Nr. 2 Saison 21/22 – Wildost

Page 1

WILDOST 20. OKT. 2021 19.30 UHR

STADTCASINO BASEL

PROGRA MM-MAGAZIN NR. 2 SAISON 21/22

Sinfonieorchester Basel Pablo Ferrández, Violoncello Krzysztof Urbański, Leitung


M i r j a M G i n s b e r G • f i n e a rT j e w e l l e ry

Kreativität ist für Mirjam Ginsberg ein Spiel mit Formen und Materialien. Mit ihrer Arbeit unterstreicht sie den naturgegebenen Charakter eines Edelsteines oder einer Perle und bringt so deren spezifischen Glanz zum Vorschein. Sie setzt ihre ganze handwerkliche Virtuosität ein, um das geheimnisvolle Lichtspiel eines Edelsteines hervorzuzaubern. Dieses soll etwas auslösen, das man als Glücksempfinden bezeichnen kann; so reflektiert das Schmuckstück im doppelten Sinne. Mirjam Ginsbergs Werke sind zeitlos und widerstehen den jeweiligen Modetendenzen.

„Eleganz ist die einzige Schönheit, die nie vergeht.“ Audrey Hepburn

G e r b e r G ä s s l e i n 1 6 • 4 0 5 1 ba s e l Telefon 061 261 51 10 • Mobile 076 370 65 00 w w w. g i n s b e r g j ew e l . c h


SINFONIEKONZERT

INH A LT

W ILDOST Liebes Konzertpublikum Gleich zwei Debütanten erwarten uns im 2. Abonnementskonzert: Der junge spanische Cellist Pablo Ferrández studierte bei der Russin Natalija Schachowskaja und gewann bereits diverse Preise bei renommierten Wettbewerben, unter anderem beim Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb. Nach Basel kommt er mit dem Cellokonzert von Witold Lutosławski, das dem legendären russischen Cellisten Mstislaw Rostropowitsch gewidmet ist. Dieser wiederum war ein enger Freund Paul Sachers. Es gibt einen Konzertfilm aus dem Jahr 1968, in welchem ‹Slawa› Rostropowitsch während der Aufführung des Cellokonzerts von Dvořák die Tränen kommen. Wenige Tage zuvor hatten sowjetische Panzer den Prager Frühling brutal beendet. Kurz darauf begann Lutosławski mit der Komposition seines Cellokonzerts, ­das man als Darstellung eines Zweikampfs zwischen Individuum und Gesellschaft (miss-)verstand. Der polnische Dirigent Krzysztof Urbański ist unser zweiter Debütant. Er gewann 2007 mit 25 Jahren den internatio­ nalen Dirigentenwettbewerb in Prag und war zuletzt Musikdirektor im amerika­n i­ schen Indianapolis. Urbański wird unter anderem Dvořáks 7. Sinfonie dirigieren, die erstaunlicherweise eher selten aufgeführt wird, obwohl sie zu den ganz starken Werken des böhmischen Komponisten gehört. Mehr erfahren Sie wie immer in unserem neuen Programm-Magazin. Viel Vergnügen bei der Lektüre wünschen Ihnen

Hans-Georg Hofmann Künstlerischer Direktor

Ivor Bolton Chefdirigent

PROGR A MM

5

WOJCIECH K IL A R Orawa für Streichorchester

6

IN TERV IE W Krzysztof Urbański, Leitung

10

W ITOLD LU TOSŁ AWSK I Konzert für Violoncello und Orchester 12 R A N DBEMER K U NGEN Z U LUTOSŁ AWSK IS CELLO­KONZERT von Simon Obert 14 IN TERV IE W Pablo Ferrández, Violoncello

16

A N TON ÍN DVOŘ Á K Sinfonie Nr. 7 d-Moll

22

ORTSGESCHICHTEN von Sigfried Schibli

24

VORGESTELLT Aleksander Uszynski, Viola

26

FR AGEN DE ZEICHEN von EGLEA

32

IN ENGLISH by Bart de Vries

34

V ER EIN ‹FR EU N DE SIN FON IEORCHESTER BASEL› 35 IM FOK US

36

DEMNÄCHST

38


VORV ER K AUF

© IGOR STUDIO

4

Pablo Ferrández, Solist in Lutosławskis Konzert für Violoncello und Orchester

VORV ER K AUF, PR EISE U ND INFOS VORV ER K AU F

Bider & Tanner – Ihr Kulturhaus in Basel Aeschenvorstadt 2, 4010 Basel +41 (0)61 206 99 96 ticket@biderundtanner.ch Billettkasse Stadtcasino Basel Steinenberg 14 / Tourist Info 4051 Basel +41 (0)61 226 36 00 Sinfonieorchester Basel +41 (0)61 272 25 25 ticket@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch Z UG Ä NGL ICHK EIT

Das Stadtcasino Basel ist rollstuhlgängig und mit einer Induktionsschleife versehen. Das Mitnehmen von Assistenzhunden ist erlaubt.

PR EISE

CHF 105/85/70/55/35 ER M ÄSSIGU NGEN

• Studierende, Schülerinnen und Schüler sowie Lernende: 50 % • AHV/IV: CHF 5 • KulturLegi: 50 % • Mit der Kundenkarte Bider & Tanner: CHF 5 • Begleitpersonen von Menschen mit Behinderung: Eintritt frei (Reservation über das Orchesterbüro)


PROGR A MM

5

W ILDOST Mi, 20. Okt. 2021, 19.30 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal

18.30 Uhr: Konzerteinführung mit Benjamin Herzog

Wojciech Kilar (1932−2013):

ca. 9’

Witold Lutosławski (1913−1994):

ca. 24’

Orawa für Streichorchester (1986) Konzert für Violoncello und Orchester (1969/70) PAUSE

Antonín Dvořák (1841−1904):

Sinfonie Nr. 7 d-Moll, op. 70 (1885)

ca. 35’

1. Allegro maestoso 2. Poco adagio 3. Scherzo. Vivace 4. Finale. Allegro

Sinfonieorchester Basel Pablo Ferrández, Violoncello Krzysztof Urbański, Leitung

Konzertende: ca. 21.15 Uhr


ZUM W ER K

WOJCIECH K IL A R Orawa für Streich­ orchester

­ ER NATUR D A BGEL AUSCHT

Tatra-Vorland des Podhale

6


WOJCI ECH K I L A R

7

© Wikimedia Commons

Z U M W ER K


Z U M W ER K

WOJCI ECH K I L A R

VON TIL M A N F ISCHER

und Krzysztof Penderecki auch zu den grossen ­polnischen Komponisten zeitgenössischer Musik. ­ Er komponierte Musik für Chor und Orches­ter, ­sinfonische Werke und Kammermusik. Nach einer avantgardistischen Phase in den 1950er-Jahren wandte er sich einer zugänglicheren Tonsprache zu und griff auf die ­unterschiedlichsten stilistischen Mittel zurück, ­ vom Neoklassizismus über den Konstruktivismus bis hin zu Folklore, neuromantischen Tönen und geistlicher Meditation.

Cineasten kennen seine Musik, auch wenn sie den Namen Wojciech Kilar noch nie gehört haben. In über 140 Filmen ist sie zu hören, darunter zahlreiche Arbeiten von Krzysztof Zanussi, Andrzej Wajda, Krzysztof Kieślowski, Jane Campion und Roman Polański. Für die Musik zu Francis Ford Coppolas Dracula (1992) erhielt er sogar einen Oscar. Dies war jedoch nur die eine Seite im Schaffen des 2013 verstorbenen polnischen Komponisten. 1932 in Lemberg geboren und in Kattowitz, Krakau und Paris ausgebildet, zählte er seit den 1960er-Jahren neben Henryk Górecki ­

8


Z U M W ER K

WOJCI ECH K I L A R

9

Orawa für Streichorchester BESETZ U NG

Streicher

ENTSTEHUNG

1986

U R AU F F Ü H RU NG

10. März 1986 in Zakopane mit dem Polish Chamber Orchestra unter der Leitung von Wojciech Michniewski

© Wikimedia Commons

DAU ER

ca. 9 Minuten

Wojciech Kilar (1932−2013)

