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MANAGEMENT
from 01/2020 Rinderprofi
by SPV-Verlag
Grenzen des Wachstums auch für die Milchkuh?
Hohe Milchleistungen sind das Ergebnis intensiver Zucht und Fütterung, guten Managements und tierärztlichen Könnens.
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VON HOLGER MARTENS
Foto: © agrarfoto.com H ohe Milchmengen verursachen nach der Kalbung (postpartal) eine starke Belastung des Stoffwechsels in Folge eines Energiemangels. Diese Kombination begünstigt Krankheiten wie Festliegen, Nachgeburtsverhalten, Metri tis, Labmagenverlagerungen, Leberverfettung, Ketose, Mas titis, Lahmheiten, Störungen der Fruchtbarkeit sowie u.U. ein generelles Entzündungs geschehen. Erkrankungsraten von über 70 Prozent pro Laktation wurden ermittelt und es ist nicht ungewöhnlich, dass 50 Prozent der Krank heiten eines Bestands in den ersten zwei Laktationswochen auftreten. Die hohen Raten ver ursachen eine kurze Nutzungsdauer und tierschutzrechtliche Probleme, die eine gemeinsame Ursache aufweisen. Es handelt sich in der beginnenden Lakta tion um eine schwere Stoffwechselbelastung bei negativer Energiebilanz, die eine Folge der Selektion auf Milchmenge ist. Das Energiedefizit ist ein biologisches Phänomen, dessen Ausmaß als Folge der Selektion auf Leistung verändert worden ist und daher zu den Krank heitsrisiken führt.
Energiestoffwechsel nach der Kalbung – physiologische Mechanismen Nach der Kalbung bekommt die Milchbildung Priorität. Die geregelte Milchsekretion zeichnet sich durch die Beteiligung verschiedener Organsysteme und die Veränderung von Regelgrößen wie die Insulinresistenz aus. Eine weitere wesentliche Eigenschaft ist, dass die Regulation der Milchsekretion keinen direkten FeedbackMechanismus aufweist. Der wäre unter biologischen Bedingungen gegeben, weil bei alleiniger Ernährung des Kalbs dessen Appetit als „Feedback“ anzusehen ist: Die Milchmenge wird limitiert. Die fehlende Rückkoppelung hat möglicherweise die Folge, dass die Priorität der Milchbildung zu einer Überbelastung und Beeinträchtigung der Gesundheit führen kann. Die Regulation der Milchsekretion weist einige Besonderheiten auf: a) Die Milchproduktion diente der Ernährung meist eines einzigen Kalbs. Der Nährstoffbedarf für die Milchbildung war also gering. b) Die Milchmenge wird jedenfalls in den ersten Wochen postpartum wesentlich durch die Melk- oder Saugfrequenz bestimmt. c) Die Futteraufnahme (FA) ist zu gering und entspricht nicht dem Bedarf. Dieser seit Jahrzehnten bekannte Sachverhalt ist durch eine umfangreiche Studie bestätigt worden. Der gegenläufigen Beziehung zwischen Bedarf und FA liegt eine negative Korrelation zwischen Milchmenge und FA zugrunde. Offensichtlich hat die Milchmenge Vorrang vor einer ausreichenden Futteraufnahme: Entkoppelung postpartum der Milchleistung von der FA. d) Das aufgenommene Futter wird vorrangig für die Milchbildung verwendet. e) Die Unterversorgung wird durch den Abbau von Reserven kompensiert. f) Hohe Eiweißaufnahmen in der frühen Laktation erhöhen in der Regel die Milchmenge und den Fettabbau. Diese Eigenschaften gewährleisten, dass die Ernährung des Kalbs auch bei mangelnder FA sichergestellt wird. Die Lücke zwischen Bedarf und FA wird wegen der negativen Energiebilanz als Nachteil angesehen. Aber: Der verringerte Zeitaufwand für Futtersuche und Fressen erhöht die Fürsorge und den Schutz des Kalbs durch das Muttertier. Diese Schlussfolgerung wird durch das Faktum unterstützt, dass die geringe FA offensichtlich genetisch fixiert ist. Diese Sicherung seiner Ernährung und der
