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Die Entstehung von Obligationen
Das Obligationenrecht (OR) ist von der ursprünglichen Systematik her der fünfte Teil des ZGB. Es ist aber ein selbstständiges Gesetz mit einer eigenen Nummerierung der Artikel und einer Gliederung in fünf Kapitel (= Abteilungen). Das OR enthält Vorschriften zu den verschiedensten Verträgen, zu den Rechtsformen von Unternehmungen, zur Buchführung und zu Wertpapieren. Es kann deshalb als das zentrale Rechtsbuch für das Wirtschaftsleben bezeichnet werden. Obligationen sind «Schuld- und Forderungsverhältnisse», die eine Partei zu einer Leistung verpflichten und die Gegenpartei zur Einforderung dieser Leistung berechtigen. Typische Beispiele für solche Schuld- und Forderungsverhältnisse ergeben sich aus Kauf-, Miet- oder Arbeitsverträgen. Eine Obligation entsteht aber auch, falls Sie wegen unvorsichtigen Handelns einen Schaden verursachen. Dann entsteht für Sie ein Schuld- und für die geschädigte Person ein Forderungsverhältnis. Schliesslich kann z. B. auch die irrtümliche Überweisung eines Geldbetrages zu einer Obligation führen.
Theorie 10.1 10.2 10.3 10.4
Übungen
Wie entstehen Obligationen? ......................................................................... Die Erfüllung und das Erlöschen von Obligationen .......................................... Obligationen aus unerlaubter Handlung – weitere Arten der Haftpflicht ......... Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen: die Anwendung von Rechtsvorschriften ......................................................... Das haben Sie gelernt .................................................................................... Diese Begriffe können Sie erklären .................................................................
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Entstehung von Obligationen .............................................................................. Erfüllung von Obligationen .................................................................................. Grundlagen der Haftpflicht .................................................................................. Verschuldens- oder Kausalhaftung .......................................................................
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Aufgaben 1 2 3
Ein Wochenende – viele Verpflichtungen ............................................................. 20 Unerlaubte Handlung .......................................................................................... 22 Haftung des Tierhalters ....................................................................................... 22
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10.1
Wie entstehen Obligationen?
■ Obligation = Schuld- und Forderungsverhältnis Schuld Obligation
Gläubiger ist berechtigt, die vereinbarte Leistung zu fordern
Eine «Obligation» im rechtlichen Sinn muss insbesondere vom gleich lautenden Begriff aus der Wertpapierlehre unterschieden werden. Obligation in jenem Sinn bezeichnet ein festverzinsliches Wertpapier. Obligationen können aus drei verschiedenen Gründen entstehen: Entstehungsgründe für eine Obligation
unerlaubte Handlung
Verkäuferin ist verpflichtet, den Kaufgegenstand zu übergeben und das Eigentum daran zu verschaffen ist berechtigt, den Kaufpreis zu fordern
Schuld Kaufgegenstand Forderung Schuld
Käufer ist berechtigt, den Kaufgegenstand zu fordern und das Eigentum daran zu erhalten ist verpflichtet, den Kaufpreis zu leisten
Kaufpreis Forderung
■ Entstehung durch unerlaubte Handlung (Art. 41 OR)
Forderung
Vertrag
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■ Ein Vertrag – zwei Obligationen
Im rechtlichen Sprachgebrauch steht « Obligation» für ein Schuldverhältnis zwischen zwei (oder mehreren) Personen oder Parteien. Eine Obligation beschreibt einmal die Pflicht aus der Sicht einer Person oder Partei (der Schuldnerin), eine vereinbarte Leistung zu erbringen. Sie beschreibt aber ebenso das Recht der Gegenpartei (der Gläubigerin), die vereinbarte Leistung einzufordern. Unter einer Obligation im rechtlichen Sinn verstehen wir deshalb ein Schuld- und Forderungsverhältnis, das eine Partei zu einer Leistung verpflichtet und die Gegenpartei zur Einforderung dieser Leistung berechtigt.
Schuldner ist verpflichtet, die vereinbarte Leistung zu erbringen
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Durch ein unvorsichtiges Verhalten, das bei jemandem einen Schaden verursacht, wird man zur Leistung eines Schadenersatzes verpflichtet. Es entsteht eine Obligation, bei der die geschädigte Partei den Schadenersatz einfordern darf und die verursachende Partei den Schadenersatz leisten muss. Zur Entstehung einer Obligation aus unerlaubter Handlung müssen die Voraussetzungen gemäss Art. 41 OR gegeben sein. Weil gemäss diesem Artikel das Verschulden des Verursachers eine wichtige Voraussetzung für die Haftpflicht ist, sprechen wir von Verschuldenshaftung. Diese sowie weitere Haftungsfragen werden ausführlich im Unterkapitel 10.3 behandelt. ■ Entstehung durch ungerechtfertigte Bereicherung (Art. 62–67 OR)
ungerechtfertigte Bereicherung
■ Entstehung aus Vertrag (Art. 1–40 OR) Die meisten Obligationen entstehen durch Verträge, z. B. Kauf-, Miet- oder Arbeitsverträge. Aus einem einzigen Vertrag entstehen dabei meistens zwei Obligationen. Bei einem Kaufvertrag ergeben sich z. B. die in der folgenden Spalte dargestellten zwei Schuld- und Forderungsverhältnisse (= Obligationen). Weitere Fragestellungen zu den Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit Verträgen werden in den folgenden Kapiteln dargestellt: Kapitel 11 behandelt die allgemeinen Vorschriften, die grundsätzlich für alle Verträge gelten. Danach folgt eine ausführliche Behandlung der wichtigsten Rechtsprobleme, die im Zusammenhang mit Kaufverträgen auftreten können (Kapitel 12).
Der dritte (seltene) Grund für die Entstehung einer Obligation dient dazu, rechtlich grundlose Vermögensverschiebungen rückgängig zu machen. Die Ursache für eine nicht gerechtfertigte Zahlung ist oft ein Irrtum oder eine Verwechslung. Wenn bei einem Zahlungsauftrag an eine Bank z. B. eine Ziffer in der Kontenbezeichnung des Begünstigten falsch eingesetzt wird, besteht für die daraus folgende Vermögensverschiebung kein Rechtsgrund. Damit ein solcher Irrtum in rechtlich einwandfreier Art wieder korrigiert werden kann, wird durch die Obligation aus «ungerechtfertigter Bereicherung» die Bank berechtigt, den Betrag von der begünstigten Person zurückzufordern, und diese ist verpflichtet, die fragliche Summe zurück- Aufgabe 1 zuerstatten. Übung 1
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10.2
Die Erfüllung und das Erlöschen von Obligationen
Um eine Obligation richtig zu erfüllen, muss der Schuldner dem Gläubiger den richtigen «Gegenstand» zur richtigen Zeit am richtigen Ort übergeben (leisten). Als Gegenstand müssen wir uns nicht nur körperliche Sachen vorstellen, sondern auch immaterielle Güter (Dienstleistungen) oder Geld. Die OR-Vorschriften gelten allgemein und unabhängig davon, ob eine Obligation aus Vertrag, unerlaubter Handlung oder ungerechtfertigter Bereicherung entstanden ist. Im kaufmännischen Bereich sind im Zusammenhang mit der Erfüllung von Obligationen aus Verträgen die folgenden Grundsätze von Bedeutung: ■ Ort und Zeit der Erfüllung Der Inhalt eines Vertrags kann gemäss Art. 19 OR von den Parteien frei vereinbart werden (Grundsatz der Vertragsfreiheit). Entsprechend können die Vertragsparteien auch den Ort der Erfüllung nach eigenem Belieben vereinbaren. Wenn in einem Vertrag nichts über den Erfüllungsort abgemacht wird (und bei den einzelnen Vertragsverhältnissen nichts Spezielles bestimmt ist), gelten die allgemeinen Regeln gemäss Art. 74 OR.
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Wenn im Vertrag nichts über den Zeitpunkt der Erfüllung vereinbart wird und im Gesetz nichts anderes bestimmt ist, gilt: «Zug um Zug», das heisst, jede Vertragspartei hat ihre Leistung sofort zu erbringen (Art. 75 ff. OR). ■ Das Erlöschen von Obligationen (Art. 114–142 OR) Im Normalfall erlischt eine Obligation durch ihre richtige Erfüllung. Wenn eine Forderung während längerer Zeit nicht geltend gemacht wird, kann sie unter Umständen nicht mehr eingeklagt werden; die Forderung verjährt. Die Verjährungsfrist beginnt mit der Fälligkeit der Leistung. Durch eine Verjährung «erlischt» zwar eine Obligation nicht, aber sie kann rechtlich nicht mehr erzwungen werden. Weil eine verjährte Obligation nicht untergegangen ist, darf der Schuldner eine solche Forderung selbstverständlich immer noch erfüllen. Grundsätzlich beträgt die Verjährungsfrist 10 Jahre, sofern im Gesetz nicht ausdrücklich eine kürzere Frist vorgesehen ist. Für verschiedene Forderungen wie z. B. Mietzinsen, Handwerksarbeit, Kleinverkauf von Waren, Arbeitslöhne oder Arzt- und Anwaltshonorare beträgt die Verjährungsfrist 5 Jahre. Die Einzelheiten sind in den Artikeln 127 – 132 OR geregelt. ■ Übersicht Verjährungsfristen
Ort der Erfüllung
Geldschulden Wohnsitz des Gläubigers
Speziesschulden
Gattungsschulden
Ort, wo sich der Gegen-
Wohnsitz des Schuldners
stand bei Vertragsabschluss befindet
Geldbeträge sind am Wohnsitz des Gläubigers zu erfüllen (es sind «Bringschulden»). Falls bei einer Überweisung ein Fehler unterläuft, genügt es für den Schuldner nicht, nur die Überweisungsquittung vorzulegen, sondern er muss mit der Bank bzw. der Post weitere Abklärungen vornehmen, ob die Überweisung korrekt erfolgt ist. Ist eine ganz bestimmte Sache geschuldet, z. B. ein Originalgemälde oder ein Occasionswagen, so ist es für den Käufer entscheidend, genau diese spezielle, einzigartige Sache zu erhalten. Solche Sachen oder Gegenstände werden als Spezieswaren bezeichnet. Sie sind an dem Ort zu übergeben, an dem sich der Vertragsgegenstand bei Vertragsabschluss befindet. Kartoffeln, Heizöl oder ein Posten T-Shirts sind Waren, bei denen es dem Empfänger genügt, wenn er die bestellte Menge in einer bestimmten Qualität erhält. Das Gesetz bezeichnet solche Waren als Gattungswaren, da sie der Art (= Gattung) nach bestimmt werden können. Gattungsschulden sind am Wohnsitz des Schuldners zu erfüllen (es sind «Holschulden»). Falls nichts vereinbart wurde, hat demnach der Käufer die Transportkosten zu übernehmen.
1 Jahr
■ Schadenersatzansprüche im Allgemeinen
2 Jahre
■ Mängel bei Kaufsachen, Reparaturen (Werkvertrag) ■ Schadenersatzanspruch aus Motorfahrzeug- und Velounfällen ■ Schadenersatzanspruch an Privatversicherungen (Versicherungsvertragsgesetz, VVG)
5 Jahre
■ ■ ■ ■ ■
10 Jahre
■ Allgemeine Verjährungsfrist (falls nicht etwas Spezielles gilt) ■ z. B. unbefristete Gutscheine ■ z. B. Rückzahlung eines Darlehens
20 Jahre
■ Verlustscheine ab 1997 (ältere Verlustscheine verjähren 2017)
Mängel bei Kauf und Umbau von Immobilien Periodische Leistungen wie Miet-, Pacht- und Kapitalzinsen, Versicherungsprämien, Abonnemente, Telefonrechnungen, Unterhaltsbeiträge (Alimente) Handwerkerrechnungen, Waren des täglichen Bedarfs, z. B. Lebensmittel Honorare für Anwälte, Notare und Ärzte. (Dazu zählt auch die Rückforderung von Arztkosten bei der Krankenkasse aus der Grundversicherung. Ansprüche aus der Zusatzversicherungen verjähren allerdings innert 2 Jahren.) ■ Arbeitslohn ■ Steuern (Steuergesetz, StG)
Aus Beweisgründen sollten wichtige Dokumente, wie z. B. Quittungen und Zahlungsbelege, Übung 2 entsprechend den Verjährungsfristen aufbewahrt werden.
Beispiel: Der Installateur Koller ist mit der Rechnungsstellung (Fakturierung) für seine Leistungen im Rückstand. Der Hauseigentümer Gerber erhält deshalb am 15. März 2017 eine Rechnung für eine Reparatur, die durch Koller am 15. Februar 2012 ausgeführt wurde. Falls nichts Spezielles vereinbart wurde, war der Rechnungsbetrag sofort (d. h. am 15. 2. 2012) fällig («Zug um Zug»). Damit begann die Verjährungsfrist am 16. Februar 2012 zu laufen, und am 15. Februar 2017 ist die Forderung verjährt. Hauseigentümer Gerber muss deshalb die Rechnung des Installateurs nicht mehr zahlen. Er könnte sich auf Verjährung berufen. Weil die Obligation aber nicht «untergegangen» ist, darf Gerber die Rechnung selbstverständlich zahlen. Koller wird durch eine allfällige Zahlung nach der Verjährungsfrist nicht etwa «ungerechtfertigt bereichert», weil die Obligation nach wie vor existierte. Gerber könnte deshalb den Betrag nicht mit dem Argument «ungerechtfertigte Bereicherung» wieder zurückfordern.
