5 minute read

JOHANNES BRAHMS

Next Article
ROLF LIEBERMANN

ROLF LIEBERMANN

DEN RIESEN BEETHOVEN IM NACKEN

VON NICOLAS FURCHERT Kaum ein Werk der Musikgeschichte beschäftigte seinen Schöpfer so lange wie Johannes Brahms seine 1. Sinfonie. Nach Beethoven, der vor allem mit seiner Neunten einen Gipfel der Sinfonik erreicht hatte, wurden viele Komponisten geradezu von einer Blockade befallen. Die Gruppe der sogenannten ‹Neudeutschen› um Franz Liszt und Richard Wagner hielt es gar für unmöglich, nach Beethoven überhaupt noch Sinfonien zu schreiben und wandte sich der ein aussermusikalisches Programm ‹erzählenden› Sinfonischen Dichtung oder der Oper zu.

Wer dennoch an der ‹absoluten›, für sich selbst stehenden Musik in Form von Sinfonien festhielt, wurde von den Neudeutschen des ‹Konservatismus› bezichtigt. Ein scharfer Meinungsstreit über die wahre Zukunftsform der Musik brach los, bei dem sich beide Gruppen auf je einen der bedeutendsten deutschen Komponisten bezogen. Für die Neudeutschen war dies Wagner, für die Konservativen Brahms, wobei Letzterer von seinen Anhängern in seine Rolle gedrängt wurde, ohne sich selbst allzu aktiv zu beteiligen.

Der Druck auf – den ohnehin sehr selbstkritischen – Brahms war entsprechend hoch. Da Robert Schumann bereits 1853 in einem Aufsatz den damals 20-jährigen Brahms in einem geradezu messianischen Tonfall als den Komponisten der Zukunft angekündigt hatte, erwartete man von diesem nichts Geringeres als eine Art Befreiungsschlag: den Beweis, dass man die Sinfonieform nach Beethoven doch noch weiterentwickeln kann. Erste Entwürfe einer Sinfonie/eines sinfonischen Werks reichen bis in das Jahr 1854 zurück. Aus der Orchestrierung einer Sonate für zwei Klaviere wurde jedoch das erste Klavierkonzert. Der nächste nachweisbare Versuch stammt aus dem Jahr 1858. Diesmal entstand statt einer Sinfonie die Serenade op. 11. Eine Sinfonie müsse «ganz anders aussehen», schrieb Brahms in dieser Zeit an einen Freund.

Johannes Brahms, Sinfonie Nr. 1, 1. Satz: Andante sostenuto, Autograf

1862 legte Brahms dann einen Entwurf vor, der bereits Motive des späteren 1. Satzes enthält, allerdings noch ohne die langsame Einleitung. Zwölf lange Jahre verschwand dieses Projekt jedoch in der Schublade. Noch Anfang der 1870er-Jahre, Brahms war mittlerweile fast vierzig Jahre alt, schrieb er an den Dirigenten Hermann Levi: «Ich werde nie eine Symphonie komponieren. Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen [gemeint ist Beethoven] hinter sich marschieren hört.» Erst um 1874 holte Brahms sein Projekt aus unbekannten Gründen wieder hervor. Zwei weitere Jahre benötigte er für die Ausarbeitung, sodass die Sinfonie 1876 endlich uraufgeführt werden konnte.

NEUE MUSIKALISCHE WEGE Brahms folgt mit dem Aufbau in vier Sätzen der klassisch-romantischen Tradition. Reminiszenzen an Beethoven, Schubert und Schumann zeigen den Anschluss an Vergangenes, während er mit einer Viel zahl von Bezügen innerhalb des Werks und einem kammermusikalisch dichten Tonsatz seinen eigenen neuen Weg ging. Auf äusserliche Effekte wie den Einsatz zusätzlicher Schlaginstrumente verzichtete er vollständig. Der Kopfsatz ist in Sonatenform mit langsamer Einleitung konzipiert. Diesen Satz versah Brahms allerdings ohne wirklich sangliche Themen mit einem dichten Geflecht von Beziehungen, sodass die verschiedenen Teile nicht immer deutlich voneinander abzugrenzen sind. Mit seiner Grundtonart c-Moll wirkt der Satz insgesamt düster und ernst.

