2015 Transsib (Wr. Journal)

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Transsib:

Im Zug von Moskau nach Wladiwostok: sechs Tage, sieben Zeitzonen, quer durch Sibirien, bis ans andere Ende Russlands. Das Foto zeigt einen Wagon aus den 70er Jahren.

Abenteuer in der Holzklasse

Foto: Dean Conger / Corbis

In der Transsibirischen Eisenbahn erlebt man Russland hautnah – vor allem in der Dritten Klasse. Sie bringt Passagiere zwischen Moskau und Wladiwostok an Sowjet-Relikten, Fortschritt und endloser Natur vorbei. Text: Stefan Tesch

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ypische Szenen im Zug: Dima und Alexei lümmeln am kleinen Tischchen, vertieft über einer Runde Schach. Beeilen müssen sie sich nicht, denn die beiden Arbeiter einer Goldmine sind gut vier Tage unterwegs bis tief in den Osten Russlands. Die Zugfahrt nehmen sie – so wie die meisten anderen Reisenden – gelassen. Das ist auch notwendig, denn im Waggon bricht die abendliche Primetime an. Kinder turnen kreischend von Bett zu Bett und reißen dabei Kabel aus den Steckdosen. Daneben tischen nun die meisten Passagiere selbst gekochten Reiseproviant liebevoll zum Abendmahl auf. Gefüllte Teigtaschen (Piroggen), Speck, gekochte Kartoffel und die obligatorische Gurke zieren dann die winzigen Tische, die zwischen den Betten stehen. In der Dritten Klasse („Platzkart“) fahren jene Rus-

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sen, die sich weder Flug noch höhere Klassen leisten können. Touristen sieht man keine. Entsprechend rustikal geht es zu, denn es gibt keine Abteile, und pro Waggon sind rund 50 Passagiere zusammengepfercht. Immerhin hat jeder sein eigenes Bett, Duschen sucht man jedoch vergeblich. Dafür erlebt man Russland während der 9300 Kilometer langen Bahnfahrt in seiner intensivsten Form. Man ist mittendrin, während draußen Taiga und Ural vorbeiziehen. Begonnen hat das „Abenteuer Transsib“ bei Kilometer 0. Am Jaroslawler Bahnhof in Moskau spielen sich tränenreiche Abschiedsszenen ab, dazwischen suchen sichtlich überforderte Pensionisten mit überdimensioniertem Gepäck nach dem richtigen Bahnsteig. Inmitten des hektischen Treibens steht „Владивостoк“ in digitalen Lettern. Spätestens jetzt freut man sich darüber, etwas Kyrillisch ge-

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Fotos: Stefan Tesch

In der Dritten Klasse geht es rustikal zu. Hier erlebt man Russland in seiner intensivsten Form.

Von Irkutsk nach Ulan-Ude: Blick auf den Baikalsee.

lernt zu haben. Richtig, der Zug fährt nach Wladiwostok, ans andere Ende von Russland. Und er kommt dort sechs Tage später und sieben Zeitzonen früher an, doch das sommerlich heiße Sibirien lockt dazwischen mit vielen Highlights zum mehrmaligen Aussteigen.

Skyline hinter dem Ural Idyllische Innenstädte mit verträumten Gassen und romantischen Plätzen sucht man in Städten entlang der Transsibirischen Eisenbahn vergeblich. Es stehen sibirische Holzhäuser neben modernen, gläsernen Bürotürmen, begleitet von blanken Betonklötzen aus der SowjetÄra. Amerikanische Fast-Food-Ketten sind fixer Bestandteil des Stadtbildes, genau so wie die obligatorische LeninStatue in jeder Stadt. So sieht es in Nischni Nowgorod aus, dem ersten Stopp nach 400 Kilometern. 20 Zugstunden später ist man bereits hinter dem Ural, und somit auf asiatischem Terrain, in Jekaterinburg. Die nach der Zarin benannte Stadt gewinnt seit den 1990er Jahren