vermehrte Schutz verbessern die Überlebensrate des Kalbs. Der mögliche Nachteil des Energiemangels stellt bei einem einzigen Kalb kein Gesundheitsrisiko dar. Ausnutzung der physiologischen Mechanismen Die Eigenschaften 1 bis 6 sind infolge der Zucht auf hohe Milchmenge durch Managementmaßnahmen verändert worden. 1. Die Milchmenge in der frühen Laktation weist eine hohe Erblichkeit auf, die für die Leistungsselektion genutzt worden ist. Als wesentliche hormonelle Grundlage der Steigerung der Milchmenge muss postpartal die Erhöhung der Wachstumshormon- bzw. die Abnahme der Insulinkonzentration angesehen werden. 2. Häufigere Melkfrequenz erhöht die Milchmenge, die jedoch nicht von einer Erhöhung der Futteraufnahme begleitet wird. 3. Die zu geringe FA findet bei der Auswahl der Zuchtkriterien keine Berücksichtigung, weil solche Werte nicht vorhanden sind. Dennoch wird an der Steigerung der Milchmenge trotz unzureichender FA festgehalten. Die Unterversorgung wird mit steigender Milchmenge zunehmen und damit die Energielücke. 4. „Partitioning“ bedeutet Zuteilung der aufgenommenen Nährstoffe, die primär für die Milchabgabe und nicht für die Kuh selbst und bei Hochleistungstieren fast zur Gänze für die Milchsekretion verwendet wird. Manche schließen in dieses „Partitioning“ auch die Sekretion der Immunglobuline in die Milch ein, die zur allgemeinen Immunschwäche der Kuh postpartal beiträgt. 5. Die Mobilisationsbereitschaft korreliert mit der Milchmenge, d.h. dass die Selektion auf die Milchmenge mit einer verstärkten Mobilisation verbunden ist. Die Mobilisation erfolgt über den Bedarf hinaus und verursacht aufgrund der hohen Fettsäurekonzentrationen eine Leberverfettung, unter Umständen Ketose mit weiteren erheblichen gesundheitlichen Nebenwirkungen. 6. Die Unterversorgung führt zu einer mangelnden Proteinaufnahme. Die Mobilisation von körpereigenen Reserven ist jedoch gering. Zur Bedarfsdeckung wurde daher der Rohproteingehalt (RP) des Futters erhöht, der zu einer Zunahme der Milchproduktion führt. Ein wesentlicher Effekt der Erhöhung des RP-Gehalts könnte eine Zunahme der Energielücke sein. Die Selektion auf Milchmenge hat zu weiteren hormonellen Veränderungen geführt, die die hohe Milchmenge bedingen und die als unerwünschte Nebeneffekte der Selektion angesehen werden müssen:
a) Als Folge der Abnahme der Insulinkonzentration wird die insulinabhängige Bildung des Wachstumsrezeptors (GHR-1A) in der Leber verringert. Die Glucosekonzentration nimmt ab und die NEB nimmt zu. b) Das Zuchtziel „Milchtyp“ korreliert eng mit Labmagenverlagerung, Störung der Fruchtbarkeit und Mastitis. c) Erhöhung des Grundumsatzes: Die bisherige Annahme von
0,3 MJ hat sich auf 0,36/kg metabolisches Körpergewicht (kg 0,75) erhöht.