Sowohl das Andante als auch der 3. Satz sind in ABA’-Form gehalten, wobei im 3. Satz noch ein Epilog angehängt ist. Im Andante vermeidet Brahms wie im Kopfsatz durch Überlappungen klar erkennbare neue Abschnitte. Getragen wird der insgesamt schlanke Orchestersatz von vielen Instrumentalsoli einschliesslich einer SoloGeige. Im Allegretto gewinnt Brahms nahezu das gesamte Material aus dem am Anfang in der Klarinette gespielten Motiv.

ZUM WERK Die Form des Finales ist nicht nur innerhalb von Brahms’ Schaffen, sondern auch in der sonstigen Sinfonik einmalig. In der zweiteiligen Einleitung wechselt nach dem ernsten Beginn plötzlich die Atmosphäre. In freundlichem C-Dur erklingt eine «Alphornweise» im Solo-Horn. Ein integrierter Choral in den erst jetzt ein gesetzten Posaunen erweitert die Ausdruckswelt zusätzlich. Im Gegensatz zum 1. Satz ist das Finale von einer deutlich helleren Stimmung geprägt. Das AlphornThema taucht noch zwei Mal in der Flöte und im Horn auf, während der Choral die turbulente Schluss-Stretta krönt.

BEETHOV EN-FORTFÜHRUNG ODER IMITAT? Die Sinfonie stiess bei den Zeitgenossen nicht nur auf Gegenliebe. Während die Brahms-Gegner ihm vorwarfen, Beethoven nicht fortgeführt, sondern nur nachgeahmt zu haben, war auch die Reaktion der ihm Wohlgesonnenen nicht einhellig positiv. Vor allem die «tiefernste, fast tragische Grundstimmung» (Musikalisches Wochenblatt) bei der gleichzeitigen musikalischen Komplexität bereitete den Zeitgenossen Probleme, darunter auch engen Freunde des Komponisten. Der Kritiker Eduard Hanslick schrieb: «Zu einseitig scheint auch Brahms das Große und Ernste, das Schwere und Complicierte zu pflegen auf Kosten der sinnlichen Schönheit. Wir gäben oft gern die feinsten contrapunktischen Kunststücke (wie sie in Brahms’ Symphonie zu Dutzenden vergraben liegen) um ein Stück warmen Sonnenscheins, bei dem uns das Herz aufgeht.»

Auch Clara Schumann, die zunächst nur die Ecksätze gehört hatte, bezeichnete diese als «großartig», «schwungvoll, geistreich, durch und durch», bemängelte jedoch für den 1. Satz gleich mehrfach den fehlenden Schwung der Melodien. Und Hermann Levi äusserte Bedenken gegen die Mittelsätze, die seiner Meinung nach «eher in eine Serenade oder Suite zu passen» schienen.

VERSCHWIEGENES PROGRAMM Den Hinweis, dass das Finalthema merkwürdigerweise an das «Freude, schöner Götterfunken» aus Beethovens 9. Sinfonie erinnere, soll Brahms zu dem Kommentar

JOHANNES BRAHMS 14 veranlasst haben: «Jawohl, und noch merkwürdiger ist, dass das jeder Esel gleich hört.» Schon die Rezensenten der ersten Aufführungen vermuteten in der Sinfonie ein verschwiegenes Programm, wie es auch Mathias Husmann in seinen Präludien fürs Publikum andeutet. Der Kritiker Max Kalbeck mutmasste, «daß der Inhalt der c-moll-Symphonie vorerst kein anderer sein konnte, als die Darstellung des Verhältnisses zwischen Johannes [Brahms], Robert und Klara [Schumann], und zwar in dem ganzen Umkreise seiner Ideen und Stimmungen.»

Ein Hinweis für eine solche Annahme ist das Alphorn-Thema, das Brahms bereits acht Jahre zuvor Clara Schumann in einem Geburtstagsgruss hatte zukommen lassen, an den sich Clara später aber offensichtlich nicht mehr erinnerte. Andere Deutungen aus dem späten 19. Jahrhundert gingen noch viel weiter ins Detail, wurden aber in der Folgezeit immer weniger beachtet.

Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 68

BESETZUNG 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher

ENTSTEHUNG 1862 bis 1876

URAUFFÜHRUNG 4. November 1876 in Karlsruhe, mit dem Grossherzoglich Badischen Hoforchester unter der Leitung von Felix Otto Dessoff

This article is from: