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Lauffluss

Natürlich wird gelaufen werden

Wir Menschen sind Natur, deshalb laufen wir. Was es bedeutet, „natürlich“ zu laufen, hat sich in der Geschichte oft verändert. Corona zeigt uns, wie elementar die Bewegung für den Menschen ist. Und es wird vieles verändern.

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TEXT_Andreas Maier

Laufen liegt in der Natur des Menschen.

Was Natur ist, sehen wir jetzt alle live und in einer von niemand gewünschten Dramatik: Ein Virus stürzt das beherrschende Säugetier des Planeten in die Krise. SARS-CoV-2, so der Name des Erregers, zwingt uns zum Blick in den Spiegel. Wir Menschen sind Natur pur und können nicht anders. Mit Körper, Emotion, Intellekt, Seele und Verwundbarkeit.

Und weil wir Natur sind, laufen wir. Die Fortbewegung auf zwei Beinen hat den Menschen evolutionsgeschichtlich erst zum Menschen gemacht. Wie tief das Laufen in uns drin liegt, konnte jeder an den milden Frühlingstagen der sich verschärfenden Coronakrise Mitte März 2020 in Wien und anderswo sehen. Ausgangsbeschränkungen waren in Kraft, Home-Office und Social Distancing zählten zu den Vorgaben. Doch mehr Menschen als je zuvor liefen im Freien, gemütlich und mit einem gelösten Gesichtsausdruck. Crisis, what crisis? Es sind ein innerer Drang nach Bewegung und das Erschließen einer körpereigenen Zufriedenheitsquelle durch Laufen, die hier zu sehen waren.

Laufen liegt in der Natur des Menschen. Doch was „natürliches Laufen“ bedeutet, ist eine Frage der Umstände. Corona hat das Laufen zum Privileg gemacht, das der Gesetzgeber in Österreich unter bestimmten Voraussetzungen gestattet – jedenfalls zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes. Dass Laufveranstaltungen auf allen Ebenen abgesagt werden, mit harten sportlichen, persönlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen, wurde angesichts der heranwachsenden Krise fast zur Nebensache.

Werfen wir einen Blick darauf, was „natürliches Laufen“ bisher bedeutet hat. „Natur“, das war vor allem Inszenierung und Verkaufsargument. Romantik und Technologie, Zeitgeist und Selbstoptimierung trafen hier viele Jahre am Markt der Glücksversprechen zusammen.

So schön! Morgen- oder Abendlicht. Ein Weg. Der Blick aufs Meer. Ein Bergpanorama. Wald, Wasser, Wiesen – und Läufer dazu, der oder die gerade federnden Schrittes diese eindrucksvolle Landschaftskulisse durchmisst. Das war der Inbegriff von „Natürlich laufen“, nicht? Tourismusindustrie, Sportartikelhandel und Influencer liebten und produzierten solche Images. Wie elementar die Bewegung im Freien tatsächlich ist, spüren wir gerade jetzt besonders stark, da die Möglichkeiten zum Ausgang eingeschränkt sind. Die Bilder vom „Laufen in der Natur“ vermitteln

Sehnsucht und sind perfekte Romantik. Der Läufer wird gern als Freigeist inszeniert, als Eroberer eines wunderbaren Ortes, ähnlich wie die städtischen Bergsteiger, die im 19. Jahrhundert begonnen haben, den Alpenraum zu bereisen, oder die Maler des Biedermeier, die in der vermeintlich unberührten „Natur“ ein Gegenstück zum grauen Alltagsleben festhielten. Auch beim „Läufer in der Natur“ sieht man im Bild nur das Schöne. Keine erodierenden Skipisten im Sommer, keine Forststraßen in Berghängen, keine Bausünden in Naturschutzgebieten, keine schmelzenden Gletscher. War auch nicht der Zweck von solchen Bildern. Aber man soll nicht glauben, dass diese Darstellungen etwas mit „Natur“ zu tun haben. Es ist die Inszenierung davon.

Zurück zur Natur „Natural Running“ war vor einigen Jahren als Laufschuhtrend ganz groß. Leichtigkeit, Flexibilität, Verzicht auf Dämpfung und Stabilisierungselemente, nur der nötigste Schutz für die Fußsohlen. Man habe ein „Gefühl,

„Natürlich laufen“ heißt ökologisch verantwortungsvoll laufen.

keine Schuhe an den Füßen zu haben und so Natur pur zu erleben“ – solche oder ähnliche Anpreisungen fanden sich zuhauf. 2004 war der „Nike Free“ der neueste Schrei. Ein gutes Jahrzehnt lang folgten alle Laufschuhproduzenten dem Ruf des Minimalismus. Die Vereinfachung hatte ihre Verdienste, aber die angebotenen Schuhe waren für den durchschnittlichen Mittelgewichtsläufer oft schlecht geeignet. In den jüngsten Jahren hat wiederum Nike mit dem extremen Gegenpol zum „Natural Running“ den heißesten Trend gesetzt. Der „Vaporfly“ mit einem patentierten Innenleben von bis zu drei raffiniert verbauten Karbonplatten hat zur Revolutionierung von Marathonzeiten beigetragen und auch Eliud Kipchoge bei 1:59:40,2 unterstützt. „Natural Running“ wirkt daneben etwas blass. Will man „natürlich“ laufen oder lieber schnell? Die „Natürlichkeit“, so scheint es, wurde rasant überholt.

Klimafitness „Natürlich laufen“, das heißt in den 2020er-Jahren vor allem ökologisch verantwortungsvoll zu laufen. Denn genauso wie Corona zeigen die Klimakrise und die Zerstörung von Arten und Lebensräumen uns Menschen, dass wir Natur sind. Wir haben das in der bereits jahrzehntelang geführten Umweltdebatte nur erfolgreich verdrängen können. Was heißt verantwortungsvolles Laufen? Zuerst gilt es, sich selbst und seine eigenen Handlungen hinterfragen. Anerkennen, dass das eigene Verhalten Auswirkungen hat. Sonst müssen immer die anderen zuerst etwas ändern, und im Endeffekt ändert niemand etwas. (Wie oft) Brauche ich ein Auto zum Laufen? Welches Equipment ist nötig? Wie produzieren die Hersteller meine Laufausrüstung? Setzen Veranstaltungen, an denen ich teilnehme, ein glaubwürdiges Nachhaltigkeitskonzept um? Welche Strecke bin ich bereit hinter mich zu legen, um an Läufen teilzunehmen? Reise ich mit dem Flugzeug zu einem Marathon – wie oft, wie weit? Mache ich das überhaupt noch? Nach Corona werden diese Fragen noch drängender, denn mit der Pandemie sind Grenzen plötzlich wieder dichter geworden und das globale Wirtschaftssystem wird massiv in Frage gestellt werden.

FOTO//VCM/Michael Gruber

1:59:40,2: Der Kipchoge-Moment In der Krise erleben Mäßigung und die Rückbesinnung auf das Wichtige und Überlebensnotwendige eine Renaissance. Doch auch der „Griff nach den Sternen“ gehört zum Menschen. Das Abgefahrenste, was an Optimierung und Inszenierung im Laufsport bisher realisiert wurde, haben zehntausende Menschen vor Ort und Millionen über diverse Medienplattformen vor einigen Monaten im Wiener Prater gesehen. Eliud Kipchoge lief als erster Mensch die Marathondistanz unter zwei Stunden. „Was wir in Wien erlebt haben, war kein Wettrennen, sondern etwas im Sinne einer extremen Performance-Kunst, bei der der Protagonist nur einen Versuch hat, etwas zu machen, was noch nie zuvor gemacht wurde“, beschrieb es der „Outside“-Kolumnist Martin Fritz Huber. Gerade dabei ist ein Moment entstanden, der tief die Natur des Menschen berührt.

Laufen war entwicklungsgeschichtlich untrennbar mit existenziellen Erfahrungen verbunden. Kampf oder Flucht, Sieg oder Niederlage, Leben oder Tod. Es müssen extreme Emotionen im Spiel gewesen sein, wenn eine Gruppe von Jägern in stundenlanger Verfolgung laufend ein Tier ermüdet und schließlich erlegt hat.