Die Ausnutzung der physiologischen Grundlagen als Folge der Selektion auf hohe Milchmenge bzw. von Managementfaktoren hat zu der bekannten Milchmengensteigerung geführt, jedoch auch eine Belastung des Stoffwechsels verursacht, die sich im Ausmaß der NEB widerspiegelt. Untersuchungen haben gezeigt, dass nach der Kalbung Gewichtsverluste bei Fleischrindern kaum feststellbar sind und somit die NEB bei alleiniger Ernährung des Kalbs sehr gering ist und nur wenige Tage dauern dürfte. Das Ausmaß der NEB hat sich aber bei den Milchkühen stark verändert. Während um 1980 über eine NEB von 200 bis 500 MJ berichtet wurde, haben sich mit der Steigerung der Milchmenge Defizite von 1.300 bis 1.800 MJ in einem Zeitraum von mehr als zwei bis vier Monaten eingestellt. Die Mobilisationsleistung, also der Körpergewichtsverlust, wird erkennbar, wenn der Energiegehalt der Körperreserven mit 31 MJ/kg zugrunde gelegt wird und man bedenkt, dass in
der Zeit der NEB die maximale Milchmenge erreicht wird und die neue Trächtigkeit beginnen sollte. Folgen der Ausnutzung für die Tiergesundheit Die Erhöhung der Milchmenge verbunden mit der Zunahme der Erkrankungs- und Abgangsraten, die vermehrten Todesfälle haben zur Prüfung möglicher genetischer Zusammenhänge geführt. Es besteht kein Zweifel, dass genetische Korrelationen zwischen der Milchmenge und verschiedenen Erkrankungen bestehen: Ketose, Mastitis, Nachgeburtsverhalten, Klauenerkrankungen, Zysten, schlechtere Fruchtbarkeit. Ferner wurden erhöhte Erkrankungsraten in Milchlinien festgestellt, die über viele Jahre auf erhöhte ML bzw. im Hinblick auf das phänotypische Zuchtziel „Milchtyp“ selektiert wurden.
Die statistischen Beziehungen lassen ursächliche Erklärungen der obigen Erkrankungen zu, die der NEB zuzuordnen sind.
Schlussfolgerungen Die Zusammenhänge zwischen Milchmenge, NEB und Erkrankungen erfordern eine Prüfung insbesondere der Zuchtwerte. Es ist notwendig, verstärkt physiologische Grundlagen bei der Festlegung der Zuchtziele einzubeziehen. Grundlage dieser Überlegungen muss es sein, nicht gegen physiologische Mechanismen zu selektieren, wie z.B. die kritiklose Nutzung der Milchmenge ohne wirksames Feedbacksystem, weitere Erhöhung der ML bei zu geringer FA oder Vernachlässigung des biologischen Gegenläufigkeit zwischen ML und Fruchtbarkeit bei Energiemangel.
Die erblichen Korrelationen mit Erkrankungsrisiken müssen entsprechende Beachtung finden. Sie haben dazu beigetragen, dass in der Bundesrepublik 1995/96 das Zuchtziel Milchmenge durch die Aufnahme funktioneller Werte (relative Zuchtwerte) ergänzt wurde. Dieser Schritt muss fortgesetzt und erweitert werden mit Untersuchungen der Vollkosten hoher Milchproduktion.
Ein bekannter Einwand gegen die Schlussfolgerungen ist die nie bestrittene Tatsache, dass die aufgeführten Zusammenhänge eine große Streuung aufweisen. Die positiven Beispiele, die in einem großen Forschungsvor haben genau charakterisiert werden müssen, dürfen aber nicht zur Rechtfertigung genutzt werden. Es ist auch nicht die Aufgabe veterinärmedizinischer Betreuung, Fehlentwicklungen in der Tierzucht mit Hilfsmitteln zu kompensieren wie mit der Ver abreichung bestimmter Aminosäuren, Vitaminen, Propylenglykol, Cholin, Antioxidantien, CLA, Hefen, Immunmodulato ren oder durch die Anwendung von Synchronisationsprogram men für eine erneute Trächtigkeit. Diese Hilfsmittel können vorbeugend oder als Therapeu tikum eingesetzt werden, aber sie entbinden uns nicht von der Verpflichtung, Zusammenhänge aufzuzeigen und Veränderungen anzuregen. W
Dr. med. vet. Holger Martens ist Professor am Institut für Veterinär-Physiologie an der Freien Universität Berlin, Deutschland.
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