Zu Kilars erfolgreichsten Stücken zählt das rund neunminütige Orawa für kleines Streichorchester von 1986. Es ist die vierte und letzte Komposition eines kleinen Karpaten-Zyklus, der die Landschaft des südpolnischen Hochlands, des Podhale, zum Gegenstand hat und sich mit dessen Musiktraditionen auseinandersetzt. Den Titel hat das Stück von der gleichnamigen Region und einem Fluss im Grenzgebiet zur Slowakei. «Diese wunderschöne ma­ lerische Landschaft befriedigt ganz bestimmt jeden Naturliebhaber durch ihre vielseitigen Schönheiten und touristischen Möglichkeiten», wirbt das slowakische Fremdenverkehrsbüro ganz profan für diese bergige und seenreiche Region in den Karpaten. Für Kilar war solche ­Naturschönheit indes immer auch eine Möglichkeit spiritueller Gotteserfahrung. Inspiriert wurde der Komponist ausserdem von der Musik der typischen Volksmusikgruppen dieser Berge. Entsprechend archaisch mutet das Stück an. Es basiert auf einer ständig wiederholten Phrase, die sich nur langsam verändert – darin der Minimal Music verwandt. Das ist ebenso hypnotisch wie unerbittlich, vor allem dort, wo das musikalische Geschehen dynamisch gesteigert wird und die 15 Streicher die Folklore-Gruppen, die in der ­Regel mit zwei Violinen und vielen Blechbläsern besetzt sind, imitieren. Neben die pentatonische Melodik treten Echoeffekte, wie

man sie aus den Bergen kennt. Die gelegentlich anklingenden Tänze und einfachen Liedmelodien werden stets von den dunklen Streichern bedrohlich grundiert, das Solo-Cello tritt mit wehmütigen Passagen hervor. Erst kurz vor dem Ende, nach einer Generalpause, verlangsamt sich das Tempo, und das Stück endet im «Hey!»-Ausruf des Orchesters. Die Uraufführung von Orawa am­ 10. März 1986 fand passenderweise vor Ort statt, im Kunstmuseum des kleinen Städtchens Zakopane am Fusse der Tatra. Der Komponist wurde anschliessend von einer Delegation aus Jabłonka mit einer tra­di­ tionellen Kopfbedeckung geehrt. Das pastorale Naturbild dieser Region avancierte in der Folge zu seiner erfolgreichsten Kom­ position und erfuhr zahlreiche Bearbeitungen, etwa für zwölf Saxofone, für Akkor­ deon-Trio, für acht Celli oder ­f ür Streichquartett. Der Komponist dürfte damit einverstanden gewesen sein. Orawa «ist eines der seltenen Beispiele», so Wojciech Kilar, «wo ich mit dem Ergebnis meiner Arbeit zufrieden war.»


INTERV IE W

KRZYSZTOF URBAŃSKI im Gespräch

10

M ATHEM ATIK U ND EMOTION

VON BENJA MI N HER ZOG

Geht es nach dem ­polnischen Dirigenten Krzysztof Urbański, so wird sich der mensch­ liche Geist und mit ihm das Hören weiterent­ wickeln. Die Sinfonien seines Landsmanns Witold Lutosławski könnten so dereinst ähnlich populär werden wie Beethovens Fünfte. Im Gespräch schwärmt Urbański von Lutosławskis Musik. Sie sei klingende Logik auf höchstem Niveau. BH Ich K U

erreiche Sie über eine italienische Mobilnummer. Warum? Ich lebe in Italien, am Comer See.

BH Oh,

wie schön. Neben dem Cellokonzert von Witold Lutosławski und Antonín Dvořáks 7. Sinfonie steht Orawa des polnischen Komponisten

Wojciech Kilar auf dem Programm. Wenn ich mir das Stück so anhöre, klingt das wie Minimal Music. War Kilar der polnische Steve Reich? K U Was dieses Stück betrifft, sicher ja. Aber Kilar war ein sehr abwechslungs­ reicher Komponist. Er hat grosse Sinfonik, Chorwerke, aber auch Filmmusik ­geschrieben. Etwa für The Portrait of a Lady von Jane Campion. Eine wundervolle Partitur. Was für mich Kilars Musik so speziell macht, ist, dass sie so ehrlich ist. BH Sie

sagen ehrlich? Gibt es denn unehrliche Musik? K U Ja, sehr viel sogar. Aber in Orawa ist eine ganz reine Energie zu hören, die jeden Hörer anspricht. Darum wollte ich das Stück unbedingt dirigieren, auch wenn es vielleicht eine von Kilars einfacheren Partituren ist. Er sagte mir einmal, dass sogar das einfachste Stück heilig sein könne. Kilar war ein sehr religiöser Mensch. Seine Musik kommt direkt aus dem Herzen. Überall auf der Welt, wo ich das Stück vorstelle, reagieren die Menschen positiv. BH Sie

waren bis letzte Saison Music Director in Indianapolis. Zehn Jahre lang. Indianapolis, eines der grossen Sinfonieorchester der USA, hat auch einen ‹Pops Conductor›, was ist das? K U Fast jedes amerikanische Orchester hat einen solchen Dirigenten. Der diri-


I N T ERV I E W

K R Z YSZ TOF U R BA ŃSK I

11

giert Filmmusik, populäre amerikanische Musik, oder man lädt einen Broadwaystar zu diesen Konzerten ein. Sie solche Pops-Konzerte auch europäischen Orchestern empfehlen? Manche machen das ja bereits ... K U Da in Europa die Orchester von der öffentlichen Hand finanziert werden, müssen sie nicht zwingend solche Konzerte spielen. In den USA, wo die Klassik nicht dieselbe Rolle spielt, dienen sie haupt­ sächlich dazu, die Orchester finanziell zu unterstützen. könnte mir vorstellen, dass die Hörer und Hörerinnen, wenn sie in einem Pops-Konzert ein Sinfonie­ orchester spielen gehört haben, vielleicht eher auch in ein klassisches Konzert gehen. Funktioniert dieser Transfer? K U Es ist einer von vielen Wegen, ein neues Publikum anzusprechen.

© Caroline Doutre

BH Würden

BH Ich

BH Sie

sind Erster Gastdirigent beim NDR Elbphilharmonie Orchester, waren künstlerischer Leiter des Sinfonieorchesters Trondheim, dirigier­ ten oft das Tokyo Symphony Orchestra. Kritische Stimmen sagen, dass sich die Orchester immer ähnlicher werden. K U Das stimmt. Das ist die Globalisierung. Der Unterschied im Klang war auch schon mal grösser. BH Sie

haben am Warschauer ChopinKonservatorium studiert. Ist Chopin immer noch der polnische Nationalheilige, was Musik betrifft? K U Sicher, seine Musik ist wundervoll, brillant. Da spielt seine Biografie überhaupt keine Rolle. BH Bleiben

wir bei den Heroen polnischer Musik. Richtig, wenn ich nach Chopin aufzähle: Karol Szymanowski, Witold Lutosławski, Krzysztof Pen­ derecki? K U Ich würde die Reihenfolge abändern und Witold Lutosławski an erster Stelle nennen, gleich nach Chopin. BH Warum?

Er ist für mich einer der fünf weltweit wichtigsten Komponisten des 20. Jahr­ hunderts. KU

BH

Zusammen mit …? Strawinsky, Schostakowitsch, Bartók und Prokofjew. Es ist ja nicht einfach, im späten 20. Jahrhundert zumindest, eine eigene Stimme zu finden, etwas, das wiedererkennbar ist. Viel wurde ja bereits geschrieben. Lutosławski ist diese Unverwechselbarkeit gelungen. KU

BH Diese

Klarheit bei einer gleichzeitig sehr reichen Palette an Klängen. So etwa? K U Genau. Wenn man Lutosławskis Partituren analysiert, so sieht man, wie er die mathematische Logik der Musik, diesen Code in zwölf Tönen, auf ihr höchstes Niveau gebracht hat. Und wie er es zugleich geschafft hat, unglaublich viele Gefühle in diese Logik hineinzubringen. Unsere Ohren haben sich an Mozart gewöhnt, an Beethoven. Und sie werden sich eines Tages auch an Lutosławski gewöhnen. Der menschliche Geist wird sich dahin entwickeln, diese komplexeren Klänge zu verstehen und zu geniessen. BH Die

Basler Paul Sacher Stiftung hat eine wichtige Lutosławski-Sammlung. Werden Sie sie aufsuchen? K U Ja. Ich habe zwar schon viel Lutos­ ławski dirigiert, und seine Partituren sind exakt. Aber doch bleiben einige Fragen, von denen ich mir eine Antwort aus Basel erhoffe.


ZUM W ER K

WITOLD LUTOSŁAWSKI Konzert für Violoncello und Orchester

12

A BSTR A K TES ODER POLITISCHES THEATER?

