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MANAGEMENT & KARRIERE Strategie: Customizing
Customizing – Maßprodukt von der Stange
Fotos: www.bigshot.at/Christian Jungwirth, Zotter
Ob Jeans, Müsli oder Schokolade – Produkte von der Stange an Kundenwünsche anzupassen, scheint ein Geschäft zu werden. Der Trend zum Individualismus wird stärker und die Kunden sind bereit, mehr Geld dafür auszugeben.
„Das gesamte Einkaufsverhalten wird sich in Zukunft Richtung Individualisierung verändern“, prognostiziert Josef Zotter, Geschäftsführer und Gründer der Zotter Schokolade VON STEFAN TESCH
„I
Die Mi-Xing bar von Zotter, der schon an weiteren von Kunden selbst konfigurierbaren Produkten feilt
n zehn Jahren werden wir uns wundern, warum man heute mit so wenig Customization auskommt. Wir werden uns fragen, warum wir uns so lange an so viele Standardprodukte angepasst haben“, prognostiziert Nikolaus Franke, Leiter des Instituts für Entrepreneur-
ship und Innovation an der Wirtschaftsuniversität Wien. Herkömmliche Customization à la Maßanzüge vom Schneider war einst der Normalzustand vor der industriellen Revolution. Es musste dank Nutzung der Skaleneffekte der günsti-
Zahlungsbereitschaft für individualisierte Produkte Kategorie Handy-Cover T-Shirts Billiguhren Halstuch/Schal Cerealien Füllfeder Küchen Ski
Standardindividualisierte produkte (in Euro) Produkte (in Euro) 3,– 9,– 6,– 13,– 24,– 49,– 5,– 10,– 2,– 3,– 42,– 59,– 2.482,– 3.407,– 212,– 283,–
Differenz (in Euro) 6,– 7,– 24,– 5,– 1,– 17,– 925,– 71,–
Differenz in Prozent 207% 113% 100% 91% 50% 40% 37% 34%
Quelle: Aufsatz von Nikolaus Franke „The Value of Toolkits for User Innovation and Design“ (S. 15f); Ergebnisse aus den Jahren 2006 bis 2009; Umfragen unter Österreichern
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geren Einheitsproduktion weichen. Heute treibt das Internet die Individualisierbarkeit von Massenprodukten voran. Kommunikationskosten zwischen Firmen und Kunden sinken rasant, Digitalisierung vereinfacht die Steuerung von Maschinen wesentlich. Dadurch sind die Produktionskosten für Kleinserien gesunken. „Die Ökonomie der Produktion hat sich geändert“, so Franke. Im digitalen Zeitalter ist alles kopierbar. „Gerade deshalb ist der Wunsch nach etwas Individuellem besonders stark“, erklärt Franke, „die Sehnsucht nach Originalität und Authentizität wächst. Es handelt sich um eine nachfragegetriebene Entwicklung.“
Einer muss beginnen „Das gesamte Einkaufsverhalten wird sich in Zukunft Richtung Individualisierung verändern“, prognostiziert Josef Zotter, Geschäftsführer und Gründer der Zotter Schokolade. Er gibt aber zu bedenken, dass Trends nur dann entstehen, wenn jemand damit startet. „Wenn man mit etwas Neuem beginnt, dauert es, bis sich die Idee bei den Kunden etabliert.“ Ein Beispiel ist seine online konfigurierbare Schokoladentafel namens „Mi-Xing bar“. Bei der Einführung vor rund einem Jahr verkaufte Zotter nur ein bis zwei Stück pro Woche, nun mehr als 150 Tafeln täglich. Marken können so einen Prozess aber beschleunigen und werden in der Zukunft der „MassCustomization“ eine große Rolle spielen. „In 20 Jahren wird es Schoko im Regal nicht mehr geben, man wird sie nur noch selbst konfigurieren“, blickt Premiumanbieter Zotter optimistisch in die Zukunft. „Die Zeit der Massenproduktion ist vorbei – der Pferdefleischskandal ist ein Indiz dafür. Jetzt ist der Punkt erreicht, wo der Mensch das nicht mehr will“, zieht er seinen persönlichen Schluss und rät kleinen Unternehmen, jetzt mit Customizing GEWINN 6/13
Foto: HELGE KIRCHBERGER Photography
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„In zehn Jahren werden wir uns wundern, warum man heute mit so wenig Customization auskommt“, so Nikolaus Franke, WU Wien
Die Jeans-Veredler Gebrüder Stitch – Michael Lanner und Moriz Piffl (re.): „Individualisierung ist ein Trend, weil Menschen das Bedürfnis nach Distinktion haben.“ Foto: www.patriziagapp.com
zu beginnen. „Milka kann das nämlich erst in 20 Jahren realisieren.“ Ihr komme nicht der Trend zur Regionalität zugute. Kleine Unternehmen brauchen aber einen langen Atem. „Zwei bis drei Jahre dauert es, um zu wissen, ob eine Idee wirklich wirtschaftlich ist“, gibt er zu bedenken. Derzeit verdiene er an der individuellen Schokoladentafel noch nichts. „Individualisierung ist ein Trend, weil Menschen das Bedürfnis nach Distinktion haben“, meint wiederum Moriz Piffl. Der Geschäftsführer von Gebrüder Stitch, einem Jeans-Individualisierer aus Wien, produziert mit sechs Mitarbeitern zwischen 30 und 50 Hosen pro Monat. Seiner Erfahrung nach finden die Menschen in Bekleidungsgeschäften oft nicht das, was sie wollen. Eine zweite Kategorie seiner Kunden ist auf der Suche nach Einzelstücken. Dadurch kommt es zu einer hohen Produktbindung von Kundenseite und das führt dazu, dass die Gebrüder Stitch
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dem Wegwerf-Boom mit Jeans-Reparaturen entgegenwirken.