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10.3
Obligationen aus unerlaubter Handlung – weitere Arten der Haftpflicht
Wie wir gesehen haben, können Obligationen auch aus sogenannt unerlaubten Handlungen gemäss Art. 41 OR entstehen. Danach wird der Verursacher eines Schadens gegenüber der geschädigten Person zum Schadenersatz verpflichtet. Verursacher (Schuldner) ist verpflichtet, Schadenersatz zu leisten
Schuld Schadenersatz Forderung
Geschädigte Person (Gläubigerin) ist berechtigt, Schadenersatz zu fordern
Im Mittelpunkt steht die Feststellung, dass ein Verschulden irgendwelcher Art vorliegen muss, um einen Schadenersatzanspruch zu begründen. Daher wird bei Rechtsfällen im Zusammenhang mit Art. 41 OR von Verschuldenshaftung gesprochen. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Haftpflichtfälle, die unter den Begriffen Kausalund Gefährdungshaftung zusammengefasst werden. Dabei geht es nicht um ein Verschulden gemäss Art. 41 OR. Es bestehen für diese Fälle weitere gesetzliche Grundlagen. Ein Teil davon ist im OR, der Rest in diversen Spezialgesetzen geregelt. ■ Verschuldenshaftung «Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet»; so weit der Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 OR. Beispiel: Eine Snowboarderin wird auf der Piste von einem Boarder grob angerempelt. Sie erleidet einen Handgelenksbruch, und die Jacke wird durch den Unfall am Rücken aufgeschlitzt. Indem der Boarder durch seine unvorsichtige Fahrweise eine andere Person zu Fall bringt, verursacht er einen Schaden. Rechtlich betrachtet liegt hier eine «unerlaubte Handlung» vor. Aus der daraus entstehenden Obligation wird die geschädigte Person berechtigt, Schadenersatz zu fordern, und der Verursacher ist verpflichtet, einen solchen zu leisten. Eine Verschuldenshaftung liegt vor, wenn die Tatbestandsmerkmale (TBM) von Art. 41 OR auf den Sachverhalt zutreffen.
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■ Verschuldenshaftung gemäss Art. 41 OR ■ Tatbestandsmerkmal 1 – Widerrechtlichkeit: Durch den Zusammenstoss auf der Piste hat der Verursacher gegen das Recht auf die körperliche Unversehrtheit der angerempelten Person verstossen (und im vorliegenden Fall mit seiner Fahrweise wahrscheinlich auch die auf Ski- und Snowboardpisten gültigen «FIS-Regeln» missachtet). ■ Tatbestandsmerkmal 2 – Schaden: Damit eine Schadenersatzpflicht tatsächlich entsteht, muss ein Schaden, d. h. eine Vermögenseinbusse, bei der betroffenen Person vorliegen. Die geschädigte Boarderin muss wegen des Handgelenkbruchs einen Arzt aufsuchen. In der Folge entstehen Arzt- und evtl. Spitalkosten sowie weitere Kosten wegen der zerrissenen Jacke. ■ Tatbestandsmerkmal 3 – Kausalzusammenhang: Die widerrechtliche Handlung und der entstandene Schaden müssen in einem entsprechenden, angemessenen (adäquaten) Zusammenhang stehen. Dieser Zusammenhang zwischen Ursache (lat. «causa») und Wirkung bezeichnen wir rechtlich als Kausalzusammenhang. Die Gerichte erachten einen Kausalzusammenhang dann als gegeben, wenn der Ablauf der Geschehnisse «dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung» entspricht. Die Handlung (Fahrweise) des Verursachers hat dazu geführt, dass die angefahrene Person Prellungen an der Schulter erlitten hat und ihre neue Jacke jetzt kaputt ist. Der Kausalzusammenhang ist allerdings nicht gegeben, wenn unserer Snowboarderin beim Besuch in der Arztpraxis das Snowboard gestohlen wird. Dafür kann der Schadenverursacher nicht belangt werden. Der Kausalzusammenhang zwischen der schädigenden Handlung auf der Piste (dem Bei einem Zusammenstoss auf einer Piste muss der Anrempeln) und dem Diebstahl des Verursacher des Unfalls für die Kosten aufkommen. Boards vor der Arztpraxis ist nicht gegeben. Dies, obschon ohne den Unfall auf der Piste kein Besuch in einer Arztpraxis nötig gewesen wäre. Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung führt aber ein Zusammenstoss auf der Piste nicht zu einem Diebstahl in einer Arztpraxis. Während die restlichen Tatbestandsmerkmale direkt aus dem Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 OR abgeleitet werden können, ist der oben beschriebene Kausalzusammenhang nicht wörtlich im Gesetz erwähnt.
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■ Tatbestandsmerkmal 4 – Verschulden, Absicht oder Fahrlässigkeit: Damit das «Verschulden» gemäss Art. 41 OR gegeben ist, muss ein Schaden nicht absichtlich, d. h. vorsätzlich, verursacht worden sein. Man macht sich auch durch mangelnde Vorsicht oder unsorgfältiges Handeln, d. h. durch Fahrlässigkeit, schuldig. Zwar wurde der beschriebene Zusammenstoss auf der Piste wohl kaum vorsätzlich (willentlich) verursacht. Weil der Verursacher jedoch seine Fahrweise nicht seinem Können und den gegebenen Verhältnissen angepasst hatte, müssen ihm mangelnde Vorsicht und unsorgfältiges Handeln vorgeworfen werden. Damit liegt ein Verschulden vor. Speziell zu beachten ist somit, dass im Gesetzestext zur Verschuldenshaftung der Aufgabe 2 Begriff «Verschulden» gar nicht vorkommt. ■ Übersicht über die nicht vertraglichen Arten der Haftpflicht Arten der nicht vertraglichen Haftpflicht Verschuldenshaftung Haftung mit Verschulden Tatbestandsmerkmale aus Art. 41 OR Widerrechtlichkeit Schaden Kausalzusammenhang Verschulden
Kausal- und Gefährdungshaftung
gewöhnliche Kausalhaftung Haftung ohne Verschulden Befreiungsbeweis nicht möglich
Gefährdungshaftung «bei gefährlichen Einrichtungen»
Befreiungsbeweis möglich
Haftung des Werkeigentümers Art. 58 OR
Haftung des Geschäftsherrn Art. 55 OR
Haftung des Grundeigentümers Art. 679 ZGB
Haftung des Tierhalters Art. 56 OR
Haftung Urteilsunfähiger Art. 54 OR
Haftung des Familienoberhauptes Art. 333 ZGB
Strassenverkehr Art. 58 SVG Fehlerhafte Produkte Art. 1 PrHG Eisenbahnbetrieb Art. 40b ff. EBG Elektr. Anlagen Art. 27 EleG Flugverkehr int. Abkommen Atomanlagen Art. 3 KHG Umweltschäden Art. 59 USG
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Daneben gibt es auch Schadenersatzfälle, die durch eine nicht korrekte Erfüllung eines Vertrages entstehen. Gemäss Art. 97 Abs. 1 OR wird der Schuldner einer nicht oder nicht einwandfrei erbrachten Vertragsleistung unter gewissen Umständen zum Schadenersatz verpflichtet. Diese Fälle werden im Kapitel 11, Allgemeine Vertragslehre, dargestellt. ■ Kausalhaftung – Haftung ohne möglichen Befreiungsbeweis In einigen Fällen haftet man für einen Schaden auch ohne irgendein Verschulden. Wir sprechen dann von der sogenannten Kausalhaftung. Dabei sind zwei Ausprägungen zu unterscheiden: Kausalhaftung mit bzw. ohne Möglichkeit eines «Befreiungsbeweises». In den folgenden beiden Fällen kann man sich auch bei Beachtung grösstmöglicher Vorsicht nicht durch einen sogenannten Befreiungsbeweis von der Haftpflicht befreien: ■ Werkeigentümer: Ein Hauseigentümer haftet beispielsweise, wenn der Briefträger auf der vereisten Treppe (Hausteil) stürzt und sich das Bein bricht. Unter den Begriff «Werk» fallen Häuser sowie Baugerüste, Lifte, Wasserleitungen und andere mit dem Boden verbundene Anlagen. ■ Grundeigentümer: Wenn im Herbst die abfallenden Zedernnadeln die Dachtraufen und Wasserabzugsrohre der anliegenden Häuser verstopfen, ist der Grundeigentümer für den Schaden haftbar. ■ Kausalhaftung – Haftung mit der Möglichkeit eines Befreiungsbeweises Bei dieser «milden» Form der Kausalhaftung hat der Verursacher eines Schadens die Möglichkeit, sich von seiner Haftpflicht zu «befreien». Er muss dazu nachweisen, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat oder der Schaden auch ohne seine Sorgfaltspflichtverletzung eingetreten wäre. Die Möglichkeit eines Befreiungsbeweises besteht in folgenden Fällen: ■ Geschäftsherr: Dem Monteur eines Elektrogeschäfts rutscht beim Ausladen eines Kühlschranks das Gerät vom Transportrolli, wodurch der rechte Frontscheinwerfer eines korrekt parkierten Autos einer unbeteiligten Person in die Brüche geht. In einem solchen Fall haftet aufgrund von Art. 55 OR der Arbeitgeber, das Elektrogeschäft, als Geschäftsherr. Weist jedoch der Arbeitgeber nach, dass er den Monteur sorgfältig ausgewählt, instruiert und überwacht hat, so gilt dies als Befreiungsbeweis. Der Arbeitgeber (Geschäftsherr) kann sich dadurch von der Haftpflicht befreien. Schadenersatzpflichtig wird der Monteur selber. Der Arbeitgeber kann somit gemäss Art. 55 Abs. 2 OR auf seinen Angestellten «Rückgriff nehmen». Weil dieser unachtsam gehandelt hat, wird er gegenüber der geschädigten Partei schadenersatzpflichtig. In der Praxis werden solche Fälle normalerweise über die Haftpflichtversicherung des Geschäfts abgewickelt. Je nach Schwere des Verschuldens des Arbeitnehmers wird der Arbeitgeber bzw. dessen Versicherung allerdings auf den Angestellten zurückgreifen.
■ Exkurs: Adäquater Kausalzusammenhang Beispiel: Eine Strasse wird frisch geteert. Weil eine neue Ladung Teer angeliefert wird, stellt ein Arbeiter seinen Rechen zur Seite und hilft beim Abladen. In der Zwischenzeit kippt der Rechen um und fällt mit den Zinken nach oben auf das Trottoir. Herr Hauser beobachtet im Vorübergehen die Belagsarbeiten und tritt auf den Rechen. Der Stiel schnellt nach oben und zertrümmert die Brille von Herrn Hauser. In dieser Abfolge von Geschehnissen besteht ein adäquater Kausalzusammenhang. Einige Gerichtsurteile haben eine entsprechende Praxis zur Beurteilung festgelegt: Der Ablauf entspricht «dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung». Wenn Herr Hauser im Gehen den Belagsarbeiten zuschaut, aber mit einem Beleuchtungsmast zusammenprallt und dabei die Brille beschädigt, ist kein adäquater Kausalzusammenhang gegeben. Dasselbe Missgeschick hätte Herrn Hauser auch geschehen können, wenn er statt der Bauarbeiten den Strassenverkehr beobachtet hätte.
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■ Tierhalter: Ein Tierhalter haftet grundsätzlich für den von seinem Tier angerichteten Schaden. Als «Halter» gilt dabei nicht nur der Eigentümer, sondern jede und jeder, die oder der die tatsächliche Gewalt über ein Tier besitzt. Tierhalter können sich von ihrer Haftpflicht befreien, wenn sie beweisen können, dass sie die nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung des Tieres angewendet haben oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre. Es gibt allerdings keine allgemeingültigen Regeln über die Anforderungen an diesen Sorgfaltsbeweis. Jeder Fall muss individuell aufgrund der entsprechenden Umstände beurteilt werden. ■ Eltern: Eltern haften für ihre Kinder. Wenn sie allerdings nachweisen können, dass sie das Kind genügend – das Gesetz umschreibt dies mit dem «üblichen und durch die Umstände gebotenen Mass von Sorgfalt» – beaufsichtigt haben, können sie sich von der Haftung befreien. Mit der Gesetzesformulierung wird berücksichtigt, dass ein 6-jähriges Mädchen ein anderes Mass an Beaufsichtigung benötigt als ein 16-jähriger Jugendlicher. Dieser Befreiungsbeweis gilt ebenfalls, wenn der Schaden auch bei einer Aufsicht der Eltern eingetreten wäre. Weil ein derartiger Beweis relativ leicht gelingt, bleiben zivilrechtliche Klagen häufig aussichtslos. Bezüglich der Beweispflicht besteht ein für die Rechtspraxis wesentlicher Unterschied zwischen Kausal- und Verschuldenshaftung: Während bei der Verschuldenshaftung (gemäss Art. 41 OR) der Geschädigte das Verschulden des Haftpflichtigen nachweisen muss, liegt die Beweispflicht bei der Kausalhaftung beim Haftpflichtigen: Seine Unsorgfalt wird vom Gesetz Aufgabe 3 vermutet, und er muss das Gegenteil beweisen. ■ Gefährdungshaftung Im Verlaufe der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung sind durch gewisse «Einrichtungen» spezielle Gefährdungen für Personen und Umwelt entstanden. Dafür wurden besonders strenge Bestimmungen erlassen. Die Gefährdungshaftung basiert auf der Überlegung, dass gewisse (vor allem technische) Vorrichtungen allein durch ihre Existenz oder durch ihre Betätigung eine besondere Gefahr für Menschen oder Umwelt darstellen. Folglich müssten die Betreiber solcher Einrichtungen «automatisch» für etwaige Schäden haften. Diese Fälle sind nicht im OR oder ZGB, sondern in diversen Spezialgesetzen aufgeführt. Für die Haftung des Motorfahrzeugverkehrs sind die entsprechenden Grundlagen im Strassenverkehrsgesetz (SVG) festgehalten. Art. 58 Abs. 1 SVG heisst: «Wird durch den Betrieb eines Motorfahrzeugs ein Mensch getötet oder verletzt oder Sachschaden verursacht, so haftet der Halter für den Schaden.» Damit die Geschädigten nicht wegen einer allfälligen Zahlungsunfähigkeit des Haftpflichtigen leer ausgehen, gilt für den Betrieb eines Motorfahrzeugs eine obligatorische Haftpflichtversicherung. Produkthaftpflichtgesetz ichtgesetz (PrHG) definiert die Haftung des Herstellers für KörperDas Produkthaftpfl oder Sachschäden, die sich aus dem Gebrauch oder der Verwendung eines fehlerhaften Pro-
duktes ergeben. Die Haftung ergibt sich ausdrücklich für Folgeschäden aus dem Gebrauch eines Produktes und nicht für Schäden am Produkt selber. Spektakuläre Fälle dazu werden in den Medien zumeist aus den USA gemeldet, wo z. B. Zigarettenhersteller zu grossen Ersatzleistungen verurteilt wurden, weil gerichtlich festgestellt wurde, dass Rauchen bestimmte Krebserkrankungen verursacht hatte. Ausfluss der Produkthaftpflicht sind hierzulande Rückrufaktionen in der Tagespresse, z. B. für gewisse Haushaltgeräte wegen einer möglichen Stromschlaggefahr. Weitere Tatbestände für eine Gefährdungshaftung ergeben sich durch: ■ den Betrieb von Eisenbahnen, geregelt im Eisenbahngesetz (EBG), ■ den Betrieb von Flugzeugen, festgehalten in einem internationalen Abkommen zur Vereinheitlichung der Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, ■ den Betrieb elektrischer Anlagen, definiert im Bundesgesetz, betreffend die Bei einer Reaktorkatastrophe wie 2011 in Japan elektrischen Schwach- und Starkstromwürden die AKW-Betreiber und der Bund mit maximal CHF 1,8 Mrd. haften. Das Schadensanlagen (EleG), potenzial wird allerdings auf CHF 4000 Mrd. ■ den Betrieb von Atomkraftwerken, geschätzt. («NZZ online» vom 28. 3. 2011) geregelt im Kernenergiehaftpflichtgesetz (KHG), oder schliesslich ■ die Verursachung von Umweltschäden mit Wasser-, Boden- und Luftverschmutzungen, Übung 3 die im Umweltschutzgesetz (USG) festgehalten sind. Übung 4
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10.4
Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen: die Anwendung von Rechtsvorschriften
Wenn es zu einem Rechtsstreit kommt, müssen Rechtsvorschriften auf konkrete Lebenssituationen angewandt werden. Eine solche für ein Rechtsproblem relevante Situation bezeichnen wir als Sachverhalt. Ein Sachverhalt enthält somit die rechtlich bedeutsamen Tatsachen eines bestimmten Falles und gibt Auskunft auf die Frage: Was ist passiert? Weil nicht alle möglichen Konflikte im Voraus detailliert umschrieben werden können, sind Rechtsvorschriften (Gesetzesartikel) absichtlich allgemein formuliert. Damit können sie auf die verschiedensten Sachverhalte angewandt werden. Neben Rechtsvorschriften, die Begriffe definieren, ein Verhalten fordern oder ein Verfahren festlegen, gibt es viele Gesetzesartikel, die Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen beschreiben. Im Rechtskundeunterricht werden wir uns häufig mit der Anwendung solcher Artikel beschäftigen. Mit Tatbestandsmerkmalen (TBM) bezeichnet man die im Rechtssatz formulierten abstrakten Merkmale des Tatbestandes; die Rechtsfolgen (RF) beschreiben die rechtlichen Konsequenzen, die eintreten, falls die Tatbestandsmerkmale auf den fraglichen Sachverhalt zutreffen. Für einen bestimmten Sachverhalt (ein Rechtsproblem) sind somit in einem ersten Schritt die massgebenden Rechtsvorschriften zu suchen. Mittels Inhaltsverzeichnis, Stichwortverzeichnis oder Sachregister des entsprechenden Gesetzes muss der für den Sachverhalt zutreffende Artikel gesucht und bestimmt werden. Dazu ist die grundsätzliche, übersichtsmässige Kenntnis der Inhalte von ZGB und OR unabdingbar. ■ Übersicht über das ZGB und das OR
Ist der für einen Sachverhalt massgebende Artikel gefunden, gehen Sie wie folgt vor: ■ Welches sind die rechtlich bedeutsamen Merkmale des Tatbestandes? Zuerst ist abzuklären, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit der in der entsprechenden Rechtsvorschrift vorgesehene Tatbestand erfüllt ist. Diese Voraussetzungen bzw. Tatbestandsmerkmale ergeben für das weitere Vorgehen eine Art Checkliste, an welcher der konkrete Sachverhalt überprüft wird. ■ Sind die Tatbestandsmerkmale im konkreten Sachverhalt erfüllt? Für den konkreten Sachverhalt wird überprüft, ob die allgemein und abstrakt umschriebenen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. ■ Welches sind die Rechtsfolgen für den zutreffenden Sachverhalt? Sind im konkreten Sachverhalt sämtliche rechtlich bedeutsamen Merkmale des Tatbestandes erfüllt, tritt die rechtlich vorgesehene Wirkung, die Rechtsfolge, ein. Sobald auch nur ein Tatbestandsmerkmal für den zu beurteilenden Sachverhalt nicht erfüllt ist, entfällt die Rechtsfolge. Für das folgende Beispiel einer sogenannten Übervorteilung sieht das Verfahren so aus: ■ Sachverhalt: Beat Biner berät die Hilfsarbeiterin Franziska Klein in einem Erbstreit. Beat Biner verlangt dafür ein Stundenhonorar von CHF 750.–. Franziska Klein hat für diese Beratung insgesamt CHF 5000.– bezahlt. Als sie erfährt, dass ein Stundenhonorar von höchstens CHF 150.– üblich ist, fordert sie von Beat Biner CHF 3500.– zurück.
