Kirchdorf Suburbia
Gruppen und ihre Räume
Urban Design Projekt Wohnen als Praxis Hafencity Universität Hamburg /Sommersemester 2012 Lisa Brunnert Stefanie Graze Jenny ohlenschlager Betreuer Prof. Dr. Michael Koch Dipl.-Ing. Andreas Mßller
Kirchdorf Suburbia
Gruppen und ihre Räume
Preface Innerhalb einer Großwohnsiedlung treffen diverse unterschiedliche Menschen auf einer räumlich beengten Fläche zusammen. Sie alle beanspruchen gemeinschaftlich nutzbaren Raum. In Kirchdor f Süd einer in den 1970er Jahren erbauten Großwohnsiedlung in Hamburg Wilhelmsburg, ist dieser Raum eine bedeutende Ressource. Die Siedlung ver fügt über eine Vielzahl an gemeinschaftlich nutzbaren Räumen. Gleichzeitig allerdings existiert ein Raum-Defizit durch welches Raum-Konkurrenzen entstehen. Doch nicht alle ver fügbaren Gemeinschaftsräume werden genutzt. Die Folgende Arbeit legt ihren primären Fokus auf die Er forschung der gemeinschaftlich nutzbaren Räume/Gemeinschaftsräume und der darin agierenden Gruppen. Besondere Bedeutung wird dabei dem relationalen Verhältnis zwischen Gemeinschaftsraum und Gruppe in Kirchdor f Süd beigemessen. Die er forschte Momentaufnahme gibt Aufschluss über die vorhandenen Beziehungen und alltäglichen Praktiken und lässt somit Rückschlüsse über die durch Gruppen definierten Räume zu. Die innerhalb der Forschung erlangten Erkenntnisse wurden im Sinne eines Learning in situ, dem Lernen vor Ort erarbeitet. Die Erschließung des komplexen Verhältnisses zwischen Raum und Gruppe erlaubt letztendlich eine Übertragung in ortsbezogene Strategien, deren Auswirkungen auf die beforschten Gruppen anhand von beispielhaften Szenarien untersucht werden.
Kirchdorf Suburbia Gruppen und ihre R äume
PREFACE KIRCHDORF SÜD EXPLORE AND LEARNING FROM Forschungsinteresse Gemeinschaftsräume Gruppen Raumbedür fnis Raumkonkurrenz Zoom Str ategien 1 Steuerung durch Angebote 2 Verdeutlichung des Raumcharakters 3 Schaffung von Rückzugsorten 4 Ermöglichen von Parallelität 5 Stärkung von leisen Gruppen Szenarien Der Garten Das Pferd Der Verkauf Das Kino Die Wildnis
Kirchdorf Süd
HH Hbf
Kirchdorf Süd Harburg Bf
HH Hbf
Lage Die Großwohnsiedlung Kirchdor f Süd liegt im Stadtteil Wilhelmsburg und unterliegt dem Bezirk Hamburg-Mitte. Auf der südlichen Elbinsel gelegen ist Kirchdor f Süd umgeben von landwirtschaftlich genutzte Flächen, einer Einfamilienhaussiedlung (Alt Kirchdor f ) und Magistralen. Die Struktur und Beschaffenheit der umliegenden Flächen und die Lage der Bebauung im Grünen verstärken innerhalb der Siedlung den Eindruck von der “Stadt” abgewandt zu sein. Rückt man jedoch in den Vordergrund, Kirchdorf Süd dass der Hamburger Hauptbahnhof und die Innenstadt Autobahn nur knapp 8 km Luftlinie entfernt sind, eine Reise dorthin mit den öffentlichen DB Verkehrsmitteln im Trasse Durchschnitt 22 Minuten und mit dem individuellen Wasser Personenverkehr 12 Minuten dauert, erkennt man Hafen trotz der „gefühlten Isolation“ die zentrale Lage der Landwirtschaft Siedlung.
Kirchdorf Süd Harburg Bf
5 km 10 km 15 km Lage Kirchdorf Süd
Kirchdorf Süd Autobahn DB Trasse Wasser Hafen Landwirtschaft
Kirchdorf Süd Autobahn DB Trasse Wasser Hafen Landwirtschaft
„gefühlte Isolation“
Bis Heute Die Planung der Großwohnsiedlung Kirchdor f Süd basiert auf einem zweistufigen städtebaulichen Gutachter ver fahren aus den Jahren 1966 und 1967. Aufgrund des allgemeinen Wohnungsmangels in Hamburg sollten in der ursprünglichen Planung neben dem ersten, realisierten Bauabschnitt, weitere Hochhausbauten im Süden und im Norden folgen. Realisiert wurden bis 1976 letztendlich nur vier Hochhausblöcke in Form von zwei 14-geschossigen und zwei 8- bis 12-geschossigen Wohnbauten. Gründe hier für waren die schlechte Bodenbeschaffenheit der Elbinsel und die daraus resultierenden hohen Gründungskosten sowie fehlende Akzeptanz für die bereits gebauten Gebäude. Mit 2300 Wohnungen, in denen insgesamt 6000 Menschen wohnten, galt Kirchdor f Süd nach der Fertigstellung eher als kleinere Großwohnsiedlung.
Kirchdorf Süd 1980
Direkt nach Fertigstellung der Siedlung zeigten sich bereits gravierende Mängel und Defizite. Neben der isolierten Lage und der konzentrierten Hochhausbebauung wurde vor allem die Unübersichtlichkeit beklagt. Die Eingangssituationen der Häuser waren
unklar definiert und wurden als abweisende „Meideräume“ mit gravierenden Gestaltungs- und Baumängeln wahrgenommen. Die Erschließung war überdimensioniert, und dem von Parkplätzen geprägten Wohnumfeld fehlte es an öffentlichem Grün. Zudem war die Siedlung mit einer für den täglichen Bedar f unzureichenden Infrastruktur ausgestattet und es fehlte an sozialen Einrichtungen. All diese Faktoren führten innerhalb der ersten zehn Jahre zu einem hohen Leerstand. Die kritische Situation forderte schnelle und umfassende Maßnahmen. Frauen planen um e.V., eine Gruppe von Planerinnen, vertrat die Bewohnerschaft anwaltsplanerisch bis zum Jahre 1990 in diversen Angelegenheiten. So wurde Kirchdor f Süd Modellgebiet des Bundesprogramms „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ (EXWOST), innerhalb des Programms lag der Schwerpunkt auf städtebaulichen Lösungen für die Nachverbesserung von Großsiedlungen. Neben baulichen und sozialen Verbesserungen stand auch die Erprobung von Bürgerbeteiligungsprozessen im Fokus. Gemeinsam mit den Bewohnern wurde in den Jahren 1980 bis 1986 an der Wohn- und Lebensqualität gearbeitet. Einen ersten Schritt stellte die Einführung eines Stadtteilbüros dar. Es folgten weitere Maßnahmen von der Einführung eines Wochenmarktes, der Anlage von Mietergärten über erste bauliche Maßnahmen an den Häusern bis hin zur Er weiterung des institutionellen Angebots im Stadtteil. So konnten Defizite behoben werden. Doch einige Mangel war nicht mit einem zeitlich beschränkten Modellver fahren zu beseitigen. Kirchdor f Süd musste aufgrund der vielen Bedar fe der zahlreichen, auf engem Raum lebenden Menschen langfristig gefördert werden. Weitere Schritte in diese Richtung stellten die Befreiung an die Belegungsbindung, der Schutz vor Mietsteigerungen durch Nachsubventionierung und später die Befreiung von Fehlbelegungsabgaben dar. Der Bestand der Sozialwohnungen wurde somit bis 2024 gesichert. Im Jahr 1992 wurde das vorangegangene Nachverbesserungsver fahren offiziell nach dem damalig gültigen Städtebauförderungsgesetz in ein Sanierungsver fahreübergeleitet.
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Das Erneuerungskonzept bestand im Wesentlichen aus fünf Maßnahmenschwerpunkten: die Umgestaltung der Mittelachse einschließlich des Zentrums, Umbau und Verbesserungsmaßnahmen an den Wohngebäuden, Ergänzung von sozialer Infrastruktur- und Freizeitangeboten, Verbesserung des Wohnumfeldes sowie Maßnahmen am ruhenden und fließenden Verkehrssystem. Hierbei versuchte man die Bewohner des Quartiers an den Prozessen zu beteiligen, unter anderem mit Hilfe eines Koordinierungsausschusses, einer Bewohnerrunde, dem Stadtteilbüro, Informations-Schaukästen sowie einem vierteljährlichen Informationsblatt.
Kirchdorf Süd Erneuerungskonzept
Mit Beendigung des Sanierungsver fahrens im Jahr 2000 beschloss der Koordinierungsausschuss eine aktualisierte Fassung des Konzeptes, die Umsetzung noch ausstehender Projekte sowie eine langfristige Mitwirkungs- und Kooperationsstruktur der Akteure. (Vgl. Stadterneuerung Wilhelmsburg S3 Kirchdor f Süd, Abschlussbericht 2003)
1966/67
Zweistufiges städtbauliches Gutachten
1975
Fertigstellung Kirchdorf Süd
1977
Provisorisches Jugendzentrum/Frauentreff (Frauen planen um e.v.)
1980
Stadtteilbüro
1984 1985 1986 1987
Straßensozialarbeit Kindertagesstätte Bundesprogramm EXWOST/int. Frauenbegegnungsstätte Mädchentreff/Jugendmusik Projekt/Mietergärten/Befreiung der Belegsbindung/Nachsubventionierung/Befreiung von Fehlbelegungsabgaben
1990
Erneuerungskonzept
1992 1993 1994 1995 1996
Off. Sanierungverf./Bewohnerrunde/Koordinierungsausschuss/Freizeithaus Informationsblatt Kirchdorf Süd Umgestaltung Hauseingänge/Innenhöfe Dienstleistungszentrum Laurens-Janssen-Haus Umgestaltung der Mittelachse
1999 2000
Verfügnungsfond/Mehrzweckhalle Umbau Marktplatz/Beendigung Sanierungsverfahren
2003
Multisportanlage
2005
Ende Bereitstellungsverfahren
Derzeitige Situation Trotz städtebaulicher Kritikpunkte scheinen die Bewohner Kirchdor f Süds auf den ersten Blick mit ihrem Wohnumfeld zufrieden zu sein. Besonders positiv her vorgehoben wird die (groß)familiäre und kulturell vielfältige Atmosphäre. Viele Familien leben hier oft schon in zweiter oder dritter Generation, ebenso kommen viele nach einem temporären Wegzug wieder zurück in den Stadtteil. Die Bevölkerung sprach sich explizit gegen den kurzzeitig er wägten Abriss der Siedlung und die Schaffung neuer, zentrumsnaher Einfamilienhäuser aus.
Kirchdorf Süd 2012
Die Gebäude werden von verschiedenen Institutionen betrieben. Ein Großteil der Häuser ist Eigentum der Wohnungsbaugesellschaft SAGA-GWG, in ihrem Besitz finden sich auch die meisten Sozialwohnungen. Die übrigen Häuser werden von Wohnungsbaugenossenschaften unterhalten. Der Sozialwohnungsbestand ist aufgrund der Nachsubventionierung seitens der Stadt Hamburg bis 2025 gesichert. Die Größe der Sozialwohnungen ist an die,
Entspricht 10 Wohnungen
SAGA GWG
Bauverein der Elbgemeinden eG
schaft eG
Vereinigte Hamburger Wohnungsbaugenossen-
senschaft eG Hoffnung eG Seniorenwohnanlage Kirchdorf - Süd Bauverein Reiherstieg eG
Baugenossenschaft
Verteilung Eigentum der Wohnungsbaugenossenschaften
individuelle Situationen der Bewohner angepasst. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Grundrisse und folglich auch unterschiedlichste Wohnungsgrößen. Die Paragraphen §10 und §19 des Wohnraumförderungsgesetzes, kurz WoFG, regeln, wie viel Wohnraum einer Familie je nach Zahl ihrer Mitglieder zusteht. Die Bewohner müssen ihre Wohnsituation also an ihre Lebenssituation anpassen und bei Änderung der Familienkonstellation umziehen. Die Grundrissvielfalt der Häuser ermöglicht ihnen jedoch in der Regel einen Umzug innerhalb der Siedlung, oft sogar innerhalb des Hauses. Sie müssen ihre vertraute Umgebung also nicht zwangsläufig verlassen, was sonst oft im Zuge der Gesetzgebung kritisiert wird. Nicht selten werden Wohnungen unter der Hand getauscht oder ausfindig gemacht, Um- und Auszüge sprechen sich in der Siedlung herum. „Ich lebe sehr gerne in Kirchdorf Süd, ich wohne mit meinen Eltern und all meinen Brüdern in einer großen Wohnung. [...] Wenn ich eine eigene Wohnung habe möchte ich auch hier leben.“
Bewohnerin Kirchdor f Süd
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II VI VII
II
V
III
VI
VII
III
VIII V I
IV
VIII
IV
Was die Nahversorgung in Kirchdor f Süd nicht bietet, wird in Wilhelmsburg oder in Harburg besorgt. Vor allem die S-Bahn Station Wilhelmsburg ist ein wichtiger Mobilitätsknotenpunkt und hat auf Grund des vielseitigen Angebots und des Wochenmarkts eine wichtige Versorgungsfunktion für die Bewohner in Kirchdor f Süd. Eine nicht mindere Rolle spielt das Phoenix-Center in Harburg, dessen Angebot über das des täglichen Bedar fs hinausgeht. Die Hamburger Innenstadt dagegen spielt im alltäglichen Leben der Bewohner eine untergeordnete Rolle, sie wird lediglich in Zusammenhang mit Wochenendaktivitäten oder dem Arbeitsplatz genannt. Trotz der scheinbaren Idylle zählt Kirchdor f Süd immer noch zu den benachteiligten Quartieren Hamburgs. Im Sozialmonotoring der Leitstelle Integrierte Stadtteilentwicklung Hamburg besitzt das statistische Gebiet den Statusindex “sehr niedrig”. Faktoren sind hierbei beispielsweise wenige oder keine Schulabschlüsse, SGB-II-EmpfängerInnen oder Arbeitslose. Fast die Hälfte der Haushalte sind Bedar fsgemeinschaften (42 %). Ebenso, liegt die
Wohnbiografie/Bewohnerin Kirchdor f Süd
Leistungsempfängerrate mit 3% deutlich über dem Hamburger Durchschnitt von 0,7%. Geprägt wird Kirchdor f Süd auch von einem hohen Migrationshintergrund (rund 66%), davon sind 45% türkischen, 8% afghanischen, 6% polnischen und 4% russischen Ursprungs. Dennoch besitzt Kirchdor f Süd nach dem Sozialmonotoring einen positiven Dynamikindex. Dies ist vor allem auf das junge Durchschnittsalter und den Kinderreichtum zurückzuführen.
= 100 Einwohner
Demographie
= 10 Einwohner
= 100 Einwohner
Einwohner
Einwohner pro ha
= 10 % der Gesamtbevรถlkerung
Bedarfsgemeinschaften
= 10 % der Gesamtbevรถlkerung
Migrationshintergrund
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Außen
Marktplatz
„Ja, im Prinzip sind wir ein riesengroßes Dorf mit 6000 Einwohnern.“
Wohnraum/Gebäude
Zudem ist die Tatsache nicht zu vergessen, dass viele sozialschwache Menschen auf sehr engen Raum wohnen. Probleme wurden in der Vergangenheit sozusagen in den Häusern gestapelt. Mit 171 Menschen pro Hektar ist die Wohndichte rund achtmal höher als der Hamburger Durchschnitt. Viele Bewohner beschweren sich über wenig Privatsphäre und eine starke soziale Kontrolle. Kirchdor f Süd wird von seinen Bewohnern oft als Dor f bezeichnet, in dem jeder jeden kennt und alle alles wissen.
SAGA-Hausbetreuer
Marktplatz
Wohnraum/Gebäude
Außen
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Dor f-Analogie - Kirchdor f Süd
Alt Kirchdor f
Kirchdor f Süd
Schaut man in das nähere Umfeld der dicht bebauten Großwohnsiedlung, zeigt sich ein ganz anders Bild. Ein paar hundert Meter weiter liegt Alt Kirchdor f, eine idyllische Einfamilienhaussiedlung aus den 30er Jahren. Als do-it-yourself Hafenarbeitersiedlung geplant und im Geist des Siedler verbandes fortgetragen, wohnen heute jedoch viele zugezogenen Familien dort, die sich den Traum vom Eigenheim hier relativ kostengünstig ermöglichen können. Auch aus Kirchdor f Süd ziehen vermehrt Bewohner auf „die andere Seite“. Das Gebiet ist geprägt von kleinen bis mittelgroßen Doppelhaushälften, die im ständigen Prozess den Bedür fnissen der aktuellen Eigentümer angepasst und baulich er weitert werden, zudem kommt weitläufiger, privater Freiraum. Mit 18 Einwohnern pro Hektar steht Alt-Kirchdor f im starken „Dichtekontrast “ zu Kirchdor f-Süd.
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Explore and learning from
Forschungs interesse Zutritt zum Feld (Kirchdor f Süd) gewährte eine temporäre „Wohnzimmer-Inter vention“, welche Rückschlüsse auf die Wohnsituation der Bewohner zuließ. Schon hier wurde deutlich wie elementar gemeinschaftlich nutzbarer Raum für das Zusammenleben innerhalb der Großwohnsiedlung ist. Die kleinste Einheit des Gemeinschaftsraumes ist das Wohnzimmer, welches bedingt durch den knappen individuellen Wohnraum in Kirchdor f Süd seine Funktion als Mittelpunkt des Familienlebens oftmals nicht er füllen kann. Neben dem Wohnzimmer als kleinste räumliche Einheit, ließ sich die Familie als klar zu definierende, innerhalb der Wohnbebauung und im öffentlichen Raum agierende Gruppe erkennen. Der schon zu Beginn auszumachende Druck auf bestimmte öffentlich nutzbare Räume und die dadurch entstehende Konkurrenz unter Gruppen, lenkte das Forschungsinteresse auf die Beziehungen zwischen Gruppen und Gemeinschaftsräumen innerhalb der Siedlung. Unter dem Forschungs-Titel „Gruppen und ihre Räume“ sollen im Besonderen die für Kirchdor f Süd relationalen Beziehungen zwischen Gemeinschaftsraum und Gruppen er forscht werden. Dabei werden folgende Fragen aufgewor fen: wie definieren sich Gruppen in Kirchdor f Süd und in welcher Beziehung stehen diese zueinander. Wie sind Gruppen innerhalb der Gemeinschaftsräume verortet und welche Räume werden von welchen Gruppen fre-
quentiert? Wie sind die Raum-Ressourcen unter den Gruppen verteilt und welche Konkurrenzen können dabei möglicher weise entstehen? Im Mittelpunkt der Forschung steht das Lernen vor Ort - Learning in situ, durch Teilnehmende Beobachtungen und Experteninter views wird Material über Gemeinschaftsräume und Gruppen erhoben und letztendlich innerhalb der Arbeit miteinander verknüpft. Die so gewonnenen Daten sollen in einem letzten Schritt anhand von ortsbezogenen Strategien nutzbar gemacht werden. Mithilfe von Szenarien werden diese an den Ort rückgekoppelt. Innerhalb der Strategien werden mögliche Eingriffe bestimmt und deren Auswirkungen auf Gruppen und Gemeinschaftsräume anhand der Szenarien untersucht.
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Die Forschungsarbeit begann mit einem Workshop (in Kooperation mit dem Bauhaus Dessau). Erste Begehungen, Inter views sowie die “Wohnzimmerinter vention”, in der die Bewohner Kirchdor f Süds szenisch zu ihrer Wohnsituation und dem Leben im Stadtteil befragt wurden, stellten den „Kick Off “ des Projektes dar. Eine fotografische Studie der Hausund Wohnungseingänge in Kirchdor f Süd und AltKirchdor f ergab erste Hinweise auf die Aneignung von halböffentlichem Raum. Inter views mit Bewohnern beider Siedlungen gaben Aufschluss darüber, welche Räume im öffentlichen halböffentlichen, oder privaten Raum für welche Aktivitäten genutzt werden. Nach der Auswertung der Inter views und Beobachtungen in beiden Siedlungsräumen fokussierte sich die Arbeit schließlich auf die Gemeinschaftsräume in Kirchdor f Süd. In einem iterierenden Prozess ergab sich das Forschungsinteresse, die vorgefundenen Räume im Hinblick auf Raumkonkurrenzen und Raumbedür fnisse zu untersuchen. Das Vorhandensein beider Phänomene verdeutlichte sich innerhalb der vorangegangenen Forschung. Anhand von (teilnehmenden) Beobachtungen und Inter views wurden die einzelnen Gruppen, die Räume nutzen, sowie ihre Bedür fnisse beschrieben und an den identifizierten Gemeinschaftsräumen verortet. Im Anschluss wurden Thesen formuliert, die die gewonnenen Erkenntnisse wiederspiegeln. Schließlich wurde das Gelernte in Strategien transferiert und anhand von beispielhaften Szenarien veranschaulicht, wie sich bestimmte Eingriffe auf Gruppen und Räume auswirken.
GEMEINSCHAFTSRÄUME und deren MEMBRANEN
Forschungs Prozess
...
...
GRUPPEN UND IHRE RÄUME Kirchdorf Süd Learning from
Strategien Szenarien
13
5
1 11
11
2
3
3
1 2 4
6
8 10 9
4
6
7 10
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Gemeinschaftsräume Kirchdor f Süd
SAGA Gemeinschaftsräume Institutionen SAGA Gemeinschaftsräume Institutionen Staatliche Bildungseinrichtungen Pförtnerlogen und Hauserschließung Staatliche Bildungseinrichtungen Pförtnerlogen und Hauserschließung Schulen / Kitas Gemeinschaftsräume Schulen / Kitas Gemeinschaftsräume Partyraum Sozialertreffpunkt 1 Partyraum Sozialertreffpunkt 1 Mietergärten 2 Mädchentreff Dolle Deerns Mietergärten 2 Mädchentreff Dolle Deerns 3 Jugendzentrum u. Elternschule 3 Jugendzentrum u. Elternschuleöffentlich nutzbarer Raum 4 Trockendock e.V. öffentlich nutzbarer Raum 4 Trockendock e.V. 5 Bauspielplatz Grünanlagen 5 Bauspielplatz Grünanlagen 6 Janssen Haus Spielplätze 6 Janssen Haus Spielplätze 7 Straßensozialarbeit Sportanlagen 7 Straßensozialarbeit Sportanlagen 8 Vericom Gemeinschaftsarchitektur 8 Vericom Gemeinschaftsarchitektur 9 Freizeithaus 9 Freizeithaus privater Raum 10 Kinderbauernhof privater Raum 10 Kinderbauernhof 11 Pfadfinder Kleingärten 11 Pfadfinder Kleingärten christliche Kirchen Wohnraum /Wohnzimmer christliche Kirchen Wohnraum /Wohnzimmer
Gemeinschaftsräume Um Defizite privat ver fügbaren Raums zu kompensieren, nutzen die Bewohner gemeinschaftlich nutzbaren Raum außerhalb der eigenen vier Wände. In dieser Arbeit wird jener Raum als Gemeinschaftsraum bezeichnet, der von einer oder mehreren Gruppen genutzt wird. Dabei spielt die Art der Nutzung zunächst keine Rolle. Diese Gemeinschaftsräume können zudem in Gebäuden sowie im Freiraum verortet sein. Als Er weiterung des Bewegungs- und Lebensraums besitzen diese Räume einen ergänzenden sozialen Raumcharakter. Neben zufälligen Begegnungen mit Nachbarn und Fremden kommt es zu mehr oder weniger temporären Aneignungen durch Gruppen. Die meisten der kartierten Gemeinschaftsräume in Kirchdor f Süd haben zunächst ganz nüchtern betrachtet eine Gemeinsamkeit: sie wurden im Rahmen einer Sanierungsmaßnahme nachträglich errichtet, die bauliche Struktur wurde bewusst platziert. Im Rahmen der Bürgerbeteiligung wurden die entstandenen Gemeinschaftsräume gemeinsam mit Bewohnern erarbeitet, also offenbar ihren Bedür fnissen entsprechend umgesetzt. Dabei gibt es zwei Typen von Gemeinschaftsräumen. Auf der einen Seite die institutionellen, sozialen Einrichtungen, die in organisierter Form unterhalten und betrieben werden und Zielgruppen-orientiert arbeiten. Sie liegen häufig in den Erdgeschossen der SAGA-Häuser und besitzen eine fast heimelige Atmosphäre. Diese Unauffälligkeit im Siedlungsraum anonymisiert die Nutzung der Einrichtung und wirkt einer Stigmat-
sierung entgegen. Auf der anderen Seite ziehen sich öffentliche und vereinzelt auch private Freiräume durch die Siedlung. Diese sind in der Regel - im Gegensatz zu den sozialen Einrichtungen - keinen besonderen Reglementierungen unterlegen. In einem jahrelangen Prozess haben sich diese Räume stetig verändert, wurden von unterschiedlichen Gruppen besetzt, und Raumhoheiten wurden immer wieder neu ausgehandelt. Dabei stellt sich die Frage, wie diese Prozesse in einem Raum entstehen und ablaufen und ihn so zu dem Raum machen, der er ist. Folgt man der Stadtsoziologin Martina Löw entsteht Raum durch das Wechselspiel zwischen Handeln und Strukturen. Elementar sind dabei zwei Prozesse. Das Spacing, also das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. das Positionieren von symbolischen Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen. Gleichzeitig läuft der Prozess der Syntheseleistung. Güter und Menschen werden über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse zu Räumen zusammengefasst, dieser Prozess ist stets ein Aushandeln von Macht. Auf Kirchdor f Süd übertragen bedeutet dies, dass Menschen bzw. bestimmte Gruppen sich diese Gemeinschaftsräume angeeignet, also sich dort platziert haben. Gründe sind die bauliche Beschaffenheit, Angebote und Funktionen des Raumes oder auch andere Gruppen, die sich dort aufhalten. Platziert sich die Gruppe in diesem Raum, bauen sie ein Ensemble, das den vorhandenen, gebauten Raum inkludiert. Durch diese Aneignung gestalten und markieren sie ihn gleichzeitig symbolisch. So wiederum wird Raum neu konstituiert und beeinflusst den Spacing-Prozess weiterer Gruppen. Dies kann jedoch nur durch die stetig parallel laufende Syntheseleistung vollzogen werden. Wie nimmt die Gruppe den Raum wahr, er füllt er ihre Bedür fnisse, was verbindet sie bereits mit diesem Raum oder ist er bereits von anderen Gruppen belegt und in welchem Verhältnis stehen die Gruppen? Menschen entwickeln ein praktisches Bewusstsein dafür, wie sie sich in welchen Räumen zu verhalten haben (vgl. Löw 2006). Im Folgenden werden die in Kirchdor f identifizierten Gemeinschafträume kartiert und ihre spezifischen Eigenschaften vorgestellt.
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kostenpflichtig
direktes Wohnumfeld
stark frequentiert
zeitlich begrenzt
multifunktional
informell
gemeinschaftlich
öffentlich
pivat
innen
€
Wohnzimmer €
Das Wohnzimmer ist für die meisten Bewohner in Kirchdorf Süd der wichtigste Raum in der eigenen Wohnung. Er wird nach individuellem Geschmack liebevoll eingerichtet und bei Bedarf als multifunktionaler Raum genutzt. Die Ausstattung reicht dabei von einer Ess- oder Kinderspielecke bis hin zur integrierten Schlafcouch.
Partyräume €
Der Kinderpartyraum befindet sich im Kellergeschoss des Blocks und kann von allen SAGA-Mietern für 10 Euro gemietet werden. Die Anmietung erfolgt über eine Belegungsliste. Wer zuerst kommt, malt zuerst. Die Räumlichkeiten sind denen einer Zwei-Raum-Wohnung sehr ähnlich. Die Küche sowie die Sanitärenanlagen sind vollausgestattet.Die Räumlichkeiten sind bei den Mietern sehr beliebt und werden stark frequentiert. Um 19 Uhr ist Schluss, man muss Rücksicht auf die Nachbarn nehmen.
SAGA-Mietergemeinschaftsräume €
Die SAGA-Mietergemeinschaftsräume innerhalb der einzelnen Häuser aind an die Hausbetreuer-Logen gekoppelt und nur geöffnet solange der Hausbetreuer vor Ort ist. Sie können von allen Mietern des jeweiligen Hauses frei genutzt werden. Die Ausstattung hängt von dem Engagement der Nachbarn und ihrem Verhältnis ab. Allgemein werden die Räume nicht sonderlich stark frequentiert.
Kleingärten €
Ein paar hundert Meter von der Großwohnsiedlung entfernt, liegt eine Ansammlung von Kleingärten. Dabei handelt es sich nicht um eine Schrebergartensiedlung im klassischen Sinne. Unabhängig von einer übergeordneten Gemeinschaft können sich Bewohner hier einen Garten anmieten. Die Gartenfläche wird überwiegend zum Gemüseanbau und als Spielfläche für Kinder genutzt. Die gesamte hat einen improvisierten Selbstbaucharakter. Die Flächennachfrage ist imens hoch und so gehen die Gärten meist unter der Hand weg.
kostenpflichtig
direktes Wohnumfeld
stark frequentiert
zeitlich begrenzt
multifunktional
informell
gemeinschaftlich
öffentlich
pivat
innen
€
Spiel- und Sportflächen €
Es gibt zahlreiche Spielflächen im Hausnahenbereich, diese sind stark frequentiert. Die Gestaltung und Spielmöglichkeiten sind dabei unterschiedlich. Besonders beliebt ist die sogenannte „Tarzanschaukel“. Ergänzt wird das Spielangebot durch zwei Sportflächen.
Marktplatz €
-
Der Marktplatz von Kirchdorf Süd ist das Zentrum des Quartiers. Hier bündeln sich die Funktionen des täglichen Lebens. Neben den wichtigsten Einkaufsmöglichkeiten finden sich hier vereinzelte Kleinökonomien wieder. Wochentlich findet ein Markt statt, der aufgrund seines eher kleinen und nicht individuellen Angebots nur niedrig frequentiert wird. Auf dem Marktplatz findet sich auch die Bushaltestelle, die das Quartier an den Rest der Stadt anbindet. Der Platz an sich ist in der Regel gut besucht Durchgangsverkehr und Aufenthalt halten sich die Waage.
Grünräume €
Die öffentlich nutzbaren Grünalagen in Kirchdorf Süd und Umgebung sind von sehr unterschiedlichem Charakter. Das Spektrum reicht von einer nachträgliche integrierten Grünachse durch die geamte Siedlung über Parkanlagen an den Modellteichen (in Alt Kirchdorf) bis hin zur Flusslandschaft entlang der Elbe. Die Gestaltung, Erreichbarkeit und Akzeptanz der Grünanlagen fallen sehr unterschiedlich aus.
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Toilette
Veranstaltungsraum
Küche
Speiseraum
Digitlalerraum
Aufenthaltsraum
Hausaufgabenraum
Büro
Veranstaltungsraum
Speiseraum
Aufenthaltsraum
Büro
Im Erdgeschoss eines SAGA-Hauses liegendes Im Erdgeschoss Büro sowie einesGemeinschaftsräume SAGA-Hauses liegendes für Büro abulantes, sowie
Trock In einem Pavillion untergebrachte Prob In such
Räumlichkeiten für Hau
Dienstleistungszentrum, mit Gastronomie Dienstleistungszen und Bürgerse
Verbund für interkulturelle Kommunikation Verbundund für Bildung. interkulturelle Arbeiten Kommunikation in ihren Räumlichkeiten und Bildung. an Arbei Gese
Vermietung von Party- und Veranstaltungsräu Vermietun
Tiergehege
Sporträume
Proberäume
Badezimmer
Toilette
Küche
Digitlalerraum
Hausaufgabenraum
Veranstaltungsraum
Aufenthaltsraum
Büro
Speiseraum
Jugendzentrum Freizeiteinrichtung für Jugendliche.
Sozialer Treffpunkt hoss eines SAGA-Hauses liegendes Büro sowie Gemeinschaftsräume für abulantes, betreutes Wohnen für psychisch Kranke (Ausbau in Planung)
Trockendock_ Lass tausend Steine rollen In einem Pavillion untergebrachte Probe- und Gemeinschaftsräume für Musiker suchtpräventive Maßnahme für Jugendliche
ja
kostenpflichtig
stark frequentiert
zeitlich begrenzt
multifunktional
informell
gemeinschaftlich
öffentlich
Innen
Laurens-Janssen-Haus Dienstleistungszentrum, mit Gastronomie und Bürgerservice, überwiegend für ältere Menschen.
privat
Räumlichkeiten für Hausaufgabenhilfe sowie Freizeitgestaltung
direktes Wohnumfeld
nicht alle in dieser Kategorie
Straßensozialarbeit
Verikom kulturelle Kommunikation und Bildung. Arbeiten in ihren Räumlichkeiten an Gesellschaftsstrukturen, nicht an Symptomen.
Freizeithaus Vermietung von Party- und Veranstaltungsräumen sowie Freizeit- und Sportangebote.
Kinderbauernhof lichkeiten.