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sichtbar an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. Im Zentrum krönt ein großer Stausee die „westlich“moderne Downtown. Stichwort modern: Das Adjektiv „russisch“ trifft auf die Russischen Staatsbahnen (RZD) ganz und gar nicht zu. Zeitgemäße, gepflegte Waggons und Bahnhöfe entsprechen so gar nicht etwaigen Klischees. Pro Waggon führen zwei Zugbegleiter (meist ältere Damen) ein strenges Regiment. Sie rügen den, der Alkohol trinkt (ist in der 3. Klasse verboten) und mahnen mit scharfer Stimme zu mehr Sorgfalt, wenn das WC wieder einmal verstopft ist. Die positive Seite: Diese „Provodnitsas“ wecken einen rechtzeitig vor dem Zielbahnhof auf. Ihnen obliegt auch die Wartung des heiligen Grals jedes Waggons – des Samowars (Heißwasserspender). Er wird, so wie übrigens auch die Heizung, mit Kohle befeuert. Eine Zugfahrt ohne Tee ist in Russland unvorstellbar – sogar im Sommer bei weit über 30 Grad im Waggon. Weiters kann man dank des Samowars seinen Reiseproviant raffiniert

gestalten: Instant-Nudeln, Packerlsuppen, Kartoffelpüree und Eintöpfe. Zwar gibt es einen Speisewagen, doch dieser ist sehr teuer und wird vorwiegend von Touristen besucht. 5200 Kilometer seit Moskau und 55 Stunden Fahrt von Jekaterinburg entfernt wartet das pulsierende Irkutsk. Es liegt nur 200 Kilometer nördlich der Grenze zur Mongolei, was ein Gewinn für die sonst eher unspektakuläre russische Speisekarte ist. Neben dem üblichen Borschtsch gibt es die mongolischen Teigtaschen „Buusa“. Irkutsk ist eine der facettenreichsten Städte entlang der Strecke, denn das große Angebot an Kultur und prunkvollen Gebäuden verdankt die Stadt dem Schicksal der Dekabristen. Jene Freiheitskämpfer gegen das Zarenregime fanden dort in den 1820ern ihr Exil.

„Baikal-Meer“ Definitives Highlight der Transsib-Reise ist der Baikalsee, mit 1600 Meter Tiefe und 670 Kilometern Länge der größte Süßwassersee der Welt. Er liegt einge-

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bettet in pompöse Felsmassive, die für mehrtägige Wanderungen prädestiniert sind. Auf der Insel Olchon wird man nach mehrstündiger Fahrt von Irkutsk mit dem Bus und anschließender Fähre plötzlich ins vergangene Sibirien geschickt: kleine, verzierte Holzhäuschen, dazwischen zerpflügen alte Armeefahrzeuge die holprigen Staubpisten. Vor jedem Eigenheim parkt ein schäbiges Motorboot. Landschaftlich reicht das Spektrum der 300 Kilometer langen und rund 1500 Einwohner zählenden Insel von Nadelwäldern über Sandstrände bis zu Steppen und Klippen im Norden. Weitblick und Meer-Feeling sind am Baikal garantiert. Planen Sie ein paar Tage für Entdeckungen rund um den Baikalsee – etwa geführte Wandertouren am Westufer auf den Spuren des Fernwanderweges „Great Baikal Trail“, oder eine panoramareiche Fahrt auf der Unesco-Bahnstrecke an den Südwestzipfel des Sees. Vorsicht: Im vielgepriesenen Badeort Listvyanka frönen Einheimische laut grölend diversen Lastern. Besser, man entspannt sich im

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daneben gelegenen, etwas ruhigeren Port Baikal. Allerdings ist ein Bad im Baikalsee äußerst erfrischend, denn das Wasser erreicht an der Oberfläche auch im Hochsommer nicht über 15 Grad. Aufgrund der Kälte ist der See jedoch sehr klar, und das macht ihn mit Sichtweiten bis 20 Meter, außerhalb der Badeorte, für Taucher interessant.

Riesiger Lenin Nach dem Abstecher zum Baikalsee geht es weiter nach Ulan-Ude. Den landschaftlich beeindruckendsten Streckenabschnitt mit Seeblick sollte man unbedingt bei Tageslicht fahren und sich auf der linken Waggonseite einen Platz sichern. Russen tauschen bereitwillig ihre „Logenplätze“, da die meisten den See ohnehin zur Genüge kennen und lieber einen Film am Laptop schauen. In Ulan-Ude, der Hauptstadt der Region Burjatien, besteht ein Drittel der Bevölkerung aus der mongolischen Minderheit Burjaten. Neben Russlands größtem Lenin-Kopf mit 7,7 Metern Höhe hat

die 400.000-Einwohner-Stadt einen stark buddhistischen Touch. Von der Rinpoche Datsan am Hügel des Stadtrandes überblickt man das fruchtbare Gebiet um die zusammenmündenden Flüsse Selenga und Uda. Im ethnografischen Freilichtmuseum kann man sich überzeugen, wie man vor hunderten Jahren den sibirischen Winter mit minus 40 Grad in rindengedeckten Zelten verbracht hat. Zeit, sich von den toughen Burjaten zu verabschieden. Während der nächsten 50 Stunden gewinnt man neue Freunde, auch wenn es bei den Russen etwas länger dauert, bis ihnen ein Lächeln über die Lippen kommt. Wer in Russland gegenüber Fremden lächelt, gilt nämlich als nicht ernst zu nehmend. Dazu kommt: Als Tourist erntet man häufig skeptische Blicke und anfängliche Ablehnung. Beim Greißler kann es schon vorkommen, dass sich die Verkäuferin taub stellt, um einer Bestellung auf Englisch zu entgehen. Die Verständigung ist tatsächlich eine der größten Härtetests für Reisende ohne Russischkennt-

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Grafik: lesniewski / Fotolia

nisse. Mit Englisch kommt man in Russland gar nicht weit. Mit Deutsch auch nicht. Im Zug ist das Zusammenleben jedoch trotz Sprachbarrieren unkompliziert und respektvoll. Gemeinsame Mahlzeiten inklusive Essenstausch am kleinen Gemeinschaftstisch sind üblich – dann ist man als Tourist schnell integriert.

Machtspiele am Japanischen Meer Noch 3600 Kilometer trennen UlanUde vom Ende der Reise, Wladiwostok. Dazwischen heißt es aber noch einmal „aussteigen“ in Chabarowsk. Rote Ziegelhäuschen, dazwischen dunkelgraue Plattenbauten und uralte Straßenbahngarnituren, die durch die hügelige Stadt am Amur quietschen: Das ist Sowjetfeeling pur, vor allem wenn man noch das riesige, bedrückende Militärmuseum besucht. Endstation! In der Hafenstadt Wladiwostok möchte Russland jedem Transsib-Reisenden noch einmal sei-

Bahnstrecken Neben der klassischen Transsib-Route von Moskau nach Wladiwostok gibt es noch drei weitere Varianten: Die Transmongolische Route zweigt von Moskau kommend nach der Stadt Ulan-Ude nahe dem Baikalsee ab, verläuft durch die Mongolei (über die Hauptstadt Ulan-Bator), weiter bis Peking. Die Transmandschurische Route zweigt bei Tschita nach China ab und führt ebenfalls nach Peking. Optional kann man diese auch mit einer Schleife über die chinesische Stadt Harbin verlängern und über die Mongolei zurück nach Russland fahren. Als dritte, aber für Touristen unübliche Variante kann man die Transsib-Route bei Taischet verlassen und mit der Baikal-Amur-Magistrale („BAM“) nach knapp 4000 Kilometern ans Japanische Meer gelangen.

Für eine individuell zusammengestellte Transsib-Reise abseits der Touristenzüge („Zarengold“) benötigt man kein Reisebüro. Zugtickets kauft man am besten über die britische Agentur RealRussia (trains.realrussia.co.uk). Tickets können maximal 45 Tage vor Abfahrt geordert werden, Vorbestellungen sind aber möglich. Während der Sommermonate zahlt man in der 3. Klasse 500 Euro. Für die Reise per Zweiter Klasse zahlt man etwa 800 Euro, für die Erste Klasse sind es 300 Euro mehr. Besonders Abenteuerlustige können die Transsib-Reise auch spontan gestalten, in dem sie Zugtickets vor Ort an den Bahnhöfen kaufen. Die Sommermonate sind jedoch die Zeit mit dem stärksten Passagieraufkommen, und manche Züge sind ausgebucht. Je mehr Stopps man macht, desto teurer wird es, denn man benötigt für jede Etappe ein separates Ticket. Ob man Moskau– Wladiwostok oder in die Gegenrichtung fährt, ist grundsätzlich egal. Man kann den Trip mit Stadtbesichtigungen in Moskau und Sankt Petersburg kombinieren.

Reisezeit Wegen des extrem kalten sibirischen Winters empfiehlt sich der Sommer als beste Reisezeit, um auch längere Stadtbesichtigungen ohne Erfrierungen zu überstehen. Im Juli und August hingegen sind sogar Temperaturen bis zu 35 Grad möglich. Für die klassische Transsib sollte man mindestens zwei Wochen, noch besser drei, einplanen. Man verbringt ohnehin in Summe sechs Tage davon nur im Zug.

Wissenswertes Auf der Strecke der Transsib verkehren Züge mit unterschiedlichen Destinationen. Nur der komfortable Zug Nummer 1/2 „Rossija“ fährt von Moskau nach Wladiwostok bzw. umgekehrt. Für einzelne Etappen wird man nicht immer diesen nehmen können, da er nur alle zwei Tage verkehrt. Züge mit höheren Nummern haben deutlich weniger Luxus, besonders eine fehlende Klimaanlage in der Dritten Klasse und häufig nicht zu öffnende Fenster machen so manche Fahrt im Sommer zum Härtetest.

Fotos: StefanTesch

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Kosten

Kalkulationsbeispiel: Die Kosten für ein Monat Backpacking von St. Petersburg über Moskau bis Wladiwostok liegen ungefähr bei 2700 Euro. Ein einmonatiges Touristenvisum kostet 100 Euro.

Abstecher ins vergangene Sibirien: Typische Holzhäuser auf der BaikalInsel Olchon.

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ne Macht demonstrieren: Eine SanFrancisco nachempfundene GoldenHorn-Bridge verbindet das extrem verkehrsreiche Stadtzentrum mit der vorgelagerten Halbinsel. Von dort geht es über die Schrägseilbrücke mit der weltweit größten Stützweite (1100 Meter) auf die winzige „Russki-Insel“, wo sich eine überdimensionierte Universität befindet. Beide Projekte sind das Ergebnis des Asiatisch-PazifischenWirtschaftsgipfels (Apec) im Jahr 2012. Um geschätzte 20 Milliarden US-Dollar wurde Wladiwostok, das bis 1990 noch militärisches Sperrgebiet war, aufpoliert. Ob Amphibienpanzer am Badestrand, militärische Ruinen oder die Kriegsmarine, die vor der Küste Manöver abhält – der Krieg gegen Japan (Anfang des 20. Jahrhunderts) und das internationale Säbelrasseln sind auf Schritt und Tritt präsent. Nach insgesamt sieben Tagen im Zug ist es eine Wohltat, die steilen Gassen von „Wlad“ zu Fuß zu erklimmen. Nun ist es wirklich Zeit für einen Wodka, denn im Zug war er ja verboten.

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