2015 Transsib

Page 1

1502_140_Reise_GEWINN 29.01.15 08:16 Seite 140

FREIZEIT & LIFESTYLE Reise: Transsib

Fotos: Stefan Tesch

Dritte Klasse durch Sibirien

Die Transsibirische Eisenbahn ist ein Reise-Muss. Richtig „russisch“ erlebt man die 9.300-Kilometer Fahrt durch sieben Zeitzonen in der Dritten Klasse. VON STEFAN TESCH

K

ilometer 0. Am Jaroslawler Bahnhof in Moskau spielen sich tränenreiche Abschiedsszenen ab, dazwischen suchen sichtlich überforderte Pensionisten mit überdimensioniertem Gepäck nach dem richtigen Bahnsteig. Inmitten des hektischen Treibens steht „Владивосто́к“ in digitalen Lettern auf einer Tafel. Spätestens jetzt freut man sich darüber, etwas Kyrillisch gelernt zu haben. Richtig, der Zug fährt nach Wladiwostok. Und er kommt dort sechs Tage oder 80 Stunden Zugfahrt später an, doch das sommerlich warme Sibirien lockt mit vielen Highlights zum Aussteigen. Denn um sich auch länger im Freien aufhalten zu können, empfiehlt sich der Sommer für eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Im Juli und August sind sogar Temperaturen bis zu 35 Grad möglich. Die Transsib verfügt über drei Klassen, Russland pur ist mit einer „Platzkarte“ für die Dritte Klasse garantiert. 140

Relikte des Kommunismus: Eine Lenin-Statue darf in keiner Stadt fehlen

so fixer Bestandteil des Stadtbildes wie die obligatorische Lenin-Statue. So sieht es in Nischni Nowgorod aus, dem ersten Stopp nach 400 Kilometern. 20 Zugstunden später ist man bereits hinter dem Ural und somit auf asiatischem Terrain in Jekaterinburg. Die nach der Zarin benannte Stadt gewinnt seit den 1990ern sichtbar an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. Im Zentrum krönt ein großer Stausee das „westlich“-moderne Downtown. Stichwort modern: Das Adjektiv „russisch“ trifft auf die Russischen Staatsbahnen Am Bahnhof von (RZD) ganz und gar nicht Ulan-Ude: Um zu. Zeitgemäße, gepflegte den richtigen Zug zu erwischen, Waggons und Bahnhöfe muss man entsprechen so gar nicht Kyrillisch lesen etwaigen Klischees. Pro können Waggon führen zwei Zugbegleiter (meist ältere Damen) ein strenges Regiment. Sie rügen den, der Alkohol trinkt – der ist in der Dritten Klasse verboten – und mahnen mit scharfer Stimme zur Sorgfalt, wenn das WC wieder einmal verstopft ist. Ihnen obliegt auch die Wartung des heiligen Grals jedes Waggons – des Samowars (Heißwasserspender). Denn, eine Zugfahrt ohne Tee ist in Russland unvorstellbar – auch im Sommer bei weit über 30 Grad im Waggon.

Irkutsk und der Baikal-See

5.200 Kilometer seit Moskau und 55 Stunden Fahrt von Jekaterinburg wartet das pulsierende Irkutsk. Es liegt nur 200 Kilometer von der Grenze zur Mongolei entfernt, was ein Gewinn für Hier gibt es keine Abteile und kaum die sonst eher unspektakuläre russische Touristen – rund 50 Passagiere sind in Speisekarte ist. Neben dem üblichen einem Waggon zusammengepfercht. Borschtsch gibt es die mongolischen Auch Duschen fehlen, immerhin hat Teigtaschen „Buusa“. Irkutsk ist eine jeder sein eigenes Bett. der facettenreichsten Städte entlang der Strecke, denn das große Angebot Skylines hinter dem Ural an Kultur und prunkvollen Gebäuden Idyllische Innenstädte mit verträumten stammt aus der Zeit der Dekabristen. Gassen und romantischen Plätzen sucht Die Freiheitskämpfer gegen das Zarenman entlang der längsten Bahnlinie regime fanden dort ihr Exil. der Welt vergeblich. Es stehen sibirische Definitives Highlight einer TransHolzhäuser neben modernen gläsernen sib-Reise ist aber der Baikalsee. Der Bürotürmen, begleitet von blanken Be- größte Süßwassersee der Welt liegt eintonklötzen aus der Sowjet-Ära. Ame- gebettet in pompösen Felsmassiven, rikanische Fastfood-Ketten sind genau- die für mehrtätige Wanderungen präGEWINN 2/15


1502_140_Reise_GEWINN 29.01.15 08:16 Seite 141

destiniert sind. Auf der Insel „Olchon“ wird man nach mehrstündiger Fahrt von Irkutsk mit dem Bus und anschließender Fähre ins vergangene Sibirien geschickt: kleine, verzierte Holzhäuschen, dazwischen zerpflügen alte Armeefahrzeuge die holprigen Staubpisten. Landschaftlich reicht das Spektrum der 300 Kilometer langen und rund 1.500 Einwohner zählenden Insel von Nadelwäldern, über Sandstrände, Steppen und Klippen im Norden. Nach dem landschaftlich beeindruckendsten Streckenabschnitt entlang des Baikalsees – am besten bei Tageslicht fahren und sich an der linken Seite einen Platz sichern – geht es nach Ulan-Ude. In der Hauptstadt der Region Burjatien findet man Russlands größten Lenin-Kopf mit 7,7 Meter Höhe, sonst hat die 400.000-Einwohner-Stadt einen stark buddhistischen Touch. Und im ethnografischen Freilichtmuseum kann man sich überzeugen, wie man vor Hunderten von Jahren den sibirischen Winter mit minus 40 Grad in rindengedeckten Zelten überlebt hat.

Verständigung im Zug Zeit, sich von den toughen Burjaten zu verabschieden. 3.600 Kilometer trennen Ulan-Ude von Wladiwostok. Während der nächsten 50 Stunden gewinnt man neue Freunde, auch wenn es bei den Russen etwas länger dauert, bis ihnen ein Lächeln über die Lippen kommt. Als Tourist erntet man häufig skeptische Blicke und anfängliche Ablehnung. Die Verständigung ist einer der größten Härtetests für Reisende, denn Englisch spricht man in Russland nur sporadisch. Im Zug ist das Zusammenleben aber trotz Sprachbarrieren unkompliziert und respektvoll. Gemeinsame Mahlzeiten mit Essenstausch sind üblich – dann ist man auch als Tourist integriert. Ein eintägiger Stopp empfiehlt sich in Chabarowsk, am rund zwei Kilometer breiten Fluss Amur gelegen. Rote Ziegelhäuser, dazwischen dunkelgraue Plattenbauten und uralte Straßenbahngarnituren. GEWINN 2/15

Am Baikalsee: Der größte und tiefste See der Erde präsentiert sich wie ein Ozean

Fotos: Stefan Tesch

FREIZEIT & LIFESTYLE Reise: Transsib

Ende der Reise: Die Hafen- und Industriestadt Wladiwostok erinnert an San Francisco

Machtspiele am japanischen Meer In der Hafenstadt Wladiwostok möchte Russland jedem Transsib-Reisenden noch einmal seine Macht demonstrieren: Eine San Francisco nachempfundene Golden-Horn-Bridge verbindet das extrem verkehrsreiche Stadtzent-

rum mit der vorgelagerten Halbinsel. Von dort geht es über die mit 1.100 Meter Stützweite längste Schrägseilbrücke auf die winzige „Russki Insel“, wo sich eine überdimensionierte Universität befindet. Um geschätzte 20 Milliarden USDollar wurde Wladiwostok, das bis

Buchung & Organisation

F

ür eine individuelle Transsib-Reise abseits der Touristenzüge („Zarengold“) benötigt man kein Reisebüro. Zugtickets kauft man am besten über die britische Agentur RealRussia (trains.realrussia.co.uk). Diese können maximal 45 Tage vor Abfahrt geordert werden, Vorbestellungen sind aber möglich. Für die Reise per Erster Klasse zahlt man etwa 1.100 Euro, in der Zweiten Klasse sind es 300 Euro weniger. Die Dritte Klasse kostet während der Sommermonate etwa 500 Euro. Je mehr Stopps man macht, desto teurer wird es. Ob man Moskau – Wladiwostok oder in die Gegenrichtung fährt, ist egal. Man kann den Trip mit Stadtbesichtigungen in Moskau und Sankt Petersburg kombinieren.

So lernt man Russland besonders intensiv kennen: Dicht gedrängt im Waggon der Dritten Klasse

1990 noch militärisches Sperrgebiet war, aufpoliert. Ob Amphibienpanzer am Badestrand, militärische Ruinen oder die Kriegsmarine, die vor der Küste Manöver abhält – der Krieg gegen Japan (Anfang des 20. Jahrhunderts) und das internationale Säbelrasseln sind auf Schritt und Tritt präsent. Nach insgesamt sieben Tagen im Zug ist es eine Wohltat, die steilen Gassen von „Wlad“ zu Fuß zu erklimmen. Nun ist es wirklich Zeit für einen Wodka, denn im Zug war er ja verboten. 141


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.