Wohnzimmer SAGA-Gemeinschaftsräume Partyraum / Mietergemeinschaftsraum Kleingärten
Spiel- und Sportplätze Marktplatz
Soziale Einrichtungen Kirchdorf Süd
Grünanlagen
soziale Einrichtungen
Matrix Gemeinschaftsräume Kirchdorf Süd
21
MODELLTEICHE SAUNA
PARTYHAUS
Interessensgruppe
Eltern SAGA-MIETERGÄRTEN
Freunde
Cliquen Hausbetreuer große Familien Kriminelle
Männer
Kinder
1€-Jobber
Freunde
Menschen mit Problemen
MARKTPLATZ Familien Männer
SAGA-WOHNUNG
Familien
Cliquen
Großfamilien
Geschwister Cliquen
Freunde
Familien
DACHBODEN
NISCHEN Freunde
Kinder
FREIZEITHAUS
SCHULE
Kinder
Freunde
MÄDCHENTREFF Mädchen
SCHULE STÜBENHOFER WEG
Klasse
ältere Damen
Sozialarbeiter
Jugendliche Männer
Cliquen
(Kirchdorfer) Jugendliche
1€-Jobber
Hofkinder
junge Männer
Jugendliche
Freunde Familien
JANNSEN MITTAGSTISCH
Honorarkräfte
CONTAINER
KELLEREINGÄNGE PARTYRAUM
BÜRO EINRICHTUNG
TREPPENHAUS
Nachbarn
auffällige Gruppen
Jungs INSTITUTION
Platzhirsche
Cliquen
Mädchen
Geschwister
Interessensgruppe
Jugendliche Kriminelle
Väter
Piccolodamen
Freunde
SPIELHALLE
Kinder Frauen mit Kindern
Platzhirsche
ältere Damen
EIGENES ZIMMER
GEMEINSCHAFTSRAUM Nachbarn
Jugendliche
junge Männer
Eltern Freunde
Hausbetreuer
PARKPLATZ junge Männer Männer
junge türkische Paare
HAUSHALT ZUHAUSE Kinder
Jugendliche Kinder
DÖNERLADEN
deutsche Frauen
Mittelschicht
WOHNUNG
Eltern
(junge) Mütter
Jugendliche
Familien
Nachbarn
Familien
Kinder
Freunde
Freunde
Familien
Freunde
Freunde
PARKS
LAUBEN
SAGA-BLÖCKE
HAUS
SPIELPLATZ
GRÜNZÜGE
GARTEN
Familien
HORT
Interessensgruppe Mittelschicht
RÄUMLICHKEITEN VON VERIKOM
Freunde
Frauen
HDJ HALLE HDJ
Jugendliche Kinder
Familien
Frauen
junge Frauen
junge Frauen mit Kindern Eltern
Mittelschicht
PROBERÄUME Gymnasiasten
Gruppen und Gemeinschaftsäume
Gruppen Forscht man im Kontext dicht bewohnter Quartiere, ist eine differenzierte Bergriffsdefinition der vorhandenen sozialen Systeme von großer Bedeutung. In dieser Arbeit wird der Begriff des Gemeinschaftsraums ver wendet. Doch was verbirgt sich hinter einer Gemeinschaft und warum sprechen wir von Gruppen, die sich Gemeinschaftsräume aneignen? Könnte man in einer kleinen Siedlung wie Kirchdor f Süd nicht auch von Nachbarschaft sprechen? Zu klären ist also das Verständnis der Begriffe Gemeinschaft und Gruppe. Gemeinschaft in einem dicht bewohnten Quartier ist zunächst nicht gleichzusetzen mit Nachbarschaft. In einer Nachbarschaft leben Menschen im gleichen oder im angrenzenden Gebäude. Hier treffen Menschen aufeinander, die nicht unbedingt aufeinander treffen möchten. Nachbarschaft definiert sich durch eine Nähe die vor allem räumlicher Natur ist, man kann sich die Zusammensetzung der Individuen in der Regel nicht aussuchen. Auch wenn Nachbarschaft häufig als eine Form der Gemeinschaft bezeichnet wird, ist ein Gemeinschaftsgefühl nicht konstitutiv für Nachbarschaft (vgl. Evans, Schadat 2011:XX).
lauf der Forschungsarbeit mit dem Begriff der Gruppe. Sobald mehr als zwei Menschen mit geteiltem Interesse sich einander zugehörig fühlen, unmittelbar in Beziehung stehen und zwischen diesen eine Interaktion stattfindet, wird ausgegangen vom sozialen System der Gruppe. Die im Folgenden vorgestellten in Kirchdor f Süd vorgefundenen Gruppen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sind sie Resultat einer aus dem Datenmaterial erhobenen Anordnung. So wurden alle in den Inter views genannten und im Raum beobachteten Gruppen zunächst den ermittelten Räumen zugeordnet und anschließend nach ihrer Präsenz und Häufigkeit zusammengefasst. In Kirchdor f Süd ist beispielsweise eine gewisse Geschlechtertrennung wahrzunehmen. Dies ist womöglich auf den kulturellen Hintergrund der dort lebenden Menschen zurückzuführen. Eine weitere Differenzierung ist zwischen den Altersgruppen zu identifizieren. Innerhalb einer Gruppe besitzt der Einzelne individuelle Bedür fnisse, diese werden zu einem gemeinschaftlichen Bedür fnis transformiert. Dieses „Gruppen-Bedür fnis“ äußert sich wiederum in den Raumbedür fnissen der Gruppe bzw. in den Ansprüchen an den Gemeinschaftsraum.
Gemeinschaft impliziert eine starke soziale Ordnung, die nachbarschaftliche Verhältnisse nicht per se er füllen. Eine Gemeinschaft dagegen entwickelt sich durch ein gemeinsames Interesse ihrer Mitglieder. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl setzt ein, die Gemeinschaft kann sich somit von Außenstehenden abgrenzen. Ihre Mitglieder ver fügen über gemeinsame Interaktions(zeit)räume (vgl. Hitzler, Honer, Pfadenhauer 2010:10). Der Begriff der Gemeinschaft ist immer wieder stark mit Emotionen verbunden und in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Vorstellungen belegt. Um dieser Diskussion zu entkommen und die Idee der Gemeinschaft weder zu verabschieden noch sie utopisch zu verklären, arbeiten wir im weiteren Ver-
gemeinsames Bedürfnis
individuelles Bedürfnis individuelles Bedürfnis
individuelles Bedürfnis
individuelles Bedürfnis
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Präsenz zeigen/Raumhoheit und Machtverhältnisse demonstrieren/Sich ausprobiere/ Rückhalt/Traditionen nach gehen
Geld verdienen
Platzhirsche Mit Kollegen treffen - Geld zusammen-tr ampeln, dealen, trinken, fremde Jungs abziehen. Wenn Du ein Platzhirsch bist, ist Kirchdor f Süd dein Kosmos. Hier dreht sich deine Welt. Du kennst alle und du hast deine Kollegen. Du weißt was läuft, verbergen kannst du allerdings nichts. Wenn Du ein Junge bist, hast du in der Wohnung (die sowieso zu klein ist) nichts zu suchen; wenn du zusätzlich ein Schulabbrecher oder ein Schwänzer bist lungerst Du den ganzen Tag auf dem Marktplatz vor den Fensterscheiben der Geschäfte rum. Was du dort machst weißt du eigentlich auch nicht. Vielleicht etwas Geld zusammen-trampeln um es im Dönerladen in den Daddel-Automaten zu wer fen oder Kaffee zu trinken. Im „Zigeunerhof “ trinkst du Alkohol mit den Mädchen. Du kaufst und verkaufst Drogen und machst Geschäfte.
der Familie entkommen
dazugehören
sich ausprobieren/Rückhalt/Präsenz zeigen/ Raumhoheit und Machtverhältnisse demonstieren/Zeit zusammen verbringen
das andere Geschlecht treffen
Cliquen
sich gegen die Familie abgrenzen dazugehören
Wenn du Pech hast musst du weiter ziehen.
Wenn du ein Jugendlicher in Kirchdor f Süd bist kannst du mit deiner Clique bei der Straßensozialarbeit abhängen. Auf Dauer kannst du dort aber nicht bleiben. Im Sommer gehst du zum „Modelli“ oder in den „Zigeunerhof “ und vertreibst dir die Zeit mit Freunden. Deine Lieblings-Orte musst du die mit den Platzhirschen teilen und die können ab und zu sehr unangenehm werden. Im Winter funktionierst du Treppenhäuser, Dachböden und Kellereingänge zu Treffpunkten um. Bis dich die Nachbarn verpfeifen. Wenn du Glück hast sagt dir der Hausbetreuer du sollst „wenigstens“ deine Flaschen weg räumen. Wenn du Pech hast musst du weiter ziehen.
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geschützter Raum/Rückhalt/ Zeit zusammen verbringen
sich ausprobieren
Mädchen wenn es gut läuft studierst du vielleicht Jur a.
Wenn du ein Mädchen in Kirchdor f Süd bist, bleibst du daheim und übernimmst Aufgaben im Haushalt. Ab und an hängst du mit den Jungs rum aber wenn du Scheiß baust, weiß es eh jeder. Du gehst zum Mädchentreff, der geschützte Raum ist wichtig für dich. Dort machst du deine Hausaufgaben, triffst deine Freundinnen und es gibt HipHop-Tanzkurse. Ihr macht euch fit für die Zukunft und überlegt was ihr studieren wollt. Dein großer Bruder kann dir hier gar nichts sagen, anders als im Haus der Jugend dar f der hier nämlich nicht rein. Ab und an fährst du nach Harburg ins Phoenix Center um dir die Zeit zu vertreiben und irgendwann, wenn es gut läuft studierst du vielleicht Jura und kommst dann einmal die Woche zurück zum Mädchentreff in Kirchdor f Süd und bist ein „Junges Vorbild“.
der traditioneller Rolle entfliehen lernen
sich austauschen/ unter sich sein
Frauen (mit Kindern)
Besorgungen machen Freizeit Zeit für sich haben
Du könntest auch dr auSSen sitzen aber dr auSSen, da sitzen schon die Männer. Wenn Du eine Frau bist in Kirchdor f Süd, bist du wahrscheinlich verheiratet und/oder eine junge Mutter. Du läufst du mit Einkaufstüten beladen über den Marktplatz und schiebst einen Kinder wagen vor dir her. Unter wegs triffst du deine Cousinen und Tanten und hältst an für ein kleines Schwätzchen. Am Donnerstag gehst du auf den Markt. Vielleicht trägst du ein Kopftuch oder machst einen Deutschkurs bei Verikom. Deine Großeltern, Eltern, Geschwister, Onkels und Tanten leben im gleichen Haus oder auf der gleichen Etage wie du. Dein Kosmos ist deine Familie. Du hast aber auch Freundinnen, die wiederum sind ebenfalls junge Mütter. Vormittags, zwischen Einkauf und Essen kochen sitzt du vor dem Lecker Bäcker in der Ladenpassage und trinkst Kaffee. Du könntest auch draußen sitzen (denn die Sonne scheint) aber draußen vorm Dönerladen, da sitzen schon die Männer.
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Traditionen nach gehen/Zeit totschlagen
der Familie entkommen
Männer Die Zeit ist z äh und das Totschlagen selbiger mit Gleichgesinnten leichter. Wenn du ein Mann bist in Kirchdor f Süd, dann verbringst du deine Zeit im Freien (wenn es das Wetter zulässt), du sitzt vor dem Dönerladen am Marktplatz und trinkst Kaffee mit anderen Männern. Die Zeit ist zäh und das Totschlagen selbiger mit Gleichgesinnten leichter. Von deinem Standort aus lässt sich alles im Überblick behalten, du siehst alle kommen und gehen und behältst die Kontrolle. Mit den Frauen hast du tagsüber nichts zu schaffen, die Wohnung ist für euch alle zu klein. Du könntest dich nützlich machen aber deine Frau geht ja schon einkaufen.
sich austauschen der Familie entkommen
gemeinsam spielen und entdecken
Kinder Du verbringst deine Freizeit [...] dr auSSen, denn ein Zimmer teilst du dir mit deinen Geschwistern
Freundschaften knüpfen dem familiären Kontext entfliehen Fußball
Wenn du ein Kind in Kirchdor f Süd bist, dann bist du nicht allein, denn es gibt viele Kinder in Kirchdor f Süd. Du besuchst die Schule im Stübenhofer Weg und verbringst deine Freizeit am liebsten draußen, denn ein Zimmer teilst du dir mit deinen Geschwistern. Du spielst auf einem der Spielplätze unter Aufsicht deiner Mutter und Tanten, die draußen Kaffee trinken und schwatzen. Wenn auf dem Marktplatz etwas los ist, dann tummelst du dich mit allen anderen um die Polizeiautos. Wenn du schon etwas älter bist, gehst du ins Haus der Jugend. Dort triffst du deine Freunde, machst Sport oder daddelst auf der Spielekonsole. Aus Kirchdor f Süd kommst du nur selten raus. Aber vielleicht fahren deine Eltern mit dir am Wochenende zum Schwimmen oder nach Harburg zum Einkaufen.
