huber in seinem Werk nicht auf ‹Katholizismen› wie etwa das Gloria und das CredoMotiv verzichtet – was dem Werk einen Hauch von konfessionsübergreifender Ökumene verleihen mag.

This article is from: