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Prof. Brüggemann im Gespräch

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Weitwinkel

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Leistungsverbesserung und Risikominimierung sind kein Widerspruch!

Der Laufschuhmarkt ist in Bewegung. Im Gespräch mit RunUp-Herausgeber Johannes Langer spricht einer der anerkanntesten Fachleute für Laufschuhe weltweit, Prof. Gert-Peter Brüggemann über die Revolution hin zu Schuhen mit dicken, weichen Zwischensohlen, deren Geheimnis und über die Gründung von True Motion, ein erfrischender und innovativer Newcomer auf dem Markt.

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GESPRÄCH_Johannes Langer//FOTO_Maya Claussen

Dank der neuen PUSchäume kann man viel mehr Material zwischen Fuß und Boden bringen.

RunUp: Herr Professor Brüggemann, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der Entwicklung von Laufschuhen. Nach Jahren ausbleibender Innovation gab es 2015 eine kleine Revolution auf dem Laufschuhmarkt. Welche Gründe haben dazu geführt? Prof. Gert-Peter Brüggemann: „Das Konzept, elastische Unterlagen zu produzieren, ist nicht neu. 1985 hat man an der Harvard University mit extrem weichen Laufbahnen – die Läufer sind bis zu 30 Millimeter eingesunken – ein schnelleres Laufen ermöglicht. Die Erklärung damals: eine bessere Nutzung der Leistungsfähigkeit der Muskeln. Das war genau der richtige Ansatz, ist aber in Vergessenheit geraten. Neue PU-Schäume auf dem Markt haben erlaubt, die engen, straffen Verbindungen zu zerreißen und extrem leichtes Material einzufügen, das viel Energie aufnehmen kann. Das Geheimnis, das dahinter steckt: Man kann viel mehr Material zwischen Fuß und Boden bringen. Das Laufen wurde bequemer. Erst im zweiten Ansatz hat man erkannt, dass man auch schneller läuft. Das Keyword heißt Energy Return. „Bis heute wird suggeriert, dass mit diesen dicken Sohlen eine Feder eingebaut ist, die dem Athleten die Energie zuführt. Aber eine Feder kann keine Energie zuführen! Eine Feder muss erst gespannt werden und dazu braucht es Energie. Diese Energie kann aus dem Schaum zurückgeführt werden. Ob dieser Energy Return nun bei 70 oder 80% liegt, ist unwichtig. Wir sind mit dieser dicken Sohle in der Lage, vielleicht zehn, zwölf Joule Energie zu speichern. Wie viel genau retourniert wird, ist in Relation zu der Menge an Energie, die ich während einer Standphase brauche, uninteressant. Da reden wir nämlich von 180–200 Joule.“

Ich hatte zuletzt als Rennleiter beim Vienna City Marathon gemeinsam mit Kollegen das zweifelhafte Vergnügen, den Sieger gemäß der Regeln von World Athletics aufgrund einer zu dicken Sohle zu disqualifizieren. Wo glauben Sie liegt das vernünftige Optimum beim Material in der Zwischensohle? „Es geht definitiv um Materialvolumen, nicht nur um Bauhöhe. Die Bauhöhe hat den Nachteil, dass der Fuß insbesondere beim Fußaufsatz höher steht. Je höher der Fuß steht, desto größer werden die Hebel und die Gefahr der Instabilität. Insbesondere dann, wenn die relativ eckigen Sohlen außen versteifen, sind das die perfekten Hebel, um Knie und Sprunggelenk zu verkippen. Das ist äußerst kritisch zu sehen! Daher finde ich es vernünftig, die Höhe zu limitieren. Wo genau die vernünftige Grenze liegt, hängt stark vom verwendeten Material ab. Ich glaube, es macht keinen Sinn, noch höher zu gehen. Wir dürfen Zeit und Frequenz nicht aus den Augen verlieren. Bei zu viel Volumen unter den Füßen kann es passieren, dass der Läufer den Boden bereits verlassen hat, wenn das Material die Energie zurückgibt. Der Effekt wäre verpufft!

Dass von technischem Doping gesprochen wird, ist Quatsch! Die Technologie verbessert die Möglichkeiten, dass die Muskeln arbeiten. Sie führt keine Energie zu. Das hat doch mit Doping oder unlauteren Mitteln nichts zu tun, es ist nur eine Verbesserung der Nutzung der eigenen Ressourcen.“

Welche Rolle spielt die Carbonfaserplatte, die Nike in den Vaporfly eingefügt hat? „Bereits vor 30 Jahren wurde in der Biomechanik darüber nachgedacht, das Zehengrundgelenk durch solche Platten zu versteifen, um die Dorsalextension zu vermeiden. Es gelang, im Sprint einen Effekt von 0,1 Sekunden auf zehn Sekunden zu erzielen. Der Kraftangriffspunkt ist weiter nach vorne gerutscht. Damit erhöhte sich die Belastung auf Wade und Achillessehne um 10–30%. Das System ermüdete viel, viel früher, wenn man solche Schuhe einen längeren Zeitraum gelaufen ist.

Nike hat, aufbauend auf diesem Wissen, die Sohlen abgerundet, wie bei einer orthopädischen Abrollhilfe. Der Schaukelstuhleffekt treibt den Körper nach vorne, hält den Kraftangriffspunkt nicht an der Spitze, sondern in der Mitte des Fußes. Damit gelingt es, das weiche Material zu komprimieren. Das ist der ganze Trick dabei! Eine aktuelle wissenschaftliche Arbeit zeigt, dass die Carbonfaserplatte keine Wirkung hat. Die Energieaufnahme war dieselbe, mit oder ohne. Sie ist reines Marketing und macht den Schuh teurer!“

In der Trainingspraxis mit Peter Herzog haben wir Anpassungen in der Lauftechnik vorgenommen, um die Position über einen Marathon zu halten. Die Wade und die Achillessehne werden stärker beansprucht, die Belastung im ischiocruralen Bereich, der Gesäßmuskulatur und der Leiste sind höher. Es braucht mehr Kraft und eine höhere Flexibilität in der Muskulatur, um einen solchen Schuh zu laufen. „Das betrifft auch den Hobbyläufer: Dadurch, dass der Kraftangriffspunkt bei diesem gewölbten Schuh nicht zurück nach vorne kommt wie bei üblichen Laufschuhen, vergrößert sich der Hebel zum Knie. Die Drehmomente am Knie werden signifikant erhöht, der retropatellare Raum wird um bis zu 20% stärker belastet. Bei jedem Schritt, wohlgemerkt. Das ist enorm!“

Früher wurde speziell bei Wettkampfschuhen ein möglichst bodennahes Laufen angestrebt, heute sehen wir Zwischensohlenhöhen von bis zu fünf Zentimetern. Was hat diese Umkehr beschleunigt? „Mit den normalen, klassischen Laufschuhen, auch den modernsten Modellen, können wir nicht zehn, sondern vier oder fünf Joule an Energie ablegen. Das ist schon eine Hausnummer, ob ich 50% weniger oder 100% mehr zwischenspeichern kann. Bis zu einer bestimmten Kontaktzeit macht es sehr viel Sinn, Energie in ein weiches Element abzulegen, um die Energie des Beins zu reduzieren. Sie reduziert die Gelenkenergie, die Muskeln um das Kniegelenk, das Sprunggelenk und das Hüftgelenk können etwas langsamer kontrahieren. Ein Muskel, der langsamer kontrahiert, bringt bei gleichem Aufwand und gleicher Energie mehr Kraft auf oder verbraucht bei gleicher Kraft weniger Energie. Das ist die Erklärung dafür!“

Dass von technischem Doping gesprochen wird, ist Quatsch!

Die Carbonfaserplatte hat keine Wirkung. Sie ist reines Marketing und macht den Schuh teurer.

Gert-Peter Brüggemann ist ein ausgewiesener Fachmann für Biomechanik. Jahrzehntelang leitete er an der Deutschen Sporthochschule in Köln das Institut für Biomechanik und Orthopädie und arbeitete in beratender Funktion für hochrangige Sportschuhproduzenten. 2018 gründete er gemeinsam mit seinem Weggefährten Andre Kriwet und Christian Arens die Marke True Motion. Eine Herzensangelegenheit mit der Ambition, mit den gemeinsamen Vorstellungen den Laufschuhmarkt zu revolutionieren.

Wir haben uns die Frage gestellt: Welche Ziele verfolgen wir? Und dann nach Lösungen gesucht.

Die U-Technologie, die die Kraft in den Vorfuß leitet, wo sie aufgefangen wird, ermöglicht ein Aufsetzen, wie es der Biologie vorgesehen hat.

True Motion hat in vielen Laufschuhtests gut abgeschnitten – auch im RunUp-Laufschuhtest 2021. Für viele überraschend, weil die Marke noch nicht so bekannt ist. Was sind die wesentlichen Bausteine Ihrer Laufschuhtechnologie? Was machen Sie anders? „Andre Kriwet und ich beschäftigen uns seit Dekaden mit der Materie – als Berater bei ASICS, dann bei Nike und Brooks. Wir haben uns hingesetzt und uns die Frage gestellt: Was haben wir bisher falsch gemacht? Wir haben weder etwas dazu beigetragen, dass Verletzungen reduziert wurden, noch zur Leistung. Zweitens haben wir uns gefragt: Welche Ziele verfolgen wir? Und dann nach Lösungen gesucht. Ich kenne die Szene wirklich gut: Wenn einer eine Idee hat, geht es üblicherweise um den Schuh oder den Schaum, aber nicht um ein bestimmtes Ziel.

Unser Ansatz: Um die Verletzungsrate zu senken, müssen wir nicht notwendige Kräfte am Knie vermeiden. Gleichzeitig wollen wir die Muskeln so gut wie möglich arbeiten lassen. Wenn Muskeln langsamer und effizienter arbeiten, fühlen wir uns komfortabler.“

Könnte man auch sagen, Sie unterstützen ein natürliches Laufen besser? „Genau! Muskeln wollen etwas langsamer arbeiten, weil sie das besser können. Die Folge der Überlegung war, die auf das Knie wirkenden Kräfte durch das Knie zu leiten und nicht daran vorbei, damit sie keine Drehmomente erzeugen. Die Kräfte beim Laufen können wir kaum verändern, denn die resultierenden Kräfte müssen in der Frontalebene den Schwerpunkt treffen, sonst kippen die Läufer um. Also geht es ,nur‘ darum, den Kraftangriffspunkt in die Mitte des Fußes zu bringen. Die Natur hat Menisken ins Knie gelegt. Sie haben die Gabe, Kräfte in der Mitte zu zentrieren. Der Ferse hat sie für den Aufprall auf hartem Boden ein Fettpolster herumgelegt. Nichts anderes haben wir mit True Motion gemacht. Ein weiches, in sich rundes System, das erlaubt, sofort nach dem Auftreten die Kraft in die Mitte und damit durch das Sprunggelenk und durch das Kniegelenk zu leiten. So reduzieren sich die überflüssigen Kräfte auf einen normalen Wert.

Die Kraft muss nach vorne geleitet werden. Daher haben wir eine Tür in das runde Element gebaut und das Hufeisen ist entstanden. Die Kraft wird durch den Trichter in den Vorfuß geleitet und vom umgekehrten U aufgefangen. Weil der Vorfuß eine andere biomechanische Struktur als der Rückfuß hat, ist dieses U nicht so erhaben. Das ermöglicht ein Aufsetzen, wie es die Biologie vorgesehen hat. Die äußeren Stellen können etwas einsinken, damit das Gewölbe flach wird und wir auf die Insel treffen. Auf der Insel können wir uns dann abdrücken. Das Ganze in Verbindung mit weichen Materialien, um Energie zu sparen. Und da sind wir beim Leistungsaspekt. Leistungsverbesserung, mehr Komfort auf der einen und Risikominimierung auf der anderen Seite sind kein Widerspruch! Der Fuß ist ein hochdynamisches System mit perfekten Federn und wenn ich den Fuß versteife, können die Federn nicht wirken. Der Fuß kann viel mehr Energie speichern und zurückgeben als jede Sohle, die wir bisher auf dem Markt haben. Lassen wir ihn das tun!“

Wie können Mittelfußläufer von diesem Effekt aus der Hufeisenform profitieren? Die nehmen den Effekt aus der Ferse ja nicht mit…

Die Ambition von True Motion

Gert-Peter Brüggemann: „Wir drei wollten mit der Gründung von True Motion etwas eigenes machen, ohne dass uns wer dreinredet. Wir suchen auch keinen Investor! Wir machen nur das, was wir selbst im Moment finanzieren können. Jeder Überschuss wird in die Entwicklung gesteckt.

Bevor wir mit einer Technologie rausgehen, ist sie zigmal durch das biomechanische Labor gegangen. Ich will Zahlen haben! Ich will wissen, was am Knie passiert. Ich will wissen, was die Muskeln anders machen können. Wenn das mit statistisch belastbaren Zahlen nicht belegt ist, werden wir das nicht verfolgen. Das ist sicher aufwändig und teuer, aber so sind wir nun mal.“

„Mit Modellen, die ein zweites oder gar drittes U im Mittelfußbereich haben. Genau dort, wo der Athlet aufsetzt, wird die Energie eingetragen, gespeichert und dann in den Vorfuß transportiert. Das war die konsequente Lösung für den Läufer, der schnell unterwegs ist und nur minimal auf der Ferse aufkommt. Unsere Schuhe sind sehr effizient, sie können bis zu 14 Joule speichern.“

Wie viel macht das ungefähr aus? „Wenn ich das auf die Sauerstoffaufnahme hochrechne, können wir von einer Reduktion von 3–4% im Vergleich zu einem modernen Standard-Laufschuh ausgehen. Was für mich aber viel wichtiger ist, als das global zu sehen, ist der Blick auf die Gelenkenergie und die lokalen Muskeln. Die sind für das Laufen relevant. Und da liegen wir bei 10–15% Effizienzverbesserung nur für das Knie und das Sprunggelenk.“

Ist dieser innovative Ansatz nur dadurch möglich, dass es die neuen Schäume wie TPU gibt? „Ich denke, es geht um die Idee. Das Material ist austauschbar, wenn es die Eigenschaft hat, die wir für dieses Konzept brauchen. Aber ich glaube nicht, dass wir in Zukunft ein Material haben, das bei gleichem Volumen oder gleicher Bauhöhe noch mehr Energie aufnehmen kann. Denn irgendwo ist die Leistungsfähigkeit des Materials begrenzt.“

In der Pandemie haben viele Menschen mit dem Laufen begonnen. Was raten Sie Anfängern und Wiedereinsteigern bei der Wahl der Laufschuhe? „Einsteigern soll die Möglichkeit gegeben werden, sich komfortabel zu bewegen. So, dass sie ihre Muskeln geschickt nutzen können. Andernfalls werden sie die Lust verlieren. Ich sehe überhaupt keinen Widerspruch, einen Anfänger in dieses neue Konzept von True Motion zu stecken. Er wird nach wenigen Schritten merken, wie natürlich die Bewegung ist und wie leicht ihm das Laufen fällt.“

Ich kenne den Markt seit mittlerweile 30 Jahren. True Motion ist eine der innovativsten Marken, die wir in dieser Zeit gesehen haben. „Es ist so faszinierend, das, was man viele Jahre angedacht hat, zu einem Ende zu bringen und in ein Produkt umzusetzen, das funktioniert. Wenn man dann das Feedback aus der Laufszene bekommt, das genau das beschreibt, was wir vorgedacht haben, ist das unheimlich befriedigend.“

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