Hohe Mehrpreisbereitschaft Dass Kunden bereit sind, für individualisierte Produkte mehr zu zahlen, zeigen zahlreiche Untersuchungen. So liegt etwa die Mehrpreisbereitschaft bei individualisierbaren Handy-Covers bei über 200 Prozent, bei Billiguhren und T-Shirts bei rund 100 Prozent. Sogar bei Cerealien sind es noch immer um 40 Prozent höhere Preise als für jene von der Stange (siehe Tabelle Seite 70). Zum Vergleich: Bei Bio-Produkten (Lebensmittel) sind die Konsumenten nur bereit, zwischen 15 und 20 Prozent mehr zu zahlen. Allergiker, Müslifans, Ökofans und Sportler, so segmentiert Max Wittrock, Geschäftsführer von mymuesli, seine Kunden. Sie sind bereit, für ein individuell gemischtes Müsli mehr zu bezahlen. Dann kann ein halbes Kilo Müsli schon mal über acht Euro kosten, während dieselbe Menge im Supermarkt etwa drei Euro kostet. „Ich habe für mich mein eigenes Produkt“, bezeichnet Zotter das stärkste Kaufmotiv seiner Kunden. Dass Schokolade ein Statussymbol ist, streitet er nicht ab. Das punkte vor allem bei Geschenken. Daher plant Zotter neben der bereits bestehenden individuell zusammenstellbaren Geschenkbox mit Süßigkeiten auch konfigurierbare Schokopralinen. Bisher kosten die Hosen von Gebrüder Stitch je nach Grad der Individualisierung zwischen 240 und 500 Euro. Wobei sie die Schmerzgrenze der 72
Foto: mymuesli
Max Wittrock (Mitte), mymuesli: „Kunden sind bereit, für ein individuell gemischtes Müsli mehr zu bezahlen.“
Spielraum nach oben“, so Franke. Derzeit ist aber die Angst vor möglichem Reputationsverlust von renommierten Marken die Bremse. Potenzial sieht Franke auch in Bereichen, wo Mass-Customization noch nicht vorgedrungen ist: Möbel, Häuser, Wohnungen, Urlaub. Gerade die Marken werden zunehmend eine Rolle bei Mass-Customization spielen, glaubt Zotter. Prestige sieht Piffl bei seinen Jeans nicht als Kaufmotiv, da er sich noch nicht als bekannte Marke etabliert hat. „In Zukunft wird alles, was keiKunden noch nicht erreicht haben, nen Produktnutzen hat, wieder verdenn die Jeansmanufaktur plant neue schwinden“, vermutet er. Modelle jenseits der 500 Euro.