■ Die Suche nach den massgebenden Rechtsvorschriften führt im allgemeinen Teil des Obligationenrechts zu Art. 21 Abs. 1 OR:
Zivilgesetzbuch (ZGB), eingeteilt in 5 Kapitel (= Teile) Teil 1
Personenrecht
Teil 2
Familienrecht
Teil 3
Erbrecht
Teil 4
Sachenrecht
Teil 5
Obligationenrecht (OR), selbstständiges Buch mit eigener Nummerierung, das nochmals 5 Kapitel (= Abteilungen) umfasst. 1. Abteilung: Allgemeine Bestimmungen 2. Abteilung: Die einzelnen Vertragsverhältnisse 3. Abteilung: Die Handelsgesellschaften und die Genossenschaft 4. Abteilung: Handelsregister, Geschäftsfirmen und kaufmännische Buchführung 5. Abteilung: Die Wertpapiere
«Wird ein offenbares Missverhältnis zwischen der Leistung und der Gegenleistung durch einen Vertrag begründet, dessen Abschluss von dem einen Teil durch Ausbeutung der Notlage, der Unerfahrenheit oder des Leichtsinns des andern herbeigeführt worden ist, so kann der Verletzte innerhalb Jahresfrist erklären, dass er den Vertrag nicht halte, und das schon Geleistete zurückverlangen.»
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■ Überprüfung der Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen: Artikel 21 Abs. 1 OR Rechtlich bedeutsame Merkmale des Tatbestandes
TBM
1) Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung 2) Notlage, Unerfahrenheit oder Leichtsinn 3) Ausbeutung dieses Notstandes (durch die andere Vertragspartei)
Daraus sich ergebende Rechtsfolgen
RF
1) Recht, innert eines Jahres (nach Vertragsabschluss) zu erklären, dass der Vertrag nicht eingehalten werden will 2) Recht, erfolgte Leistung zurückzufordern
Achtung: Die Rechtsfolgen eines Artikels treten nur dann ein ( ), wenn sämtliche Tatbestandsmerkmale erfüllt sind ( ). Mit einem fünffachen Honorarsatz ist das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung gegeben (). Aufgrund der Ausbildung von Franziska Klein muss von Unerfahrenheit einer Partei ausgegangen werden (), die von der Gegenpartei (Beat Biner) ausgenützt wurde (). Weil alle drei Tatbestandsmerkmale des Rechtssatzes erfüllt sind, treffen auch die beiden Rechtsfolgen zu (). Franziska Klein kann von Beat Biner den Betrag von CHF 3500.– zurückfordern.
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Das haben Sie gelernt Den Begriff der «Obligation» definieren Obligationen als Schuld- und Forderungsverhältnisse umschreiben Die drei Entstehungsgründe von Obligationen veranschaulichen Die Regeln in Bezug auf Ort und Zeit der Erfüllung von Obligationen anwenden Voraussetzung für die Entstehung von Obligationen aus unerlaubter Handlung gemäss Art. 41 ff. OR veranschaulichen Verschuldens-, Kausal- und Gefährdungshaftung anhand der Tatbestandsmerkmale unterscheiden und für einzelne Sachverhalte den zutreffenden Haftungsgrund bestimmen Die fünf Kausalhaftungen gemäss OR und ZGB sowie drei Beispiele von Gefährdungshaftungen aus Spezialgesetzen nennen Die Regeln der Beweispflicht bei Verschuldens- und Kausalhaftung unterscheiden
Offene Fragen
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Diese Begriffe können Sie erklären Obligation Schuld- / Forderungsverhältnisse Verträge Unerlaubte Handlungen Ungerechtfertigte Bereicherung Verschuldenshaftung Schaden Kausalzusammenhang Verschulden Absicht Fahrlässigkeit Kausalhaftung mit möglichem Befreiungsbeweis ohne Möglichkeit eines Befreiungsbeweises Gefährdungshaftung Spezialgesetze
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Die Entstehung von Obligationen
Übung 1 Entstehung von Obligationen
unerlaubte Handlung
ungerechtfertigte Bereicherung
Bestimmen Sie für die folgenden Beispiele den Entstehungsgrund des Schuld- und Forderungsverhältnisses.
a) Eine Unternehmung zahlt einem Lieferanten irrtümlich eine Rechnung zweimal.
d) Ein Arbeitnehmer erhält nach Verlassen einer Arbeitsstelle während zweier Monate den Lohn auf sein Postkonto überwiesen. e) Eine Unternehmung hat von der Bank eine Zahlung von einem unbekannten Kunden gutgeschrieben erhalten. f) Ein Mountainbike-Fahrer verliert bei der Abfahrt vom Strelapass die Kontrolle über sein Bike und fährt in eine Gruppe von Wanderern hinein. Ein Wanderer muss mit dem Rega-Hubschrauber ins Spital transportiert werden. g) Eine Unternehmung stellt eine neue Sachbearbeiterin für den Bereich Marketing an.
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A
B
C
Welche Aussagen sind richtig (R); welche falsch (F)? Setzen Sie das zutreffende Symbol in das Kästchen und korrigieren Sie die Fehler auf den leeren Linien. a) Eine verjährte Schuld kann nicht mehr eingefordert werden; sie darf aber trotz der Verjährung noch bezahlt werden.
b) Grundsätzlich beträgt die Verjährungsfrist 5 Jahre.
b) Familie Gerber mietet eine Wohnung. c) Beim Grümpelturnier verletzt der Hobbyfussballer Erich Mäder durch ein rüdes Foul einen gegnerischen Spieler (Diagnose: Schienbeinbruch) und wird deshalb vom Platz gestellt.
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Übung 2 Erfüllung von Obligationen
Vertrag
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c) Die Forderung eines Sanitärinstallateurs für die Reparatur des Ablaufs verjährt nach 5 Jahren.
d) Die Transportkosten für Gattungswaren gehen – falls nichts anderes vereinbart worden ist – zulasten des Verkäufers.
e) Die Forderung eines Sanitärinstallateurs für die Reparatur des Ablaufs muss – wenn nichts anderes vereinbart ist – innert 30 Tagen bezahlt werden.
f) Der Occasionswagen «Renault Clio Williams, 2.0, 150 PS, 2006» ist ein typisches Beispiel einer Gattungsware.
Übung 3 Grundlagen der Haftpflicht Ergänzen Sie in der folgenden Übersicht die fehlenden Begriffe a) bis d) und die Gesetzesartikel e) bis m) sowie das Gesetz bei n). Arten der Haftpflicht
vertraglich
nicht vertraglich
Kausal- und Gefährdungshaftung
a)
Kausalhaftung
Grundsatz
Art. 97 OR
Grundsatz
g)
Hilfspersonen
Art. 101 OR
Beamte
Art. 61 OR
Kaufvertrag
e)
juristische Personen
Art. 55 ZGB
Mietvertrag
Art. 259a OR
Geschäftsherr
h)
Strassenverkehr n)
Arbeitsvertrag
f)
Tierhalter
i)
Fehlerhafte Produkte
(PrHG)
Werkvertrag
Art. 363 OR
Familienoberhaupt
Eisenbahnbetrieb
(EHG)
Auftrag
Art. 398 OR
Hinterlegung
Art. 472 OR
Gastwirt
Art. 487 OR
b)
Befreiungsbeweis möglich
Befreiungsbeweis in der Regel c)
j) Befreiungsbeweis
Elektr. Anlagen (EleG)
d)
je nach Tatbestand Verschuldens- oder Kausalhaftung
Werkeigentümer
k)
Grundeigentümer
l)
Urteilsunfähiger
Flugverkehr
(LFG)
Atomanlagen
(KHG)
Umweltschäden (USG) m)
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A
a) Neben einem Kinderspielplatz wird ein Mehrfamilienhaus gebaut. Die Baustelle ist mit einer «Baustelle betreten verboten»-Tafel gesichert. Trotzdem spielen einige Kleinkinder an einem Samstag im Bauareal. Ein Kind wird durch einen rostigen Nagel am Fuss verletzt. Die Eltern haben den Kindern das Spielen auf dem Bauareal mehrmals verboten. Gesetzesartikel b) Rolf Manser hilft seiner Frau, die Geranien auf dem Balkon anzubringen. Weil sich ein Tragbügel verschoben hat, entgleitet ihm ein Geranienkistchen und beschädigt den Lavasteingrill seines Nachbarn, der im Erdgeschoss wohnt. Gesetzesartikel c) Nadine feiert ihren fünften Geburtstag. Für die Geburtstagsparty durfte sie ihre Freunde einladen. Als alle im Garten spielen, geht Tobias (3 Jahre), der beste Freund von Nadine, in die Wohnung zurück und zündet die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen nochmals an – weil ihm Kerzen so gut gefallen. Nach 10 Minuten fangen die Vorhänge Feuer, und es entsteht ein grösserer Zimmerbrand, der durch die Feuerwehr gelöscht werden kann. Die Untersuchungen ergeben, dass die Eltern von Tobias die Selbstverantwortung von Kindern befürworten und ihm neben dem Sackmesser zum dritten Geburtstag auch ein eigenes Feuerzeug geschenkt haben. Gesetzesartikel
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A Gefährdungshaftung
Entscheiden Sie in den folgenden Fällen, ob eine Verschuldens-, eine Kausal- oder eine Gefährdungshaftung vorliegt. Geben Sie den entsprechenden Gesetzesartikel bzw. bei Fällen von Gefährdungshaftung das massgebende Bundesgesetz an.
Kausalhaftung mit Befreiungsmöglichkeit Kausalhaftung ohne Befreiungsmöglichkeit
Übung 4 Verschuldens- oder Kausalhaftung Verschuldenshaftung
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D
d) In der Küche eines Restaurants gerät das Fritieröl einer Friteuse in Brand. Es entsteht ein erheblicher Sachschaden sowohl an der Kücheneinrichtung als auch an weiteren Küchengeräten. Als Ursache des Brandes wird eindeutig ein fehlerhafter Thermostat (Temperaturregler) in der Friteuse eruiert. Gesetzesartikel e) Ursina Koller führt den Hund ihrer Nachbarin spazieren. Auf freiem Feld stellt der nicht angeleinte Hund plötzlich einer Joggerin nach und beisst sie in den Unterschenkel. Später wird Ursina Koller vom Eigentümer des Hundes aufgeklärt, dass der ehemalige Polizeihund noch immer «flüchtende» Personen stellt. Gesetzesartikel f) Luca Cortesi verursacht beim Einparken in einer der Tiefgarage des Einkaufszentrums einen Parkschaden sowohl an seinem eigenen als auch an einem fremden Fahrzeug. Der Schaden am Fremdfahrzeug beläuft sich auf CHF 3800.–. Gesetzesartikel g) Als sich der Postbote, Kurt Müller, im 4. Stock eines älteren Mehrfamilienhauses gegen das Treppengeländer lehnt, gibt das altersschwache Geländer nach. Kurt Müller zieht sich beim Sturz einen Schlüsselbeinbruch und diverse Prellungen zu, und er kann während sechs Wochen nicht arbeiten. Gesetzesartikel h) Im gleichen Haus ist das Malergeschäft Gröbli mit Renovationsarbeiten beschäftigt. Dem Angestellten Maurizio Turini passiert ein Missgeschick. Ein Passant wird durch eine herunterfallende Schleifmaschine leicht am Kopf verletzt und muss sich deswegen in Spitalpflege begeben. Gesetzesartikel
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Aufgabe 1 Ein Wochenende – viele Verpflichtungen Corinne Holzer freut sich auf das kommende Wintersportwochenende in der «Weissen Arena». Zwar hat sie erst die halbe Ausrüstung zusammen: Sie hat bewusst noch kein neues Board gekauft, weil sie zu Beginn der Saison zuerst verschiedene Boards mieten möchte, bevor sie sich definitiv für einen Kauf entscheidet. Im Internet hat sie Mietangebote des SportShops bei der Talstation studiert und sich ihr Wunschboard für das Wochenende auch gleich reserviert. Sie will sich am Samstagvormittag im Sport-Shop auch noch eine Jacke aus der neuen Burton-Linie kaufen. Ihr Vater hat ihr nämlich als Geburtstagsgeschenk 300 Franken für ein neues Boarderoutfit versprochen. Am Samstagvormittag klappt alles bestens. Das Wetter spielt mit, und die Schneeverhältnisse sind traumhaft. Corinne bekommt im Sport-Shop das gewünschte Board, und auch die lässige Burton-Jacke kann sie sich kaufen. Sie bezahlt die Boardmiete und die Jacke mit ihrer Maestro-Karte. Das Ticket für die Bergbahnen sowie das Übernachtungsarrangement im Hotel bezahlt sie mit der Kreditkarte. Ihre gute Stimmung schlägt am Nachmittag aber jäh um, als sie von einem «wild» gewordenen Boarder angefahren wird. Während sich nämlich Corinne am Pistenrand am Boden sitzend ausruht, wird sie plötzlich sehr unsanft von hinten angerempelt. Der Rowdy – er stellt sich später als Michael vor – will eigentlich die attraktive junge Sportlerin nur ein bisschen mit Schnee anstieben, auf einer Eisplatte etwas oberhalb von Corinne rutscht er jedoch aus und verliert dadurch die Kontrolle – es kommt zum Zusammenstoss. Corinne rappelt sich etwas benommen auf. Sie realisiert knapp, was passiert ist: Ihr Kopf brummt, sie hat sich das Ohr aufgeschürft, die roten Blutstropfen sehen im weissen Schnee dramatisch aus, und sie bemerkt, dass ihre neue Jacke am Rücken aufgeschlitzt ist. Corinne ist sauer: «Kannst du nicht besser aufpassen!», schreit sie den jungen Mann an. Michael entschuldigt sich für sein Missgeschick, die Sache ist ihm natürlich äusserst peinlich. Er gibt sich sichtlich Mühe, hilft Corinne, so gut er kann, und versichert ihr, für den Schaden aufzukommen. Michael begleitet Corinne bis ins Tal, und bis die beiden sich verabschieden, findet Corinne Michael schon fast ein bisschen sympathisch. Bereits im Hotel wird Corinne aber nochmals wütend. Sie bemerkt nämlich, dass sie ihren «Swatch-Snowpass» – wahrscheinlich beim Unfall – verloren hat. Nicht nur die Uhr ist weg, ihr Zweitagesticket war darauf gespeichert, und die Bergbahngesellschaft weigert sich am nächsten Tag (mit Hinweis auf die allgemeinen Tarifbestimmungen), das verlorene Ticket zu ersetzen; Corinne muss nochmals eine neue Tageskarte kaufen. Das Wochenende hat noch eine Nachgeschichte: Michael versichert Corinne zwar mehrmals recht glaubwürdig, er habe ihr CHF 500.– für Jacke, Swatch-Snowpass und das zusätzliche Ticket überwiesen. Auf Corinnes Bankauszug Ende Monat fehlt aber eine entsprechende Gutschrift. Nach längeren Nachforschungen bei der Bank findet Michael heraus, dass der Betrag Corina Hofer gutgeschrieben wurde. Die Bank argumentiert, die Angaben auf dem Vergütungsauftrag seien undeutlich gewesen. Corina Hofer ist sich keiner Schuld bewusst,
sie kontrolliert jeweils ihre Bankauszüge nicht sehr genau. «Da können´s auch mal CHF 500.– mehr oder weniger sein!» Corina Hofer erklärt Michael am Telefon, sie werde keinem Wildfremden aufgrund einer abstrusen Geschichte CHF 500.– überweisen. a) Lesen Sie den vorliegenden Text aufmerksam durch. Markieren Sie die verschiedenen «Verpflichtungen» (meistens Verträge), die sie erkennen, und auch die Personen bzw. Unternehmungen, mit denen Corinne Holzer Verpflichtungen eingegangen ist. b) Listen Sie diese Personen oder Unternehmungen auf und umschreiben Sie den Inhalt der jeweiligen Verpflichtungen bzw. der jeweiligen Verträge. Partner / Unternehmungen Verpflichtung / Vertragsart
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c) Erstellen Sie eine Skizze, aus der die beschriebenen ÂŤVerpflichtungenÂť bzw. Rechtsbeziehungen zwischen den vier folgenden Parteien ersichtlich werden: Corinne Holzer, Sport-Shop, Michael und Corina Hofer.
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Aufgabe 2 Unerlaubte Handlung
Aufgabe 3 Haftung des Tierhalters
Cornelia Herzog ist gerade beim Auffüllen der Tintenpatronen ihres Tintenstrahldruckers, als sie unerwartet Besuch erhält. Beim Vorzeigen der neuen Wohnung stösst Sandra Koch, 22 Jahre, versehentlich ein offenes Tintenfläschchen vom Tisch. Auf dem hellen Berberteppich entsteht ein hässlicher blaugrüner Fleck, den die beiden Frauen trotz sofortigem Aufsaugen mit Haushaltpapier nicht verhindern können. Eine Fachperson erklärt, dass der Teppich nicht gereinigt werden könne. Wer hat den Schaden von CHF 1250.– für einen neuen Teppich zu begleichen? a) Prüfen Sie für diesen Sachverhalt den Art. 41 OR. Art. 41 OR Rechtlich bedeutsame Merkmale des Tatbestandes
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Daraus sich ergebende Rechtsfolgen
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Martin Huber hält auf seinem etwas abgelegenen Bauernhof einen Wachhund. Rex ist als wachsamer (und bissiger) Hund bekannt. Als Herr Frei mit dem Velo am Bauernhof vorbeifährt, stürzt sich Rex auf ihn. Der Hund wird zwar durch die Kette, an der er angebunden ist, zurückgehalten. Herr Frei erschrickt jedoch derart stark, dass er vom Velo stürzt und sich dabei den Arm bricht. Er muss zum Arzt und ist zuerst für einige Tage vollständig, anschliessend für drei Wochen zu 50 Prozent arbeitsunfähig. Martin Huber hilft Herrn Frei, so gut er kann, und begleitet ihn umgehend zum Arzt. Als Hundehalter ist er sich aber keiner Schuld bewusst. Der Aktionsradius von Rex ist durch die speziell starke Kette auf den Hofplatz begrenzt; Rex könnte nie jemanden auf der Strasse anfallen. Muss Martin Huber trotzdem für den Schaden aufkommen? Beurteilen Sie den Fall mithilfe von Art. 56 OR. Bestimmen Sie die Tatbestandsmerkmale, und entscheiden Sie, ob diese im vorliegenden Sachverhalt erfüllt sind oder nicht. Beschreiben Sie die Rechtsfolge von Art. 56 OR. Art. 56 OR Rechtlich bedeutsame Merkmale des Tatbestandes
b) Wie kann sich die betroffene Person (Sandra Koch) vor der Schadenszahlung schützen?
TBM
Daraus sich ergebende Rechtsfolgen
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▼ Hinweis zum Sorgfaltsbeweis: Ob ein Tierhalter für den Schaden seines Tieres aufkommen muss, hängt davon ab, ob ihm der Sorgfaltsbeweis gelingt. Falls hier argumentiert wird, dass Martin Huber Rex hätte kürzer (oder weiter weg von der Strasse) anbinden müssen (z. B. weil Rex ein sehr aggressiver Hund ist), um seine Sorgfaltspflicht vollumfänglich zu erfüllen, so haftet er für den Schaden.