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sich austauschen/Zeit totschlagen
Piccolo Damen
in Gesellschaft sein in Gesellschaft sein
in Gesellschaft sein
Dein Mann hat im Hafen gearbeitet, ist in Rente gegangen und ihr seid in Kirchdorf Süd geblieben. Wenn Du eine Rentnerin in Kirchdor f Süd bist, dann gehörst du zu den „Eingeborenen“. Du hast damals (in den Siebzigern) deine schlecht isolierte Altbauwohnung in Alt-Wilhelmsburg gerne gegen die große helle Wohnung mit Südbalkon und Zentralheizung in Kirchdor f Süd getauscht. Du wohnst in einer Genossenschaftswohnung aber keine von der SAGA. Dein Mann hat im Hafen gearbeitet, ist in Rente gegangen und ihr seid in Kirchdor f Süd geblieben. Das Quartier hat sich geändert, jetzt sind so viele von den „Anderen“ da. Du hast Zeit, deine Freundinnen auch. Ihr trefft euch jeden Tag im Janssen-Haus zum Mittagessen. Außer am Mittwoch, da geht ihr auf den Markt. Der auch nicht mehr das ist was er mal war aber am Imbiss gibt es Piccolo und Curr ywurst.
der zu engen Wohnung entfliehen/Zeit miteinander verbringen/Zusammenhalt
Familien Am Sonntag ist Familientag, du besuchst deine Eltern oder ihr geht in den Garten. Wenn Du eine große Familie in Kirchdor f Süd hast, dann hast du ein Platzproblem. Deine entfernteren Ver wandten wohnen bei dir auf der Etage, was sie gleichzeitig zu weniger entfernten Ver wandten macht. Wenn du mit der Groß-Familie etwas unternehmen möchtest dann gehst du zum „Modelli“, dort grillt ihr, spielt Fußball und redet. Am Sonntag ist Familientag, du besuchst deine Eltern oder ihr geht in den Garten (der dank deiner Onkels aus drei Gärten besteht). Oder deine Familie ist weniger groß aber ebenso wichtig, deiner Geschwister wohnen im gleichen Haus und deine Eltern im Haus nebenan. Ihr sitzt meistens vormittags auf dem Spielplatz vorm Haus tratscht und trinkt Kaffee.
Rollenspezifisch Rollenspezifisch
Rollenspezifisch
Rollenspezifisch Rollenspezifisch
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der zu engen Wohnung entfliehen/ Privatheit/sich austauschen
Nachbarn Wenn du Pech hast, sitzen die Jugendlichen in deinem Treppenhaus. Wenn du ein Nachbar in Kirchdor f Süd bist, dann hast Du mindestens 79 Nachbarn. Die Leute von neben an haben einen Mietergarten, du vielleicht nicht. Du hast du einen Hausbetreuer, der kann ein netter Typ sein, dem du alles erzählst: wer, was, wie, mit wem oder er ist dir total egal oder geht dir gewaltig auf die Ner ven. Du hast eine Wohnung, in der zu wenig Platz ist. Wenn deine Kinder Geburtstag haben, mietest du den Partyraum für zehn Euro. Wenn du Pech hast ist der allerdings ausgebucht. In den Gemeinschaftsräumen sitzen immer die gleichen Leute. Auf die hast du keinen Bock oder du sitzt selber drin, dann ist dir das gleich. Wenn du Sperrmüll hast könntest du ihn in den Sperrmüllraum bringen oder dir ist alles egal und du wir fst ihn vom Balkon. Wenn du Pech hast, sitzen die Jugendlichen in deinem Treppenhaus und machen Sachen von denen du lieber nichts wissen willst. Das einzige was du mit Sicherheit weißt: es stinkt nach Pisse.
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Rückhalt Raumhoheit und Machtverhältnisse demonstrieren unter sich sein
PLATZHIRSCHE
Präsenz zeigen
CLIQUEN
sich ausprobieren
MÄNNER
Traditionen nach gehen
FRAUEN
geschützter Raum
MÄDCHEN
sich austauschen
KINDER
Zeit zusammen verbringen
FAMILIEN
Zeit totschlagen
PICCOLO DAMEN
Zusammenhalt
NACHBARN
der zu engen Wohnung entfliehen gemeinsam spielen/entdecken
Raumbedürfnis Raumbedür fnis, also das Bedür fnis, einen bestimmten Raum aus bestimmten Gründen zu nutzen, muss nicht zwangsweise bewusst von den Nutzenden wahrgenommen und artikuliert werden. Identifiziert werden kann ein solches (unbewusstes) Raumbedür fnis beispielsweise durch Handlungen, also die beobachtbare Ausübung einer Tätigkeit in einem bestimmten Raum. Treffen sich in Kirchdor f Süd vor allem junge Mütter auf dem Marktplatz um miteinander zu reden, während die Kinder spielen, kann dies das Stillen des Bedür fnisses nach Austausch sein. Besonders deutlich wird das Raumbedür fnis, wenn ein Raum für Zwecke genutzt wird, wofür er nicht geplant wurde, also eine informelle Aneignung stattfindet. So okkupieren Jugendliche vor allem im Winter die Treppenhäuser der SAGA-Blöcke, um sich auszuprobieren.
räumlichen Kontext zu setzten, in dem sie erhoben wurden und diese stets auf die Subjektivität der Befragten und der Interpretation zurückzuführen. Die identifizierten Gruppen in Kirchdor f Süd haben diverse Raumbedür fnisse, anhand derer sie ihre Gemeinschaftsräume wählen. In diesem Zusammenhang ist wieder das Spacing und die Syntheseleistung des relationalen Raumverständnisses von Löw zu nennen: Nur durch das Zusammenspiel des gebauten und sozialen Raumes sowie die Wechselwirkung von Handeln und Strukturen entsteht Raum. Je nachdem, ob sich Bedür fnisse von Gruppen überschneiden oder diese vollkommen kontrovers sind, eignen sich Gruppen verschieden Räume oder eben den gleichen Raum als Gemeinschaftsraum an. Beide Formen erzeugen Raumkonkurrenz.
Gleichzeitig kann man sich einem Raumbedür fnis sehr wohl bewusst sein und fehlende Räume durch Aneignungen oder das Gruppen-Verhalten entweder einfordern oder den Mangel stillschweigend hinnehmen. Dies zu bedenken ist besonders für Planende von Relevanz. In dieser Arbeit wird versucht, Raumbedür fnisse zu identifizieren. Dies meint jedoch nicht, statische Durchschnittswerte zu identifizieren und zu benennen. Raumbedür fnisse sind individuell bzw. in diesem Fall gruppenspezifisch zu differenzieren, und auch hier nur eine Momentaufnahme: „Das Wort >Bedür fnis< gibt vor, etwas Objektives zu meinen. Jede Formulierung konkreter Bedür fnisse enthält aber nichtobjektivierbare Wertentscheidungen von Subjekten.“ (vgl. Bahrdt 1998:XX). Aus diesem Grunde ist es von enormer Wichtigkeit, formulierte Raumbedür fnisse in den zeitlichen und
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*
*
* Jugendzentrum
*
* Mädchentreff
* Janssen Haus
Markplatz
SAGA-Block
* StraĂ&#x;ensozialarbeit
Modellbau-Teiche
* Kinderbauernhof
* Freizeithaus
* *
* Jugendzentrum
*
* Mädchentreff
* Janssen Haus
Markplatz
Gruppen SAGA-Block
* Straßensozialarbeit
Familien Piccolo Damen Frauen Mädchen Kinder Cliquen Platzhirsche Männer Nachbarn
* Freizeithaus
*
Institutionen Staatliche Bildungseinrichtungen Schulen / Kitas
SAGA Gemeinschaftsräume Pförtnerlogen und Hauserschließung Gemeinschaftsräume Partyraum Mietergärten öffentlich nutzbarer Raum Grünanlagen Spielplätze Sportanlagen Gemeinschaftsarchitektur privater Raum Kleingärten
Raumbedür fnis - Aneignung
Wohnraum /Wohnzimmer
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Platzhirsche
Cliquen
Männer
Mädchen
Frauen
Kinder
Familien
Piccolo Damen
Nachbarn
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Gruppe I.I
Gruppe I.IIII
BÄÄM BÄÄM Bedürfnis auf Fläche I Gruppe I.III
Bedürfnis auf Fläche I
Fläche I
BÄÄM Gruppe I.II
Bedürfnis auf Fläche I
Gruppe I Bedürfnis II
Bedürfnis I
Gruppe II
BÄÄM
Raumkonkurrenz Innerhalb der Großwohnsiedlung stellt der ver fügbare Raum eine elementare Ressource dar. Bedingt durch den meist knappen individuellen Wohnraum können bestimmte Bedür fnisse nicht im privaten Raum ausgelebt werden. So ist in etwa die Zusammenkunft einer Großfamilie innerhalb der eignen vier Wände meist logistisch nicht umzusetzen. Die SAGA-GWG stellt innerhalb der Gebäude Räumlichkeiten für private Anlässe wie zum Beispiel Geburtstagsfeiern zur Ver fügung. Sind diese allerdings ausgebucht, bleiben als Ausweichmöglichkeit nur die öffentlich nutzbaren Räume. Für Aktivitäten im Freien wie beispielsweise ein Picknick oder Grillen steht den meisten Bewohnern ebenfalls kein privater Grün-Raum zur Ver fügung, nur die Wenigsten ver fügen über einen sogenannten Mietergarten. Dieser Umstand führt zu einer gewissen Raumkonkurrenz, innerhalb derer bestimmte Gruppen um dieselbe Fläche buhlen. Dabei entstehen teilweise Geschäfte unter der Hand, in denen beispielsweise die Mietergärten für Summen im vierstelligen Bereich von Mietern informell anderen Mietern “überlassen” werden. Konflikte können aber nicht nur durch zu viele Gruppen mit denselben Bedür fnissen und zu wenig ver fügbarem Raum entstehen, sondern ebenfalls durch gegenläufige Bedür fnisse von Gruppen, die parallel zueinander am selben Ort ausgelebt werden. So sind zum Beispiel Alkohol konsumierende Jugendliche auf den Spielplätzen oder in den Treppenhäusern für Eltern und Nachbarn oft ein Ärgernis.