VON J Ü RGEN OSTM A N N

Über die politische Deutung von Lutosławskis Cellokonzert, das Züge eines Theaterstücks trägt, und den Konflikt zwischen Solo-Cello und Orchester. Wie kaum ein anderes Werk der Zeit wurde Witold Lutosławskis Cellokonzert von der Musiköffentlichkeit als politisches Bekenntnis verstanden. Das lag nahe, denn die Arbeit an dem Stück begann der polnische Komponist 1969. Im Vorjahr hatten sowjetische Panzer den ‹Prager Frühling› beendet, und 1970, im Jahr der Urauf­ führung des Konzerts, schrieb dessen Widmungsträger, der Cellist Mstislaw Rostropowitsch, einen offenen Brief an die grossen sowjetischen Zeitungen. Er setzte sich darin für den Schriftsteller und Dissidenten Alexander Solschenizyn ein und protestierte gegen die staatliche Kulturpolitik. Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund liess sich das Cellokonzert als Darstellung eines Gegensatzes deuten, nämlich des Gegensatzes zwischen einem streng organisierten Kollektiv (dem Orchester) und dem nach seinen autonomen

Möglichkeiten suchenden Individuum (dem Solisten). Dass Lutosławski sich heftig, ja fast schon überempfindlich gegen jede aussermusikalische Interpretation seines Werks wehrte, änderte nichts da­ran: Das Konzert galt im Westen als subversive Aktion gegen ein totalitäres System. Der Komponist, so hiess es, könne seine wahren Absichten nun einmal nicht öffentlich äussern. Und selbst wenn er keine programmatische Aussage gewollt habe, sei sie doch – ‹objektiv› – in dem Stück enthalten. Tatsächlich spricht auch einiges für die politische Deutung. Wie Lutosławski in einem Interview bemerkte, trägt das Cellokonzert Züge eines Theaterstücks. Eindeutig wird hier ein Konflikt ausgetragen, «das Orchester ist ein Faktor, der interveniert, unterbricht oder auch beinahe stört. Dann folgen ‹Verständigungsversuche› – Dialoge. Aber auch diese werden wieder durch eine Gruppe von Blechblasinstrumenten unterbrochen, denen in dem Werk die ‹Interventionsfunktion› zufällt.» Rein musikalisch betrachtet, fügt sich Lutosławskis Konzert bruchlos in die Tradition der Gattung. Zwar sind die Formen der einzelnen Werkteile durchaus neuartig, doch der Gesamtablauf entspricht dem eines herkömmlichen Solokonzerts, dessen drei Sätze (schnell, langsam, schnell) lediglich um eine kadenz­ artige Einleitung erweitert sind. Die Teile


W I TOL D LU TOSŁ AWSK I

13

© Wikimedia Commons

Z U M W ER K

gehen ohne Pause ineinander über und sind auch nicht durch Satztitel kenntlich gemacht, aber durch ihre unterschiedliche Faktur leicht zu erkennen. Die Introduktion bleibt dem SoloCello vorbehalten: Zu Anfang und später noch häufiger wiederholt es den Ton D auf der leeren Saite – ausdruckslos, gleichgültig, vollkommen entspannt. Diese Phasen der ‹Selbstvergessenheit› wechseln sich jedoch abrupt ab mit solchen der Konzentration. Verschiedene Charaktere, in der Partitur als grazioso, un poco buffo ma con eleganza oder marziale bezeichnet, deuten sich an, werden aber nicht weiterverfolgt. Eine erste ‹Intervention› der Trompeten leitet den folgenden bewegten Satz ein; Lutosławski gab ihm in einem Brief an Rostropowitsch den Titel Vier Episoden. Immer heftiger prallen die Gegensätze aufeinander: Hier die spielerisch-fantasievollen Aktivitäten des Solisten und einiger zum Dialog eingeladener Instrumente. Dort die straff verwalteten Klänge des Orchesters, durch die ernsten oder gar «ärgerlichen» (so Lutosławski) Interventionen der Blechbläser erzwungen. Der Antagonismus scheint überwunden in der langsamen, ausdrucksvollen Kantilene. Die lang gezogenen Melodielinien des Solo-Cellos werden hier zunächst von den Kontrabässen mit ihrem tiefsten Ton (E) begleitet, dann von komplexen Ak­ korden der in Einzelstimmen geteilten Streicher. Eine Intervention des gesamten Orchesters beendet diesen Abschnitt jedoch, und das Finale nimmt die Konfrontation wieder auf. Diese treibt den Solisten schliesslich zu klagenden, winselnden Klän­gen, mit denen das Konzert enden könnte – die Übermacht des Orchesters hätte sich dann durchgesetzt. Ein wenig überraschend schliesst sich aber noch eine kurze, lebhafte Coda an. Sollte am Ende doch der Solist, das Individuum, triumphieren? Lutosławski erklärte die Stelle anders: «Denken wir uns, das Licht auf der Bühne ist erloschen, und vor dem Vorhang wird ein Kommentar zum Theaterstück gegeben.»

Witold Lutosławski (1913−1994)

Witold Lutosławski wurde 1913 in Warschau geboren und verbrachte sein ganzes Leben bis zu seinem Tod 1994 dort. Er lernte Klavier und Violine spielen und begann bereits im Alter von fünf Jahren zu improvisieren, schrieb mit neun Jahren seine erste Komposition und studierte mit fünfzehn Jahren Komponieren. Nach dem Überfall Hitlers auf Polen wurde er von den Deutschen verfolgt, schlug sich im Untergrund als Barpianist und Musik­ lehrer durch, wurde nach 1948 vom kommunistischen Regime als formalistisch verurteilt und war Mitbegründer des ‹Warschauer Herbstes› (grösstes polnisches Festival für zeitgenössische Musik in ­Po­len). Lutosławski entwickelte einen Stil, der modern und zugänglich zugleich wirkt. Konzert für Violoncello und Orchester BESETZUNG

3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug, Celesta, Klavier, Harfe und Streicher ENTSTEHUNG

Juli 1970

UR AUFFÜHRUNG

14. Oktober 1970 in London mit dem Bournemouth Symphony Orchestra unter der Leitung von Edward Downes, mit Mstislaw Rostropowitsch als Solist WIDMUNG

Mstislaw Rostropowitsch DAUER

ca. 24 Minuten


ZUM W ER K

R A NDBEMER K U NGEN ZU LU TOSŁ AWSK IS CELLO­K ONZERT

14

SK IZZE – PA RTICELL – PA RTITUR VON SI MON OBERT, PAU L SACHER STIF T U NG

Wie bei vielen Komponisten, so lässt sich auch im Schaffensprozess von Witold Lutosławski eine relativ klare Dreiteilung feststellen: Zunächst werden Gedanken und Ideen gesammelt (und auch wieder verworfen). Sodann folgt eine Phase, in der das Material in einen Verlaufszusammenhang gebracht wird. Daran schliesst sich die detaillierte Fixierung dessen an, was bei einer Aufführung erklingen soll. Gewiss weisen diese drei Phasen keine festen Grenzen auf – die Übergänge sind fliessend, in beide Richtungen. Es ist ein offener Prozess, der zwar ein Ziel, aber keinen vorgefertigten Weg hat. Lutosławski selbst hat einmal diese Offenheit zum Ausdruck gebracht, indem er den Schaffensprozess mit zwei gegensätzlichen Bildern verglich: Zu komponieren sei für ihn wie der Flug über eine Stadt, der allmählich an Höhe verliere, sodass immer mehr ­Details erkennbar werden. Andererseits beginne er auch häufig ein Werk ‹am Boden› mit Einzelheiten und erarbeite sich da­raufhin einen Überblick. Im Kompositionsprozess dennoch eine gewisse Ordnung zu erkennen, rechtfertigt sich aus den unterschiedlichen Manuskripttypen, die dabei entstehen: In Skizzen werden Ideen festgehalten, im Particell wird der musi­k alische Verlauf in einer Art reduzierter Partitur notiert, welche schliesslich, in ausgeschriebener Form, die Klanggestalt darlegt. Dieser Prozess lässt sich auch anhand der Materialien beobachten, die bei der Arbeit am Konzert für Violoncello und

Orchester entstanden sind. Das sei an einem kleinen Detail verdeutlicht: Unter den Skizzen findet sich ein Blatt (Abb. 1), auf dem Lutosławski mehrere Einzelideen festhielt. Oben in der Mitte ist eine einfache Entwicklung notiert – zwei, drei, vier Impulse –, die fortzusetzen ist («etc»). Im Particell (Abb. 2) findet sich diese Idee in einen Verlauf eingefügt: Sie tritt, im Klavier («pf.», erkennbar in der Mitte des Blatts), zur langen Linie des Cellos hinzu. In der Partiturreinschrift (Abb. 3) ist die ent­sprechende Stelle detailliert ausnotiert. Diese Stelle im vierten Abschnitt des Werks ist stark geprägt vom wechselseitigen Ineinandergreifen unterschiedlicher Klanggruppen (Soli, Ensembles, Tutti) und Gestalten (Blöcke, Linien). Innerhalb dieser Gestaltung spielt die erwähnte Figur eine formdramaturgische Rolle. Sie kon­ trapunktiert einerseits die lange Linie des Cellos, andererseits leitet sie im weiteren Verlauf eine Entwicklung ein: Der Impulszunahme schliesst sich ein Crescendo von Pauken und Tom-Toms an, das in einen scharfen Blechbläser-Akkord mündet, der die Cellolinie unterbricht. Auch wenn es in solcher Beschreibung scheint, als habe sich die Stelle aus einer losen Idee über ihre Anordnung hin zu einem formdramaturgischen Bestandteil entwickelt, ist Vorbehalt angebracht. Denn Skizze, Particell und Partitur zeigen lediglich, was ein Komponist festgehalten hat. Ob aber Lutosławski bereits zu Beginn der Arbeit eine solche Formkonzeption im Kopf hatte und daraufhin die umzusetzenden Details (er-)fand, geht aus den Manuskripten nicht hervor.