Statussymbole bestens geeignet Kunden werden vom passiven Konsumenten zum aktiven Produzenten. Die damit verbundene Schaffensfreude als psychologisches Phänomen nützen derzeit viele Anbieter individualisierbarer Produkte. Schlussendlich bekommt man dann auch etwas Einzigartiges. Das zeigt, dass Mass-Customization am besten bei Produkten mit hohem expressivem Wert funktioniert, etwa Statussymbolen wie Kleidung oder Schmuck. Hingegen werden Aussehen und Design eines Kleiderbügels den meisten Menschen ziemlich egal sein. „Bei solchen Produkten wird die Massenware in Zukunft aus Uservorschlägen generiert werden“, prognostiziert Franke. McDonald’s praktiziert das, wenn Kunden zum Burger-Konfigurieren aufgefordert werden. Somit wird die herkömmliche Marktforschung durch zunehmenden Individualisierungsgrad überflüssig. Ausnahmen stellen Produkte dar, von denen man durch Individualisierung einen funktionalen Nutzen hat, zum Beispiel angepasste Matratzen oder geschäumte Skischuhe. „Dass derzeit vorwiegend billige Produkte zur Individualisierung angeboten werden, ist typisch für den Beginn der Entwicklung“, meint Franke. In den nächsten Jahren könnte es sich auch bei hochpreisigen Produkten, etwa Luxusuhren, durchsetzen. „Da ist noch viel
Nicht zu viele Varianten anbieten
Ob man bei einem Hemd lediglich die Knopffarbe auswählt oder gar eine Müslimischung aus 80 verschiedenen Zutaten selbst zusammenstellen kann – der Grat zwischen Benutzerfreundlichkeit und überbordender Komplexität ist schmal. „Am besten man bietet ein fixes Grundprodukt an, woran der Kunde so viel verändern kann, wie er möchte“, rät Franke. Der Kunde sollte jederzeit mit dem Konfigurieren aufhören können. Daher sind erfolgreiche Konfiguratoren simpel aufgebaut. Das hat auch der deutsche MüsliCustomizer mymuesli erkannt. „80 verschiedene Zutaten sind für unsere Kunden eine beherrschbare Komplexität, trotzdem arbeiten wir ständig daran, den Müsli-Mixer im Internet zu vereinfachen“, meint Wittrock. Kein leichtes Unterfangen, die Anzahl an theoretisch möglichen Mischvarianten, vor denen der Taschenrechner in die Knie geht, in zwei Konfigurationsschritten unterzubringen. Zotter meistert die Aufgabe, mehr als 100 Zutaten (ergeben 9,6 Milliarden Mischvarianten) anschaulich zu präsentieren. Sein Erfolgsrezept: Aussagekräftige Bilder im Online-Konfigurator sowie eine Live-Aktualisierung des Preises. Und im Endprodukt dürfen maximal sieben Zutaten stecken. Aber Zotter lernte auch aus der Faulheit der Kunden und bietet die 32 beliebtesten Variationen als „Best of“ auf seiner Homepage an. GEWINN 6/13
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Umsatz von mymuesli setzt sich aus zwei Dritteln individualisiertem Müsli und einem Drittel Fertigmüsli zusammen. Anders sieht es im Bekleidungsbereich aus. „Die Passform kann man nur persönlich abstecken. Jeans haben starkes subjektives Tragegefühl“, so Piffl. Ein Online-Konfiguration macht in diesem Fall keinen Sinn. Die großen Online-Anbieter von Maßkleidung,
wie etwa der schwedische Tailorstore oder der deutsche YouTailor kämpfen nach wie vor mit der „passenden“ Umsetzung der von den Kunden selbst ermittelten Körpermaße. YouTailor musste bereits zweimal Insolvenz anmelden. Verantwortlich dafür waren Gerüchten zufolge aber nicht die Kragenweiten, sondern das Gründerteam soll an den Investoren vorbeigewirtschaftet haben.
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Zweifelsohne eignet sich das Internet als ideale Plattform, um individualisierte Massenprodukte zu verkaufen. Doch mymüsli bedient sich eines zweiten Standbeines: Derzeit betreibt das Unternehmen drei gutgehende Müslishops in Deutschland und plant eine weitere Filiale in Österreich. „Der Kunde soll am für ihn einfachsten Kanal unser Produkt kaufen können“, analysiert Wittrock. Obwohl die Produkte im Ladengeschäft denselben Preis wie im Online-Shop haben, rechne sich jeder Laden. Dort werden vor allem fertige Müslimischungen gekauft. Der
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Der Kunde macht das Marketing „Die neue Welt, die auf den individuellen Kunden eingeht, braucht eine völlig andere Strategie. Wer das begreift, kann auf dem Markt überproportionale Ergebnisse erreichen“, schreibt Edgar K. Geffroy in seinem heuer erschienenen Buch „Triumph des Individuums. Innovative Kundenstrategien für die kommende Geschäftswelt“ (siehe TOP-GEWINN 4a/2013). Die Kunden bringen die Marketing-Ideen an die Anbieter heran. Im Marketing passiert ein Paradigmenwechsel – Unternehmen priorisieren Kundenzufriedenheit höher als Profit (um natürlich mehr Profit zu machen). „In Zukunft wird nun der individuelle Kunde das Unternehmen prägen“, schreibt Geffroy. Der Kunde soll, unter anderem durch den Einsatz von Social Media, an das Unternehmen gebunden werden. Das ist leicht möglich, da sich der Mensch nach Beziehungen sehnt. Kundenzufriedenheit ist zwar wichtig, doch sollten Geffroy zufolge die Kunden begeistert, sogar verblüfft werden. Und das geht am besten, indem man als Unternehmen seine individualisierbaren Produkte auf außergewöhnliche Art und Weise präsentiert. Kurzum: ein Konfigurator soll zum Erlebnisfaktor werden. Der Kunde soll sich am Entstehungsprozess interaktiv beteiligen.