Auch der „Griff nach den Sternen“ gehört zum Menschen.

Verschoben auf

1. Mai 2021

Er hat das große, mythische Tier erlegt, das niemand zuvor erlegen konnte.

Es gibt Felszeichnungen im Matobo Nationalpark von Simbabwe, die einige tausend Jahre alt sind, in denen der Erste einer Gruppe von laufenden Jägern mit hochgerissenen Armen dargestellt wird. Eine Art Marathonjubel der Frühzeit?

Als Eliud Kipchoge und seine Pacemaker an diesem Samstag, 12. Oktober 2019 um 10:14 Uhr auf der Prater Hauptallee die finalen Meter des 1:59-Marathons gelaufen sind: Wurde dabei nicht genau diese Szene vom gemeinschaftlichen Jagen zum Leben gebracht? Alle wussten, wer der mit Abstand beste Läufer = Jäger ist. Alle haben den ganzen langen Weg über nur für ihn gearbeitet. Alle haben ihren Beitrag zum großen Ziel geleistet – die Tempomacher, die Zuschauer, die Helfer und Organisatoren, die Masterminds im Performance Operation Centre. Und dann kam der Moment, auf den sich alles zuspitzte. Der finale Kick, mit dem Eliud Kipchoge allein aus der Gruppe seiner Begleiter an die Spitze lief und Richtung Ziel stürmte. Alle wussten, er wird es schaffen. Er jubelte mit ausgestreckten Armen. Er schlug sich die Fäuste auf die Brust. Er hat das große, mythische Tier erlegt, das niemand je zuvor erlegen konnte – für sich und für die gesamte Gemeinschaft. Die Begeisterung sprengte alle Grenzen.

It’s the Corona, stupid Wir werden die Zeit in vielen Bereichen in „vor Corona“ und „nach Corona“ einteilen, auch im Laufsport. Runterfahren, beruhigen, entschleunigen, back to basics – das sind vielerorts vorerst willkommene Effekte der Coronakrise. Wir müssen uns auf wirtschaftliche Entbehrungen, wohl auch auf Leid und Tod einstellen. Diese Erfahrungen werden einschneidend sein. Wenn wir die Krise überwunden haben, wird vieles anders sein – falls wir nicht ohnehin schon längst in einem Zeitalter der wechselnden Krisen und Ausnahmezustände angekommen sind. Vorher

sagen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen, aber dennoch ein paar Gedanken. Wir werden während und nach Corona abwägen, was uns wirklich wichtig ist. Wir lernen vielleicht wieder, mit Ereignislosigkeit und Langeweile umzugehen. Wir werden wohl mit geringeren Ansprüchen an die Dinge herangehen. Wir werden die prall mit Produkt proben und Verpackungsmaterial gefüllten Startersäcke bei manchen Lauf events vielleicht als Zeichen einer überholten Konsumkultur ansehen. Digitale Technologien werden eine noch größere Rolle spielen als bisher, aber wir werden vielleicht fragen, in welchem Ausmaß wir weiterhin Social Distancing durch Social Media betreiben wollen. Es wird einen großen Bedarf geben, Freude zu zeigen und Menschen zu treffen, aber es kommt nicht die Zeit für schrille Inszenierungen. Wie 9/11 wird auch Corona nachdrücklich die Welt verändern. Trackingtechnologien, wie sie im Laufsport ohne langes Hinterfragen längst spaßiger Standard sind, werden für die gesamte Gesellschaft Teil der täglichen Überwachung, mit allen negativen Implikationen. Die Wirtschaft wird vielleicht in kleineren Maßstäben denken (müssen) – möglicherweise gibt es ein Revival für Regionalität und „Small is beautiful“ Konzepte. Familie, Freunde und der Zusammenhalt werden wichtiger werden. Und natürlich wird gelaufen werden. Nicht mehr alleine, sondern mit Freunden, in Gruppen und bei Laufveranstaltungen. Die Freude, die dabei entsteht, wird nach einer langen Zeit der Verbote und Einschränkungen riesig sein.

Natürlich wird gelaufen werden.

Grafik//Adobe Stock/thruer

49. Internationaler Wolfgangseelauf

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