R A N DBEM ER K U NGEN

15

© Sammlung Witold Lutosławski, Paul Sacher Stiftung, Basel

Z U M W ER K

Witold Lutosławski: Konzert für Violoncello und Orchester (1969/70) Abb. 1: Skizze, Abb. 2: Particell, Abb. 3: Partitur


INTERV IE W

PA BLO FER R Á NDEZ im Gespräch

16

PA BLO FERR Á NDEZ IM GESPR ÄCH

VON CHR ISTA SIG G

Er ist Spanier mit einem Faible für russische Musik – was Pablo Ferrández keineswegs daran hindert, auch in anderen Gefilden zu wildern. Witold Lutosławskis Cellokonzert ist so ein Projekt, das den Dreissigjährigen lange schon fasziniert. Mit dem ­Sinfonieorchester Basel hat er nun endlich die ­Gelegenheit, dieses Schwergewicht live aufzuführen. Ein Gespräch ­über Kraft und Klang, Diven und Helden.

Pablo, wie Sie zu Ihrem Namen ­gekommen sind, könnte man nicht besser erfinden. PF Aber es stimmt wirklich! Mein Vater hat als Student ständig nur eine Platte gehört: Pablo Casals mit Dvořáks Cellokonzert. Papá war so begeistert, dass er alles hinwarf und begann, Cello zu lernen. Aus ihm ist sogar ein Berufsmusiker geworden. Als ich dann 1991 geboren wurde, kam für meine Eltern natürlich nur der Name Pablo infrage. CS

Damit war dann wohl auch der Beruf vorgegeben. Wobei Pablo Picasso ... PF Keine Chance. Ich bekam mit drei Jahren ein Cello in die Hand, das war immer da und ist ein Teil von mir geworden. Es fiel mir aber auch leicht, ich war gut, deshalb gab es nie die Überlegung, etwas anderes zu machen. Wobei ich auch gerne Klavier spiele. CS

CS Ist

der Name Pablo für einen Cellisten nicht eine grosse Bürde? PF Das habe ich nie so empfunden. ­Pablo Casals ist der Grossvater aller Cellisten und so überragend, dass ich nicht im Traum auf die Idee käme, mich mit ihm zu vergleichen. CS

Sie spielen ein Stradivari-Cello. Sind solche Instrumente wirklich so divenhaft, wie es immer heisst?


PA BLO F ER R Á N DEZ

Ich kann nicht widersprechen! Pablo Casals hat es deshalb abgelehnt, ein historisches Instrument zu spielen.

CS

17

© IGOR STUDIO

I N T ERV I E W

PF

«Wenn man sich nicht bedingungslos auf das Instrument einlässt, klingt es nicht gut.» Mussten Sie Ihre Spielweise verändern? PF Sehr sogar. Man muss bei diesen fantastischen alten Instrumenten grosse Kompromisse eingehen, dazu ist nicht jeder bereit. Das Cello von Stradivari, das mir die Nippon Foundation zur Verfügung stellt, halte ich für eines der besten der Welt. Wenn man sich nicht bedingungslos auf das Instrument einlässt, klingt es nicht gut. Ich habe mindestens ein Jahr gebraucht, um mit meiner Diva klarzukommen. Jetzt spielen wir sieben Jahre zusammen, und ich meine, es passt für beide Seiten.

Die Mensur dieses Cellos ist ziemlich gross, brauchen Sie besonders viel Kraft? PF Über die Kraft allein kommt man nicht weiter. Man darf nicht pressen, auf keinen Fall forcieren, andernfalls wird der Klang dünn. Es geht vielmehr darum, eine Balance zu finden: mit Kraft, aber in der richtigen Dosierung. Und wenn man diesen Punkt trifft, hat das Cello einen grossen, kraftvollen Klang.

CS

«Ich kam mir vor wie ein Schwamm, der alles aufsaugt, speziell die russische Musik.» Gregor Piatigorsky hat Ihren Stradi­ varius ‹Lord Aylesford› aus dem Jahr 1696 gespielt. Was verbindet Sie noch mit der russischen Musikkultur? PF Seit meinem 13. Lebensjahr spielt sie eine entscheidende Rolle. Das hat mit meiner Lehrerin Natalija Schachowskaja zu CS


I N T ERV I E W

PA BLO F ER R Á N DEZ

tun. Sie ist eine Schülerin von Mstislaw Rostropowitsch und hat mich sieben Jahre lang an der Escuela Superior de Música Reina Sofía unterrichtet. Ich kam mir vor wie ein Schwamm, der alles aufsaugt, speziell die russische Musik. Und Natalija hat mir diese Sprache, diesen Ausdruck beigebracht. Ich spreche kein Russisch, aber die russische Musiksprache.

man die Zeit betrachtet, die politischen Umstände, dann liegt das auf der Hand.

In Basel spielen Sie das Cellokonzert von Witold Lutosławski, das mit einem kuriosen, fast fünf Minuten langen Solo beginnt. PF Ich spiele ganz simple Striche auf der D-Saite. Dieser Einstieg ist in seiner Einfachheit genial, niemand hat vor Lutosławski so etwas komponiert: Man ist als Solist vollkommen auf sich gestellt und muss sich entscheiden, was man ausdrücken möchte. Im Vergleich zu anderen Stücken ist die Freiheit also sehr gross. In den ersten fünf Minuten wird für mich die Zeit hörbar. Genauso kann sich in diesen Strichen Schmerz ausdrücken, Herzschläge.

Triumphiert das Cello am Ende wirklich? PF Diese Entscheidung muss das Publikum treffen. Es entsteht ein ganz seltener, intensiver Klang, den man unterschiedlich deuten kann. CS

CS

«Das Cello wird ­ immer wieder radikal unterbrochen, die Bläser fallen ihm quasi ins Wort. Es fühlt sich an, als hätte man die ganze Welt gegen sich.» Ausser dem ersten Cellokonzert von Schostakowitsch gibt es kaum ein anderes Solokonzert mit diesem starken Gegensatz von Individuum und bedrohlicher Masse. PF Für mich ist das ein Kampf mit einer ganz existenziellen Tragweite. Das Cello wird immer wieder radikal unterbrochen, die Bläser fallen ihm quasi ins Wort. Es fühlt sich an, als hätte man die ganze Welt gegen sich. CS

Man denkt unwillkürlich an einen politischen Konflikt, an eine extreme Bedrängnis. PF Das kann man sicher so sehen. Das Konzert wurde 1970 von Mstislaw ­Rostropowitsch uraufgeführt, und wenn CS

18

«An manchen Stellen meint man, das Cello würde weinen und schluchzen.» Das Stück ist wahrscheinlich auch wegen der Vierteltöne schwer zu spielen. PF Es geht nicht darum, den exakten Viertelton zu treffen, aber dadurch wird der Klang äusserst expressiv. In diesem Stück begegnen mir tatsächlich Töne, die ich nie zuvor gespielt habe. An manchen Stellen meint man, das Cello würde weinen und schluchzen. Es ist unbeschreiblich, was Lutosławski an Klängen und Ausdrucksformen gefunden hat. CS

Pablo, Sie sind auf Instagram sehr aktiv, haben fast 100.000 Follower, die Sie beim Üben sehen können. Was posten Sie zu Lutosławski? PF Von diesem Konzert geht eine unfassbare Energie aus – das Basler Publikum wird vibrieren. CS


5/6/9/12 SEPTEMBER &8 NOVEMBER 2021

FESTIVAL

IM STADTCASINO BASEL TANZ / JAZZ / CHÖRE /  IMPRO / FAMILIENKONZERT ofsb.ch


Ab sofort im Handel erhältlich oder unter www.sinfonieorchesterbasel.ch


Auf CD oder Vinyl: Die ganze Welt der Klassik gibts im Basler Kulturhaus.

mbgrafik.ch

Klassik gehört bei uns zum guten Ton. Wir Basel.