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Gruppe I.I
Gruppe I.IIII
BÄÄM
BÄÄM Bedürfnis auf Fläche I Gruppe I.III
Bedürfnis auf Fläche I
BÄÄM
Fläche I
Gruppe I.II
Bedürfnis auf Fläche I
sich ausprobieren/ Raumhoheit und Machtverhältnisse demonstieren
der zu engen Wohnung entfliehen/ Zeit miteinander verbringen
sich ausprobieren/ Raumhoheit und Machtverhältnisse demonstieren
der zu engen Wohnung entfliehen/ Zeit miteinander verbringen
BÄÄM
BÄÄM
der zu engen Wohnung entfliehen/ Zeit miteinander verbringen Familie
Familie
Clique Platzhirsche
Familie
Gruppe I Bedürfnis II
Bedürfnis I
Gruppe II
BÄÄM Fläche I
sich ausprobieren/ Raumhoheit und Machtverhältnisse demonstieren
sich ausprobieren
der zu engen Wohnung entfliehen/ Zeit miteinander verbringen
Privatheit BÄÄM
BÄÄM
spielen
Clique
Familie Kinder
Clique
Nachbarn
Männer
Frauen
Piccolo Damen Mädchen
spielen Privatheit BÄÄM
Privatheit
Nachbarn
BÄÄM
sich ausprobieren/ Raumhoheit und Machtverhältnisse demonstieren
Clique
Kinder
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zoom Im Folgenden werden konkrete Orte Kirchdor f Süds auf Grundlage der bisherigen Erkenntnisse näher betrachtet. Die Beschaffenheit des Raumes und das Verhalten der vorgefundenen Gruppen werden hier rückgekoppelt und in ihren Zusammenhängen gezeigt. Das so aufgezeigte System macht einerseits deutlich, dass weder Ort noch Gruppe isoliert voneinander zu sehen sind, andererseits können bei diesem Prozess des Verstehens auch Verknüpfungen zu weitere Orte oder Gruppen eine Rolle spielen, welche auf den ersten Blick nicht im untersuchten Raum auftauchen.
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zoom Saga-Block Im SAGA-Block kommen zwar Einzelpersonen aller Gruppen zusammen - jedoch kaum eine Gruppe als solche. Vereinzelt entsteht ein nachbarschaftliches Verhältnis und man trifft sich im Mieter-Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss. Dieser ist jedoch meistens von einer bestimmten Gruppe besetzt und wird aus diesem Grund von anderen gemieden. Seine Beschaffenheit - klein, meist nur eine Sitzgruppe beherbergend - lässt eine Nutzung durch mehrere Gruppen kaum zu. Innerhalb der SAGA-Blöcke besteht also ein Mangel an Gemeinschaftsräumen, den sich weitere Gruppen aneignen könnten. Im privaten Wohnraum besteht ebenfalls ein Mangel an Gemeinschaftsraum. Die Wohnzimmer sind für (groß-) familiäre Zusammenkünfte zu klein oder durch soziale Probleme belastet. Die Familien weichen auf externen, privaten Raum aus. Dies kann der Mietergarten, ein mietbarer Partyraum oder auch einfach der Park an den Modellteichen sein. Konkurrenzen innerhalb der Gebäude zwischen den Familien/ Nachbarn und der Gruppe der Jugendlichen, die die Treppenhäuser und Kellereingänge temporär als Nischen okkupieren. Sie stoßen hier als Gruppen mit unterschiedlichen Raumbedür fnissen aufeinander. Mancher Hausbetreuer, der primär als Kontrollinstanz eingestellt wird, trifft mit den Jugendlichen inoffizielle Arrangements, hierdurch können Konflikte tendenziell verringert werden. Die SAGA-Blöcke sind somit Mangel- sowie Ausgleichsort.
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Freizeit
Gruppen
Familien Piccolo Damen Frauen
Lernen & Weiterbilden Kochen & Essen Nachbarschaftsraum
Kaffee trinken
Sich ausprobieren Wohnen Spielen
Mädchentreff
Mädchen Kinder Cliquen Platzhirsche Männer Nachbarn
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Partyraum
Treppenhaus
Wohnzimmer
SAGA Block
Hausbetreuer-Loge/Mieterraum
Pförtner
„Ich könnte bis Mitternacht arbeiten, dann kommen sie um 5 nach zwölf. Da kann man nichts machen. Man muss sich arrangieren mit den Jugendlichen. Mit Gewalt verschärft sich die Sache und du hast noch mehr Ärger.“
Bewohnerin, alleinerziehende Mutter rSAGA entröHausbetreuer fP
Da war eine Clique, die sich hier immer wieder getroffen hat. Piccolo-Dame
Freizeithaus „Dachböden, Kellereingänge oder treppen zwischen zwei Etagen werden im Winter zu Nischen von Jugendlichen. Wie damit umgegangen wird kommt auf die Bewohner und den Hauspförtner an. Jugendliche rettuM edneheizreniella ,nirenhoweB brauchen Nischen, in Kirchdorf-Süd ist das aber auch ein gefährliches Spiel bezüglich illegaler Geschäfte und Straßensozialarbeiterin Jugendzentrum Mitarbeiterin Gewalt.“ Straßensozialarbeit Pförtner
Bewohnerin, alleinerziehende Mutter rentröfP
niretiebralaizosneßartS Bewohner (leckerbäcker)
Piccolo-Dame
Spielplatz
„Ich bin alleinerziehend. Damit meine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, ihr eigenes Zimmer haben, schlafe ich in der Stube. (…) Meine Geschwister und Freunde treffe ich draußen auf dem Spielplatz, wenn die Kinder spielen.“
rettuM edneheizrenBewohnerin iella ,nirenhoweB Straßensozialarbeiterin
Jugendzentrum
„Wir wohnen alle in einem Haus. Insgesamt acht Wohnungen gehören uns. Ein Nachbar meinte schon, bald gehört uns das ganze Haus. Sonntag ist Familientag. Wir treffen uns alle bei )rekcäbrekcel( renhoweB meinen Eltern. Meistens aber im Garten. Da ist mehr Platz. Uns gehören mittlerweile drei nebeneinander liegende Gärten.“ Bewohner Pförtner
eguJ
Partyraum
niretieb(leckerbäcker) ralaizosneßartS Bewohner Bewohnerin, alleinerziehende Mutter
Piccolo-Dame
„Die Mieter-Gemeinschaftsräume sind meistens aber von einer bestimmten Gruppe besetzt, die wiederum andere Nachbarsgruppen abstößt.“ )rekcäbrekcel( renhoweB Straßensozialarbeiterin Mitarbeiterin
Straßensozialarbeit
Spielplatz Jugendzentrum
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zoom marktplatz
richtet sind. Der Marktplatz kann stellvertretend für den öffentlich nutzbaren Raum betrachtet werden. Gruppen, die ihre Bedür fnisse nicht selbst vertreten können, finden sich in den Institutionen wieder. Neben einem geschützten Gemeinschaftsraum bieten die Einrichtungen Beratung und Unterstützung in allen Lebenslagen und decken so Raunbedür fnisse, die ander weitig nicht gestillt werden können. Bei neuen institutionellen Projekten werden auch neue Bedür fnisse sichtbar.
Ein Marktplatz ist ein konstitutionalisierter Raum (vgl. Löw 2006:162): Marktplätze besitzen eine immer sehr ähnliche “(An)Ordnung”, in der Mitte eine freie Fläche, ringsherum Läden. Der Marktplatz dient aufgrund seiner baulichen Beschaffenheit und seiner Konstitutionalisierung als Bühne, besonders den Jugendlichen. Hier kann man Präsenz zeigen und wird von besonders vielen Menschen wahrgenommen, die wiederum durch das Angebot des Marktplatzes angelockt werden. Aus diesem Grund ist hier eine Vielzahl von Gruppen vorhanden, die sich in einer Koexistenz im Raum positionieren. Die Frauen schlendern mittwochs mit ihren Kindern über den Markt, sitzen beim Bäcker oder auf den Bänken vor dem Penny, die Männer gruppieren sich vor dem türkischen Dönerladen. Die alten Damen trinken ihren Piccolo vor der deutschen Imbissbude, hier werden Bratkartoffeln mit Speck ser viert. Die Kinder spielen an den Rändern des Platzes, bis sie von ihren Eltern gerufen werden. Jede Gruppe weiß, wie sie sich zu verhalten hat. Trotz der funktionierenden Parallelität kann eine gewisse Machtkonstellation nicht außer Acht gelassen werden: Die Gruppe der Platzhirsche hat sich Bereiche des Marktplatzes als Gemeinschaftsraum angeeignet, sie besitzen vor allem in den Abendstunden die Raumhoheit. Manche Gruppen, die in der Konkurrenz auf dem Marktplatz eine untergeordnete Rolle spielen und hier nur begrenzt Raum finden, werden bei den sozialen Einrichtungen fündig, deren Angebote gruppenspezifisch ausge-
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KIOSK
HIER BIN ICH
HIER BIN ICH
Supermarkt Post KIOSK
Gruppen
Kiosk Sitzgelegenheit
Essen
Imbiss
Unterhalten
Bushaltestelle Restaurant Gemüseladen / Markt Bäckerei Kneipe
Beobachten HIER BIN ICH
Präsenz zeigen Spielen Wohnen
Familien Piccolo Damen Frauen Mädchen Kinder Cliquen Platzhirsche Männer Nachbarn
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Marktplatz
tner
n, alleinerziehende Mutter
ozialarbeiterin Pförtner
hnerin, alleinerziehende Mutter
r (leckerbäcker)
ßensozialarbeiterin
„Eigentlich hat man hier alles was man braucht, aber eine Eisdiele, wo man draußen sitzen könnte, wäre schon schön. […] Wir treffen uns jeden Mittwochnachmittag hier, wenn Markt ist. Wenn kein Markt ist sind wir im Janssen-Haus.“
Pförtner
Piccolo Dame Piccolo-Dame
Bewohnerin, alleinerziehende Mutter
Jugendzentrum
Piccolo-Dame
„Manchmal muss man gewisse Gruppen stärker fördern, um sie aufholen zu lassen, ihnen eine größere Dominanz im Stadtteil gewährleisten. Irgendwann müssen wir die Gruppe „ablösen“ und neue Bedarfgruppen durch offenes Angebot finden.“
Straßensozialarbeiterin Mitarbeiterin
Straßensozialarbeit
Jugendzentrum
Soziale Einrichtungen
Piccolo-Dame
Bewohner (leckerbäcker)
Jugendzentrum
Mitarbeiterin Haus der Jugend
„ Unser Einfluß auf Jugendliche ist langfristig groß, man sieht über die Jahre individuelle Entwicklungen. Man erreicht jedoch nicht jeden. Die Platzhirsche vom Markt würden nie unsere Einrichtung betreten.“
ohner (leckerbäcker)
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zoom Mittelachse Die Mittelachse ist ein nachträglich, im Zuge des Sanierungsver fahrens, geplanter Gemeinschaftsraum. Er bleibt trotz vielfach vorhandener Gemeinschaftsarchitektur wie zum Beispiel Sitzelementen von Gruppen weitestgehend ungenutzt. Hier befinden sich keine eindeutigen oder gruppenspezifischen Angebote. Die bauliche Beschaffenheit der Umgebung die umliegenden Gebäude, verursachen eine erhöhte soziale Kontrolle. Was hier geschieht, kann von den Fenstern aus beobachtet und somit weitergetragen werden. Nicht nur die Gruppen, die Nischen brauchen, sondern fast alle Gruppen wandern ab zu den deutlich weniger sozial kontrollierten Gemeinschaftsräumen, allen voran die Modellteiche. Lediglich die Kinderspielplätze an den Eingangsbereichen der SAGA-Blöcke profitieren von der baulich erzeugten sozialen Kontrolle. Zum Beispiel stehen Mütter an den Fenstern, rufen ihre Kinder herein oder werfen - wenn es nicht zu hoch ist - ein Trinkpäckchen herunter.