Bücher | Musik | Tickets Aeschenvorstadt 2 | CH-4010 Basel www.biderundtanner.ch

220x280+3mm_BiderTanner_Klassik.indd 1

24.04.20 09:08


ZUM W ER K

22 A NTONÍN DVOŘ Á K Sinfonie Nr. 7 d-Moll, op. 70

DAS STA RK E STÜCK: SINFONIE NR. 7

VON BER N H A R D N EU HOF F

Jeder Böhme ein Musikant – so heisst ein altes Sprichwort, und AntonÍn Dvořák scheint der Beweis zu ­ sein für die urwüchsige Musikalität der Tschechen. Der Sohn eines Dorfmetzgers lernte als Junge nicht nur, wie man Schafe und Ochsen kauft, schlachtet und fachgerecht abhäutet, sondern auch, wie man Geige spielt. Sofort fiedelte er in der Dorfkapelle mit, er arbeitete sich hoch als Orchesterbratscher – und wurde zu einem der berühmtesten Komponisten seiner Zeit.

Dvořák, der Erzmusikant, unreflektiert, gefühlvoll und immer sprudelnd von Melo­dien: So haben ihn schon die Zeit­ genossen gesehen. Zum Beispiel Eduard Hanslick, der Kritikerpapst im Wien ­des 19.  Jahrhunderts: «Naivität heisst der scheinbar so harmlose, in Wahrheit so mächtige Zauber, welcher diesem Kom­ ponisten innewohnt. Freuen wir uns, in unserer reflectierten Zeit noch einem naiv empfindenden, fröhlich schaffenden Talent wie Dvořák zu begegnen!» FA IBL E F Ü R DA MPF LOKOMOTI V EN

Auch mit seiner Biografie scheint Dvořák dieses hartnäckige Klischee vom böhmischen Musikanten zu bestätigen. Trotz seiner Erfolge blieb er nach aussen hin immer ganz der bescheidene, gutmütige, treu sorgende Familienvater. Der einzige Spleen, den er sich leistete, war seine Begeisterung für Dampflokomotiven: Wenn er sich vom Komponieren erholen wollte, ging er zum Bahnhof, um mit Lokomotivführern zu fachsimpeln. Ansonsten: keine Eskapaden, keine Exzentrik, keine literarischen Ambitionen. «Über dem Schreibtisch habe ich ein Bild von Papa Beethoven hängen, auf welches ich oft beim Komponieren blicke, damit er im Himmel ein gutes Wort für mich einlegt.» So schreibt er, ansonsten vertraut er darauf: «Der ­liebe Gott wird mir schon auch einige ­Melodien zuflüstern.»


Z U M W ER K

A N TON Í N DVOŘ Á K 23

HOCH KONZ EN TR IERTE SI N FON IK

«Meine Symphonie soll so ausfallen, dass sie die Welt bewegt» – nichts weniger! Am 22. April 1885 wird die Siebte in London uraufgeführt – und bejubelt. «Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich die Engländer ehren! Überall wird über mich geschrieben und man sagt, ich sei der Löwe der heurigen Musiksaison in London.»

Ein komponierender Naturbursche? Unsinn. Wer einen andern Dvořák kennenlernen will, muss nur die 7. Sinfonie in d-Moll hören. Herb und melancholisch ­ wirkt diese Musik, dabei kompakt und streng. Keine überflüssige Note gibt es hier, jedes Motiv wird durchgearbeitet, jede Nebenstimme hat etwas zu sagen. Keine Frage: Das ist keine gemütliche Schrammelmusik aus der böhmischen Dorfschänke, sondern hoch konzentrierte Sinfonik aus dem Geist von Beethoven und Brahms. DEN GEDA N K EN GU T AUSF Ü HR EN

Der liebe Gott hat ihm also tatsächlich ein paar Melodien zugeflüstert, aber damit hat es Dvořák nicht bewenden lassen. Seinen Schülern schärfte er ein: «Einen schönen Gedanken zu haben, ist nichts Besonderes. Der Einfall kommt von selbst und wenn er schön ist, dann ist das nicht das Verdienst des Menschen. Aber den Gedanken gut auszuführen und etwas Grosses aus ihm zu schaffen, das ist das Schwerste, das ist – Kunst!»

EI N E GE WAGTE SY N THESE

Dvořáks Wirkung war von Anfang an ­i nternational. Die Briten, die Amerikaner, vor allem aber die Deutschen und Österreicher verstanden seine Musik unmittelbar. Denn ihr Geheimnis ist nicht die ­angebliche Naivität des böhmischen Erzmusikanten, sondern eine gelungene Mischung, eine gewagte Synthese. Auch in der 7. Sinfonie lässt er sich von der grossen Tradition der deutsch-österreichischen Sinfonik mindestens ebenso inspirieren wie von der tschechischen Volksmusik. So gesehen war Dvořák weit mehr als ein ­böhmischer Musikant: Er war, ohne dass er gross darüber nachgedacht hätte, ein guter Europäer. Dieser Beitrag entstand 2019 für BR-K L ASSIK .

DER LÖW E DER SA ISON

Tatsächlich wollte Dvořák mit seiner ­7. Sin­ fonie beweisen, dass er weit mehr zu bieten hatte als stimmungsvolles Lokalkolorit. Sinfonie Nr. 7 d-Moll, op. 70 BESETZUNG

2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauke und Streicher ENTSTEHUNG

1885

UR AUFFÜHRUNG

22. April 1885 in London mit dem London Philharmonic Orchestra unter der Leitung des Komponisten

© akg-images / A lbum

DAUER

AntonÍn Dvořák (1841−1904)

ca. 35 Minuten


ORTSGESCHICHTEN

24

GEHEIMNISVOLLES SCHLESIEN

VON SIGF R IED SCHIBL I

Wenn vom Musikleben in Polen die Rede ist, so fällt in der Regel rasch der Name der Hauptstadt Warschau. In der Tat: Das Festival ‹Warschauer Herbst› mit seinen zahlreichen Uraufführungen und der Chopin-Wettbewerb, der so viele bedeutende Pianistinnen und Pianisten ans Licht der Öffentlichkeit gebracht hat, das sind Leuchttürme im internationalen Musikleben. Aus Warschau stammte der Komponist Witold Lutosławski, dessen Cellokonzert im Zentrum des heutigen Programms steht. Aber Warschau ist nicht Polen. Neben der Hauptstadt kommt einigen

­ nderen polnischen Städa ten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die neuere Musik zu. So hat der im letzten Jahr verstorbene Krzysztof Penderecki in Krakau gelebt, gewirkt und dort einen riesigen Park angelegt, ein ‹Arboretum› mit rund 1700 unterschiedlichen Baumsorten auf einem Areal von dreissig Hektaren. In Krakau und in Rzeszów hat auch Wojciech Kilar studiert, der überaus fruchtbare Filmmusik-Komponist, dessen attraktive Streicherkomposition Orawa unser Konzertprogramm eröffnet. Massgebend für den Lebensweg ­K ilars war indes eine andere polnische Stadt: Katowice (Kattowitz). Dort hatte der junge Kilar in den frühen 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts Klavier und Komposition studiert, dorthin kehrte er nach einem Aufbaustudium in Krakau zurück, von dort aus unternahm er seine zahlreichen Reisen, dort fand er seine Wahlheimat. Und in Katowice ist Kilar 2013 auch gestorben. Was hat ihn wohl so lange in der oberschlesischen Bergbauregion gehalten? Vielleicht war es gerade der Kontrast zu Warschau und zu den pulsierenden Weltstädten der Musik – Kilar hatte unter anderem bei Nadia Boulanger in


GEH EI M N ISVOL L ES SCH L ESI EN

25

© Wikimedia Commons

ORTSGESCH ICH T EN

Katowice (Kattowitz), Polen

Paris studiert und kannte die Neue-­MusikSzene in Polen und Deutschland gut. Aber als beschauliches Nest darf man sich die rund achtzig Kilometer nordwestlich von Krakau liegende Stadt nicht vorstellen. Sie ist vielmehr ein traditionelles Zentrum der Bergbau- und Schwerindustrie mit heute rund 300 000 Einwohnern. Wer Kilars unentwegt pulsierendes Streicherstück Orawa als musikalischen Spiegel dieser Region hören will, kann darin sehr wohl ein Echo industrieller Produktion erkennen. Katowice ist ein geschichtsträchtiger Ort: Die Stadt auf einer Hochebene im Süden der Republik Polen gehörte im späteren 18. Jahrhundert zu Preussen und war von 1871 an Teil des Deutschen Kaiserreichs. Sie fiel 1921 an Polen, wurde aber nach der deutschen Besetzung von 1939 Hauptstadt des Gaus Oberschlesien. Als die Rote Armee die Stadt im Januar 1945 besetzte, wurden Teile der als deutsch betrachteten Bevölkerung vertrieben. Wieder unter kommunistischer Herrschaft, trug die Stadt von 1953 bis 1956 den Namen Stalinogród (Stalinburg). Es war die Zeit, als Wojciech Kilar dort studierte. Heute ist der Kohleabbau europaweit auf dem Rückzug, und einige Kohlebergwerke in und um Katowice haben sich in Museen oder Kulturzentren verwandelt. Der Automobilbau hat den Bergbau als stärksten Industriezweig abgelöst. Es gibt

in Kattowitz aber auch kulturelle Hotspots wie ein Kongresszentrum, die Schlesische Philharmonie und ein Opernhaus, ein Blues-Festival sowie einen internationalen Dirigentenwettbewerb, der mit seinem Namen an den Dirigenten und Komponisten Grzegorz Fitelberg (1879–1953) erinnert. Dieser unterrichtete in den frühen 50er-Jahren an der Musikhochschule in Kattowitz. Trotz aller Veränderungen zeigt das Wappen der Stadt nach wie vor einen schwarzen Eisenhammer mitsamt Amboss und Zahnrad.


VORGESTELLT

A LEKSA NDER USZ Y NSK I im Gespräch

26

«ICH MÖCHTE DAS ZURÜCKGEBEN, WAS ICH A LS MUSIK ER BEKOMMEN H A BE» VON L E A VATER L AUS

Aleksander Uszynski, geboren 1957, stammt aus dem polnischen Zabrze und gehört mit seinem Bei­tritt im Jahr 1987 in das damalige Radio-Sinfonieorchester Basel mittlerweile zu den erfahrensten Mitgliedern des Sinfonieorchesters Basel. Mit der Saison 2021/22 beschliesst er nach 35 Jahren zwar seine langjährige Tätigkeit als stellvertretender SoloBratschist, setzt sich gleichzeitig aber bereits für die nächste Generation von Musikerinnen und Musikern ein.

LV Aleksander

Uszynski, neben Deiner Tätigkeit als stellvertretender SoloBratschist beim Sinfonieorchester Basel bist Du Präsident des Festivals ‹Vier Jahreszeiten› in Riehen, das Meisterkurse und Konzerte mit jungen Musikerinnen und Musikern durchführt. Welche Erfahrungen nimmst Du von Deiner Arbeit mit den jungen Menschen mit? AU Unsere Idee ist in erster Linie die Förderung junger Nachwuchsmusiker. Es ist unglaublich wichtig für junge Künstler, Kontakte zu knüpfen, neue Ansichten und Impulse zu erfahren, Unterrichtseinheiten bei hoch angesehenen Gastprofessoren zu bekommen und das Gelernte in einem Konzert danach gleich vorzuzeigen. Ich bin mir zudem bewusst geworden, dass ein Generationenwechsel nach vielen Jahren unumgänglich und wichtig ist, besonders in einem Orchester. Gleichzeitig sehe ich, dass viele Musiker, die in der Kulturszene etabliert sind, vergessen haben, wo sie selbst am Anfang standen, und der nachfolgenden Generation nicht genügend Chancen geben, um starten zu können. Dabei entwickeln sich junge Musiker ja erst noch! Ich verlange mehr Verständnis dafür, dass jede und jeder einmal an einem Punkt steht, wo man auf Vertrauen angewiesen ist. Es geht um das Geben und Nehmen – für mich fehlt das. Mit dem Festival wollen wir Schwung in die neue


A L EKSA N DER USZ Y NSK I 27

© Pia Clodi / Peaches & Mint

VORGEST EL LT


VORGEST EL LT

A L EKSA N DER USZ Y NSK I

Generation bringen und ihr eine Chance geben, mit sehr guten Lehrern zusammenzuarbeiten.

gruppe nicht stimmt, ist das Konzert für mich vorbei, auch wenn das beste Orchester der Welt spielt.

I nwiefern unterscheidet sich der Festivalbetrieb vom gewöhnlichen Konzertleben? AU Bei den Festivals kommen sich Publikum und Künstler sehr nahe. In der Villa Wenkenhof in Riehen ist das Publikum auf sehr kurzer Distanz zur Bühne – und somit sehr nahe dran an den Solisten! Zudem werden bei einem Apéro nach dem Konzert auch Laienfragen nicht falsch aufgefasst, im Gegenteil, es kommt zu spannenden Gesprächen ­z wischen Künstler und Zuhörer. Im Konzertsaal hat man als Publikum nicht den Luxus, den Künstler nach dem Konzert weiter begleiten zu können. LV

«Wenn ich in einem Konzert bin und ­beo­bachte, dass die Balance und Stärke der Bratschengruppe nicht stimmt, ist das Konzert für mich vorbei.» Die Bratsche wird neben ihren beiden Nachbarn Violine und Violoncello manchmal ‹übersehen›, dabei hält das Instrument die wichtige Balance zwischen den Streichregistern. Wie siehst Du die Rolle der Bratsche im Orchester? AU Einige betrachten die Bratsche als ‹dritte Geige› und schieben sie somit­ in den Hintergrund. Dabei prägen die Bratschen den Klang der Streichergruppen sehr! Ein perfekter Gruppenklang der Bratschen ist unübertrefflich – ich denke dabei an den berühmten Ausruf des Dirigenten Sergiu Celibidache: «Viola! Viola! Viola!», der nicht nur eine anekdotische, sondern auch eine symbolische Bedeutung hat auf der Suche nach einer besonderen Klangfarbe, die nicht ‹geigerisch› tönen soll, sondern die entsprechende ‹Bratschen-Power› verlangt. Wenn ich in einem Konzert bin und beobachte, dass die Balance und Stärke der BratschenLV

28

Mit Wojciech Kilars Orawa und ­W itold Lutosławskis Cellokonzert stehen auf dem Programm des ak­ tuellen Konzerts Werke bekannter polnischer Komponisten. Du selbst stammst ebenfalls aus Polen. Was verbindest Du mit den beiden Werken und deren Komponisten? AU Wojciech Kilar ist für mich besonders interessant! Er wurde genauso wie meine Mutter im polnisch geprägten Lemberg geboren. Jahrelang beharrte meine Mutter auf der Anekdote, sie habe mit dem vier Monate jüngeren Kilar gemeinsam im Sandkasten gespielt, was ich nicht glauben wollte! Beim Nationalen Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks, wo ich mit 22 Jahren eine Festanstellung erhielt, spielten wir oft Kilars Werke, und er war meistens bei den Proben dabei, worauf ich ihn schliesslich auf die Geschichte ansprach. Kilar lachte nur und meinte: «Vielleicht!» Ob die Anekdote tatsächlich stimmt, ist schlussendlich schwer zu beweisen, aber die Welt ist bekanntlich klein! Auch Lutosławski war oft beim Polnischen Rundfunkorchester – ein echter Gentleman in elegantem Aufzug und mit grosser Ernsthaftigkeit bei der Sache! Lutosławski arbeitete so präzise, dass er seine Werke am liebsten selbst dirigierte. Da seine Kompositionen teilweise schwierig zu lesen sind, ersparte dies grobe Fehler oder Diskussionen bei der Interpretation. Während Kilars Orawa ein stimmungsvolles Naturbild schafft, stecken bei Lutosławski komplexere Gedanken und Strukturen dahinter, seine Kompositionen suchen nach neuen Klängen und Welten. LV

«Es freut mich, wenn ich die Chance habe, auch einzelne Musiker zu unterstützen.» LV

Wojciech Kilar wurde vor allem bekannt durch seine Filmmusik, unter anderem zu Francis Ford Coppolas Dracula oder zu Roman Polańskis


VORGEST EL LT

A L EKSA N DER USZ Y NSK I

«Ich möchte mich an dieser Stelle bei all meinen Kolleginnen und Kollegen im Orchester und in der Administration für die tollen 35 Jahre und das mir entgegen­ gebrachte Vertrauen herzlichst bedanken!» Du spielst aktuell Deine letzte Saison beim Sinfonieorchester Basel, bevor Du in den Ruhestand trittst. Was kommt danach? AU Auf jeden Fall werde ich weiterhin beim Festival ‹Vier Jahreszeiten Riehen› tätig sein. Gemeinsam mit meiner Frau Barbara, die Pianistin ist und mit der ich bereits 42 Jahre verheiratet bin, möchte ich eine Akademie gründen, in der junge Musiker die Möglichkeit haben, an mehreren Wochenenden von zwei oder drei Lehrern unterrichtet zu werden. Ein spezieller ‹Vier Jahreszeiten Riehen›-Preis soll an die besten Schüler vergeben werden, die danach einen kostenlosen Meisterkurs LV

29

© Pia Clodi / Peaches & Mint

The Pianist. Kannst Du mit Film­ musik etwas anfangen? AU Zu den Hauptaufgaben des Polnischen Rundfunkorchesters zählte es, Film­ musik für grosse polnische Klassiker aufzunehmen, beispielsweise für Filme von Andrzej Wajda. Dabei muss man berücksichtigen, dass das Orchester zur Zeit der Volksrepublik Polen als Mittel zum Export polnischen Kulturguts funktionierte und Komponisten wie Kilar auf die Visitenkarte des Landes gehörten. Zu einer Zeit, in der in Polen alle Grenzen geschlossen waren, hatte das Polnische Rundfunkorchester die ausserordentliche Erlaubnis, in den Westen zu reisen. In Polen selbst wurde Filmmusik im Gegensatz zur klassischen Musik jedoch als zweitklassig angesehen. Dementsprechend war Wojciech Kilar trotz seiner Bekanntheit bescheiden und fast allzu zurückhaltend, wovon grosse Filmregisseure wiederum profitierten.

besuchen sowie konzertant auftreten können. Es freut mich, wenn ich die Chance habe, auch einzelne Musiker zu unterstützen, beispielsweise bei der Anschaffung eines Instruments. Ich möchte das zurück­ geben, was ich als Musiker bekommen habe. Durch Musik hatten sowohl meine Frau als auch ich viele spannende Begegnungen, ob mit Musikern oder mit Laien, die unsere Arbeit schätzen. Schlussendlich kommt noch das Projekt Familie hinzu – von unseren beiden Söhnen Sebastian und Lech Antonio haben wir mittlerweile drei Enkelkinder! Ich möchte mich an dieser Stelle bei all meinen Kolleginnen und Kollegen im Orchester und in der Adminis­ ­tration für die tollen 35 Jahre und das mir entgegengebrachte Vertrauen herzlichst bedanken! LV

Aleksander Uszynski, herzlichen Dank für das Gespräch!



Zwei Flügel machen einfach noch schönere Melodien. Erleben Sie den Sound erstklassiger Fahrzeuge bei Ihrem Partner für Mercedes-Benz aus der Region. kestenholzgruppe.com

Kestenholz Automobil AG 4052 Basel, St. Jakobs-Strasse 399, Telefon 061 377 93 77 4133 Pratteln, Güterstrasse 90, Telefon 061 827 22 22 4104 Oberwil, Mühlemattstrasse 17, Telefon 061 406 44 44

KES_Kestenholz_Anzeige_Sinfonieorchester_220x280mm_RZ.indd 1

15.05.19 16:


KOLUMNE

32

FR AGENDE ZEICHEN

VON EGL E A

Einer der besten Winzer Österreichs hat eine patente Frau: Sie beantwortet sofort jede Frage, die man ihm stellt. Er lud mich daher zu einem Spaziergang durch seine besten Terrassenlagen ein. Hintereinander gingen wir wortlos bis ganz nach oben; dort blieb er stehen, blickte mit mir auf die wie immer graue Donau hinunter und dann ging es wieder bergab. Unten angekommen sagte er: «Mit dir kann man sich saugut unterhalten.» Schweigen ist vielsagend. Und Musik? Wer mehrere Aufzeichnungen ein und desselben Stückes vergleicht, hört, dass es fast jedem etwas anderes sagt. Kann das sein? «Es gibt keine Alternative zur Musik», erklärte Sergiu Celibidache, «und deshalb auch keine Interpretation». Witold Lutosławski widmete sein Cellokonzert dem Cellisten, der es 1970­ in der Uraufführung spielte, Mstislaw ­Rostropowitsch, und doch vertraute er­ es ihm nicht ganz an. Aus Angst, Rostropowitsch könnte es missverstehen, schickte er ihm mit der Partitur einen langen Brief und bestand darauf, dass dieser Brief in grossen Teilen als Programmtext abgedruckt wurde. Lutosławski legte darin seine Absichten dar und warnte davor,­ in seinem Werk nach «literarischen und aussermusikalischen Bedeutungen» zu suchen.

«Keine gute Idee», fand der Kritiker des Guardian, Rostropowitsch fand d ­ as auch. Er musste gar nicht suchen nach aus­ sermusikalischen Bedeutungen, die dräng­ ten sich ihm auf; er hörte in diesem Werk ­alles, was unbeugsame Menschen wie sein engster Freund Alexander ­Solschenizyn in der Sowjetunion durchlitten, was sie verband, was ihre Zuversicht war. Doch, wie der englische Musikwissenschaftler Adrian Thomas entdeck­te, fanden viele andere Zuhörer noch viele andere lite­ra­ rische und ausser ­musi ­k a­l ische Bezüge ­i n jenem Cellokonzert; ­Rostropowitschs Frau, Galina Wischnewskaja, hörte in d ­ er Solopartie eine Beziehung zum Don Quijote­ des Cervantes, andere in den Monologen des Cellos eine zu Shakespeares monologreichem Hamlet, manche eine enge Verbindung zu Becketts Parabel Warten auf Godot, andere zu Romanen von Lutosławskis Vorzugsautor Joseph Conrad. Der Komponist jedoch ärgerte sich, Rostropowitsch habe das Werk ganz «zu seinem eigenen gemacht». Dürfen Künstler und Künstlerinnen das nicht? Ist das Aneignen nicht Teil ihrer Kunst, die das Verwandeln und Anverwandeln braucht? Die sich mischen will, nicht rein erhalten? Lutosławskis Landsmann und Kollege Wojciech Kilar wurde Millionen bekannt durch seine Filmmusik. Er litt nicht da­ ran, dass die Bildmacht des Films sich seine


EGL E A

33

© Jacques Schumacher

KOLU M N E

Musik zu eigen machte und dass, wer den Soundtrack hörte, sofort die Bilder im Kopf hatte. Wenn Musik für Freiheit steht, sollte sie dann nicht auch Freiheit gewähren? Dvořák nahm es ebenfalls gelassen, wenn Zeitgenossen seine Werke interpretierten als genau das, was von einem na­ iven, fröhlichen, musikantischen Metzgersohn, der die Volksmusik liebte, zu erwarten war. Er argumentierte nicht dagegen, er komponierte dagegen – seine 7. Sinfonie. Die sagte Vieles, viel Anderes. Als Lutosławski die Angst, missverstanden zu werden, überwunden hatte, klang er selbst anders. «Zum Glück», sagte er, zwei Jahre nach der Uraufführung des Cellokonzerts, «lässt sich Musik auf vielerlei Weise interpretieren; gerade darin liegt ihre Stärke und Einzigartigkeit gegenüber den anderen Künsten.» Das Vielsagende ist schlecht zu vermarkten und nicht zu digitalisieren. Die vielsagenden Blicke funktionieren nicht beim Speeddating, mit vielsagenden Pausen macht keiner Punkte in einer Talkshow, vielsagende Romane verlieren gegen die linearen. Das Vielsagende hat nur noch wenige Reservate. Die Musik ist für mich das schönste. Und sogar ein Mensch, der wie ich nur schreibt, kann helfen, es zu erhalten – ­i ndem er es nicht zerrredet.

EGL E A = 2, W EIL SIE GEBOR EN E A MBIDE X TR A IST, BEIDH Ä N DER I N

1. Eva Gesine Baur, promovierte Kulturhistorikerin, die ihren Zweitwohnsitz in der Bayerischen Staatsbibliothek hat & Sachbücher schreibt, zuletzt Biografien von ­Mozart, Genius und Eros, und Marlene Dietrich, Einsame Klasse (beide bei C.H. Beck). 2. Lea Singer, römische Strassenhündin, die in allen Hinterhöfen der Geschichte schnuppert & Romane schreibt, zuletzt über Horowitz, Der Klavierschüler, und über eine venezianische ResilienzIkone in Tizians Venedig, La Fenice (beide im Kampa-Verlag). Wenn sie nicht liest, schreibt, radelt oder kocht & Freunde bewirtet, hört sie klassische Musik.