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Gruppen
Familien Piccolo Damen Frauen Mädchen Kinder Cliquen Platzhirsche Spazieren
Männer
unterhalten
Nachbarn
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Mittelachse
Pförtner
Modellteiche Bewohnerin, alleinerziehende Mutter
Piccolo-Dame
„Zum Grillen gehen die Familien zu den Modellteiche. Dies findet nicht hier im umliegenden Grünzug statt. Man fühlt sich beobachtet. Dennoch ist das Grün eine enorme Aufwertung im Gegensatz zu vorher.“ Straßensozialarbeiterin Mitarbeiterin
Straßensozialarbeit
Jugendzentrum
Mietergärten
Bewohner (leckerbäcker)
Spielplatz
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Alt Kirchdorf
Dachflächen
Mittelachse
Mittelachse
Parkdeck/Parkplätze
Landwirtschaftlich genutzte Flächen
potenzieller Gemeinschaftsraum
tierte Parkgarage wird ebenfalls als potenzieller Gemeinschaftsraum in Betracht gezogen. Da die vormals geplante Funktion des Parkens nahezu entfällt, könnte die Garage als gebaute Struktur einer neuen Nutzung zugeführt werden. Die von der SAGA installierten Mietergärten am Rande des Quartiers gelten als knappe Ressource, der Druck auf private Freiflächen in Kirchdor f Süd ist groß. An die bestehenden Gärten angrenzend finden sich landwirtschaftliche Flächen, welche keiner besonderen Nutzung unterliegen. Diese Flächen gelten ebenso als potenzielle Gemeinschaftsräume. Als nicht erschlossener Raum sind des Weiteren die Dachflächen der SAGA-Wohnblöcke zu nennen sowie die im Eingangsbereich der Gebäude liegenden Mieter-Gemeinschaftsräume. Diese sind, gekoppelt an die Anwesenheit der Hausbetreuer, für jeden Mieter frei zugänglich. Die zur Ver fügung stehenden Räume werden allerdings nur von einer sehr kleinen Gruppe der Bewohner frequentiert. Und letztendlich gilt auch Alt Kirchdor f in seiner Gesamtheit als potenzieller Gemeinschaftsraum. Innerhalb der Forschung wurden bereits bestimmte Bereiche der Siedlung, als von Gruppen (aus Kirchdor f Süd) gemeinschaftlich genutzter Raum ausgemacht.
Wie bereits zu Beginn der Forschung festgestellt, besitzt Kirchdor f Süd eine Vielzahl von Gemeinschaftsräumen doch nicht alle ver fügbaren Räume werden genutzt. Diese Räume können als „Potenzielle Gemeinschaftsräume“ betrachtet und gedacht werden. Innerhalb des Quartiers liegt die im Zuge des Sanierungsprogrammes parkartig gestaltete Mittelachse. Die Umgestaltung dieses Bereiches wird von den Bewohnern explizit als Verbesserung der Gesamtsituation beschrieben, dennoch weißt der Raum keine explizite Gruppen-Nutzung auf. Bedingt durch die umliegende Bebauung und die dadurch gegebene Möglichkeit der „Obser vation“ verhindert die Soziale Kontrolle die Aneignung der Mittelachse als Gemeinschaftsraum. Die im westlichen Teil des Quartiers an die Mittelachse angrenzende ausschließlich niedrig frequen-
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Strategien
strategien Die Gemeinschaftsräume und Gruppen Kirchdor f Süds sind identifiziert, auch das Wechselspiel zwischen ihnen ist nachzuvollziehen. Dieses generierte Wissen kann nun dazu genutzt werden, einen Schritt weiterzugehen. Wie kann das erlangte Wissen verarbeitet werden? Wie gelingt es die vorhandenen Gemeinschaftsräume neu zu denken und Potenzialräume für Gruppen nutzbar zu machen? Die gewonnenen Erkenntnisse werden folgend in ortsbezogene und raumspezifische Strategien transformiert.
einzelnen Gruppen, die sich zum Teil überschneiden oder sich kontrovers verhalten. Je nach Konfliktsituation bietet sich die Auswahl einer Strategie an. Jede Strategie lässt situationsbezogenen Spielraum für individuelle Interpretationen. Auf Grund der Komplexität der gelebten Wirklichkeit ist es schwierig die Strategien strikt voneinander zu trennen und es kommt zu inhaltlichen Überschneidungen. Dennoch hat jede einzelne Strategie ihre Berechtigung. Inhaltlich bedar f es durchaus auch einer Kombination von mehreren Strategien.
Strategien sind problembezogene Handlungsmöglichkeiten, in diesem Fall der Umgang mit Gruppen und ihren Räumen in Kirchdor f Süd. Da die Strategien im Dialog mit dem Quartier entwickelt wurden, haben sie eine eingeschränkte Reichweite und sind auf die Momentaufnahme Kirchdor f Süd bezogen. Je nach Situation bzw. Konflikt bietet sich eine andere Strategie bzw. eine individuelle Interpretation einer Strategie an. Strategien bieten auf Grund ihrer Wiederholbarkeit die Chance über mehr als einen Ort nachzudenken und sind auf alle erarbeiten Potenzialräume frei kombinierbar anwendbar. In ihrer Gesamtheit besitzen sie den Anspruch den Handlungsbedar f in Kirchdor f Süd abzudecken. Strategien bieten ohne konkrete Aussagen über spezifische Lösungsvorschläge, eine generelle, problembezogene Hilfestellung im Umgang mit räumlichen Konfliktsituationen von Gruppen. Des Weiteren sie bieten die Möglichkeit, als Handlungsperspektive kommuniziert, einen weiteren Aushandlungsprozess mit allen involvierten und betroffenen Akteuren zu ver folgen. In Kirchdor f Süd ergeben sich folgende Strategien im Umgang mit Gruppen und ihren Räumen: Steuerung durch Angebote, Verdeutlichung des Raumcharakters, Schaffung von Rückzugsorten, Ermöglichen von Parallelität und Stärkung von leisen Gruppen. Die fünf Strategien ergeben sich aus den ermittelten Bedür fnissen und den zwei Konkurrenzarten der
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Steuerung durch Angebote Die Arbeit der sozialen Einrichtungen zeigt, dass ein gezieltes Angebot für Gruppen eine steuernde Funktion hat. Die Piccolo Damen gehen nachmittags ins Janssen-Haus und treffen sich zum Kuchen, die Kinder spielen im Jugendzentrum Basketball und die Frauen der Mittelschicht belegen einen YogaKurs im Freizeithaus. Die Gruppen verteilen sich je nach Interessenslage auf die verschiedenen Räume. Neben den zahlreichen Hilfsangeboten wird diese Annahme ebenfalls auf dem Marktplatz bestätigt. Die unterschiedlichen Gruppen werden von den verschiedenen Funktionen die der Marktplatz besitzt angezogen. Sei es der Supermarkt oder der Wochenmarkt wo die jungen Frauen einkaufen gehen, der Imbiss in dem die Männer Tee trinken oder die Sitzmöglichkeiten an denen sich die Jugendlichen abends treffen. Der Markt wird zu einem institutionalisierten Raum, in dem jede Gruppe weiß, wo und wie sie sich zu verhalten hat. Das gezielte Einsetzen von Angeboten und Funktionen kann somit eine steuernde Funktion übernehmen und Gruppen in bestimmten Räumen in den Fokus stellen.
Verdeutlichung des Raumcharakters Unter dem Charakter eines Raumes verstehen wir in diesem Fall, ob ein Raum unabhängig der Eigentumsverhältnisse einen eher privaten, gemeinschaftlich oder öffentlichen Raumcharakter besitzt. Denn auch wenn ein Raum öffentlich nutzbar ist, kann es sein, dass er einen eher privaten Raumcharakter besitzt. So zum Beispiel die Modellteiche. Es handelt sich um einen öffentlichen Park, der von den Bewohnern jedoch als Ausweichort für ein privates Zusammenkommen genutzt wird. Auch die Mittelachse ist als öffentlicher Grünzug definiert. Auf Grund der baulich bedingten sozialen Kontrolle wird der Ort jedoch nicht als solcher wahrgenommen
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Schaffung von Rückzugsorten Die meisten Gruppen weisen das Bedür fnis nach Rückzugsorten auf. Familien suchen nach Möglichkeiten ihre eigenen vier Wände zu er weitern. Die Gruppe der Mädchen versucht sich außerhalb Familie-Kontextes Raum für die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu schaffen und Jugendlichen brauchen in ihrer Sturm-und-Drang-Phase Nischen, in denen sie sich unbeobachtet ausprobieren können. Je nach Gruppe werden verschieden Räume beansprucht, die dennoch den gemeinsamen Anspruch besitzen, einen geschützten Raum zu bilden.
Ermöglichenvon Parallelität Trotz der individuellen Raumansprüche sind Gruppen auch auf ein soziales Miteinander ausgerichtet und suchen Orte, die massentauglich sind. Dies gilt innerhalb gleichartiger sowie unterschiedlicher Gruppen. Sehen und gesehen werden spielt im städtischen Kontext eine nicht zu vergessene Rolle. Die Platzhirsche benutzen den Marktplatz als Bühne um ihre Raumhoheit auszudrücken. Die Modellteiche profitieren, trotz privaten Raumcharakters, von einer von vielen Gruppen produzierten Leichtigkeit. Und für die Gruppe der Nachbarn ist es unabdingbar, dass ein reibungsloses Miteinander gewährleistet ist.
Stärkung von leisen Gruppen Es hat sich herausgestellt, dass bestimmte Gruppen in keine Raumkonflikte involviert sind. Diese leisen Gruppen stehen nicht aktiv für ihre Bedür fnisse ein bzw. okkupieren keine neuen Räume für sich. So suchen sich vor allem junge Frauen, Mädchen und auch Kinder Resträume, die sonst von keiner Gruppe beansprucht werden. Diesen Gruppen gilt es verstärkt zu helfen, Raumansprüche geltend zu machen.
Szenarien
Szenarien Mittelachse Zur Veranschaulichung der Vielseitigkeit im Umgang mit den Strategien, werden exemplarisch verschiedene Szenarien für ein und denselben Potenzialraum, die Mittelachse, entwickelt. Die vorgeschlagenen Interpretationen stellen das Bedür fnis einer Gruppe in den Vordergrund und zeigen die Auswirkungen auf den Raum und die jeweils anderen Gruppen. Jedes Szenario ist eine Abfolge von Annahmen, die sich aus dem Gelernten ergibt. Sie sind wertfrei zu betrachten und zur Veranschaulichung der Möglichkeiten und deren Auswirkungen. Der Aushandlungsprozess über die Verträglichkeit der Szenarien, benötigt den Austausch und eine Teilhabe der Gruppen vor Ort. Nur in einem gemeinsamen Prozess führen die Strategien sowie die entwor fenen Szenarien zu einer räumlichen Lösung, die einem relationalen Verständnis von Raum gerecht wird.
auffindbar. Trotz der vielfältigen Aufenthaltsmöglichkeiten beanspruchen nur vereinzelt Gruppen den Raum für sich. Wenn überhaupt wird die Mittelachse lediglich temporär von wenigen Bewohnern genutzt. Meist dient sie als Durchgangsort. Das während des Forschungsprozesses erhobene Material verdeutlicht warum die Mittelachse trotz ganz bewusster (Um-) Gestaltung, den an sie gestellten Anspruch als quartiersinterner öffentlich nutzbarer Freiraum zu fungieren nicht er füllen kann. Die Flächen werden beidseitig von Bebauung flankiert, diese ermöglicht eine permanente Einsicht auf den Freiraum und produziert somit eine hohe soziale Kontrolle. Wie aus Inter viewmaterial her vorgeht stellt eben diese soziale Kontrolle (Kirchdor f Süd ist ein Dor f mit 6000 Einwohnern) einen elementaren Faktor des Zusammenlebens in Kirchdor f Süd dar. Verdeutlicht man sich allerdings die Mechanismen die zur derzeitigen Situation führen und bedenkt diese beim Umgang mit dem Raum, so ist die Mittelachse eine Bedeutende Gemeinschaftsraum-Kapazität. Im Folgenden dient sie als „Testraum“ für die auf Grundlage der Strategien entwickelten Szenarien.
Bei der, durch das Sanierungsprogramm umgestalteten Mittelachse, handelt es sich um zwei innerhalb des Quartiers zentral gelegene Freiräume. Sie erstrecken sich ausgehend vom Marktplatz Richtung Osten und Westen, bilden beidseitig eine Art Achse und ermöglichen eine fußläufige Erschließung der Siedlung. Die vormaligen Parkplätze wurden parkartig umgestaltet und ver fügen über diverse Gestaltungselemente so sind neben den in Kirchdor f Süd allgegenwärtigen Wettern, topografische Elemente, eine Zonierung durch Bepflanzung und Rank-Gerüste sowie diverse Sitz- und Aufenthaltsmöglichkeiten
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Das Pferd
Bekanntheitsgrad des Kinderbauernhofes nutzen. > Verknüpfung nach Hamburg Potenzial Kinderbauernhof Kirchdorf Süd „Verbindungen innerhalb des Quartier entstehen oft über Kinder.“ Mitarbeiterin Straßensozialarbeit
X
Das Szenario, „Das Pferd“, stellt die Bedür fnisse der Gruppe Kinder in den Vordergrund. Anknüpfend an das Potenzial des Kinderbauernhofs, wird die Mittelachse zur Weidefläche. Der Kinderbauernhof ist 1987 aus einer Initiative engagierter Eltern entstanden und ist als eingetragener Verein gemeinnützig tätig. Er ist in seiner Art einzig artig in Hamburg und besitzt bei den Kirchdor f Südlern einen hohen Stellenwert. Neben der Wissensvermittlung und Umwelt-Pädagogik stellt der Verein die emotionalen
Anbindung an vorhandene Institution
kostengünstige Grünflächenpflege
„Die Spielplätze werden für die Kleinen mit der Zeit langweilig.“
günstiger Unterhalt
1987 aus einer Initiative engagierter Eltern entstanden und ist als eingetragener Verein gemeinnützig tätig. Er ist in seiner Art einzig artig in Hamburg und besitzt bei den Kirchdor f Südlern einen hohen Stellenwert. Neben der Wissensvermittlung und Umwelt-Pädagogik stellt der Verein die emotionalen Bedür fnisse und kreativen Potenziale von Kindern in den Vordergrund. Für die Gruppe Kinder stellt der Kinderbauernhof eine enorme Bereicherung zu den für sie zugewiesenen Kinderspielplätzen, die mit der Zeit ihre Attraktivität verlieren, dar. Zunächst wird die Fläche durch eine Einzäunung für alle Grup-
pen unnutzbar. Durch die Ansiedlung eines Pferdes wird die Fläche jedoch zu einem Magnet für Kinder. Die skurrile Situation, die Grünfläche zwischen den Hochhäusern in eine idyllische Weidenlandschaft umzuwidmen, erzeugt bei den anderen Gruppen wohl eher eine anfängliche Irritation, mit der sich jede Gruppe dann individuell auseinandersetzt. Der Prozess dieses Szenarios ist offen und ungewiss. Genau hierin besteht der Reiz. Bleibt es eine temporäre Inter vention, entsteht eine Wechsel-Ausstellung, kommt es zu Partnerschaften, bei der sich unterschiedliche Gruppen um das Tier kümmern?
Kooperation mit Kinderbauernhof
Meidung des Raums
verringert das Raumangebot
Lernen / Spielen
Stärkung der Gruppe
Raum rückt ins Bewusstsein
Raum als Treffpunkt
Rückzugsort / Nische
geschützter Raum
Fläche einzäunen/Pferde ansiedeln
!
Platzhirsche Cliquen
Kinder werden angezogen Männer
Rotation verschiedener Tiere
Frauen (mit Kindern) Mädchen Kinder
Patenschaften anbieten
Familien Piccolo-Damen Nachbarn
85
Die Gärten Das Szenario Nachbarschaftsgärten greift den Raummangel der Mietergemeinschaftsräume innerhalb der Häuser auf. Die Gärten stellen ein er weitertes und vielseitigeres Raumangebot dar und ermöglichen es, sich in kleinem Rahmen als Nachbarschaft zu treffen. Wich man bisher auf die nah gelegenen Spielplätze aus, hat nun jedes Haus einen eigenen, definierten Freiraum für sich. Gemeinschaftlich nutzbarer Raum ist ein Schwellenbereich zwischen öffentlich und privat. Durch das Wechselspiel von
BÄÄM
Im Mietergemeinschaftsraum sitzt immer die selbe Clique, da geht dann kein anderer mehr hin.“
„Auf dem Balkon trockne ich nur meine Wäsche.“
Bewohnerin Kirchdorf Süd
Zuweisung von privatem Raum mit öffentlichem Raumcharakter, entsteht eine Hybridform, die die Nachbarschaften für sich nutzen und individuell gestalten können. Sie haben je nach Bedar f eine Nische oder Bühne. Wichtig während des Prozesses ist die Eigeninitiative der Häuser. Langfristig unterhalten wird der Nachbarschaftsgarten von der Gruppe selbst bzw. unterstützend von dem SAGA-Hausbetreuer organisiert. Initial-Hausgemeinschaft über Hausbetreuer Kurzfristige Maßnahme: Garten markieren und sichtbarmachen
Gemeinsam Nutzungskonzept entwickeln
Meidung des Raums
verringert das Raumangebot
Lernen / Spielen
Stärkung der Gruppe
Raum als Treffpunkt
geschützter Raum
Feste, Blumenverkauf auf Markt, Ankauf von Kleingärtnern...
Rückzugsort / Nische
€ LANGFRISTIGE SELBSTFINANZIERUNG
Raum rückt ins Bewusstsein
Startkapital von SAGA / Genossenschaft
!
Platzhirsche
KOOPERATIONEN
GaLa-Firmen, Kleingärtner, Hausbetreuer als Schlüsselwächter
Cliquen Männer
Frauen (mit Kindern)
Weitere Nachbarschaftsgärten aus Eigeninitiative der Bewohner anderer Häuser entstehen
Mädchen
Ausweitung auf Dachflächen und Hausflure denkbar
Kinder
Familien Piccolo-Damen Nachbarn
87
Diewildnis Im Szenario Wildnis wird die Fläche sich selbst überlassen und lediglich ein offener Container mitten auf die Fläche gestellt. Wird der Raum von den meisten Gruppen gemieden, eignen sich Jugendlichen und zeitweise Kinder die nicht mehr einsehbare Nische an. Es entsteht ein, nicht ganz ungefährlicher, Raum.
BÄÄM
„Dachböden, Kellereingänge oder treppen zwischen zwei Etagen werden im Winter zu Nischen von Jugendlichen.“
BÄÄM Mitarbeiterin Straßensozialarbeit
BÄÄM
„Man muss sich arrangieren mit den Jugendlichen. Mit Gewalt verschärft sich die Sache und du hast noch mehr Ärger.“
Hausbetreuer SAGA Block
Meidung des Raums
verringert das Raumangebot
Lernen / Spielen
Stärkung der Gruppe
Raum als Treffpunkt
Rückzugsort / Nische
geschützter Raum
Nachverdichten & Container platzieren
Raum rückt ins Bewusstsein
Spontanvegetation entwickelt sich
!
Platzhirsche Cliquen Männer
Frauen (mit Kindern)
Cliquen eignen sich Räume an/ Nischen entstehen
Mädchen Kinder
Familien Piccolo-Damen Nachbarn
89
das Kino Ein Freiluftkino ist ein Angebot, dass es viele Gruppen gleichzeitig ermöglicht den Raum zu besetzen. Es fördert die Gemeinschaft Kirchdor f Süds im Ganzen. Es entstehen trotz gemeinsamen Aufenthalts keine Konkurrenzen bzw. Raumhoheiten von bestimmten Gruppen. Die jahreszeitliche beschränkte Inter vention lässt zudem weitere Aneignungen offen.
Meidung des Raums
verringert das Raumangebot
Lernen & Spielen
Stärkung der Gruppe
Raum rückt ins Bewusstsein
Raum als Treffpunkt
Rückzugsort / Nische
geschützter Raum
Freiluftkino bewerben
!
Platzhirsche Cliquen Männer
Frauen (mit Kindern) Mädchen
Spielzeit: eine Saison DO/8 Bei Erfolg jährliche Veranstaltung 2013
2012
Kinder
Familien Piccolo-Damen Nachbarn
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der Garten Das Szenario bildet einen Schutzraum für die sogenannten „leisen Gruppen“, diese sind zwar im Gemeinschaftsraum vorhanden, aber eher passive Nutzer. „Der Garten“ wandelt die Mittelachse Anteilig in einen „Frauengarten“ um, dieser dient als Anbaufläche für Gemüse, welches wiederum in einem zugehörigen Laden verkauft werden kann. Das Szenario sieht eine, dem Wachstum der Ökonomie angepasste Vergrößerung der genutzten Fläche vor. Ziel ist es der Gruppe Frauen langfristig einen höheren Stellenwert innerhalb des Quartiers zu verschaffen. Langfristig kann sich „Der Garten“ anderen Gruppen öffnen.
Frauen benötigen (durch Soziale Einrichtungen) definierte Räume
Unabhängigkeit
Raumangebot erweitern
„Auf dem Marktplatz gibt es eine klare Trennung von Frauen und Männern. Die Frauen sitzen immer hier drinne, im Cafe.“ Bewohner Kirchdorf Süd
Vereinsgründung Startphase: Nutzgarten auf kleiner Parzelle anlegen
Kooperation:
Meidung des Raums
verringert das Raumangebot
Lernen / Spielen
Stärkung der Gruppe
Raum rückt ins Bewusstsein
Raum als Treffpunkt
Rückzugsort / Nische
geschützter Raum
Kleingärtner können Gemüse an Frauengarten verkaufen
!
Bei Bedarf Fläche vegrößern
Platzhirsche Cliquen Männer
Gastronomie etablieren Bei Bedarf Fläche vegrößern und auf landwirtschaftliche, externe Flächen ausweichen Bildungsarbeit anbieten (Führungen für Schulklassen...)
Frauen (mit Kindern) Mädchen Kinder
Familien Piccolo-Damen Nachbarn
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Quellen Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a.M. Hitzler, Ronald / Honer, Anne / Pfadenhauer, Michaela (2010): Posttraditionale Gemeinschaften. Wiesbaden Evans, Sandra / Schahadat, Schamma (2011): Nachbarschaft, Räume, Emotionen. Bielefeld Bahrdt, Hans Paul (1998) in: Die Stadt in der Bundesrepublik Deutschland. Leverkusen Freie und Hansestadt Hamburg (2003): Stadterneuerung Wilhelmsburg S3 Kirchdor f Süd, Abschlussbericht. Hamburg
Abbildungsverzeichnis Seite 11 Kirchdor f Süd 1989. Freie und Hansestadt Hamburg (2003): Stadterneuerung Wilhelmsburg S3 Kirchdor f Süd, Abschlussbericht. Hamburg Seite 12 Kirchdor f Süd Erneuerungskonzept. Freie und Hansestadt Hamburg (2003): Stadterneuerung Wilhelmsburg S3 Kirchdor f Süd, Abschlussbericht. Hamburg
Urban Design Projekt Wohnen als Praxis Kirchdorf Suburbia