IN ENGLISH

34

A FFECTED BY POLITICS A ND FOLK

BY BA RT DE V R IES

The life of the Polish composer Witold ­Lutosławski (1913−1994) was marked by all the major events of the twentieth century. His father was executed in Moscow in ­the aftermath of the First World War and­ the Russian Revolution. His brother died ­in the Second World War and later the communist party tightened its grip on ­Lutosławski’s creative freedom. But the composer denied that his music was influenced by political events. Nonetheless, it wasn’t until after Stalin’s death, when there was a certain relaxation of the rules in the Soviet Union and its satellite states, that Lutosławski’s creative genius started to unfold. Mstislav Rostropovich, the legendary cellist to whom Lutosławski dedicated his Cello Concerto and who premiered it in London in 1970, was convinced the composer’s work quite overtly reflected on living under communist rule. The cello, in his opinion, personified the free individual voice, whereas the orchestra symbolised the oppressive system. While Stravinsky and Bartók still heavily influenced his early music, later in life Lutosławski was able to deploy new musical techniques. He is particularly associated with a form of music where orchestra members are supposed to play certain musical material without a precise indication of a rhythm and speed, thus generating new musical textures. As it introduced a determinate amount of freedom to the performer, this type of music was called ‘limited aleatoricism’. Lutosławski shared not only a penchant for the avant-garde, but also for folk music with his countryman, the composer Wojciech Kilar (1932−2013). Orawa, Kilar’s composition on this month’s program, is clearly more indebted to the latter. It is part of a collection of four com-

positions, named the Tatra Polyptich, inspired by the music from the region of Podhole in the foothills of the Tatra Mountains in southern Poland. Given its location on the border with Slovakia and the ebb and flow of immigrants and different rulers in the region, Podhole music has always been open and adaptable to influences from elsewhere. These were also brought back to Podhole by seasonal labourers. Podhole music consists mostly of songs and dances using voice and strings. In Orawa, named after the river that runs through the Podhole region, it is easy to detect folk dance melodies and rhythms. The principle violinist sets out the main melody and leads a group of string instruments, which play some of the whirling passages and different rhythmic accompaniments. With a wistful tune the principle cellist seems to evoke the Podhole landscape that would induce homesickness if it weren’t for the pulsating notes in the other instruments. Orawa certainly has cinematographic­ qualities, but the polyptych wasn’t perceived as such. However, while Lutosławski wrote incidental pop songs (using a pseudonym) to make ends meet, Kilar built his career largely on film music, although ‘serious’ music always remained a part of his output. Famous movies for which Kilar produced the musical score are The Pianist by Roman Polański and Coppola’s version of Dracula. The concert concludes with the seventh symphony by Dvořák (1841−1904), who may well be considered a pioneer of the use of folk music in western classical music. And so, there is a direct line from the famous Czech composer via Bartók to Lutosławski and Kilar.


V ER EIN ‹FR EU NDE SINFONIEORCHESTER BASEL›

35

& zen t ü t rs Unte n iessen ge

MUSIK V ERBINDET – FREU NDSCH A FT AUCH

Der Freundeskreis ist eine engagierte Gemeinschaft, die Freude an klassischer Musik sowie eine hohe Wertschätzung gegenüber dem Sinfonie­ orchester Basel verbindet.

Wir unterstützen die Arbeit der Musikerinnen und Musiker des Sinfonieorchesters Basel mit konkreten Projekten und finanziellen Beiträgen. Darüber hinaus tragen wir dazu bei, in der Stadt und der Region Basel eine positive Atmosphäre und Grundgestimmtheit für das Sinfonieorchester Basel und das kulturelle Leben zu schaffen. Unser Verein bietet seinen Mitgliedern ein reichhaltiges Programm an exklusiven Anlässen mit dem Sinfonieorchester Basel sowie über ausgewählte Veranstaltungsformate exklusive Möglich­ keiten des direkten Kontakts zu Musikerinnen und Musikern. Wir fördern das gemeinschaftliche musikalische Erleben sowie den Austausch unter unseren Mitgliedern.

© Benno Hunziker

Möchten Sie mehr erfahren? Besuchen Sie unsere Website www.sinfonieorchesterbasel.ch/freundes-­ kreis oder nehmen Sie direkt Kontakt mit uns auf: freunde@sinfonieorchesterbasel.ch


IM FOK US

‹SING A LONG-MOBIL›

36

U NTERW EGS IN DER REGION MIT DEM ‹SING A LONG-MOBIL›

den die Konzerte von Chiara Selva und Timo Waldmeier. Stimmliche Unterstützung bekommt das Publikum von den Sängerinnen der Mädchenkantorei Basel. Die Volkslied-Arrangements für Oktett wurden von Florian Walser eigens für dieses Projekt erstellt. Für weitere Informationen zum ‹Singalong-Mobil› wenden Sie sich per E-Mail an: Elena D’Orta, e.dorta@sinfonieorchesterbasel.ch

© Janine Wiget

«Zuzeiten sind wir Dachbewohner und pfeifen von allen Dächern. In anderen Zeiten leben wir in Kellern, singen, um uns Mut zu machen und die Furcht im Dunkel zu überwinden. Wir brauchen Musik. Das Gespenst ist die lautlose Welt», schrieb Ingeborg Bachmann 1956 in ihrem Aufsatz «Die wunderliche Musik». Was aber, wenn in schweren Zeiten die Gebote der Stunde Distanz und Verzicht auf gemeinsames Sin­ gen lauten? Nach den Erfahrungen des letz­ ten Jahres möchte das Sinfonieorchester Basel die laufende Saison nutzen und wieder Nähe schaffen. Denn gemeinsames Sin­ gen verbindet – über Generationen, Geschlechter und Landesgrenzen hinweg. Die positive Wirkung des Singens auf Psyche und seelische Verfassung ist durch zahlreiche Studien belegt. Menschen finden darin Glück, Kraft und neuen Mut. Das geht Laien nicht anders als Profis. Insbesondere Volkslieder nehmen dabei einen besonderen Platz ein: Sie sind Erinnerungsorte und stiften zugleich Identität. Acht Musikerinnen und Musiker des Sinfonieorchesters Basel besuchen deshalb Spitäler, Wohnheime, Alterszentren und weitere Institutionen für kostenlose Mitsing-Konzerte. Im Programm wechseln sich beliebte Schweizer Volkslieder aus allen vier Sprachregionen mit Instrumentalstücken ab. Beim ‹Singalong-­Mobil› steht das gemeinsame Musizieren im Vordergrund. Moderiert und angeleitet wer-


Zuhause in Basel. Daheim in der Welt. F E n td ü r ec baz.c ker: h

Ab sofort im Abo: die ganze digitale Welt der BaZ.


DEMNÄCHST G ASTSPIEL Do, 21. Oktober 2021, 20 Uhr Burghof Lörrach

38

Z U G AST IN LÖR R ACH Sinfonieorchester Basel Pablo Ferrández, Krzysztof Urbański

FA MILIEN KONZERT DIE K IN DER DES MONSIEU R Sa, 30. Oktober 2021, 16 Uhr M ATHIEU Stadtcasino Basel, Musiksaal Kooperation mit dem Theater Basel sowie der Mädchen- und der Knaben­- kantorei Basel K A MMER MUSIK U N TERW EGS ATR IU MKONZERT Sa, 30. Oktober 2021, 16 Uhr Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel Basler Wirrgarten ­ BA LLET T Sa, 6. November 2021, 19.30 Uhr Theater Basel

L A FILLE M A L G A R DÉE Ballett Theater Basel Sinfonieorchester Basel

OPER So, 14. November 2021, 18.30 Uhr Theater Basel

L A TR AV I ATA Solistinnen und Solisten sowie Chor und Statisterie des Theater Basel Sinfonieorchester Basel

VORV ER K AU F (falls nicht anders angegeben): Bider & Tanner – Ihr Kulturhaus in Basel Aeschenvorstadt 2, 4010 Basel +41 (0)61 206 99 96 ticket@biderundtanner.ch www.biderundtanner.ch

Billettkasse Stadtcasino Basel Steinenberg 14 / Tourist Info 4051 Basel +41 (0)61 226 36 00 info@stadtcasino-basel.ch Detaillierte Informationen und Online-Verkauf: www.sinfonieorchesterbasel.ch

Ü BERSICH T DER SY MBOL E Nummerierte Rollstuhlplätze im Vorverkauf erhältlich

Manuskript in der Paul Sacher Stiftung

Diese Institution verfügt über eine Höranlage I MPR ESSU M Sinfonieorchester Basel Picassoplatz 2, 4052 Basel +41 (0)61 205 00 95 info@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch Möchten Sie das Programm-Magazin abbestellen? Schreiben Sie eine E-Mail an marketing@sinfonieorchesterbasel.ch

Orchesterdirektor: Franziskus Theurillat Künstlerischer Direktor: Hans-Georg Hofmann Redaktion Programm-Magazin: Katrin Oesteroth & Lea Vaterlaus Korrektorat: Ulrich Hechtfischer Gestaltung: Atelier Nord, Basel Druck: Steudler Press AG Auflage: 5000 Exemplare


Sie schwingen den Taktstock. Wir bleiben im Rhythmus.

Generalagentur Basel Beat Herzog

In Partnerschaft mit 903938

Aeschengraben 9 4051 Basel T 061 266 62 70 basel@mobiliar.ch mobiliar.ch

Schadenskizze

Was immer kommt – wir helfen Ihnen rasch und unkompliziert. mobiliar.ch Ge ne ral agen tur Ba sel Beat Herzog Aeschengraben 9 4051 Basel T 061 266 62 70 basel@mobiliar.ch


ENDLICH WIEDER ZEIT FÜR MUSIK, KUNST UND REISEN Peter Potoczky | Malzgasse 7a | 4052 Basel | Tel. +41 61 281 11 88 | pp@divertimento.ch

www.divertimento.ch


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.